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Mittwoch, 22. Mai 2024

Fünfundsiebzig Jahre Grundgesetz

"Der Weg zu diesem Grundgesetz führt durch Abgründe, 
er führt durch die Hölle. 
Am Wegrand stehen Gestapo 
und der Volksgerichtshof. 
Am Wegrand liegen sechs Millionen Menschen, 
die von den Nationalsozialisten ermordet wurden."
Heribert Prantl, Jurist & Journalist

Dieses Zitat hatte ich vor fünf Jahren schon meinem Blogpost zum siebzigsten Jubiläum vorangestellt, finde ich es doch nach wie vor wert, daran zu erinnern, auf welcher Basis der parlamentarische Rat damals nach dem grauenvollen Krieg die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland formuliert hat. 

In den fünf Jahren, die seitdem ins Land gegangen sind, hat sich viel getan, viel verändert, sowohl auf politischer Ebene - und das nicht nur auf unser kleines Land beschränkt - als auch im sozialen Miteinander. 




Es ist alles nicht einfacher geworden, reißen doch Minderheiten durch ihr lautstarkes Auftreten bzw. eine emsige und geschickte Nutzung der Möglichkeiten, die die sozialen Medien geschaffen haben, durch Lüge und Manipulation ( auch mithilfe feindlicher Mächte, die solche Desinformation finanzieren ) die Deutungshoheit über die Stimmung & Verfasstheit der Menschen in diesem Land an sich, greifen opportunistische Politiker immer mehr populistische Meinungen auf, schon mal haarscharf an der Präambel und mehr vorbei.  Letzteres ist reine Ablenkung, finde ich, um eine Wählerschaft zu befriedigen, die sie bei anderen Themen nicht befriedigen können. 

Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Artikel 1, Absatz 3 GrundG )

Erfreulicherweise hat das Oberverwaltungsgericht Münster im Rahmen seines Prozesses aufgrund der Klage der Blaunen gegen die Beobachtung durch das Bundesamt für den Verfassungsschutz auch noch einmal ein Spotlight auf den Artikel 116, Einzelnorm des Grundgesetzes, gerichtet, der vielleicht gerne außer acht gelassen wird, aber klar macht, warum zu Beginn des Jahres so viele Menschen wie nie seit Bestehen der Bundesrepublik auf die Straße gegangen sind wegen der ruchbar gewordenen Absichten  ihrer Akteure:

Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder als Flüchtling oder Vertriebener deutscher Volkszugehörigkeit oder als dessen Ehegatte oder Abkömmling in dem Gebiete des Deutschen Reiches nach dem Stande vom 31.Dezember 1937 Aufnahme gefunden hat.

 

Klar gemacht hat das Gericht auch, dass die Blaunen bzw. "maßgebliche Teile" der Partei deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund nur einen juristisch abgewerteten Status zugestehen. Das ist allerdings eine nach dem Grundgesetz-Artikel 3 unzulässige Diskriminierung aufgrund von Abstammung, die auch mit der Menschenwürdegarantie nicht im Einklang ist. Verfassungswidrig und mit der Menschenwürde unvereinbar ist laut Auffassung des OVG nicht die deskriptive Verwendung eines "ethnisch-kulturellen Volksbegriffs“, sondern dessen Verknüpfung mit einer politischen Zielsetzung, mit der Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund der Status als gleichberechtigtes Mitglied der rechtlich verfassten Gemeinschaft aberkannt wird.

So viel dazu, obwohl noch mehr zu sagen bliebe... Wen's noch interessiert: Hier ist eine juristische Einschätzung zu finden zu den Einwänden der Blaunen gegen das Urteil & den Verfassungsschutz.

Erneute Aktualität haben in den letzten Wochen auch weitere Grundgesetzartikel bekommen, denn der Begriff der Meinungsfreiheit ( Artikel 5 ) wird immer wieder verfälscht und inzwischen droht eine Zerstörung derselben, weil Gewalt gegen Leib und Leben als Mittel der politischen Einflussnahme immer gerechtfertigter, normaler zu werden scheint und eine Atmosphäre geradezu lustvoller Daueraggression geschaffen worden ist. Man führt zudem einen "geistigen Bürgerkrieg", so der rechte Vordenker Götz K*bitschek.

Ich greife als Historikerin nicht gerne zu Vergleichen mit der Weimarer Republik. Dennoch erinnern mich  die Vorkommnisse zuletzt daran, dass die SA damals die Hoheit über die Straße mittels der Gewalt ihrer Schlägertruppen peu à peu durchgesetzt hat. Gruppen wie die "Elblandr*volte" unlängst in Leipzig z.B. scheinen sich das als Vorbild zu nehmen. Im vergangenen Jahr ist im Schnitt alle 18 Minuten eine rechtsextrem motivierte Straftat begangen worden - das nur mal am Rande...

Der Artikel 21 umreisst, welche Rolle die Parteien in unserem Staatswesen spielen sollen. Doch: vox populi - die öffentliche Meinung - hat ein großes Gewicht. Das besagt dieser Artikel. Mir erscheint in diesem Zusammenhang allerdings das letzte Wörtchen MIT schon mal gerne ausgeblendet zu werden. 

Unsere Probleme sind vielfältiger & mehr geworden: Pandemie, Klimawandel, Kriege. Da hilft es allerdings nicht, "denen da oben" irgendwelche "Denkzettel" zu verpassen und den öffentlichen Raum mit Verbitterung und Hass zu fluten. Nach dem Krieg hieß es mal "Ärmel aufkrempeln - zupacken - aufbauen". Unter dieser Devise bin ich aufgewachsen und habe mich entsprechend in meinem produktiven Leben in unser Gemeinwesen eingebracht. Missmutige Eckensteher, die nur erwarten, dass das von ihnen bei der Wahl bei ihrer Partei Bestellte anschließend geliefert wird, scheinen den Artikel nicht so ganz verstanden zu haben. An der Gestaltung einer Gesellschaft sind ALLE nach ihren Möglichkeiten gefordert & hoffentlich beteiligt. Und Kompromisse sind da zwangsläufig. Schaffung autokratischer Strukturen, weil  manche sich allein als das Maß aller Dinge betrachten, sind zum Glück von einer Mehrheit nicht gewollt. Wir wissen, warum.

Was mir im Magen liegt, wenn ich an unsere Verfassung denke, das ist die Verwirklichung des 2. Absatzes des 3. Artikels. In meinem nunmehr über siebzigjährigen Leben hat sich da einiges getan, zum Glück. Perfekt umgesetzt ist das nicht, wenn ich die Lebenswirklichkeiten der Generation meiner Töchter anschaue.

Wenn dann auch noch die Teilzeitarbeit verketzert, ja gar deren Abschaffung proklamiert wird, krieg ich so 'nen Hals! Garniert auch noch mit solchen Parolen wie "Lust auf Überstunden machen"! Wo sollen denn die Kinder hin, die kranken und/oder pflegebedürftigen Angehörigen, wie sollen die Karriere durch Überstunden machenden Ehemänner durch den ganz gemeinen Alltag kommen, wenn die Frauen die alltägliche Sorgearbeit hinschmeißen und ihre komplette Arbeitskraft der Wirtschaft zur Verfügung stellen? 

Wer mit beiden Füßen im Alltagsleben steckt, auch als Großmutter, kriegt mit, wie die Kinderbetreuung in Kita & Schule ständig ausfällt. Als über nun ein Jahrzehnt pflegende Angehörige hab ich erfahren, wie es immer schwieriger wird, einen Pflegeplatz zu bekommen ( und kann man seine Angehörigen einem Heim anvertrauen, wenn die schon mal den Notdienst rufen müssen, weil ein Mensch 150 alte, hinfällige Menschen versorgen muss? ). Da schiebt momentan die eine Ebene in Politik & Verwaltung die Probleme auf die nächstgelegene darunter, und die Individuen auf der alleruntersten Ebene, an der "Front", müssen es ausbaden und scheitern. Die Vorstellung von Gleichberechtigung, die zur Zeit favorisiert wird, nämlich dass beide Teile eines Paares Vollzeit arbeiten und die Sorgearbeit in die Randstunden des Tages verlegen, die ist unter den derzeit herrschenden Bedingungen eine Frechheit.

Zum Glück bekomme ich in den social media auch mit, dass da eine Menge junger Frauen ( und ja: auch Männer ) aktiv & engagiert unterwegs sind, die für eine weitere Umsetzung des Gleichheitsgrundsatzes einstehen und für eine gerechtere Verteilung der Lasten des Miteinanders in Familien und anderen Lebensgemeinschaften. Trotz ( oder jetzt erst recht ) wegen eines Kulturkampfes auf diesem Gebiet, den nicht nur "alte weiße Männer" in den sozialen Medien wie Instagram, Tiktok, Facebook, X ausgerufen haben.


In diesem Sinne werde ich morgen Abend mein Glas erheben in Dankbarkeit auf eine Verfassung, die mir ein ganzes Leben nach meinen Werten & Vorstellungen ermöglicht hat.



Dienstag, 30. Januar 2024

Einundneunzig Jahre später

"Die Tradition aller toten Geschlechter 
lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden."
Karl Marx
( "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" )

Mit tausenden von Fackeln und unter dem Klang preußischer Militärmusik brach am 30. Januar 1933 das "Tausendjährige Reich" an. Braune Bataillone zogen durch das Brandenburger Tor zur Reichskanzlei. In seiner Rede zum Ermächtigungsgesetz am 24. März 1933 hatte Adolf Hitler vom deutschen Volk gefordert,  ihm vier Jahre Zeit zu geben. In diesem Zeitraum wollte er das Deutsche Reich verändern, nach vorne bringen. Das Endergebnis nach drei mal vier Jahren hat die Fotografin Margaret Bourke - White unter anderem in meiner Heimatstadt Köln 1945 festgehalten.

The Life Picture Collection 

Das ist mein ganz persönlicher Alp, seit ich eine Kindheit unter Kriegstraumatisierten verbracht habe.

Und die, die Millionen Tote, zerschmetterte Städte den Ruin eines alten Gemeinwesens verursacht haben und deren faschistische Ideologien, sind unter diesen Erfahrungen, mit diesem Wissen seitdem mein Feind.

Es ist diese "geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem"
gewesen, die unverrückbar erklärt hat, dass die Vergangenheit nie wieder geschehen darf, 
wie es Elfriede Jelinek in Wien am vergangenen Freitag formuliert hat,
und die auch mich bestimmt. 
Aber:
"Die Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern, die ihre Geschichtslektion gelernt haben, 
aber jetzt langsam aussterben, und unserem verliert langsam, aber sicher ihre Gültigkeit."



























Neunundsiebzig Jahre 
später wütet seit zwei Jahren ein faschistisch begründeter Angriffskrieg gegen ein autonomes Land eintausendfünfhundert Kilometer von uns entfernt 
und nun greifen auch in unserem Land wie schon in einigen Nachbarländern und darüberhinaus 
erneut Partei-Ideologen, die ihre faschistischen* Ansichten nur in neue Worte gekleidet 
und sich in andere Farben gehüllt haben, nach der Macht in Parlamenten und Regierungen. 
Sie stellen ein gesellschaftliches Zusammenleben in Frage, das auf 

Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Rechtsstaat, Gleichberechtigung

basiert.

Diese Werte sind in den vergangenen vier, fünf Jahren mächtig unter Druck, ja, in die Defensive geraten.

Die letzten Tage haben mir aber gezeigt,
dass das Ideale für ein menschliches Zusammenleben sind, die nicht nur für mich ,
meine Familie, meine Freunde, meine Nachbarn, ehemalige Arbeitskolleginnen,
Bloggerfreundinnen usw. lebenswert bzw. wesentlich sind, 
sondern darüberhinaus für
eine viel größere Zahl von Menschen,
die miteinander in diesem Land leben, lieben, schaffen.

Verstand, Vernunft, Sachlichkeit, Miteinander

sind 
in unserem Land NICHT gewichen,
wie ich es seit den Reaktionen auf die Coronamaßnahmen
in den social media auf allen Kanälen 
und auf den Straßen & Plätzen der Republik, 
angenommen & befürchtet habe.
( Leider betraf das auch "Bloggerland":
der Gipfel der Widerwärtigkeiten 
waren für mich ganz persönlich entsprechende Kommentare 
zum Tod meines Mannes. )

Und wäre nicht meine unmittelbare Umgebung, mein Veedel, meine Stadt
und die verbliebenen Leserinnen & Leser gewesen,
hätte ich allen Glauben
an einen freundlichen Umgang in unserer Gesellschaft, 
unserem Land, sausen lassen. 
Das bei mir vorherrschende "Welteindunklungsgefühl" der letzten zwei Jahre
war nicht nur in meiner individuellen Trauer begründet. 

Ich selbst habe noch während meiner acht Lebensjahrzehnte miterlebt, 
wie die alten patriarchalischen, illiberalen Normen durch neue überschrieben wurden 
und war immer wieder froh, 
mich der restriktiven Lebensentwürfe
nach und nach 
entledigen zu können.
Für mich ist der schönste Aspekt an unserem Grundgesetz, 
dass es Menschen möglich gemacht hat, 
Gemeinschaften zu finden, 
in denen sie respektiert und sich aufgehoben fühlen konnten, 
und dass ihre Herkunft unwichtig ist angesichts ihres Einsatzes 
für ein gutes Leben 
MITEINANDER.
Jetzt geht es um die Frage, wie dieses Land in Zukunft aussehen soll, 
wer hier leben darf und wer nicht, 
wer Angst verbreitet und wer welche haben muss. 

Diese Fragen stellt man/frau sich besser vor einem Wahlgang,

( Darüberhinaus treibt mich noch ein weiteres Anliegen: 
Ich möchte nicht in einem Satellitenstaat des Russischen Großreiches putinscher Prägung leben. )


Das Gerede der Rechtspopulisten und ihrer Anhänger, 
sie verkörperten den gesunden Menschenverstand, 
sie stünden für die neue Normalität
 oder besäßen sogar die faktische Überlegenheit politischer Art, 
ist nun eingehegt und umgrenzt worden
durch die Menschen auf den Straßen der großen wie der kleinen Städte unseres Landes,
im Osten wie im Westen, im Süden & Norden. 

Die faschistische Gehirnwäsche aus allen medialen Rohren
( Jelinek: "ideologische Schlachtfelder")
hat auch bei mir seine Wirkung nicht verfehlt gehabt:
Es gab zuletzt immer wieder Zweifel in meinem Kopf & Herzen,
 ob die Menschen hierzulande wissen, 
was sie an unserer Verfassung haben
ob sie genug bereit sind, für das Grundgesetz einzustehen.

Inzwischen habe ich wieder etwas Hoffnung.
                                                           

* Merkmale des Faschismus sind in diesem Post aufgelistet.