Ruth Leiserowitz (
[email protected])
Einige Spuren Erich Mendelsohns in Ostpreußen
Der nachstehende Vortrag wurde in einer polnischen Fassung am 15. Oktober 2016 im Rahmen des ersten ErichMendelsohn-Festivals in Olsztyn gehalten und liegt unter dem Titel „Ślady Ericha Mendelsohna w Prusach
Wschodnich“ gedruckt vor. 1
Einleitung und Fragestellung
Hier in dem Geburtsort von Erich Mendelsohn und besonders in den Räumen dieses Bet Tahara muß, so glaube
ich, nicht viel über die Herkunft des berühmten Architekten gesagt werden, der 1887 als Sohn einer Hutmacherin
und eines Kaufmanns geboren wurde. Allerdings ist ebenfalls bekannt, dass Mendelsohn bereits in seinen
Jugendjahren die ostpreußische Provinz verließ, um zuerst eine kaufmännische Ausbildung in Berlin zu
absolvieren und später in München zu studieren. Seit dieser Zeit hat er nicht mehr in Ostpreußen gelebt, aber
nachweislich Allenstein und auch andere Orte mehrmals besucht. In diesem Vortrag soll nun drei bisher nicht
thematisierten Fragen ergründet werden: Zum einen geht es um die Frage, ob Mendelssohn nach seinem Weggang
aus Allenstein und der Fertigstellung des hiesigen Bauwerks noch Verbindung mit der Region über private
Familienbesuche hinaus gehabt hat. Zum anderen soll aufgezeigt werden, welche Spuren des Wirkens von Erich
Mendelsohn es heute auf dem Territorium des ehemaligen Ostpreußens noch gibt. Als drittes wird erörtert,
inwiefern sich der Architekt von der ostpreußischen Landschaft und von dortigen Freundschaften inspirieren ließ.
Darüber hinaus wird kurz erläutert, wie sich diese Spuren rekonstruieren lassen.
Quellen
Wo lassen sich heute Spuren aus dem Leben und Schaffen des Architekten finden? Wie lassen sich heute seine
Gedanken und Ideen ergründen, seine Kontakte nachzeichnen? Worauf können wir unsere heutigen Antworten
stützen? Der Nachlass von Erich Mendelsohn (1887-1953) liegt sowohl in den Archiven der Kunstbibliothek –
Staatliche Museen zu Berlin und des Getty Research Institute, Los Angeles. Der umfangreiche Briefwechsel, den
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LEISEROWITZ, RUTH, Ślady Ericha Mendelsohna w Prusach Wschodnich, in: Od Bet Tahary do Domu
Mendelsohna. Projekt Ericha Mendelsohna w rodzinnym Olsztynie, hg. v. EWA ROMANOWSKA,
KORNELIA KUROWSKA, Olsztyn 2016, S. 9–24. https://docplayer.pl/47679724-Od-bet-tahary-do-domumendelsohna.html [25.3.2020].
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der Architekt mit seiner Frau Luise geb Maas (1894–1980) führte und der mehr als 2.700 Briefe der Jahre
zwischen 1910 und 1953.umfasst, wurde digitalisiert und steht somit zur Verfügung. Das sogenannte EMA, das
digitale „Erich Mendelsohn-Archiv“ 2, liefert einen breiten Zugang, der für Nachforschungen zum Leben von
Mendelsohn genutzt werden kann. Hier fanden sich auch die meisten Belege für hier formulierten Überlegungen.
Mendelsohns Verbindungen zu Ostpreußen
Der junge Architekturstudent kam regelmäßig in den Ferien nach Allenstein. Während eines
Ferienaufenthaltes reiste er nach Königsberg, wo gemeinsam mit seinem Freund Georg Cohn 3 die
Schwestern Ellen und Luise Maaß traf. Die beiden Mädchen sowie ihre weitere Schwester Iska lebten
gemeinsam mit ihrer verwitweten Mutter Rosa in einer repräsentativen Stadtvilla der Großmutter
Zerline Magnus, geb. Bernburg im Zentrum von Königsberg. Die Familie hatte in der jüdischen
Gesellschaft viele Freunde. Dazu zählten die Brüder Heymann, unter ihnen der Dichter Walter
Heymann, der spätere Komponist Hans-Werner Heymann sowie deren Brüder. Walter Heymann hatte
auch gute Kontakte zu den Künstlern der Niddener Künstlerkolonie, vor allem zu Max Pechstein.
Dieser porträtierte dann auch die junge Luise.
4
Der 1908 verstorbene Großvater Samuel Magnus hatte eine große Teehandelsgesellschaft besessen, die auch über
Niederlassungen in anderen Ländern, wie in Kopenhagen und London verfügte. Im 19. Jahrhundert stellte
Königsberg den wichtigsten kontinentalen Umschlagplatz des internationalen Teehandels dar. Der Großvater, der
seinerzeit in Lyck (heute Ełk) geboren und als junger Kaufmann nach Königsberg gekommen war, wurde zu
einem der wichtigsten jüdischen Honoratioren der dortigen Gemeinde. Er war von 1883 bis 1907 Mitglied des
Königsberger Stadtrates und von 1899 bis zu seinem Tod 1908 Vorsitzender des Vorstands der jüdischen
Gemeinde. Daneben erwies er sich als bedeutender Mäzen. So finanzierte er 1901 den Bau des jüdischen
Waisenhauses]. Luise wuchs also wohlsituiert und gut behütet in einer offenen und nicht auf die Provinz
beschränkten Atmosphäre auf.
http://ema.smb.museum/[25.03.2020] im Folgenden: EMA.
Dr. Georg Sally Cohn, geb. 19. November 1884 in Königsberg, als Assistenzarzt im Ersten Weltkrieg, vor allem
in Belgien und Frankreich.
4
Über diese endlosen Sitzungen erzählt sie auch in dem Manuskript ihrer Autobiographie. Es existieren
mindestens zwei Porträts in Öl. Eines ist im Familienbesitz, das andere trägt den Titel: Hermann Max Pechstein,
Damenbildnis, 1913/14.
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Als Erich Mendelsohn und Luise Maaß aufeinandertrafen, war er 23 Jahre alt, sie jedoch erst 16. Der junge
Architekt verliebte sich bei der ersten Begegnung unsterblich in sie und erwirkte von ihrer Mutter die schriftliche
Erlaubnis, mit der noch minderjährigen Tochter korrespondieren zu dürfen. Damit begann ein intensiver
Briefwechsel, der für die gelegentlichen Zeiten ihrer Trennung bis zum Tod von Erich anhalten sollte. Luise, die
bei Max Brode in Königsberg Cellounterricht erhielt, nahm weiteren Unterricht in London, Leipzig und Berlin.
Das junge Paar heiratete im Oktober 1915 und im Mai 1916 wurde die einzige Tochter Marie Luise Esther
geboren. Für Luise war durch ihre Studienreisen Königsberg schon zu klein geworden. Bereits im Frühjahr 1914
schrieb sie an Erich: „Es ist unerträglich hier in der Provinzstadt - bei den lieben! Verwandten - - morgen geht es
weg […]. Es ist traurig, wie hier alles schläft! stillsteht!“ 5
Erich und Luise Mendelsohn wurden beide Zeugen des ersten Weltkrieges, und tauschten sich darüber aus. Luise
befand sich zu der Zeit des russischen Vordringens und der Schlacht von Tannenberg jedoch in Dresden. Am 29.
August 1914 schreibt sie an Erich: „Eben die Extra Blätter mit dem unserem Sieg in Ostpreußen bei Ortelsburg.“ 6
Die kleine Veränderung in der Rhetorik des Briefes, als Luise sich schriftlich mit dem Sieg identifiziert, ist
interessant und lässt Raum für Diskussionen. War es ihre eigene Meinung oder fühlte sie sich dem Partner
gegenüber verpflichtet, der ja dann auch in den Krieg zog?
Nach dem Kriegsende musste Deutschland im Juni 1919 den Friedensvertrag von Versailles unterzeichnen, der
ebenfalls vorsah, dass Referenden abgehalten werden sollten. Eine dieser Abstimmungen betraf Allenstein. Die
deutsche Regierung versuchte, die Unterzeichnung des Vertrages hinauszuzögern. Mendelsohn schrieb am 18.
Juni 1919 an seine Frau, die sich gerade in Allenstein bei dem Schwiegervater aufhielt: „Zur Lage denke ich, dass
im Falle der Nichtunterzeichnens des Friedensvertrages, wozu die sozialistische Patriotenliga fähig ist, Du sehr
schnell geeignete Entschlüsse wirst treffen müssen. Denn die Polen werden nicht warten.“ 7 Die Stimmung in
Ostpreußen war sehr aufgeheizt. Am 11. Juli 1920 sollten die Wahlberechtigten, d.h. die Einwohner des
Abstimmungsgebiets, die älter als 20 Jahre waren, über die politische Zugehörigkeit des Gebietes abstimmen.
Auch die vor dem 1. Januar 1905 Geborenen waren dazu berechtigt. So wurden aus dem Reich sogenannte
„Abstimmungszüge“ hin organisiert. Auch Mendelsohn fuhr dorthin. Die Reise wurde mehrfach unter
EMA, Königsberg, den 24.III.14.
EMA, Königsberg, den 29.VIII. 14.
7 EMA, Charlottenburg; den 18.VI. 19.
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3
logistischen Gesichtspunkten im Briefwechsel des Ehepaares erörtert, hinsichtlich der politischen Notwendigkeit
lag augenscheinlich aber völlige Klarheit vor.
Mendelsohns Zentrum war aber bereits die Großstadt und so spürte er eine deutliche Distanz zur Provinz. Im
Mai 1924 notiert er von einer Bahnreise nach Tilsit: Die Kleinstadt wickelt sich wie ein Film vor 20 Jahren hier am
Fenster ab und es bleibt zum mindesten spaßhaft, sich rückwärts zu drehen. 8-Zur gleichen Zeit findet sich auch
eine Reflexion der Heimatregion und seiner Beziehung dazu. Er schreibt von einer Zugfahrt über Allenstein und
Insterburg nach Tilsit: „Hier ist Alles im ersten Keimen, aber die Sonne über den ernsten, geschlossenen
Hügelfeldern, Wäldern, Seen - schließend, anreizend! […] wehmütig nur in den Städten, denen wir kaum je
angehört zu haben scheinen. Jedenfalls nur kindhaft unbewusst. Aber das Land ist geschaffen, Abwehr zu leisten
und einzukapseln. Burgen u. Bauernhöfe!“ Darin steckt einerseits der bereits große Abstand zu der Region,
andererseits verrät die Formulierung auch, dass ihm der Gedanke des Grenzlandes, als das Ostpreußen damals
tituliert wird, nicht fremd ist.
Trotzdem unterstützte Mendelsohn auch Initiativen in Ostpreußen, wie z.B. die Errichtung eines Denkmals für
gefallene Mitglieder der Niddener Künstlerkolonie. 9 In Berlin pflegte das Ehepaar Mendelsohn viele berufliche
und private Kontakte zu Personen, die sie aus ihrer ostpreußischen Jugend kannten. Hierzu gehörte der Assistent
im Architektenbüro, Charles du Vinage, ein Freund aus Allensteiner Schultagen, sowie die Brüder Heymann, die
auch diverse Bauaufträge lieferten. Die Bekanntschaft mit den Heymanns sollte bis zu den Zeiten des Exils in den
USA reichen.
Orte und Bauten von Mendelsohn
Nun zu der eigentlichen Tätigkeit von Mendelsohn, dem Entwurf und der Ausführung von Bauten. Zur
ostpreußischen Region geht es dabei um drei Standorte: um Allenstein, Tilsit und Königsberg.
a.
Allenstein
Zu dem Bau in Allenstein, den Mendelsohn 1911 in Angriff nahm, als er noch an der Technischen Hochschule
München studierte, sollen hier nur einige Facetten ergänzt werden. Der Autor seines ersten Bauwerkes war
letztlich nicht glücklich mit dem Werk. Er schätzte ein, dass er dabei vor allem die Probleme des Bauens aus erster
Hand kennenlernte. Mehrfach äußerte er sich darüber in seinen Briefen an Luise. Am 12. April vermerkte er
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9
EMA; Tilsit, den 8.V.24.
Zeitungsauschnitt von 1922 aus EMA Archiv
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bereits, dass die Leichenhalle „jetzt schon viel Feinde hat - diese kümmerlichen Kleinstadtseelen.“ 10 Dann
schreibt er am 24. Juli 1913: „die Tage hier sind eine Qual für mich. Denn hier ist alles klein, armselig und
selbst meine Arbeit, die Halle, freut nicht mehr, weil sie schon längst erlebt und ihre Fertigstellung so langsam
geht.“ Daraus sprechen die Ungeduld, das schnelle denken und das ungestüme Temperament des
frischgebackenen Architekten. Und er fährt fort: „Nichts greift hier in einander. Was der eine will, merkt der
andere nicht und so ist jeder einzelne ein Rad für sich, kaum gangbar. Wo sind die vielen Hände, sie alle
anzutreiben. Dieses Behagen, dieser lässige Hochmuth, der jeden gekennzeichnet hat, ist erstickend. Was aber ihre
Grenze ist, spricht sie an.“ Mit diesem letzten Satz meint der Briefschreiber, dass seine Ansprechpartner sofort
fomulierten, wenn ihnen etwas nicht passte, d.h. sie hatten sofort Gegenargumente und verhielten sich nicht
konstruktiv. Und daraus schlussfolgert er: „Damit ist diese Stadt, die meine Heimat war, erledigt und ich warte
auf den Augenblick, der mich von hier fortläßt.“ Und dann resümiert er einige Tage später, am 12. August 1913:
„Diese Zeit hier war ein drückender Traum. Selbst die Halle die nun, nach 2 Jahren des Entwurfs nicht
viel mehr als eine Reminiszenz sein konnte. [ ] Doch so notwendig, um Kenntnisse zu erwerben, die,
nur die Ausführung gibt.“ 11 Also hat Mendelsohn eigentlich mit Allenstein abgeschlossen. Doch dann
bittet ihn der Vater, ihm ein neues Haus in der Stadt zu bauen. Mendelsohn legt seinen Entwurf vor
und erhält in der Stadt eine Abfuhr. Darüber schreibt er im Mai 1924: „Der Allenst[einer] Baurat ist
völkischer Architekt. Er wünscht das "boden-ständige" hohe Dach und. meint damit, das flache sei
orientalisch. Ich half ihm zur Deutlichkeit nach und überführte ihn in Gegenwart des
Oberbürgermeisters zum Bekennen. Dagegen versagt auch meine Zähigkeit. Ich werde das doch nicht
machen, weil dieses Haus keinen Dachboden braucht und weil - ich keins mache. Damit wird der
Auftrag zurückgegeben.“ 12 Dazu sollte angemerkt werden, dass im damaligen Sprachgebrauch mit
„orientalisch“ immer „jüdisch“ gemeint war und es gerade in Ostpreußen damals als Grenzlandprovinz
große Bestrebungen gab, Nationalismus auszustrahlen, der aber dann eben sehr antimodern ausfiel.
Nun hatte Mendelsohn endgültig mit seiner Heimatstadt abgeschlossen.
EMA; Allenstein, den 12.IV.13
EMA; Allenstein, den 12.VIII.13
12 EMA, Charlottenburg, den 10. V.24.
10
11
5
b.
Tilsit
Die jüdische Gemeinde von Tilsit beschloss Anfang der zwanziger Jahre, sich ein repräsentatives Gebäude ihrer
lokalen Filiale des B'nai B'rith errichten zu lassen. Die Organisation diente der Aufklärung über das Judentum und
der Erziehung innerhalb des Judentums. Die Tilsiter Filiale trug den Namen „Loge zu den drei Erzvätern“. Damit
sind die drei Stammvätern des israelitischen Volkes gemeint: Abraham, Isaak und Jakob. Sie wurde wie eine Loge
geführt, war aber keine Freimaurerloge. In der Gemeinde gab es einige Personen, die mit Mendelsohn gut
befreundet waren und die ihn um einen Entwurf und die Ausführung baten. 13 Vermutlich rührten diese Kontakte
aus dem Netzwerk der „zionistischen Vereinigung für Deutschland“. An dieser Stelle sei betont, dass es hier noch
Forschungslücken gibt.
Am 2. Mai 1924 vermeldete Mendelsohn an Luise: „Ich fahre Dienstag Abend nach Tilsit, da der Bauplatz gekauft
ist und gebaut werden soll.“14 Fünf Tage später meldete er aus Tilsit: „Geliebte Seele, bis mich Dr. Ehrlich von
hier aus dem Hotel abholt zum Abendfestessen u. kleinem Bauvortrag, noch schnell Bericht zu Dir […] 15 Der
Rechtsanwalt Dr. Arthur Ehrlich war der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde. Nach dem Aufenthalt in Tilsit
vermeldet er noch auf dem Briefpapier von „Pohland's Hotel Kaiserhof“ [Bild: Briefkopf]: „Die Tilsiter haben
den schönen Platz am Teich nicht bekommen. Mein erneuter Versuch, die Logenmitglieder zum Ankauf eines
Platzes jenseits des Teiches zu bestimmen scheiterte an der Mehrheit der alten Leute, für die 2 Minuten
Zusatzweg am Ostpreußischen Maßstab gemessen eben unüberwindbar ist. Infolgedessen verblieb der weniger
gute Eckplatz in der Stadt mit grausigen Nachbargebäuden. Aber er verblieb und der Bauauftrag ist erteilt.“ 16
Dann fügte er noch kämpferisch hinzu: „ Wären die Berliner Bauten im Fluß, so hätte ich um den Platz weiter,
selbst gegen die Bürgermajorität gekämpft, auch selbst für den Fall, dass auch diese Reise noch nicht zu einer
endgültigen Stellung geführt hätte.“ 17- Da aber viele Projekte in Berlin nicht den erhofften problemlosen Fortgang
nahmen, war Tilsit nur ein Nebenschauplatz, für den er nur begrenzt Energie aufwenden konnte. Luise wusste
immer über die laufenden Projekte Bescheid. „Schade! mit den Bauplatz,“ notierte sie im Antwortbrief an den
Ehemann. 18
Interview Heinz-Joseph Chassmann, Tel Aviv 30. Dezember 2009.
EMA, Charlottenburg, den 2. V.24.
15 EMA, Tilsit, den 7.V.24.
16 EMA; Tilsit, den 8.V.24.
17 EMA, Tilsit, den 8.V.24.
18 EMA, Baden-Baden, den 12.5.24.
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14
6
Wenige Tagespäter begann er bereits mit den Skizzen für das Tilsiter Gebäude und vermerkte, dass diese
„möglichst beschleunigt zu Ende geführt werden müssen.“ 19 Mendelsohn notierte über diesen Bau später: „Sehr
beschränktes Eckgrundstück. Erdgeschoß: Festräume - Festsaal durch zwei Geschosse. Zwischengeschoß:
Spielzimmer und Hausmeisterwohnung. Obergeschoß: Gesellschaftsräume und Logentempel über dem Saal. Der
fehlende Logengarten ersetzt durch erhöhte, nicht einzusehende Vorgartenterrasse und Südterrasse vor den
Gesellschaftsräumen. Der Eckerker für Saal und Tempelmusik, gleichzeitig städtebaulicher Akzent gegen
nachbarlichen Brandgiebel. Material: Stein und Eisen.“ 20 Teile der Arbeit übertrug er dann seinem leitenden
Mitarbeiter Karweik, der ihn auf der Baustelle vertrat. Dazu notierte Mendelsohn beispielsweise im Juli 1925, dass
sein Mitarbeiter Erich Karweik nach Tilsit geflogen sei. 21 In Berlin gab es vorübergehend Probleme mit mehreren
Projekte und so teilte Mendelsohn seiner Frau mit: „[…].Nur Tilsit scheint oben auf zu sein. Karweik brachte
Nachricht mit, daß die Loge eine günstige Hypothek bekommen hat und, dass der Bau also vollkommen fertig
gemacht werden soll. aber die Bürger haben es mir übel genommen, daß ich nicht zur Grundsteinlegungsfeier dort
war. Aber ich denke, die Einweihung wird sie wieder versöhnen, wenn das Geweihte eben versöhnlich ist.“ 22
Natürlich wollten die Initiatoren auch zeigen, welche wichtige Persönlichkeit sie für ihr Vorhaben gewonnen
hatten.
Das Gebäude wurde an der Stiftstraße Ecke zur Fabrikstraße errichtet und zwar im Stil der klassischen Moderne.
Die Anwendung des Horizontalismus begründete der Architekt mit seinem Wunsch, der Bau lasse sich als Appell
für die Auflösung aller Hierarchien in Politik, Wirtschaft und Kultur verstehen.
[Bild: heutige Ansicht des Gebäudes]. Leider sind bis heute keine Dokumente, Berichte oder Fotos über die
Einweihung des Gebäudes aufgefunden worden, aus denen sich auch etwas über die Worte des Architekten zur
Eröffnung erfahren ließe. Es gibt vorläufig einzig die Erinnerungen eines Tilsiter Zeitzeugen, der damals sechs
Jahre alt war. 23
EMA, Charlottenburg, den 10.V.24.
"Das Gesamtschaffen des Architekten . . ." Berlin 1930:
21 EMA, Charlottenburg, den 2.Juli 1925
22 EMA, Charlottenburg, den 8. VII. 25.
23 Interview Heinz-Joseph Chassmann, Tel Aviv 30. Dezember 2009.
19
20
7
c.
Königsberg
Schon vor dem Ersten Weltkrieg war die Errichtung einer neuen Trauerhallte für die jüdische Gemeinde in
Königsberg im Briefwechsel der späteren Eheleute Mendelsohn thematisiert worden. Luise schrieb dazu im März
1914: „Leichenhalle [hier soll schon langegeplant sein - etwas Definitives aber noch gar nicht entschlossen sein.
Ich würde Ihnen raten sich diesbezüglich an Justizrat Holz (Vorstand der hiesigen jüdischen Gemeinde)zu
wenden: Junkerstrasse 10.“ 24: Es lässt sich nicht nachvollziehen, ob Mendelsohn überhaupt auf diese Idee einging
oder der ausbrechende Krieg alle weiteren Überlegungen zunichtemachte. Bisher lässt sich auch nicht
rekonstruieren, wie es schließlich dazu kam, dass Mendelsohn den Zuschlag für das Projekt bekam]. Jedenfalls
begann Mendelsohn seit 1927 für die Synagogengemeinde eine geräumige neue Friedhofsanlage zu bauen, die in
eine monumentale Trauerhalle mündete und zu dem einen Verwaltungsbau und einen Blumenpavillon umfasste.
Die Glasmalerei in der Halle führte Carl Großberg, ein Bauhausschüler von Lyonel Feininger im Stil der Stil der
„Neuen Sachlichkeit“ aus. In dem Briefwechsel lassen sich keine ausführlichen Gedanken über das Königsberger
Projekt finden, da das Ehepaar in dieser Zeit vorwiegend gemeinsam in Berlin weilte und so kaum Korrespondenz
stattfand. Es finden sich nur kurze Hinweise, dass der Architekt Reisen nach Königsberg plante. 25 Der Architekt
kam zur Einweihung des Komplexes, bei der neben den Repräsentanten der jüdischen Gemeinde auch
Regierungspräsident, Stadtbürgermeister sowie die Vertreter der christlichen Konfessionen anwesend waren und
hielt auch eine Rede. In dieser sagte er; „Als Baumeister dieses Hauses überreiche ich vor Beginn der Feierlichkeit
als Symbol der Vollendung den Schlüssel zum Tor dem Vorsitzenden der Baukommission – den Schlüssel zu
einem Friedhof auf ostpreußischer Erde – dieser schweren starken Erde, deren Einfachheit und deren Charakter
sich niemand entziehen kann, der auf ihr lebt oder ihr entstammt. – zu einem jüdischen Friedhof, in dem der Kult
eines uralten Volkes, in dem die Transzendenz einer uralten Religion einen neuen lebendigen Ausdruck erhält.
Aber erst, wenn dieser Bau die Voraussetzungen seiner Bestimmung, seiner Landschaft und seines geistigen
Ursprungs gleichermaßen erfüllt, wird er sich über die individuelle Enge der der eigenen Hand zum Kunstwerk
erheben können, d.h. in das universelle Gebiet des göttlichen Geheimnisses. Hier ist, wenn auch im kleinen
Maßstab, ein heiliger Bezirk. Entstanden. Seinem Baumeister kann kein größeres Lob widerfahren, als wenn aus
24
25
EMA, Königsberg i/Pr. den 24.III.14.
EMA, Charlottenburg, den 12. VII. 28.; Charlottenburg, Sonntag 22. VII. 28.
8
dem Wesen seiner Schöpfung selbst diese Heiligkeit des Bezirks erkennbar wird. Heilig wie der Tod, dem er dientheilig wie das Leben, das nun hier seinen Einzug hält. 26
In Berlin, das in der Zwischenkriegszeit das unbestrittene Zentrum der Pressefotografie war, erschien 1929 eine
Reportage über das moderne Königsberg, mit Fotos des bekannte Fotografen Martin Munkaczi, in der auch die
neue Friedhofsanlage dominierte und so in ganz Deutschland bekannt wurde. Im November 1938 wurde die
Anlage von SA-Männern in Brandt gesteckt und zerstört. Einzig der Blumenpavillon ist heute noch erhalten.
Inspirationen durch ostpreußische Landschaft
Wenn jetzt gefragt wird, inwiefern sich der Architekt von ostpreußischer Landschaft inspirieren ließ, dann muss
hier die Episode des Urlaubs auf der Kurischen Nehrung in Nidden stehen. Im Umfeld der Reise zur
Abstimmung nach Allenstein war Luise Mendelsohn bereits mit der Tochter nach Ostpreußen gereist und hatte
sich im Gasthof Blode einquartiert, wo traditionellerweise auch die Maler der Künstlerkolonie abstiegen. 27 Schon
in ihrem Brief vom 2.Juli berichtet Luise begeistert von den Naturerlebnissen: „Die Fahrt hierher im Nebel war
phantastisch und ganz weltabwesend. Alles Grau in Grau - dazwischen Sonnenstrahlen, die die weißen
Dünenberge ganz visionär aufblitzen ließen. Es ist ganz weltentrückt schön hier.“ 28 Und zwei Tage
später heißt es: „Jeder Tag wird schöner. Ich kann darüber gar nicht viel schreiben – Du wirst alles
selbst sehen“ 29 –Mendelsohn kam hinterher, nachdem er in Allenstein abgestimmt hatte und sich um
Testamentsangelegenheit nach dem Tod seines Vaters gekümmert hatte. Die Familie verbrachte eine
Zeit auf der Nehrung und Mendelsohn fertigte Skizzen von verschiedenen Dünen an. Damals war in
Gedanken schon mit dem Projekt der Hutfabrik Luckenwalde beschäftigt, das er 1921 in Angriff nahm
und bis 1923 vollendete. So verwundert es nicht, dass er später die Form des Fabrikgebäudes den
Eindrücken der Dünenlandschaft nachempfand.
Königsberger Hartungsche Zeitung, 12. August 1929.
Das belegt auch ein Foto, das die Gäste mit dem Wirt Hermann Blode zeigt: GETTY 3MS/880406/Box 39.
28 EMA, Nidden, den 2.VII.20.
29 EMA, Nidden, den 4.7.20.
26
27
9
ostpreußische Kontakte
Wie bereits erwähnt, waren Luise und Erich Mendelsohn seit langem mit den Brüdern Heymann waren
befreundet. Die Brüder wurden mehrfach Auftraggeber von Mendelsohn. 1920 vollendete der Architekt ein
Gebäude in der Dorotheenstraße in Berlin Mitte für den Versicherungsinhaber Hans Heymann. Später errichtete
er ein Doppelhaus am Karolinger Platz in Berlin-Westend, dessen eine Hälfte von Dr. Curt Heymann bezogen
wurde. Mit dem jüngsten der Brüder, dem Komponisten Werner Richard Heymann gab es ein weiteres indirektes
künstlerisches Intermezzo. Heymann, der damals musikalischer Direktor der großen deutschen Filmgesellschaft
UFA war, komponierte 1930 die Musik für die erste deutsche Filmoperette „Die Drei von der Tankstelle“. [Bild:
Filmplakat] Dieser Film war in vielerlei Hinsicht avantgardistisch und stellte das Vorbild für den späteren
amerikanischen Musikfilm dar. In diesem Film wurden zwei Mendelsohn-Bauten zu Drehorten: Das Landhaus
Dr. Bejach in Steinstücken bei Berlin und das Metallarbeiterhaus in Berlin Kreuzberg. Hier verbanden sich
Moderne in Musik, Medien und Architektur.
Zusammenfassung
Mendelsohn war schon in seiner Jugend der Zionistischen Vereinigung für Deutschland beigetreten.
Das hinderte ihn aber nicht daran, ein deutliches Bewusstsein für Ostpreußen als seine Heimatregion
wie auch im politischen Kontext zu haben und diese zu äußern. Sein Lebens- und Arbeitsmittelpunkt
war jedoch Berlin und nicht die kleine enge Provinz. Aber bis in die Emigration hinein spielten seine
Freundschaften und Kontakte aus Ostpreußen eine Rolle. Ein Symbol dafür ist auch die Übernahme
des Auftrags für das heute noch existierende Bauwerk in Sovetsk (Tilsit).
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