Vol 5 / Special issue
pp. 18-28
August2014
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Research on Steiner Education
Lernen in Beziehungen
Thomas Fuchs
Universität Heidelberg, Deutschland
Zusammenfassung. Wie kein anderes Lebewesen bedarf der Mensch seiner Artgenossen, um seine Anlagen zu
Fähigkeiten zu entfalten; dazu gehören insbesondere seine sozialen und kommunikativen Fähigkeiten. Ihre Entwicklung verläuft in enger Wechselwirkung von organischen Reifungsvorgängen im Gehirn und interaktiven
Erfahrungen. Wichtige Stufen dieser Entwicklung sind
1. die von Geburt an mögliche Nachahmung von Gesten und Ausdrucksformen anderer;
2. der Erwerb von interaktiven Verhaltensmustern im Umgang mit den Bezugspersonen in den ersten
Lebensmonaten;
3. die Entwicklung der „gemeinsamen Aufmerksamkeit“ auf äußere Objekte im 9. Lebensmonat; und schließlich
4. das Erlernen symbolischer Interaktionsfähigkeiten von der Zeigegeste bis hin zur Sprache im Verlauf
des 2. Lebensjahres.
Im Vortrag werden diese grundlegenden Schritte der menschlichen Sozialisation unter phänomenologischen,
entwicklungspsychologischen und neurobiologischen Aspekten dargestellt.
Schlüsselwörter: Lernen, Beziehung, Bindung, Entwicklung, Gehirn, Kommunikation, Intersubjektivität,
Bindung, Spiegelneurone,
Abstract. Unlike any other creature, a human being requires fellow human beings in order to develop one’s
potential into abilities; of special importance among these are one’s social and communicative abilities.
The development of these depends on the interplay between organic maturation processes in the brain and
interactive experiences. Important steps of this development include:
1. the ability to imitate gestures and forms of expression of others, which is possible from birth on;
2. the acquisition of interactive behavioral patterns in relation to caregivers in the first month of life;
3. the development of “joint attention” on external objects in the ninth month of life; and finally,
4. the learning of the capability to interact symbolically, i. e., from the pointing gesture until speech during
the second year of life.
These fundamental steps of human socialization will be presented in a phenomenological, developmental
psychological, and neurobiological light.
Einleitung
Seit der Antike hat sich der Mensch als das Wesen ausgezeichnet, das Sprache hat – als zóon lógon échon.1 Die
Sprache gilt bis heute als das spezifische Merkmal von Homo sapiens. Erst die vergleichende evolutionäre
Verhaltensforschung und die Säuglingsforschung der letzten Jahrzehnte haben uns gezeigt, welcher Reichtum
von Kommunikation und Dialog sich beim Menschen schon vor dem Erlernen der Sprache herausbildet.
Die nonverbale Kommunikation, die Körpersprache, wie man sie auch nennt, wird vermittelt durch Mimik
und Gestik, durch Berührungen, durch die Intonation der Stimme und schließlich durch die gesamte
1. lógos, eigentlich das Wort oder der Sinn, avancierte später zur Vernunft, so dass die lateinische Übersetzung animal rationalis
nicht mehr die gleiche Bedeutung hatte wie im Griechischen.
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Körperhaltung. Diese Ausdruckskommunikation des Menschen weist eine Differenziertheit und Vielfalt
auf, die im Tierreich einzigartig ist. Sie ist, wie wir noch sehen werden, auch die Grundlage, auf der sich die
sprachlich-symbolischen Formen der Verständigung überhaupt erst entwickeln können.
Die Körpersprache bleibt aber auch für uns Erwachsene die Basis unserer Beziehungen. Das liegt zum
einen daran, dass sie – jenseits aller verbalen Beteuerungen – den eigentlichen Gefühlsausdruck vermittelt,
der für die Beziehungsebene der Kommunikation entscheidend ist. Zum anderen trägt die Körpersprache
im Unterschied zur verbalen einen unmittelbaren Charakter. Wir haben sie nur bedingt unter Kontrolle
und sind ihr zumeist gewissermaßen ausgeliefert. Die meisten körpersprachlichen Signale laufen rand- oder
unbewusst ab, und wir können sie nicht bewusst zur Kommunikation einsetzen. Friedrich Nietzsche hat
das auf den Punkt gebracht: „Man lügt wohl mit dem Munde; aber mit dem Maule, das man dabei macht,
sagt man doch noch die Wahrheit.“ (Nietzsche, 1984, S. 84) Mimikanalysen haben gezeigt, dass etwa ein
künstliches Lächeln weniger Gesichtsmuskeln aktiviert (v.a. der Augenringmuskel ist nicht beteiligt) und
daher für den guten Menschenkenner immer durchschaubar bleibt. Freilich können wir die Mimik auch
verstellen oder zumindest still stellen. Aber in der Regel werden wir uns im Kontakt mit anderen unbewusst
mehr auf die nonverbalen Signale verlassen als auf seine Worte, nämlich wenn es um die Beziehung, das
Vertrauen, die „Chemie“ zwischen uns und dem anderen geht.
Daher tun wir gut daran, uns anhand der frühkindlichen Entwicklung deutlich zu machen, auf
welcher Grundlage sich die menschliche Dialogfähigkeit entfaltet. Zwar regeln wir unser Leben, unsere
Informationen und Beziehungen als Erwachsene in hohem Maß durch die Sprache, ja zunehmend durch
digital-elektronische Zeichenkommunikation. Doch diese symbolische Sprache bleibt immer angewiesen
auf eine ursprünglichere Kommunikation, die gewissermaßen schon unsere Körper miteinander verbindet
und eine grundlegende Intersubjektivität herstellt, die der französische Philosoph Merleau-Ponty (2003, S.
256) einmal als „Zwischenleiblichkeit“ bezeichnet hat.
Im Folgenden will ich die biologischen, psychologischen und sozialen Grundlagen unserer Dialogfähigkeit
darstellen. Ich beginne dabei mit einem kurzen Blick auf die Gehirnentwicklung, denn diese stellt ja die
Basis für alle Lernprozesse dar, die sich in der Kindheit vollziehen. Dann werden wir die Schritte, die vom
ersten Lächeln zum ersten Wort führen, in Grundzügen nachverfolgen.
Neuroplastizität und Entwicklung
Der Mensch bedarf wie kein anderes Lebewesen seiner Artgenossen, um seine Anlagen zu Vermögen zu
entfalten. Keine andere Spezies kommt aber auch mit einem so plastischen und formbaren Gehirn zur Welt
wie der Mensch. Aufgrund der neuronalen Plastizität, also der Ausbildung der Synapsenstruktur vor allem
in der frühen Kindheit, entwickelt es sich zu einem Organ, das komplementär zu seiner Umwelt passt wie
der Schlüssel zum Schloss. Unsere neurobiologischen Anlagen bedürfen also der passenden emotionalen
und intellektuellen Angebote unserer Bezugspersonen, um sich zu entfalten. Der Mensch ist im Sinne des
Wortes ein „zoon politikon“, ein soziales Lebewesen, dessen Organismus bis in das Gehirn hinein durch die
Gemeinschaft mit anderen geformt wird. Mit anderen Worten: Das menschliche Gehirn ist wesentlich ein
sozial und biographisch gebildetes Organ.
Das ist deshalb für unser Thema so wichtig, weil das Erlernen der Kommunikation kein genetisch
festgelegtes Programm darstellt, das nur aktiviert werden muss, sondern sich von Anfang an durch die soziale
Interaktion vollzieht. Die emotionalen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten des Kindes entwickeln sich in
einer Wechselwirkung von biologischen Potenzialen und interaktiven Erfahrungen in seiner sozialen Umwelt.
Der amerikanische Neurophysiologe Hebb formulierte 1949 das Grundgesetz des synaptischen
Lernens: Simultan aktivierte Neuronen verstärken ihre synaptischen Koppelungen bzw. bilden zusätzliche
Verschaltungen. Dies führt zu einer Bahnung, also künftig erhöhten Signalübertragung. Selten oder gar
nicht benutzte Verbindungen hingegen werden wieder abgebaut, was dem Verlernen entspricht. Man könnte
dies mit einem Dschungelpfad vergleichen, der bei häufigem Begehen allmählich breiter und schließlich
zu einem bequemen Weg wird; bleibt er jedoch unbegangen, so wird er überwuchert und verschwindet
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schließlich wieder. Häufig genutzte neuronale Verbindungen gleichen gut ausgetretenen Pfaden, während
selten aktivierte Verschaltungen wieder verloren gehen.
Ein gewaltiger Überschuss an Neuronen und Synapsen wird in den ersten Lebensmonaten gebildet und
dann je nach Anregung und Gebrauch gefestigt oder wieder abgebaut. Es sind zunächst fast doppelt so
viele Synapsen wie schließlich gebraucht werden. Dieser erfahrungsabhängige Selektionsprozess formt bis
zum Ende des zweiten Lebensjahrs das bleibende anatomische Nervennetzwerk. Lebenslang veränderlich
bleibt aber seine Feinstruktur in Form von synaptischen Verschaltungsmustern, ja sogar die Neubildung von
Neuronen im erwachsenen Hippocampus konnte inzwischen nachgewiesen werden. So wie Muskeln durch
Übung wachsen, ohne Tätigkeit aber atrophieren, so wachsen oder degenerieren je nach Ausübung einer
Funktion die für sie zuständigen neuronalen Netze.
Die Struktur unseres Gehirns verändert sich also mit jedem Gebrauch, in Abhängigkeit von den
Reizen, die jede Sekunde auf das Gehirn treffen, und von den Beziehungen, die es vermittelt. Das Gehirn
eines Menschen repräsentiert gleichsam die Summe aller Erfahrungen aus seiner Vergangenheit. Es ist
umso beeindruckbarer, je jünger der Mensch ist, je intensiver die Eindrücke sind und je öfter diese wiederholt werden. Grundsätzlich gilt aber das ganze Leben hindurch: Wir schaffen und verändern durch
unsere Erfahrungen ununterbrochen die die neuronale Struktur unseres Gehirns und damit auch unsere
Wahrnehmungs- und Handlungsbereitschaften – kurz, wir verändern uns selbst.
Primäre Intersubjektivität
Nach diesen Vorbemerkungen zur Neuroplastizität will ich mich nun dem eigentlichen Thema, der
Entwicklung der Kommunikation in der frühen Kindheit zuwenden. Ich werde dabei immer wieder einen
Blick auf die biologische Basis dieser Entwicklung werfen. Beginnen wir mit dem ersten Lebensjahr, der Phase,
die in der Säuglingsforschung auch als die der „primären Intersubjektivität“ bezeichnet wird (Trevarthen, 2001).
Zwischenleibliche Resonanz und Empathie
„Am Anfang war Beziehung“ – und die unmittelbarste Form der Beziehung zur Welt stellt der Tastsinn
her. Der taktile Körperkontakt, das Berühren, Hochheben, Wiegen und natürlich auch das Stillen, ist die
erste Form der Kommunikation zwischen Mutter und Kind. Er vermittelt nicht nur die Erfahrung des
Getragen, Gehaltenseins, der Wärme und Geborgenheit – entscheidende Erfahrungen für die Entwicklung
des Urvertrauens in die Welt und in die anderen Menschen. Auf biologischer Ebene kommt es bei beiden
auch zur Oxytocin-Ausschüttung – ein Hormon, das nicht nur den Milchfluss anregt, sondern auch die
Bindung zwischen Mutter und Kind unterstützt. Auch Tiermütter kümmern sich umso intensiver um den
Nachwuchs, je höher ihr Oxytocinspiegel ist. In traditionalen Kulturen ist der Körperkontakt zwischen
Säugling und Bezugspersonen viel intensiver als in den Industriestaaten, und dies hat sicher eine höhere
Bindungssicherheit der Kinder zur Folge.
Gehen wir über zum Sehsinn. Auch hier sind Säuglinge schon biologisch auf soziale Interaktionen
eingestellt. Sie verfügen zum einen über die angeborene Fähigkeit, belebte und unbelebte Objekte zu
unterscheiden. Zum anderen zeigen sie von Geburt an eine erhöhte Aufmerksamkeit für Gesichter. Ja mehr
noch: Sie sind sie auch von Anfang an in der Lage, Gesten von Erwachsenen wie Zunge zeigen, Mundöffnen,
Stirnrunzeln u.a. zuverlässig nachzuahmen (Meltzoff & Moore, 1977). Sie verfügen über ein angeborenes
soziales Körperschema, so dass sich der eigene Körper des Säuglings mit der Wahrnehmung des anderen
verbindet, also beide von vorneherein als verwandt erfahren werden. Das Neugeborene nimmt also seine
Mutter nicht als bloßes „Bild“ oder Gegenüber wahr, sondern mimetisch, indem es ihren Ausdruck in sich
nachbildet. Die Forschungen der letzten 1-2 Jahrzehnte sprechen dafür, dass diese Fähigkeit des menschlichen Säuglings zur spontanen Nachahmung von Ausdruck und Handlungen anderer die Grundlage für die
Empathie und das zwischenmenschliche Verstehen ist – wir kommen darauf zurück.
Durch zahlreiche kulturvergleichende Studien ist es heute belegt, dass bestimmte Grundmuster
menschlicher Mimik zunächst auf biologischer Basis hervorgebracht und auch verstanden werden. Sie
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sind an stammesgeschichtlich alte Teile unseres Gehirns gebunden, nämlich an Stammhirn und limbisches System. Dementsprechend gibt es einen Satz von sechs Grundemotionen, deren mimischer Ausdruck
in allen Kulturen gleich ist, nämlich Freude, Trauer, Wut, Ekel, Überraschung, Angst. Entsprechende
Ausdrucksformen sind etwa Stirnrunzeln, Naserümpfen, Augenaufreißen, Weinen, Lächeln, Augenbrauen
hochziehen, usw. So entwickeln Säuglinge ungefähr sechs bis acht Wochen nach der Geburt die Fähigkeit,
auf ihre Umgebung mit Lächeln zu reagieren und so mit anderen Menschen in Interaktion zu treten und
Bindungen aufzubauen. Natürlich treten später andere, stärker kulturgeprägte Emotionen und Ausdrucksformen hinzu.
Über diese Nachahmungs- und Ausdrucksformen entwickelt sich nun auch zunehmend eine emotionale
Resonanz des Säuglings mit der Mutter. Sie antwortet auf seine Signale und Initiativen intuitiv mit geeigneten
stimmlichen und gestischen Reaktionen. Mütter benutzen dabei unbewusst vereinfachte, prototypische Verhaltensformen (Ammensprache, expressive Mimik, Augenkontakt, Begrüßungsreaktion u.a.), die den noch
unentwickelten Repertoires des Kindes entsprechen. Die Säuglingsforscher Papoušek und Papoušek (1995)
haben diese und ähnliche Umgangsformen als „intuitive mütterliche Kompetenzen“ bezeichnet. Mütter
(aber auch Väter) verfügen danach über ein biologisch angelegtes unbewusstes Wissen, das sie dazu befähigt,
sich dem Säugling durch Laute, Mimik und Gestik verständlich zu machen, ihn angemessen zu beruhigen
oder zu stimulieren, und sich dabei von den kindlichen Signalen leiten zu lassen.
Dieser frühe Dialog von Mutter und Kind ist besonders geprägt von musikalischen Ausdrucksqualitäten,
vom Rhythmus und von der Dynamik der mimischen, stimmlichen und gestischen Interaktion (‚crescendo‘,
‚decrescendo‘, fließend, weich, explosiv etc.). Sie führt zu der wechselseitigen „Affektabstimmung“ und den
„gemeinsamen Bewusstseinszuständen“ von Mutter und Säugling, die die Säuglingsforschung hervorhebt.
Daniel Stern (1998a) hat auch von einem „gemeinsamen Tanz“ gesprochen, den Mutter und Säugling
spontan miteinander vollführen. Im Laufe dieser Kommunikation lernt das Kind zunehmend, den
mütterlichen Gefühlsausdruck mit typischen wiederkehrenden Situationen in Verbindung zu bringen und
so seine verschiedenen Bedeutungen zu unterscheiden. Zugleich lernt es seine eigenen Gefühle immer besser zu verstehen und zu differenzieren. Vor allem aber entwickelt es das Grundgefühl, mit anderen in einer
gemeinsamen emotionalen Welt zu leben und mit ihnen verbunden zu sein.
Fassen wir alle diese Beobachtungen zum Gefühlsausdruck und zur Imitation zusammen, so können
wir von einem ursprünglichen, auch biologisch angelegten Resonanz- und Empathie-System sprechen, das
die frühe Entwicklung des Kindes prägt. Wir wachsen auf in einer ursprünglichen Sphäre kommunikativer
„Zwischenleiblichkeit“, in der wir auch unser ganzes Leben hindurch bleiben: Immer wenn zwei Personen
einander begegnen, sind sie von vorneherein in ein Interaktionsgeschehen einbezogen, das ihre Körper
miteinander verbindet und ein intuitives Verstehen herstellt. Die Gefühle des Anderen werden in seinem
Ausdruck unmittelbar verständlich, weil dieser in uns einen meist unbemerkten leiblichen Eindruck mit
subtilen Empfindungen und Gefühlsvorstufen hervorruft. Daraus ergibt sich eine zwischenleibliche Resonanz: Man spürt den Anderen buchstäblich am eigenen Leib.
Spiegelneurone
Aus der Resonanz ergibt sich das Einfühlungsvermögen, die schon erwähnte Empathie. Sie ist das Fundament
unseres sozialen Lebens und macht Kommunikation überhaupt erst möglich. Menschen fühlen sich ständig
in das Denken und Fühlen andere Menschen ein. Sie spüren den Schmerz und die Freude anderer, sie
verstehen die Absicht hinter einer zum Gruß ausgestreckten Hand, sie verstehen, warum ein anderer nach
einem Glas greift. Die neuronale Basis dieser Einfühlung ist in den letzten 10 Jahren entdeckt und erforscht
worden, nämlich das System der Spiegelneurone („mirror neurons“; Rizzolatti et al., 2001, Gallese, 2001).
Diese Neuronen wurden zunächst bei Affen in der prämotorischen Hirnrinde identifiziert, die für die
Bewegungsorganisation und -regulation zuständig ist. Inzwischen ließen sich auch beim Menschen in prämotorischen, aber auch anderen Arealen des Gehirns solche Neuronengruppen nachweisen. Spiegelneurone werden sowohl dann aktiviert, wenn wir eine ganz bestimmte Handlung wie etwa das Greifen nach
einem Apfel oder einer Tasse selbst ausführen, als auch dann, wenn wir die gleiche Handlung bei einem
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anderen wahrnehmen. Das Spiegelneuronensystem verknüpft also die interpersonelle Wahrnehmung mit
der Eigenbewegung. Bereits bei der Beobachtung der Bewegung kommt es zu unterschwelliger Aktivität
der entsprechenden eigenen Muskeln. Man könnte den Effekt so ausdrücken: Ich verstehe was es heißt,
wenn du nach einer Tasse greifst, weil sich dabei in meinem Arm eine gleichartige Bewegung andeutet.
Spiegelneurone werden auch dann aktiviert, wenn man sich die Ausführung einer Bewegung vorstellt, am
meisten aber dann, wenn man eine beobachtete Bewegung imitiert. Auch die Imitation bei Säuglingen
dürfte auf der Aktivität von Spiegelneuronen beruhen.
Das System hat also, soweit wir heute sagen können, zwei hauptsächliche Funktionen:
1. Es stellt eine Resonanz zwischen dem eigenen Körper und dem des anderen her und erleichtert damit
das Verstehen seiner Handlungen.
2. Die Resonanz der Spiegelneurone bahnt auch Handlungsbereitschaften. Je öfter man eine Aktion
bei Anderen beobachtet hat, desto niedriger liegt die Schwelle für ihre Nachahmung, desto leichter
fällt sie auch. Auch die Imitation bei Neugeborenen dürfte auf der Aktivität von Spiegelneuronen
beruhen. Damit stellt das Spiegelsystem die Basis für das Imitations- und Modell-Lernen dar, eine
für die Kulturentwicklung zentrale menschliche Fähigkeit.
Auf der anderen Seite sind die motorischen Spiegelneurone sicher nicht die einzigen Systeme, die zum
Verständnis der Anderen beitragen; dazu ist ihre Reichweite zu begrenzt. Neuronale Spiegelsysteme spielen
aber auch bei der „Ansteckung“ durch Lachen, Weinen oder Gähnen anderer eine Rolle. Weitere derzeit
intensiv erforschte Mitempfindungen betreffen Gefühlsreaktionen wie Schmerz oder Ekel: Beobachtet man
die Ekelempfindungen Anderer bei einer unangenehmen Geruchswahrnehmung, so wird ein Areal in der
vorderen Insel aktiviert, das auch eigenen Ekelreaktionen zugrunde liegt (Wicker et al., 2003). Aufgrund
dieser Forschungsresultate kann man inzwischen von einem komplexen, über verschiedene Hirnregionen
verteilten Spiegelsystem ausgehen, das Eigen- und Fremdwahrnehmung verknüpft und so zu einer Grundlage zwischenmenschlicher Wahrnehmung, Imitation und Empathie wird.
Freilich bringt auch dieses biologisch angelegte System die menschliche Sozialität nicht etwa hervor;
seine Aktivität ist nicht einfach angeboren, sondern beruht auf typisch wiederkehrenden Erfahrungen. Das
Greifen nach einem Apfel kann das Spiegelsystem erst aktivieren, wenn der Apfel für das Kind in bestimmen
Situationen die Bedeutung eines Greifziels erhalten hat. Auch die Mitempfindung von Gefühlsreaktionen
wie etwa Ekel erfordert ein Verständnis der Situation, etwa für den Zusammenhang von Geruch und
Ekel. Das Spiegelsystem kann also seine Funktion erst erfüllen, wenn es in einen sozialen Interaktionsund Bedeutungsraum eingebettet ist. Es gibt inzwischen auch Studien, die einen Trainingseffekt auf das
Spiegelneuronensystem belegen (Catmur et al., 2007)
Implizites Gedächtnis
Gehen wir nun weiter in der frühkindlichen Entwicklung. Wie vollzieht sich eigentlich das soziale Lernen
im ersten Lebensjahr? – Das Erinnerungsgedächtnis, in dem einzelne biographische Erlebnisse oder erlernte Fakten gespeichert sind, reift erst im 2. Lebensjahr aus. Doch es gibt noch eine ganz andere Form
des Gedächtnisses. Das allermeiste von dem, was wir irgendwann erlernt haben, wenden wir nämlich ganz
automatisch im alltäglichen Lebensvollzug an, ohne uns dabei an Vergangenes zu erinnern. Durch wiederholte Erfahrungen oder Übung haben sich Fähigkeiten oder Gewohnheiten gebildet, die in der passenden Situation unwillkürlich aktiviert werden. In der Gedächtnisforschung spricht man vom impliziten
im Unterschied zum autobiographischen Gedächtnis (implizit = unwillkürlich, automatisch, ohne gezielte Aufmerksamkeit). Man kann es auch das prozedurales Gedächtnis nennen, denn es enthält vor allem
Prozeduren oder Verhaltensmuster wie Laufen, Schwimmen oder Fahrradfahren, Sprechen oder Schreiben,
aber auch die Fähigkeiten des Umgangs mit anderen, die wir bei jeder Begegnung zur Verfügung haben,
ohne eigens darauf achten zu müssen.
Das implizite Gedächtnis beruht auf anderen Hirnstrukturen als das autobiographische Gedächtnis; es
ist eher subkortikal organisiert und wesentlich früher funktionsfähig. Bereits 3-4 Monate alte Kinder sind
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mittels des impliziten Gedächtnisses in der Lage, aus wiederholten Erlebnissen Regelmäßigkeiten zu bilden,
sich Fähigkeiten anzueignen und zu lernen. Vor allem erwerben sie im Kontakt mit anderen interaktive
Verhaltensmuster, die ihren Umgang mit anderen organisieren, “schemes-of-being-with”, wie Daniel Stern
sie genannt hat – „Ich-mit-Mutter-beim-Stillen“, „Ich-mit-Vater-beim-Ballspielen“ usw. Daraus entsteht
das, was man auch implizites Beziehungswissen nennt (Stern, 1998b): ein Wissen, wie man mit anderen umgeht – wie man mit ihnen Vergnügen hat, Freude ausdrückt, Aufmerksamkeit erregt, Ablehnung vermeidet, usw. Es ist ein zeitlich organisiertes, gewissermaßen „musikalisches“ Gedächtnis für die Rhythmik, die
Dynamik und die „Untertöne“, die in der Interaktion mit den Anderen unhörbar mitschwingen.
Bereits in den ersten Lebensmonaten lässt sich ein Gedächtnis für solche gemeinsamen Interaktionssequenzen
nachweisen, nämlich an den Erwartungen der mütterlichen Reaktionen, die das Kind zeigt. Babys lernen
rasch, welche emotionalen Äußerungen die Eltern ansprechen, aktivieren oder eher abweisen usw. Sie zeigen
deutlich Erwartungen, und daher auch Überraschungen und Enttäuschungen. Beim still-face-Experiment
fordert man die Mütter auf, im Verlauf einer normalen Spielsituation mit ihrem Säugling zwei Minuten lang
ihre Mimik starr zu stellen und gerade aus zu blicken. Babys reagieren darauf in der Regel mit deutlicher
Irritation und Unruhe – die erwartete Resonanz der Mutter bleibt aus – und versuchen auf alle mögliche Weise,
gestikulierend und vokalisierend, die Mutter wieder zur Rückkehr zum gewohnten Kontakt zu veranlassen.
Dabei lassen sich zwei Gruppen von Kindern differenzieren (Field, 1984; Papousek, 2001): (1) Kinder von
sensiblen und lebhaften Müttern bleiben auch in der still-face-Situation aktiv und erwarten offensichtlich,
dadurch die Mutter wieder in den Kontakt zu bringen; (2) Babys von Müttern mit eher unsensibler, mangelnder Resonanz, etwa aufgrund einer nachgeburtlichen Depression, reagieren dagegen anders: sie sind
zwar anfangs beunruhigt, werden dann aber rasch passiv und hilflos. Sie haben nicht gelernt, ihr Verhalten
wirksam im Kontakt einzusetzen, d.h. sie entwickelten ein gewohnheitsmäßiges Schema von anderen als
relativ unerreichbar und unbeeinflussbar. Gelingt es den Kindern nicht, Beziehungsschemata zu erwerben,
mittels deren sie mit anderen in sicheren Kontakt treten, so können sich auch ihre Bindungen nicht angemessen entwickeln. Sie zeigen im weiteren Verlauf eine deutliche Bindungsschwäche (Field et al., 1988).
Wir sehen also, dass sich die frühe Interaktion und Kommunikation von Anfang an in den Gedächtnis- und
Gehirnstrukturen des Kindes niederschlägt.
Bindungssystem
Damit kommen wir zu einem zentralen Begriff der Entwicklungspsychologie der letzten 1-2 Jahrzehnte,
der Bindungstheorie. Nach John Bowlby, der diese Theorie in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts
entwickelt hat, werden die sozialen Beziehungen in der frühen Kindheit von einem biologisch angelegten
Bindungssystem reguliert, das die Funktion erfüllt, die Nähe, Fürsorge und emotionale Verbundenheit mit
den wichtigsten Bezugspersonen sicherzustellen (Bowlby, 1982). Es umfasst
1. biologisch verankerte, bei Kindern und Erwachsenen aufeinander abgestimmte Signale wie Suchen,
Rufen, Anblicken, Weinen, Anklammern;
2. die entsprechenden Triebregungen und Bedürfnisse etwa nach Geborgenheit, Pflege, Wärme und Zuneigung;
3. die dazugehörigen physiologischen, etwa neuroendokrinen Funktionen.
Durch dieses System werden die elementaren Bedürfnisse des Säuglings erfüllt: Er ist angewiesen auf
die Wärme des Körpers der Mutter, auf ihren Geruch, ihre Berührungen, ihre liebevollen Zuwendung,
angemessene Anregung und Beruhigung. Diese Interaktionen spielen für die emotionale und soziale Entwicklung des Säuglings eine unersetzliche Rolle. Gelingt die komplementäre Ergänzung und Regulation
durch die Mutter, dann wird der Säugling zunehmend fähig, seine Gefühlszustände, also auch unangenehme oder Stresszustände selbst zu regulieren. Zugleich gehen seine frühen Beziehungserfahrungen in das
implizite Gedächtnis ein und werden als sichere Bindungen verankert. Er gewinnt das Grundvertrauen und
die sichere Basis, um die Welt aktiv zu erforschen. Die ersten Beziehungen werden auch zu inneren Vorbildern, die seine späteren Beziehungen bis ins Erwachsenenalter maßgeblich prägen (Brisch et al., 2002).
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Umgekehrt jedoch führen mangelnde Zuwendung, Geborgenheit oder Trennungen von der Mutter beim
Säugling zu psychophysischen Stressreaktionen mit zunächst steigender Erregung, dann aber zunehmender
Resignation, Apathie oder Verzweiflung. Schon aus den 60er Jahren sind die Untersuchungen von René
Spitz (1967) an Heimkindern bekannt, die bei völligem Entzug emotionaler Fürsorge schwere Deprivationssyndrome mit Apathie, Depression und erhöhter Sterblichkeit entwickelten. Bereits weniger gravierende
Beziehungsstörungen etwa infolge einer nachgeburtlichen Depression der Mutter wirken sich nachteilig
auf die kognitive und emotionale Entwicklung des Kindes aus (Murray & Cooper, 2003). Nicht nur die
Entwicklung der kognitiven Hirnstrukturen, sondern auch die noch grundlegendere Reifung des emotionalen Beziehungssystems ist also ein erfahrungsabhängiger Prozess, der vielfältigen Störungsmöglichkeiten
unterworfen ist (Fuchs, 2008a).
Sekundäre Intersubjektivität
Ich habe nun die frühen, also die non-verbalen Formen von Kommunikation und Beziehung dargestellt,
die auch als primäre Intersubjektivität bezeichnet werden. In der nächsten Stufe, der sekundären
Intersubjektivität, entwickelt sich die sprachlich-symbolische Kommunikation, die eigentliche menschliche
Dialogfähigkeit. Betrachten wir diese Entwicklung etwas näher.
Ein entscheidender Schritt ist dabei die Entwicklung der „gemeinsamen Aufmerksamkeit“ („joint attention“), bei der sich Mutter und Kind gemeinsam auf ein äußeres Objekt richten – eine Fähigkeit, die sich etwa ab
dem 9. Lebensmonat ausschließlich beim Menschen entwickelt. Biologisch unterstützt wird diese Entwicklung
dadurch, dass die Neubildung neuronaler Verschaltungen oder Synapsen in diesem Zeitraum ihren Höhepunkt erreicht. Hier liegt also die Phase der intensivsten Umwandlung von Umwelterfahrungen, insbesondere von sozialen
Interaktionen, in die bleibenden Netzwerke des Gehirns (Markowitsch & Welzer, 2005, S. 174).
In diesem Alter beginnen Babys also, sich gemeinsam mit Erwachsenen Gegenständen zuzuwenden und
sich dabei deren Aufmerksamkeit durch kurze Blicke zu vergewissern. Bald gehen die Babys aber auch dazu
über, die Aufmerksamkeit der Erwachsenen durch Zeigegesten auf Dinge zu lenken: Sie zeigen auf ein Glas,
damit die Mutter es füllt, auf ein interessantes Tier, damit sie es sieht, oder auch auf einen Gegenstand, den
die Mutter sucht, um ihr zu helfen. Umgekehrt beginnen Babys nun auch, die Zeigegesten der Erwachsenen zu verstehen, also die „Bedeutung“ der deutenden Hand. Das Zeigen beinhaltet die gemeinsame
Beziehung auf ein Drittes, das von beiden Partnern gesehen oder gehandhabt wird. In den Zeigegesten
manifestiert sich eine spezifisch menschliche Kommunikation, die Verständigung über einen gemeinsamen
äußeren Bezugspunkt. Hier liegt die grundsätzliche Grenze der mentalen Fähigkeiten anderer Primaten, die
keine gemeinsame Aufmerksamkeit entwickeln können (Fuchs, 2008b, S. 25f.).
Die Zeigegeste ist also grundlegend. Der Säugling erlebt nämlich dabei, dass es eine Aufmerksamkeitsrichtung der anderen gibt, die er selber beeinflussen kann und die ihn selber beeinflusst. Er
macht die Erfahrung, dass die Welt aus den Augen der Mutter anders aussieht als seine eigene Welt, dass
er sich aber mit ihr darüber verständigen kann. Wenn er ihr etwas zeigt, dann kann er das nur, wenn er
ein Verständnis davon hat, dass sie es noch nicht sieht, es aber vielleicht gleich sehen kann. Das heißt, er
entwickelt das Verständnis dafür, dass es eine Perspektive außerhalb der seinigen gibt - die eines anderen.
Das beginnt um den neunten Lebensmonat. Es ist eine so grundlegend neue Stufe, dass man auch von der
9-Monats-Revolution spricht (Tomasello, 2002).
Kinder verstehen nun auch, dass andere Menschen Ziele haben, und dass sie bestimmte Mittel einsetzen,
um sie zu erreichen. Mit 12-14 Monaten sind sie bereits in der Lage zu begreifen, was ein Erwachsener tun
möchte und führen eine unvollständige Handlung an seiner Stelle zu Ende. Nun haben sie auch die Möglichkeit, gezielt von anderen zu lernen. Sie fangen an, Handlungen anderer nicht mehr nur unwillkürlich
nachzuahmen, sondern durch selbst gesteuerte Imitation einzuüben, etwa den Gebrauch von Werkzeugen.
Dazu müssen sie Ziel, Zweck und Mittel der Handlung anderer erfassen können. Sie versetzen sich in sie,
identifizieren sich mit ihnen und übernehmen in oft spielerischer Imitation ihre Haltungen und Rollen. Auf
diese Weise erwerben sie spezifische Kulturtechniken im Umgang mit Objekten ebenso wie soziale Kompetenzen im Umgang mit Anderen.
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Freilich gibt es außer der Zeigegeste noch weitere kommunikative Gesten, die sich in den ersten
Lebensmonaten entwickeln. In nahezu allen Kulturen bedeutet z.B. ein Kopfschütteln „nein“. Der Anfang
dieser Bewegung lässt sich bereits beim Säugling beobachten, der auf einen unangenehmen Reiz hin den
Kopf zur Seite und somit das Gesicht vom Reiz weg bewegt. Im Verlauf der Stammesgeschichte kam es
vermutlich zu einer Ritualisierung. Da das Signal eindeutig sein muss, wurde es auffälliger ausgeführt: durch
eine Vergrößerung der Kopfdrehung bis über die Mittelachse des Körpers und durch Wiederholung der
Bewegung. – Auf der anderen Seite steht ein Kopfnicken in den meisten Kulturen für ein „ja“. Das Senken
des Kopfes bedeutete wahrscheinlich eine Art Demutsgeste, um sich dem Interaktionspartner zu beugen.
Eine Ritualisierung erfolgte auch hier durch die Wiederholung und bedeutete: Ich beuge mich dem, was du
sagst, ich bin einverstanden.
Mit den Gesten, besonders mit der Zeigegeste, sind nun aber auch die ersten Worte verbunden. Die
Eltern zeigen auf Gegenstände und benennen sie. Und ebenso sind die ersten Worte, die Kinder verwenden,
häufig verbunden mit Zeigegesten. Sie sind integriert in kooperative Aktivitäten, in die die Kinder einbezogen sind, und die von den Eltern strukturiert werden: Windeln wechseln, Essen im Kinderstuhl, mit
dem Auto fahren, Enten füttern, einen Turm aus Klötzen bauen usw. Das Sprachvermögen entwickelt sich
also in der gemeinsamen, auf die Umwelt gerichteten Praxis. Ohne eine sinnvolle Interaktion mit dem
Erwachsenen, der einen neuen sprachlichen Ausdruck verwendet, hören Kinder nur Geräusche, die aus
dem Mund der anderen kommen. Sie müssen erkennen, dass Bezugspersonen Wörter zielgerichtet, also mit
einer Bezeichnungsabsicht verwenden. Daher übernehmen sie ein Wort für einen neuen Gegenstand nur
dann, wenn die Aufmerksamkeit des Erwachsenen tatsächlich auf den Gegenstand gerichtet ist. Schaut die
Bezugsperson in eine andere Richtung oder kommt die Stimme vom Band, stellt das Kind die Beziehung
von Wort und Gegenstand nicht her.
Perspektivenübernahme und Selbstbewusstsein
Mit der Sprache erlernt das Kind ein grundlegend neues Medium der Kommunikation, aber auch der
Erkenntnis der Welt und seiner selbst. Es vermag sich nun noch besser in andere hineinzuversetzen, ihre
Absichten nachzuvollziehen und ihre Perspektive im eigenen Handeln mitzudenken. Doch wie lernt das
Kind eigentlich „Ich“ sagen? Wie kommt es zur Entwicklung von Selbstbewusstsein? Wir werden sehen, dass
auch dieses Phänomen an die Beziehung und Kommunikation mit den anderen gebunden ist.
Zwar bringt der Säugling bereits ein sehr elementares Selbstgefühl, ein leibliches Selbsterleben mit.
Er hat schon vor der Geburt grundlegende Empfindungen von Berührung und Bewegung, in denen er
zugleich sich selbst spürt. Doch erst in den in den ersten Lebensmonaten entwickelt und differenziert sich
dieses elementare Selbstempfinden, vor allem durch die Erfahrungen mit den anderen, die ihn ansehen und
ansprechen. Die Vorstufen von Selbstbewusstsein entwickeln sich mit dem Sich-Spiegeln in den Augen der
Mutter, also mit dem Angesprochensein von den anderen. Freilich kann der Säugling sein Selbstempfinden
noch nicht reflektieren im Sinne eines „Ich“ oder eines Selbstbewusstseins, aber er spürt, dass er wahrgenommen wird und gemeint ist. Er ist ein „Selbst-mit-Anderen“, wie man es ausdrücken könnte.
Das bedeutet aber noch kein „Ich-Selbst“. Der entscheidende Schritt auf dem Weg zum eigentlichen
Selbstbewusstsein vollzieht sich ab dem 9. Lebensmonat, wenn der Säugling die „gemeinsame Aufmerksamkeit“
erlernt und die Perspektive anderer zu begreifen beginnt. Würden wir alleine aufwachsen, könnten wir
unserer selbst gar nicht bewusst werden. Wenn das Kind aber die Perspektive der anderen erfassen kann,
lernt es auch, sich selbst mit ihren Augen zu sehen – und nur so entwickelt sich das Selbstbewusstsein.
Das Kind lernt zum Beispiel zu verstehen, was es bedeutet, einen eigenen Namen zu haben, etwa dass ich
„Monika“ bin. Das geschieht, wenn das Kind merkt, dass der Name auf es „zeigt“. Diese Bedeutung versteht
das Kind im Laufe des zweiten Lebensjahres. Interessanterweise sagen Kinder ja zunächst einmal: „Monika
spielt Puppen“ oder „Monika hat das gemacht“; sie benützen also erst ihren Eigennamen, bevor sie „ich“ sagen.
Im Laufe des zweiten Lebensjahrs wird es dem Kind auch möglich, sein Spiegelbild als sich selbst zu
erkennen. Es gibt das bekannte Experiment, bei dem man Kindern unbemerkt einen roten Fleck auf die
Stirn malt. Wenn sie sich nun im Spiegel sehen, greifen sie ab dem 16.-18. Lebensmonat an die eigene Stirn.
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Sie verstehen also, dass das Spiegelbild sie selbst darstellt. Zuvor ist es für sie einfach nur ein lustiges Gesicht.
Sich im Spiegel zu erkennen bedeutet, sich selbst aus der Perspektive der anderen, gewissermaßen von außen
sehen zu können. Darin besteht ein Markstein in der Entwicklung des Selbstbewusstseins.
Ab dem 2./3. Lebensjahr schließlich lernt das Kind, mit dem Ich-Pronomen umzugehen. Das Pronomen
Ich steht zwar für mich, aber es ist auch ein schwieriges, nämlich ein Wechselwort. Je nach dem Sprecher
wechselt es ja immerzu den Ort. Ich sage jetzt „ich“, aber sobald Du anfängst zu sprechen, sagst du plötzlich
auch “ich“ - eigentlich eine sehr verwirrende Doppeldeutigkeit. Erst wenn das Kind versteht, das jeder
gleichermaßen – es selbst aber auch – „ich“ sagen kann, begreift es die Allgemeinheit der persönlichen Perspektive. Nun ist es bei dem Verständnis angekommen, einer unter anderen zu sein, einer Gemeinschaft von
Personen anzugehören.
Die Verinnerlichung sprachlicher Interaktionen lässt sich dann mit den reflexiven, in sich dialogischen
Denkprozessen identifizieren, in denen das Kind über sich nachdenkt und sich auf sich selbst bezieht. In diesem Sinn hat bereits Platon die Gedanken als „das innere Gespräch der Seele mit sich selbst, das ohne Stimme
vor sich geht“, verstanden. Selbstbewusstsein bedeutet die stets gegebene Möglichkeit dieses Selbstgesprächs.
Es kann sich nur entwickeln, wenn das Kind die Perspektive der anderen auf es selbst erfasst und sich
zu Eigen gemacht hat. Die dazu erforderlichen Strukturen des Präfrontallappens im Gehirn reifen in den
interaktiven Erfahrungen heran, in denen das Kind von den anderen angesprochen und als eigene Person mit
der Fähigkeit zur Selbststeuerung behandelt wird. Selbstsein, ja auch Selbstständigkeit, Autonomie und Freiheit
sind ebenso wie die dafür erforderlichen Gehirnstrukturen letztlich soziokulturell erworbene Fähigkeiten.
Zusammenfassung
Der Mensch kommt nicht als ein Einzelwesen auf die Welt, das erst nach und nach in die Gemeinschaft eingeführt werden muss. Er ist vielmehr schon biologisch von Anfang an auf Beziehung zu anderen angelegt.
Gerade der fast ausschließlich in Gruppen und Sippen lebende Frühmensch war für sein Überleben auf
ein hochdifferenziertes System von Kommunikation, Kooperation und Beziehungen angewiesen. Das
Bindungssystem erfüllte dabei nicht nur für die Säuglinge die Aufgabe, die Nähe, Fürsorge und emotionale Verbundenheit mit den wichtigsten Bezugspersonen sicherzustellen. Auch die Beziehungen zwischen
den erwachsenen Mitgliedern der Sippe wurden und werden wesentlich vom psychobiologisch verankerten
Bindungssystem getragen. Darüber hinaus entwickelte sich mit dem Resonanz- und Empathiesystem bei
den höheren Primaten und vor allem beim Menschen ein biologisch angelegtes System subtilen sozialen
Verstehens. Es umfasst die von Geburt an mögliche Nachahmung des Ausdrucks von Artgenossen und die
Affektabstimmung in der Interaktion von Mutter und Kind.
Auf dieser Basis entwickelt sich beim Menschen wie bei keiner anderen Gattung die Fähigkeit der
Ausdruckskommunikation, des Mitfühlens und Einfühlens. Menschliche Kommunikation beruht primär
auf dieser vorsprachlichen, nonverbalen Kommunikation, die wir auch als frühe Zwischenleiblichkeit
bezeichnen können. Im ersten Lebensjahr wird die Basis von Beziehung, Bindung und wechselseitigem
Verstehen gelegt, die erforderlich ist, damit sich im Laufe des 2. und 3. Lebensjahres die symbolischsprachliche Kommunikation entwickeln kann.
Diese eigentlich dialogische Kommunikation tritt in der frühkindlichen Entwicklung zum ersten Mal in
Form spontaner Gesten des Zeigens und Gestikulierens auf. Sie entwickelt sich in kooperativen Situationen,
als eine Form des gemeinsamen praktischen Umgangs mit den Dingen. Diese Entwicklung beruht zum einen
auf der Fähigkeit des Menschen, eine geteilte Aufmerksamkeit oder geteilte Intentionalität herzustellen: sich
also gemeinsam mit einem anderen auf einen Gegenstand zu richten und zu wissen, dass der andere dies
ebenfalls tut; gemeinsame Ziele, Absichten und ein wechselseitiges Wissen davon zu bilden. Zum anderen
beruht die Entwicklung der Sprache auf den Grundmotiven der menschlichen Kommunikation, nämlich
einander zu informieren, einander zu helfen und Gefühle miteinander zu teilen. Diese altruistische und
kooperative Grundausrichtung unterscheidet den Menschen auch von den höchsten Primaten, die ihre
Gesten nur einsetzen, um mit Hilfe des anderen einen Vorteil für sich zu erreichen (Tomasello, 2009).
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Thomas Fuchs
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Die Fähigkeit der gemeinsamen Aufmerksamkeit und das Verständnis der Perspektive anderer ist auch
die Basis der Entwicklung des Selbstbewusstseins. Es enthält gleichsam einen verinnerlichten Dialog, in dem
das Kind die Haltungen und Äußerungen anderer gegenüber dem eigenen Selbst in das eigene Bewusstsein
aufnimmt. Dies manifestiert sich schließlich in der Fähigkeit, „ich“ zu sagen, das heißt, sich als eine Person
unter anderen Personen zu begreifen. Das Ich ist in uns angelegt, und doch ist es ebenso eine Gabe der anderen.
Abschließend noch ein Wort zur Rolle des Gehirns. Wir haben gesehen, dass der menschliche Geist,
die Sprache und das Selbstbewusstsein sich nur in der Interaktion von mit anderen entwickeln können.
Geistige Prozesse werden nicht einem isolierten neuronalen Apparat produziert. Sie überschreiten vielmehr
fortwährend die Grenzen des Gehirns ebenso wie des Körpers. Denn Geistiges beruht auf Bedeutungen,
und Bedeutungen auf Beziehungen. Sie leiten sich ab von der frühkindlichen Erfahrung der geteilten
Aufmerksamkeit, des Zeigens, und vom gemeinsamen Gebrauch der Worte. Neuronale Muster, die diesen
Bedeutungen entsprechen und zugrunde liegen, werden dem Gehirn im Verlauf der frühkindlichen
Entwicklung eingeschrieben, aufgeprägt. Das Gehirn ist das „Organ der Möglichkeiten“, eine Matrix, die die
Beziehungserfahrungen des Kindes aufnimmt und in bleibende Fähigkeiten verwandelt (Fuchs, 2008). Dadurch wird das Gehirn zum Organ des Geistes. Doch Geist ist ein Geschenk der anderen, der Gemeinschaft,
nicht ein Produkt des Gehirns. Umso mehr tragen wir die Verantwortung, die pädagogischen Umwelten der
Kinder so zu gestalten, dass sie ihre natürliche Tendenz fördert, nämlich in und durch Beziehungen zu lernen.
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