periplous
Münchener Studien zur Literaturwissenschaft
Herausgegeben von
Tobias Döring, Martin von Koppenfels,
Inka Mülder-Bach und Robert Stockhammer
Wissenschaftlicher Beirat
Ulrike Sprenger (Konstanz)
Paul Fleming (Ithaca, NY)
John T. Hamilton (Cambridge, MA)
Periplous (περίπλους, pl. περίπλοι). Umschiffung, Küstenfahrt, aber auch
schriftliche Navigationshilfe, welche Häfen sowie die Richtungen und Entfernungen zwischen diesen auflistet. Die frühesten Exemplare sind für das
5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt.
Thomas Erthel, Robert Stockhammer (Hg.)
Welt-Komposita
Ein Lexikon
Wilhelm Fink
Weltanschauung
15
Trek – europäische bzw. US-amerikanische Fortschrittsphantasien ins Exponentielle übersteigern.
Gleichzeitig entwirft Star Trek die Zukunft einer Menschheit, die alle
inneren Ungleichheiten überwunden hat – eine Vision, die oft genug in den
zahllosen Serien und Filmen dieses speziellen Subgenres die Stärke besitzt, die
neue Einheit der ‚Föderation der Planeten‘ nicht darauf zu errichten, dass die
Geschichte dieser Asymmetrien verdrängt wird, sondern im Gegenteil die Ungleichheiten als historische Phänomene mitzudenken und durchzuarbeiten.
So wird eine spezifische Denkfigur vermieden, welche die Außenperspektive
des Alls mit sich bringt: die Verklärung einer harmonischen Menschheit,
die die globale Geschichte nicht berücksichtigt, sondern ausradiert zugunsten einer heilen Welt (Cosgrove, Eye 3–5); die Welt ist aber eben keine
harmonische Einheit, sondern eins und ungleich (=> Weltsystem). Bemerkenswert oft schafft es der optimistische Trek in die Sterne, dies zu berücksichtigen.
Freilich gibt es auch weniger optimistische SF-Erzählungen, die eine spezifische Perspektive – nicht zuletzt auf die aktuelle Phase der Globalisierung –
anbieten. Exemplarisch zu nennen ist hier die afrikanische SF, deren Ausdruckskraft in einschlägiger Forschung nachvollziehbar ist (Barbini).
Anders gesagt wirft die Reise ins Weltall auf das Definieren von ‚Welt‘ zurück,
vorausgesetzt man versteht darunter eine dezidiert menschliche Sinneinheit:
die für ‚uns‘ maßgebliche soziale Realität. Gleiches scheint zuverlässig die Erfahrung realer Astronauten zu bestimmen, die wiederholt kundgetan haben,
die Reise ins All habe sie vor allem einsehen lassen, dass die Menschheit es
sich nicht weiter erlauben könne, Raubbau an der Erde zu betreiben. Sieht
man von den allgegenwärtigen universalistischen Formeln ab, die in diesem
Sprechen in ungeheurer Dichte auftreten, so lässt sich die durch persönliche
Weltraum-Erfahrung neugewonnene Erfahrung destillieren, welche bestätigt,
was Globalisierungstheorien zu betonen nicht müde werden: dass die Erde ein
geschlossener „Handlungsraum“ ist, „dessen Endlichkeit die Menschheit einengt“ (Osterhammel u. Petersson 110).
Thomas Erthel
Weltanschauung
Etwas am Wort Weltanschauung ist bekenntnishaft, es transportiert einen
suggestiven Mehrwert, der nicht leicht zu erfassen ist. Adorno konstatiert in
der Philosophischen Terminologie, dass es häufig mit einem Possessivpronomen
versehen wird: „[E]s ist wohl allgemein für den weltanschaulich Denkenden
16
Weltanschauung
charakteristisch, daß er dazu neigt, von einer Weltanschauung als ‚meine
Weltanschauung‘ zu sprechen“ (I 118). Im Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland ist die Freiheit nicht nur des religiösen, sondern auch des „weltanschaulichen Bekenntnisses“ verankert (Art. 4 GG); historisch und systematisch
betrachtet ist der Begriff zudem in der Nachbarschaft von Wissenschaft und
Ideologie anzusiedeln.
In Abgrenzung zum Begriff ‚Weltbild‘, der auf die illustrierten => Weltkarten von Orbis sensualium pictus (1658) zurückgeführt werden kann
(Thomé, „Weltbild“ 461), lässt sich eine Weltanschauung mit Walter Bruggers
Philosophischem Wörterbuch als „wertende stellungnahme zum ganzen der
welt“ begreifen, die eine „antwort auf die letzten fragen nach ursprung, sinn
und ziel der welt“ einschließe (zit. in Deutsches Wörterbuch 1532). Eine Weltanschauung erhebt den Anspruch, mehr zu sein als eine bloße Sichtweise
auf die Welt, mehr auch als eine Synthese verschiedener Weltbilder, wie sie
für einzelne Bereiche der Wissenschaft gültig sein mögen (Thomé, „Weltanschauung“ 341). Eine Weltanschauung kann somit als Einstellung zur Welt
insgesamt verstanden werden, die im konkreten Fall als religiös, atheistisch,
spirituell, rational, wissenschaftlich, politisch oder philosophisch genauer zu
bestimmen wäre, oder aber als eine (beinahe) beliebige Kombination zweier
oder mehrerer dieser Elemente.
Jede eingehendere Auseinandersetzung mit diesem Kompositum muss sich
mit dem aporetischen Verhältnis von Subjektivität und Geltungsanspruch,
Relativismus und verabsolutierender Setzung befassen. Dabei handelt es sich
bei dem Wort selbst – auch vom verfassungsrechtlichen Status in der Bundesrepublik abgesehen – um eine sehr deutsche Angelegenheit. Wie Angst,
Besserwisser und Lebensraum, figuriert das Wort Weltanschauung als Lehnwort
in zahlreichen anderen Sprachen; es zählt zu den sogenannten Intraduisibles
(Cassin 1396 f; Bretschneider 277); das Englische world view ist zu optisch, world
concept wiederum zu konzeptuell. Es ist die Geschichte deutschsprachiger
Philosophie sowie die politische Geschichte Deutschlands überhaupt, die den
Ruhm wie die Infamie des Weltanschauungsbegriffs begründet haben.
Um mit der Infamie zu beginnen, war der Weltanschauungsbegriff für
die NS-Ideologie zentral. Der Begriff diente nicht nur ihrer Artikulation in
Schriften wie Hitlers Mein Kampf (1925) oder Alfred Rosenbergs Mythus des 20.
Jahrhunderts (1930), sondern war zudem institutionell verankert. Im Jahr 1934
wurde Rosenberg von Hitler zum Beauftragten für „geistige und weltanschauliche Schulung und Erziehung“ der NSDAP ernannt und leitete seine neue
Tätigkeit mit der Rundfunkrede Der Kampf um die Weltanschauung ein. Darin
beschreibt er die „neue Weltanschauung“ als Ergebnis harmonischen Zusammenfindens von „deutsche[m] Empfinden“ einerseits und „Rassenkunde“
Weltanschauung
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andererseits (8), die er als hohe wissenschaftliche Errungenschaft und insofern als Objektivitätskriterium rühmt.
Es lohnt sich, zumindest kurz bei dieser Rede zu verweilen. Wie zu erwarten, wird darin die nationalsozialistische Weltanschauung eng an den
völkisch und biologistisch gedachten Charakter eines jeden wahren Deutschen
geknüpft: „Blut und Charakter, Rasse und Seele“ seien nur verschiedene Bezeichnungen für das gleiche Wesen; „in einer höheren Schau“ bestätige die
„neue Weltanschauung“ die „Urgründe des eignen Ichs“ (12). Als Kontrastfolie für diese Harmonie von Ich und Welt zieht Rosenberg die üblichen antisemitischen Stereotypen heran, darunter vor allem die Vorstellung von der
zersetzenden Kraft des „blutlosen, haltlosen Großstadtintellektualismus“, die,
neben der Verstädterung überhaupt, den ökonomischen Liberalismus wie den
Bolschewismus ermöglicht habe (6). Diese Faktoren hätten ihrerseits einen
zunehmenden Internationalismus verstärkt, der zu weiterer Zersetzung beigetragen habe: Wahrhaft international seien ohnehin immer nur „Gaukler,
Scharlatane und Volksbetrüger“ gewesen (7). Gegen die allseits drohende
Degeneration, Entfremdung und Entwurzelung präsentiert Rosenberg die
nationalsozialistische Weltanschauung als Heilmittel. Dem explizit verkündeten Anti-Internationalismus zum Trotz richtet er dabei seine Worte an
die ganze Welt: Glaubt man der Anmerkung des Zentralverlags der NSDAP in
der Druckfassung, wurde die Rede per Rundfunk „nach Süd- und Nordamerika,
Afrika und Asien“ (3) übertragen. Hier kippt die Besinnung auf eine vermeintlich eigene, den ‚Urgründen des Ichs‘ entsprechende Anschauung in absoluten
Geltungsanspruch um, der im Verlauf des darauf folgenden Jahrzehnts als
Rationalisierung von militärischer Expansion und eliminatorischem Antisemitismus dienen sollte.
Es verwundert also nicht, dass Victor Klemperer das Wort Weltanschauung
als „Pfeilerwort der LTI“ (164), der Lingua Tertii Imperii, bezeichnet und unmittelbar nach Kriegsende in seinen „Erlebnisbericht“ (24) über die Sprache
des Dritten Reichs aufnimmt. Klemperer berichtet, dass er im Verlauf weniger
Jahrzehnte habe beobachten können, wie sich der Begriff aus einem neuromantischen „Klüngelwort“ (164) in ein Wort zur Opposition gegen Dekadenz
verwandelt habe, um schließlich staatstragend zu werden. Die Gründe für
die bedenkliche Karriere des Begriffs lauscht Klemperer dem Wort selbst ab:
Er interpretiert die mit -anschauung hervorgehobene optische Dimension
als Abgrenzung gegenüber der denkenden Abstraktion, wobei er zugleich
betont, dass es sich keineswegs um eine Angelegenheit des Auges allein
handle. Im Deutschen sei das Wort schauen vielmehr einem „ahnungsvoll
verschwommenen – ich weiß nicht, sage ich Tun oder Zustande vorbehalten: Es
bezeichnet ein Sehen, das mehr sieht als nur die Außenseite des betrachteten
18
Weltanschauung
Gegenstandes, das seinen Kern, seine Seele auf eine geheimnisvolle Weise miterfasst“ (115).
Weder das von Klemperer registrierte Raunen des Wortes, noch seine
politische Instrumentalisierung im 20. Jahrhundert ist mit den nüchternen
Anfängen des philosophischen Weltanschauungsdiskurses kompatibel. Erstmals belegt ist das Wort Weltanschauung in Kants Kritik der Urteilskraft (1790),
bezogen auf das Ergebnis der Synthetisierungsleistung des nach Totalität verlangenden Subjekts. Es bezeichnet hier eine von der Vernunft gebildete Gesamtauffassung, die gerade nicht einem Kern entspringt oder irgendwo wurzelt. Die
Weltanschauung im Sinne Kants entspricht auch keinem extern vorhandenen
Gegenstand, sondern liegt in einer „Erweiterung des Gemüts“ begründet,
„welches die Schranken der Sinnlichkeit […] zu überschreiten sich vermögend
fühlt“ (§ 26; A 92). Gerade weil die Weltanschauung, diesem trügerischen Gefühl zum Trotz, keine objektiven oder ontologischen Folgerungen über den
Zusammenhang der Dinge erlaubt, bildet sie bei Kant einen wesentlichen
Bestandteil der Erkenntniskritik: als Ausgangspunkt für eine Selbstreflexion
der Vernunft.7 Das Wort betritt also die Philosophiegeschichte als Oxymoron;
seine Bestandteile streben auseinander, denn die ‚Welt‘ entzieht sich der ‚Anschauung‘ (Bretschneider 278).
Der Weg von Kant bis hin zu den Weltanschauungskämpfen um 1900 ist
lang und lässt sich kaum als kausale Abfolge von Schritten fassen. Im Sinne
der romantischen Kritik am Rationalismus ergänzten Friedrich Schelling und
vor allem Friedrich Schleiermacher die von Kant geprägte Bestimmung des
Begriffs: In seinen Vorlesungen über Pädagogik (1813) charakterisierte Schleiermacher die Weltanschauung als die vom Subjekt im Verlauf von Erziehung
und Entwicklung gebildete „Totalität aller Eindrücke“, die das rezeptive „Chaos
des Neugeborenen“ ersetzt (236). Hier verfährt die Weltanschauung nicht nur
spekulierend, sondern vor allem integrativ. Bei Goethe wird mit der Anlehnung
an die morphologische Gestaltenlehre die Distanz zur Transzendentalphilosophie noch größer: Die psychische Fähigkeit eines durch Erfahrung gebildeten
7 Dabei geht der hohe Stellenwert der Vernunft bzw. des Geistes bei Kant im Neukantianismus
mitunter verloren, wenn etwa Hermann von Helmholtz unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Studien zur visuellen Wahrnehmung die grundsätzliche Inkongruenz zwischen
Anschauung und Welt hervorhebt. Damit projiziert er seine physikalischen Befunde, denen
zufolge das Auge vor allem optische Fehlleistungen hervorbringe, auf Kants Erkenntnislehre und zieht die Konsequenz einer Weltanschauung, in der die empirische Naturwissenschaft als Leitdisziplin fungiert und die Philosophie radikal an Bedeutung einbüßt (Fick
37 f). Es bleibt allerdings zu bedenken, dass der radikale Materialismus des physikalischen
Reduktionismus für Freud die Grundlage der Metapsychologie liefert, bei der wiederum ein
spekulierender, an Theorie höchst interessierter ‚Geist‘ unter veränderten Vorzeichen die
Bühne betritt.
Weltanschauung
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Subjekts mitsamt seiner Autonomieansprüche tritt hier an die Stelle des
transzendentalen Vermögens, womit die später beginnende Subjektivierung
des Begriffs vorbereitet wird (Thomé, „Weltanschauung“ 453 f).
Die fiebrigste Phase in der Mythologisierung Goethes koinzidiert zeitlich
mit der Etablierung des Weltanschauungsbegriffs als Modewort. In der Philologie wurden Goethes Faust-Dramen, die bereits von Schelling und Hegel zum
Nationalkunstwerk erklärt wurden, lange als dichterische Umsetzung seiner
Weltanschauung gelesen. Mit ihrem Erfolg setzt die immense Popularisierung
des Weltanschauungsbegriffs auch außerhalb des im engeren Sinne philosophischen Diskurses ein. Dabei wäre es einer kritischen Studie wert, den
Einfluss genauer zu ermitteln, den Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, als Herausgeber der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes (1882–
1897) auf die Rezeption derselben im Rahmen der Weltanschauungsliteratur
um 1900 ausübte. Steiners eigene Publikationen bilden ein paradigmatisches
Beispiel für den Rekurs auf Goethes Naturauffassung in dieser Zeit: Im Jahr
1897 erschien die Monografie Goethes Weltanschauung, 1902 folgte Goethes
Faust als Bild seiner esoterischen Weltanschauung. Der darin artikulierte
anthroposophische Weltanschauungsbegriff beruft sich auf Goethes Naturauffassung als Ergänzung bzw. Alternative zu den exakten Wissenschaften.8
Einen weiteren Schritt für den mit dem Namen Goethe verbundenen Weltanschauungsdiskurs bildet, auf Steiner aufbauend, das Werk Houston Stewart
Chamberlains (Wenzel 795), dessen völkische Rassentheorie für den nationalsozialistischen Antisemitismus entscheidend werden sollte, unter anderem
aufgrund seines Buches Arische Weltanschauung (1905). Chamberlains Studie
Goethe (1912) wurde allerdings auch von Denkern wie Georg Simmel und
Walter Benjamin affirmativ rezipiert.
Für die Weltanschauung Chamberlains war die Amalgamierung darwinistischer Elemente mit der Morphologie Goethes zentral, wobei er sich entschieden gegen den Biologen Ernst Haeckel abgrenzte, der sich allerdings
auf die gleichen Vorläufer stützte: Auch Haeckel, dessen evolutionistischer
Monismus einen immensen Einfluss auf das politische Denken um 1900 ausübte, stilisierte sich selbst als darwinistischer Nachfolger Goethes. Während
Goethe jedoch von einer geeinten Zweinatur sprach, schließt Haeckel seine
Naturauffassung zu einer „Totalität beanspruchenden Weltanschauung“
(Kleeberg 257). Haeckel sah es als Aufgabe der Naturwissenschaft, die Religion
zu zertrümmern. In Die Welträtsel (1899) verkündet er die monistische
8 Steiners Goethe-Studien sowie ein entsprechender Weltanschauungsbegriff führen bis heute
in entsprechenden Nischen, wie zahlreichen anthroposophischen Internetseiten abzulesen
ist, ein reges Nachleben.
20
Weltanschauung
Weltanschauung als Nachfolgerin der christlichen und erklärt die vom
Materialisten Emil du Bois-Reymond im Jahr 1880 postulierten Grenzen der
Naturerkenntnis gleich zu Beginn für aufgehoben (26 f). Der Gewinn bestehe
in „einer klaren, einheitlichen Weltanschauung“ (429), denn auf Anschauung,
Gestalt, Morphologie und Fortschrittsparadigma liegt der Fokus bei Haeckel
durchgehend.
Was diese sehr unterschiedlichen Goethe-Verehrer über alle gegenseitigen
Abgrenzungsbemühungen hinweg miteinander verbindet, ist das Ideal eines
schauenden Wissens, das mit der Vorstellung einer für spezifisch deutsch befundenen Tiefgründigkeit einhergeht. Per Leo spricht vom „sozialmorphologischen Paradigma“ als weltanschauliche Brücke in den NS-Staat (571 f).
Meistens wird allerdings vergessen, dass auch Haeckels Weltanschauung nicht
nur in rechts- und kulturkonservativen Kreisen, sondern in allen gesellschaftlichen Schichten und über das gesamte politische Spektrum rezipiert wurde
(Kelly 123–141). Sie holt selbst die (nach-)marxistische Theoriebildung ein,
deren Weltanschauungsbegriff sich eigentlich über die Linie Hegel-Feuerbach
herleitete. In der Ästhetik war Hegel von der idealistischen Annahme einer
welterzeugenden Subjektivität ausgegangen, wobei er die Philosophie als Verkörperung des objektiven Sinns verstand: Die „Stufenfolge bestimmter Weltanschauungen“ – der Plural ist hier auffällig – entspricht hier der Entwicklung des
„Bewußtseins des Natürlichen, Menschlichen und Göttlichen“ (I 80). Neben
dem damit implizierten Objektivitätsanspruch führt das teleologische Modell
Hegels eine Pluralität und (geistes-)geschichtlich determinierte Subjektivität
der Anschauungen ein. Diese Tendenz war schon durch Fichte und Schleiermacher vorbereitet worden und ebnete den Weg für die spätere Besetzung
des Weltanschauungsbegriff durch kollektive Formierungen (Bretschneider
278). Die materialistische Hegelkritik durch Feuerbach und Marx ließ die
gesellschaftlich-ökonomische Praxis an die Stelle des Hegel’schen Weltgeistes
rücken. Für eine kurze Zeit figurierte der Weltanschauungsbegriff als Vorläufer
des marxistischen Ideologiebegriffs, also eindeutig dem Schein zugehörig.
Bei Engels, im Anti-Dühring (1876–78) sowie in der posthum publizierten
Dialektik der Natur (1925), kehrt allerdings der emphatische Weltanschauungsbegriff wieder, und zwar durchaus im Sinne des von Haeckel beeinflussten
sozialistischen Darwinismus, der den gesellschaftlichen Fortschritt als Verlängerung des Fortschritts in der Natur interpretiert.
Die, mit Blumenberg gesprochen, „fatale Karriere“ (Lebenszeit 9) des Begriffs ereignet sich zwischen der Restauration nach 1848 und der Entstehung
des Nationalsozialismus. Vom Beginn dieses Zeitraums an bewegt sich der
Diskurs kreuz und quer über ideologische und disziplinäre Grenzen, so
dass die genauen Rezeptionszusammenhänge sich spätestens um 1900 der
Weltanschauung
21
Systematisierbarkeit entziehen. Es könnten noch sehr viele Namen und Titel
genannt werden: Gustav Theodor Fechners Über die Seelenfrage. Ein Gang
durch die sichtbare Welt, um die unsichtbare zu finden (1861), Oswald Spenglers
Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte
(1918–1922) oder die Typologisierungen von Wilhelm Dilthey und Karl
Jaspers; es müsste auch nach der Funktion des Begriffs jenseits des deutschen
Sprachraums gefragt werden, etwa bei William James und Kierkegaard
(verdensanskuelse). Mit Blick auf die Divergenz, die den Weltanschauungsdiskurs in diesem Zeitraum kennzeichnet, hat sich in der Literaturwissenschaft
wie in der Wissenschaftsgeschichte der Vorschlag Horst Thomés durchgesetzt,
von „Weltanschauungsliteratur“ als „Funktion und Texttyp“ zu sprechen.
Thomé definiert eine Weltanschauung als das „gestaltete Bekenntnis eines
individuellen Erlebnisses von allgemeiner Bedeutung“ („Weltanschauungsliteratur“ 358), beruhend auf der „Interdependenz von Wissensdemonstration,
Autobiografie und Spekulation“ (359). Der Fokus auf die Strukturmerkmale
dieses Genres ist besonders vor dem Hintergrund der Diversifizierung und
Spezialisierung der Einzelwissenschaften fruchtbar: Um 1900 fungiert Weltanschauung als Strategie zur Krisenbewältigung (356; Drehsen u. Sparn 19 f). Das
Ich der Weltanschauung, so Thomé, werde als epistemisches Subjekt stilisiert,
ihm komme das Merkmal der Auserwähltheit zu (361, Anm. 64). Entsprechend
sei sein Stellenwert als Erzählinstanz enorm und äußere sich in Form von
eklektizistischen Demonstrationen von Wissenschaftlichkeit. Genretypisch
seien populärwissenschaftlich gestaltete Erlebnis- und Erfahrungsberichte,
in denen ein Ich sich selbst „Wissenschaftsheroismus“ zuschreibe und sich
über die „mikroskopische Wirrsal“ erhebe, um „Sinn“ zu erfassen (357). In
einer Fußnote skizziert Thomé eine aufsteigende Linie der Megalomanie von
Ernst Haeckel über Otto Weiningers Geschlecht und Charakter und das Wahngebäude Daniel Paul Schrebers in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken
bis hin zu Hitlers Mein Kampf als äußerstem Grenzfall strukturanalytisch überhaupt erfassbarer Weltanschauungsliteratur (361, Anm. 64).
Da der affektive Wert des Konzepts ‚Weltanschauung‘ für seine politische
Instrumentalisierbarkeit entscheidend sein dürfte, gilt es, in einem letzten
Schritt den Umgang Freuds und Adornos mit diesem Problemfeld nachzuzeichnen. Mit Blick auf die Selbstilisierung Freuds sowie seinen Anspruch
einer allgemeinen Kulturtheorie ordnet Thomé auch die Psychoanalyse
der Weltanschauungsliteratur zu (363). Damit übersieht er jedoch, dass die
dezidiert spekulativ vorgehende Theorie Freuds, gerade mit Konzepten wie
Unbewusstes, Verdrängung, Latenz, Wiederholung und Entstellung, am
ehesten zur Demontage weltanschaulicher Ansprüche beiträgt. Mehr noch:
Die Theorie Freuds liefert ein Instrumentarium zum Verständnis und zur
22
Weltanschauung
Dekonstruktion des populären Weltanschauungsdiskurses in den Jahrzehnten
vor dem Nationalsozialismus.
In seiner nie gehaltenen Vorlesung „Über eine Weltanschauung“ aus dem
Jahr 1932 erklärt Freud, dass die Psychoanalyse als Weltanschauung „ganz ungeeignet“ (586) sei. Den Besitz einer Weltanschauung zählt er zu den Idealwünschen der Menschheit, das Konzept verspreche die einheitliche Lösung
„aller Probleme unseres Daseins aus einer übergeordneten Annahme“ (586).
Genau dieser Wunsch sei mit den wissenschaftlichen Ansprüchen der Psychoanalyse nicht vereinbar: Als Wissenschaft verfüge sie über „wesentlich negative
Züge“; sie sei durch die „Einschränkung auf das Wissbare“ und die „Ablehnung
der Illusionen“ charakterisiert; sie „schaut nicht alles an, sie ist zu unvollendet,
erhebt keinen Anspruch auf Geschlossenheit und Systembildung“ (608). Die
Weltanschauung dagegen zeuge, darin der Religion ähnlich, von einer „Überschätzung der eigenen intellektuellen Operationen“ (592) im Sinne einer infantilen bzw. animistischen Allmachtsfantasie, die Freud strukturanalog zum
ozeanischen Gefühl erläutert. In Das Unbehagen in der Kultur hatte er dieses
Gefühl als narzisstisch entlarvt: Hinter der scheinbar bescheidenen Bereitschaft, das „Eins-Sein mit dem All“ (204) zu empfinden, verberge sich die
größenwahnsinnige Vorstellung, qua Intuition mit der ganzen Welt in Verbindung zu stehen. „Dies bedeutet keineswegs, diese Wünsche verächtlich
beiseite zu schieben“, versichert Freud in „Über eine Weltanschauung“ (587).
Wenn man allerdings die „Übertragung dieser Ansprüche auf das Gebiet der
Erkenntnis“ zulasse, seien die Wege ins „Reich der […] Massenpsychose“ geöffnet (587).
Auf die gleiche Struktur greift Adorno zurück, wenn er dreißig Jahre später
in seiner Philosophischen Terminologie (1962–63) die „Liquidation der Weltanschauung“ (I 123) zur Aufgabe der Philosophie erklärt. Als ebenso pompös wie
unverbindlich charakterisiert er die Erwartung weltanschaulichen Denkens,
„nun des Ganzen, das im wissenschaftlichen Betrieb aufgespalten und zerteilt ist, unmittelbar wie mit einem Zauberschlag, nämlich bloß durch den
subjektiven Akt, habhaft werden zu können“ (92). Wenn Adorno die „Sphäre
der Weltanschauung“ als die „zum System erhobene Meinung“ definiert (118),
lohnt es sich, den im gleichen Zeitraum entstandenen Essay „Meinung, Wahn,
Gesellschaft“ (1963) heranzuziehen: Die Meinung, heißt es dort, sei die „Setzung
eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als
gültig“ (574). Die Betonung des Subjektiven – etwa bei der Wendung ‚das ist
meine Meinung‘ – sei nur scheinbar eine Einschränkung. Wer beharrlich ‚Ich
meine‘ sage, verleihe seiner Meinung den Status eines Bekenntnisses, seinem
Urteil Autorität durch die Beziehung auf sich selbst als Subjekt: „[E]r habe die
Courage Unbeliebtes, in Wahrheit nur allzu beliebtes zu sagen“ (575). Dabei
Weltanschauung
23
werde die Meinung meistens affektiv besetzt: Was sie entkräften könnte, wird
„vom Unbewussten oder Vorbewussten registriert, als werde ihm selbst geschadet“ (576). Um Kränkungen vorzubeugen, werden „törichte Meinungen“
deshalb hartnäckig verteidigt: „Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die
narzisstische Schädigung von sich fern zu halten […] einen Scharfsinn, der oft
weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt“ (576).
Verlängert man diese Dynamik um die ‚zum System erhobene Meinung‘
und berücksichtigt man dabei die semiotischen Abdichtungsbemühungen als
Charakteristikum von Weltanschauungsliteratur, drängt sich die Struktur der
Paranoia als Lektüremuster auf. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
behandelte Kant die „falsch dichtende Einbildungskraft“ als eine Unterkategorie des Wahnsinns, die gerade nicht unvernünftig sei. Als ‚rasende Vernunft‘
operiere sie vielmehr mit einem Exzess an Logik und Scharfsinn, wenn auch
unter verkehrten Prämissen (BA 145). Im Spannungsfeld von Methode und
Wahn ergibt sich die Relevanz von Freuds Studie über den Fall Daniel Paul
Schreber für eine Analyse des Weltanschauungsdiskurses. Laut gerichtsärztlichem Gutachten aus dem Jahr 1899 war der ehemalige Senatspräsident
Schreber Anhänger eines „mehr oder weniger fixierten folgerichtig aufgebauten Wahnsystems“ (zit. in Schreber 324), seiner „krankhaft veränderten
Weltanschauung“ (325). Im Jahr 1902 gelang es Schreber, die Aufhebung
seiner Entmündigung vor Gericht zu bewirken: Des juristischen Diskurses
mächtig, verteidigte er sein psychotisches Denkgebäude unter Berufung auf
die Religionsfreiheit und bestand darauf, nicht im rechtlich relevanten Sinn
geisteskrank zu sein, sondern lediglich über seine erregten Nerven in unmittelbarem Strahlenkontakt mit Gott und dem Universum zu stehen (196).
Schrebers Buch, die Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1903), bedient sich zahlreicher Fragmente aus dem Weltanschauungsdiskurs um 1900:
Psychophysik, Psychiatrie, Medizin, Theologie, Spiritismus, evolutionistischer
Monismus sowie Schlagworte aus dem Kulturkampf der Bismarckzeit. In
seinen „Psychoanalytischen Bemerkungen“ (1910/11) zum Fall staunt Freud
über die „Mischung aus Plattem und Geistreichem, von geborgten und
originellen Elementen“ (149) und spricht nicht ohne Bewunderung vom
„Scharfsinn“ „des als Paranoiker Erkannten“ (144). Im Verlauf der Studie
avanciert der Narzissmus zum zentralen Bestandteil des Freud’schen Verständnisses von Paranoia. Die Verdrängung eines homoerotischen Impulses
sei der Auslöser von Schrebers Krise: In der Wahnvorstellung, Gott würde in
kosmischer Konspiration auf seine Entmannung zielen (Schreber 93), äußere
sich der verdrängte Wunsch als paranoide Projektion, und das Wahngebäude
selbst, die Kosmologie Schrebers, sei der Versuch, die drohende Kränkung vom
Leib zu halten. Wenn Schreber glaubt, „die Welt sei zu Grunde gegangen“ (in:
24
Weltanschauung
Schreber 276), liest Freud diesen Weltuntergang als Projektion der innerlichen
Katastrophe eines narzisstischen Subjekts, das der Außenwelt die Libidobesetzung entzogen habe (192). Um dies zu veranschaulichen, zitiert Freud
Goethes Faust. Der Titelheld hat sich mit einem Fluch von der Welt losgesagt,
es singt der Geisterchor: „Weh! Weh! / Du hast sie zerstört, / Die schöne Welt, /
Mit mächtiger Faust; / Sie stürzt, sie zerfällt! / Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
/ […] / Mächtiger / Der Erdensöhne, / Prächtiger / Baue sie wieder, / In deinem
Busen baue sie auf!“ (v. 1607–12, 1617–21; zit. in Freud 193) – und der Paranoiker,
so Freud, baue sie wieder auf.
Adorno verzichtet darauf, zwischen harmlosen und gefährlichen Formen
weltanschaulicher Bedürfnisse zu trennen. Dabei steht sein Aufruf zur
„Liquidation von Weltanschauung“ in eigentümlichem Kontrast zu der Aussage,
dass mit dem Wort „heute nicht mehr viel Staat“ zu machen sei; es habe einen
„leise altertümlichen Ton“; „günstigenfalls Jugendstil oder ungünstigenfalls
Monismus“ würden einem assoziativ dazu einfallen (Terminologie I, 124).
Die aktuelle zeitdiagnostische Relevanz einer psychoanalytisch informierten
Herangehensweise an das Phänomen liegt jedoch damals wie heute auf der
Hand. Auch wenn der Begriff selbst den Diskurs längst nicht mehr dominiert,
trifft die Analyse des Spannungsfelds von Relativismus und Geltungsanspruch,
Individualismus und kollektiver Formierung, Kränkung und Paranoia auf
Dynamiken zu, die das gegenwärtige Debattenklima bestimmen. Man denke
an die Struktur von rechtsradikalen Narrativen und Verschwörungstheorien,
an die Identitäre Bewegung, an Debatten um alternative facts sowie an
populistische Redner, die Invasionsängste schüren, indem sie sich selbst und
ihresgleichen unter Berufung auf freie Meinungsäußerung als Unterdrückte
inszenieren – als drohte die Kastration durch Genderwahn, Migrationsflut,
Klimaschutz, Verweiblichung der Gesellschaft oder political correctness.
Adornos Kommentare zum Begriff der ‚Weltanschauung‘ führen eine
dialektische Kippbewegung aus: Einerseits ist die Liquidation der Weltanschauung das Ziel, offenbar ohne Kompromisse, andererseits äußert sich
Adorno geradezu verständnisvoll über das weltanschauliche Bedürfnis junger
Philosophiestudenten, der Zuhörer seiner Vorlesungen über Philosophische
Terminologie. Ihr Verlangen nach Totalität sei stark und intensiv, und zwar „aus
entwicklungspsychologischen Gründen, weil es ihnen vom Realitätsprinzip
noch nicht ganz abgewöhnt, noch nicht ganz ausgetrieben worden ist“ (122).
Adornos Behutsamkeit im Umgang mit der Problematik zeugt von einem
Bewusstsein für die fortwährende Virulenz der Kombination aus Krisenwahrnehmung und Totalitätswunsch. Dabei schwingt die psychoanalytische
Vorstellung infantiler Wünsche mit, die verdrängt im Unbewussten weiter
wirken. Wer über das weltanschauliche Bedürfnis spotte, so Adorno, wehre die
Außenwelt / Innenwelt
25
eigene Enttäuschung ab (122 f). Als unerträglich wird nachträglich der Wunsch
empfunden, der nicht in Erfüllung ging; in monströser Form kehrt wieder, was
nicht durchgearbeitet wurde.
Jenny Willner
Außenwelt/Innenwelt
Die Außenwelt, o. Mz., der Inbegriff aller als außer uns gedachter Gegenstände unserer
Vorstellungen, alles was nicht Ich ist; entgegengesetzt der Welt in uns, d. i. dem Inbegriff
unserer Vorstellungen oder dem Ich (Campe I, 336).
Die Innenwelt, o. Mz., die Welt in uns, der Inbegriff unserer Begriffe und Vorstellungen;
der innere Mensch, in Gegensatz der Außenwelt (Campe II, 825).
Die beiden Artikel in Campes Wörterbuch der deutschen Sprache, das die
beiden Begriffe 1807 erstmals lexikalisch verzeichnet, verweisen zur Begriffserklärung jeweils auf den anderen. Offenbar sind sie also nur in ihrem Wechselbezug sinnvoll und weltkonstituierend. Wo einer der beiden erscheint, erklärt
er sich durch die Abgrenzung vom Gegenbegriff. Implizit, meist jedoch explizit verweist einer der Begriffe, wo er auftritt, auf den anderen, auch da, wo
diesem die Existenz abgesprochen wird, wenn etwa Fichte das Bewusstsein
der Außenwelt in das Vorstellungsvermögen verlegt, so dass das Verhältnis des
Ich zur Außenwelt sich nur durch ein „Sehnen“ darstelle (Grundlage 305). Zusätzlich bringt Campe die Innenwelt zugleich mit dem platonisch-christlichpietistischen Begriff des „inneren Menschen“ (Langen 158 u. Markschies) in
Verbindung, der das neuzeitliche Verständnis von Innen und Außen geprägt
hat und oft eine individuatorische Dringlichkeit in die Auseinandersetzung
bringt. Insbesondere um 1900 und noch einmal an der Wende der 60er zu
den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sind diese Begriffe präsent und werden
in unterschiedlichsten Gewichtungen gegeneinander ausgespielt oder in Verbindung gebracht.
Wenn Friedrich Kaulbach im Artikel „Außen/innen, Außenwelt/Innenwelt“ aus Ritters Historischem Wörterbuch der Philosophie bemerkt, „die philosophische Sprache“ verbände mit diesem Begriffspaar einen „nicht-räumlichen
Sinn“ (679), so mag er recht haben. Nichtsdestoweniger ist der Begriff der
‚Außenwelt‘ nicht losgelöst von der Vorstellung räumlicher Ausdehnung
denkbar – und auch immer wieder in diesem Sinne verwendet worden. Ebenso
wird im alltäglichen und literarischen Gebrauch die Innenwelt mit räumlichen