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Donnerstag, 12. Dezember 2024

Great Women #400: Karoline von Perin

Heute begebe ich mich auf völliges Neuland, auch wenn ich in den 2010er Jahren viel in Wien verbracht habe und mich dort etlichen historisch-kulturellen Phänomenen zugewandt hatte. Aber in puncto Frauen- bzw. Demokratie- Bewegung blieb vor lauter Sisi & Torten-Seligkeit - in Österreich ist es mit dem Erinnern so eine Sache - ein weißer Fleck. Den will ich für mich wie euch beseitigen und stelle Karoline von Perin vor, deren Todestag sich vorgestern zum 136. Mal gejährt hat.
"Ideen können nicht erschossen werden."
Hermann Jelinek (1822 — 1848) 

Karoline von Perin kommt als Karolina Rosalia Franziska von Pasqualati am 12. Februar 1806 in Wien zur Welt. Ihre Mutter ist Eleonore Fritsch, über die aber nichts weiter in Erfahrung zu bringen ist, ihr Vater Joseph Andreas Freiherr von Pasqualati, 22 Jahre alt. Die Pasqualatis sind 1784 in den erbländischen Ritterstand und 1798, ein Jahr vor dem Tod des Großvaters, in den Freiherrenstand erhoben worden. Das Mädchen wächst also in einer wohlhabenden, adligen Familie auf und wird noch einen Bruder, Moriz (*1810) und einen Halbbruder, Josef (*1813 oder 1815 ), bekommen. Karolines Mutter stirbt schon 1811, und das kleine Mädchen bekommt in Franziska von Thoren eine Stiefmutter.

Karolines Vater ist wie schon sein aus Triest stammender Vater Pomologe und "Blumist", zudem Obst- u. Gemüsegroßhändler und Besitzer der "Pasqualati’schen Pflanzen-Cultur-Anstalt" in der Vorstadt Rossau, die erst ab 1850 als 8. Bezirk der Stadt Wien zugeschlagen werden wird.  




Das Unternehmen des Vaters zeichnet sich - so Zeitzeugen - durch die reiche Auswahl der schönsten Blumen und Früchte aus, welche durch das ganze Jahr zu beziehen sind. Joseph von Pasqualati "scheut kein Opfer", sein Unternehmen nach allen Seiten hin zu erweitern und die verschiedenartigsten Spezialitäten aus fremden Ländern anzupflanzen. So stellt er auch ein Kirschlorbeerwasser her, was er über entsprechende Anzeigen Pharmazeuten anpreist. Das als Wohnsitz von Ludwig van Beethoven bis heute berühmte Pasqualati - Haus im 1. Wiener Gemeindebezirk an der Mölker Bastei gehört allerdings dem Onkel Johann Baptist Freiherr von Pasqualati, einst Leibarzt Maria Theresias, Freund & Gönner des Komponisten.

Schon im Jahr 1774 ist im Habsburgerreich die "Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt und Trivialschulen in sämmtlichen Kayserlich Königlichen Erbländern" in Kraft getreten, verfasst von einem Abt namens Ignaz Felbinger. Sie gilt für beide Geschlechter. Vorher haben sich vor allem die Klosterschulen um die Erziehung der Mädchen gekümmert. Felbinger legt nun fest, dass nur Töchter aus Adelshäusern ein breitgefächertes Wissen erhalten dürfen. Die Schulordnung sieht den Unterricht in "weiblichem Handarbeiten" und "Französisch" vor. Eine wissenschaftliche Ausbildung bleibt den den Mädchen verwehrt. Um ein "mehr" an Bildung zu erhalten, werden Kinder der höheren Schichten von Hauslehrern und Gouvernanten unterrichtet. Was davon für Karoline zutrifft, ist nicht bekannt.

1829
Biografisch tritt sie erst wieder in Erscheinung, als sie mit 24 Jahren ganz standesgemäß heiratet, und zwar Christian Freiherr von Perin-Gradenstein, K.u.K. Hofsekretär in der Staatskanzlei. Christian ist der einzige Sohn der damals namhaften Schriftstellerin Josephine Freiin Perin von Gradenstein und des K.u.K. Hofrates der geheimen Hof- und Staatskanzlei, Eberhard Perin von Gradenstein, den diese 1799 geheiratet hat. 

Mit ihrem Mann wird Karoline vier Kinder bekommen, wovon das erste noch im Säuglingsalter stirbt. Mit ihm, musikbegeistert, führt sie ein offenes Haus. Doch die Ehe nimmt einen tragischen Verlauf: Von Perin stirbt schon nach elf Ehejahren. Das sensibilisiert die Mutter von drei Kindern - zwei Töchtern und dem gerade geborenen Sohn Anton - schon sehr früh für die prekäre Situation von Alleinerziehenden. 
"Ihre Forderungen nach Gleichstellung mit den Männern sowie einer höheren Schulbildung für Mädchen, wiedergegeben in den Statuten des ersten Wiener demokratischen Frauenvereins, entsprangen keineswegs der spontanen Laune einer exaltierten Adeligen, wie man im ersten Moment vermuten würde, sondern waren nichts anderes als ein Resultat ihrer jahrelang selbst erlittenen familiären Situation", schreibt Lea Roma an dieser Stelle.

Alfred Julius Becher
(1844)
Sie lebt mit ihren Kindern in Penzing im 14. Wiener Gemeindebezirk, als sie Mitte der 1840er Jahre auf Empfehlung des Musikers und gesuchtesten Klavierlehrer Wiens, Joseph Fischhof, den Komponisten und Journalisten Alfred Julius Becher als Klavierlehrer für ihre Tochter Marie engagiert. 

Bald ist der der Mann an ihrer Seite, und sie leben ohne Legitimation von Kirche & Staat zusammen, durchbrechen somit die standesgemäßen Normen und hinterfragen durch diese Entscheidung die geltende Moral. Dadurch kommt es zum Bruch mit ihren Verwandten, was sie in ihrem Streben nach echter Gleichstellung von Frauen noch mehr anfeuert. 

Becher ist Herausgeber der revolutionären Zeitung "Der Radikale", die Karoline finanziell unterstützt. Er reift zu einer der führenden Persönlichkeiten der demokratischen Bewegung während der Revolution 1848 heran und zusammen werden sie bekannt als politisch engagiertes Paar.

Zum besseren Verständnis scheint es mir an dieser Stelle angebracht, "Ausflüge" in die Geschichte Österreichs jenseits unseres vom "Sisi- Kult vernebelten Bildes zu unternehmen:

In den drei Jahrzehnten vor 1848 herrschte im Kaisertum Österreich eine grundsätzliche Reformfeindschaft und eine totale Unbeweglichkeit innerhalb des Regierungssystems. Die größte Aufmerksamkeit erhält der Kampf gegen liberale und demokratische Gedanken.  Essenzielle Probleme im Reich bleiben hingegen ungelöst. 
Am 13. März 1848 erhebt sich schließlich in Wien das Volk gegen den Kaiser. Die Bauern haben es satt, viele Früchte ihrer Arbeit an die Lehensherren abzuliefern, die Arbeiter hungern, viele kämpfen ums Überleben. Der Adel lebt währenddessen in einer abgeschotteten, anderen Welt. Zwei Tage nach Beginn dieses revolutionären Aufstandes muss Kaiser Ferdinand I. die Zensur der Presse aufheben. Hunderte Broschüren, Zeitschriften und Zeitungen sprießen jetzt aus dem Boden. Am 25. April 1848 wird in Wien dann die erste Verfassung Österreichs erlassen, die die Aufständischen beruhigen soll, ihnen aber nicht wirklich Macht gibt: Das Parlament soll aus habsburgischen Erzherzögen, kaisertreuen Ministern, Großgrundbesitzern und anderen Männern mit Besitz bestehen, die dem Kaiser loyal ergeben sind. Einen Monat später, am 26. Mai, wird ein neuer Höhepunkt durch eine klassenübergreifende Solidarität mit den Aufständischen erreicht: Frauen der höheren Schichten verbünden sich jetzt mit den Frauen der Unterschicht. Alle Aufständischen gehen mit dem oben genannten Zweikammersystem, dem Zensurwahlrecht und dem Einspruchsrecht des Monarchen nicht konform.

Immer wieder flammt der Widerstand auf: Im August des Jahres senkt der Arbeitsminister Ernst Schwarzer Edler von Heldenstamm den Tageslohn von 8000 Erdarbeiterinnen, darunter auch Kinder, von 20 auf 15 Pfennige. Die  Frauen könnten mit Akkordarbeit ihr Gehalt ja aufstocken, so seine Begründung.  Das bedeutet allerdings die noch stärkere körperliche Ausbeutung der Frauen, die außerdem, verglichen mit ihren Männern, schon vorher benachteiligt worden sind: Die Männer bekommen nämlich einen Tageslohn von 25 Pfennig. Am 21. August 1848 demonstrieren nun Österreichs Frauen. Zwei Tage später säbelt die bürgerliche Nationalgarde sie nieder ( sogenannte Praterschlacht ). Es sterben 22 Menschen, ca. 300 werden verletzt.  

Auf Initiative von Katharina Strunz, die sich schon vorher damit hervorgetan hat, als sie mit anderen Bürgersfrauen den Kaiser aufgefordert hat, aus seinem "Exil" in Innsbruck nach Wien zurückzukehren, erscheinen daraufhin schriftliche Aufrufe an allen Straßenecken Wiens. Ziel: Die Gründung eines demokratischen Frauenvereins. Politisch interessierten Frauen wird nämlich in der bürgerlichen Vereinsform kein Platz neben den Männern zugestanden. 

Am 28. August 1848 findet im Salon des Volksgarten diese erste Versammlung statt. Laut Zeitungsberichten kommen zwischen 150 und 400 Frauen. Bei der Gründungsversammlung stehen drei Frauen auf dem Podium. Karoline von Perin wird die erste Präsidentin des Vereins. Sie ist Witwe und adelig, sie vertritt die Grundsätze der Emanzipation der Frauen, setzt sich für mehr Rechte für die Frauen ein. Damit scheint sie prädestiniert für eine solche Position und sie wird eine der wenigen Frauen aus der Wiener 1848er‑Bewegung werden, von der man mehr als ihren Namen kennen wird.

Einige Frauen gewanden sich an diesem Tag allerdings in die kaiserlichen Farben schwarz-gelb, womit sie sich für die alte Ordnung der Monarchie aussprechen und kundtun, dass sie an einer Einigung der durch die Praterschlacht gespaltenen revolutionären Bewegung nicht interessiert sind. Diese Gegnerinnen werden in tumultartigen Szenen von der konstituierenden Sitzung des Vereines ausgeschlossen, so dass die Männer, denen der Zutritt verweigert worden ist, den Saal stürmen können. Die Vereinsfreiheit für Frauen ist ihnen ein Dorn im Auge. Auch Nationalgardisten sind darunter, so dass die Sitzung am Nachmittag an einem anderen Ort fortgesetzt werden muss.

Zwei Wochen nach dem ersten Treffen wird ein Statut herausgegeben, entwickelt in der dritten Versammlung des Vereins. In § 2 des Vereinsstatuts heißt es zu den Zielen:

"Die Aufgabe des Vereins ist eine dreifache: Eine politische, eine soziale und eine humane:  

a) eine politische, um sich durch Lektüre und belehrende Vorträge über das Wohl des Vaterlandes aufzuklären, das demokratische Prinzip in allen weiblichen Kreisen zu verbreiten, die Freiheitsliebe schon bei dem Beginne der Erziehung in der Kinderbrust anzufachen und zugleich das deutsche Element zu kräftigen; 

b) eine soziale, um die Gleichberechtigung der Frauen anzustreben durch Gründung öffentlicher Volksschulen und höherer Bildungsanstalten, den weiblichen Unterricht umzugestalten und die Lage der ärmeren Mädchen durch liebevolle Erhebung zu veredeln; 

c) eine humane, um den tief gefühlten Dank der Frauen Wiens für die Segnungen der Freiheit durch sorgsame Verpflegung aller Opfer der Revolution auszusprechen.

Kurz nach der Gründung beteiligt sich der Verein an der Organisation der Totenfeier für die in der Praterschlacht ums Leben gekommene Männer und Frauen am 3. September 1848. Damit erlangt er endgültig Bekanntheit in der Allgemeinheit, und auch jene Zeitungen, welche die Gründung nicht erwähnt haben, kommen nun nicht umhin, auf die Existenz eines solchen, speziellen Frauenvereins zu verweisen.

Obwohl der Frauenverein nur zwei Monate bestehen wird, markiert er den Beginn der Frauenbewegung in Österreich. In der Öffentlichkeit wird er inzwischen heftigst mit sexual-pathologischen Bemerkungen attackiert und den Frauen vorgeworfen, dass sie Amazonen, hässlich, sexbesessen und unweiblich seien.  An dieser Methodik hat sich also nichts  bis heute geändert.

Karoline von Perin selbst wird von der Bevölkerung wie Presse persönlich diffamiert. Da wird einmal ihr Einfluss auf ihren Gefährten auf die weibliche Verführungskraft ( Eva & die Schlange! ) zurückgeführt, andererseits wird sie als unweibliche Geliebte eines Demagogen verunglimpft, als "schmutzige Amazone", "politische Marktschreierin" oder "politische Pechfrau", "Konkubine" und als "Egeria der Wiener Revolution" tituliert. Man schreibt ihr eine Bedeutung zu, die sie nach eigener, späterer Darstellung nicht gehabt hat. Doch dazu mehr im Laufe des Posts.

Positive Resonanz erfährt der Frauenverein bei den demokratischen Männervereinen, die in ihm einen Partner sehen. So werden die Frauen auch am 10. September neben acht anderen Vereinen zu einer Diskussion hinsichtlich der Strategie zur Verteidigung des revolutionären Wiens eingeladen. Am 30. September dann wird ein Zentralausschuss der demokratisch-freisinnigen Vereine Wiens ins Leben gerufen. Auch dazu gehört der Demokratische Frauenverein.

Die Ermordung des verhassten Kriegsministers Theodor Baillet de Latour am 6. Oktober 1848 bildet Argument und Auftakt zur Konterrevolution und führt zur Abreise des kaiserlichen Hofes aus Wien. Am 17. Oktober marschieren einige hundert Frauen zum Wiener Reichstag, da die Stadt inzwischen von kaisertreuen Truppen, zurückgekehrt aus Ungarn, umstellt ist. Eine vierköpfige Delegation, darunter Karoline, überreichen den Abgeordneten eine Petition mit tausend Unterschriften und verlangen die Einberufung des Landsturmes, welches das ländliche Pendant zur städtischen Nationalgarde ist. Die Abgeordneten machen die Frauen daraufhin lächerlich, indem sie ihnen vorschlagen, sie sollten sich besser als Krankenschwestern zur Verfügung stellen. ( In der Parlamentsbibliothek kann frau die Petition im Original-Sitzungsprotokoll nachlesen. )

Karoline selbst bleibt weiterhin Ziel von Attacken: Angeblich habe sie sich in eine schwarz-rot-goldene Trikolore gehüllt, um ihr Bekenntnis zur revolutionären Bewegung kundzutun und so von den Barrikaden zum Weiterkämpfen aufgefordert. Die Zeitung "Die Gegenwart" diffamiert sie daraufhin als "verrückt", "überspannt" und "unzurechnungsfähig". Ähnliche Bezeichnungen, die Karoline von Perin als "geisteskrank" verunglimpft haben, sind schon bei der Berichterstattung zur Präsentation der Landsturmpetition gefallen.

Die Mitglieder des Frauenvereins nehmen tatsächlich auch an verschiedenen Demonstrationen und am Verteidigungskampf gegen die kaiserlichen Truppen teil. 

Am 31. Oktober 1848 gelingt es den Truppen des Fürsten Windisch-Graetz, aus Ungarn von der Niederschlagung der ungarischen Unabhängigkeitsbewegung zurückgekehrt, auch die Wiener Proteste endgültig zu unterbinden. Karoline gehört neben ihrem Lebensgefährten zu den 14 Personen, deren Auslieferung in den Kapitulationsbedingungen ausdrücklich gefordert wird. ( Das kann frau durchaus als Zeichen dafür lesen, dass der Frauenemanzipation staatsgefährdender Charakter zugesprochen wird.) 

Das Ende des ersten politisch organisierten Frauenvereins ist mit der Niederschlagung der Revolution besiegelt. Karoline selbst wird freilich später in ihren geschichtsklitternden Ausführungen behaupten, dass sich der Frauenverein schon in den beiden letzten Oktoberwochen selbst aufgelöst habe.

Nach dem Zusammenbruch der demokratischen Bewegung beginnt - und absehbar gewesen ist - die polizeiliche Verfolgung. Karoline hat zwar alles für die Flucht aus der Stadt organisiert gehabt, wird aber nach einem politischen Verrat am 4. November 1848 verhaftet. Am nächsten Tag wird auch Hermann Jelinek, ebenfalls Redakteur bei "Der Radikale", in ihrer Wohnung festgenommen, ein paar Tage später, am 13. November auch Alfred J. Becher. 

Währinger Park
Auf der Wachstube wird die 42jährige auf dem Boden liegend von Polizisten getreten und durch den Raum geschleift. "Die provokant ‚Emancipation’ einfordernde Präsidentin des Frauenvereins wurde nicht nur verurteilt, sondern von ihren ‚Wachen’ sogar durch körperliche Misshandlung persönlich gedemütigt", heißt es in den Quellen. Nach 23 Tagen Haft wird sie als psychisch krank bezeichnet - immer eine effektive und oft angewandte Methode, um widerspenstige, rebellische Frauen in die Schranken zu weisen.  

Karolines Vermögen wird konfisziert und das Sorgerecht für ihre Kinder, darunter der erst achtjährige Anton, entzogen.

Alfred J. Becher kommt am 22. November vor ein Militärtribunal. Ihm wird vorgeworfen, mittels publizistischer Tätigkeit auf die "gänzliche Zerstörung" der "bestehenden Staatseinrichtung" hingewirkt zu haben und er wird zum Tode verurteilt. Es wird ihm verwehrt, Karoline vor seinem Tod noch einmal zu sehen. Das ist als besondere Grausamkeit zu bewerten, denn anderen wird das gestattet. Am nächsten Tag schon wird er zusammen mit Hermann Jelinek vor dem Neutor in Wien standrechtlich erschossen.

"Die Willkür des Todesurteils wurde sofort erkannt, nicht nur bei den Unterstützern der Revolution", so die Historikerin Brigitte Biwald. 

Ohne Jahr
Karoline ist nach dem Tod ihres Lebensgefährten und ihrer Entlassung aus der Haft den Machthabern in der Monarchie völlig ausgeliefert. Sämtliche bürgerliche Freiheiten sind ja jetzt eingeschränkt sowie Auflösung und Verbot aller politischer Vereine nach nur wenigen Monaten ihres Bestehens erlassen worden. Die staatliche Zensur ist wieder eingeführt, und die polizeiliche Überwachung verstärkt worden. Mit den Frauenemanzipationsbestrebungen wird radikal gebrochen, und die Frauen werden in politischen Vereinen für lange Zeit keinen Platz mehr haben, genauer gesagt bis 1918.

Am 17. April 1849 emigriert Karoline von Perin schließlich nach München. Sie verfasst ihre Memoiren "Ungedruckte Aufzeichnungen" so, dass sich ihre Rolle in den letzten Oktobertagen vor dem Niedergang der demokratischen Bewegung heute nur noch schwer rekonstruieren lässt. In ihrem Bericht über ihre Flucht, Gefangennahme und Gefängniszeit schwört sie dem revolutionären Gedanken völlig ab, wahrscheinlich auch, um durch diese Abbitte wieder Teil der Gesellschaft werden zu können. 

Aufgrund dieser Bekenntnisse wird es ihr nämlich im Oktober 1849 erlaubt, nach Wien zurückzukehren - ein Treppenwitz sozusagen: Die Rückkehr in die Gesellschaft bleibt ihr zeitlebens verwehrt. Man ist dauerhaft gewillt, an ihr zwecks Abschreckung ein Exempel zu statuieren: "Für ihre Leugnung der Natürlichkeit der Geschlechter bekam sie in den Augen vieler die gerechte Strafe“, so die Historikerin Gabriella Hauch, die sich um die Forschung rund um Karoline von Perin verdient macht.

Da ohne Vermögen und familiale Unterstützung widmet sie sich den 1850er Jahren der Fotografie. Sie führt zeitweise Studios in Wien, Bad Ischl und Salzburg unter dem Namen Gradenstein C., ganz ohne Hinweis auf Geschlecht und Vergangenheit. Doch die Metternichsche Geheimpolizei kann sie 1855 in Bad Ischl identifizieren. ( In fotografischen Handbüchern wird bis heute vom "Wiener Fotografen Gradenstein" geschrieben. ) 1862 gibt Karoline die Fotografie wieder auf und lebt von den Einkünften eines Stellenvermittlungsbüros. Danach verliert sich jede Spur von ihr.

Am 10. Dezember 1888 stirbt Karoline von Perin in Wien mit 82 Jahren. Es gibt einen bösartigen Nekrolog auf sie, der – bis auf die Einleitung – im völlig gleichen Wortlaut in zwei unterschiedlichen Tageszeitungen erschienen ist. Einmal erscheint der Artikel bereits vor, im anderen Fall nach dem Begräbnis. In der ersten Zeitung heißt es: "Kaum jemand wird an ihrem Begräbnis teilnehmen...", während in der zweiten Zeitung steht: "Kaum jemand nahm an ihrem Begräbnis teil...". 

Ein bitteres Ende für eine mutige Frau, die ihre aristokratische Herkunft hinter sich gelassen hat, um sich dem Kampf für die demokratischen Rechte der Frauen zu widmen...

Infam und beschämend ist, dass in Konstantin von Wurzbachs Lebenswerk, dem "Biographischen Lexikon des Kaiserthums Oesterreich" (BLKÖ) bei den Einträgen unter dem Namen "Pasqualati" neben dem Vater Andreas Joseph Pasqualati lediglich seine Söhne Joseph und Moriz erwähnt werden. Die Tochter wird totgeschwiegen. Diese Institution in der Wiener Geschichtsforschung gilt als sakrosankt und beweist, wie tiefgreifend das patriarchiale System weiterhin Geltung hat! 

Im Wiener Volksgarten wird zu Beginn dieses Jahrzehnts ein Gedenkstein für den Ersten Wiener Demokratischen Frauenverein gesetzt. 2018 war schon in der Seestadt Aspern im 22. Bezirk die Karoline-Perin-Gasse nach ihr benannt worden - alles vielversprechende Anfänge. 

Mich hat es dennoch erstaunt, dass über eine solche Persönlichkeit in der Geschichte des Landes so wenig in Erfahrung zu bringen ist. Das ist mir bei meinen Recherchearbeiten für vierhundert Blogbeiträge in dieser Rubrik eher selten passiert...

                                                                      


Donnerstag, 21. November 2024

Great Women #398: Lona "Muschelkalk" Ringelnatz

Ringelnatz kennt wohl jeder, jede Grundschullehrerin seine Ameisen, die in Altona auf der Chaussee schlapp machen oder den Briefmark, der da sehr viel mobiler in puncto Reisen ist. Entsprechend viele Schulen tragen seinen Namen. 'Muschelkalk' ist dann schon eher nur eingefleischten Kennern des humoristischen Reimers ein Begriff bzw. dass das der Spitzname der Frau ist, die in seinen letzten vierzehn Lebensjahren an seiner Seite gewesen ist. Lona Ringelnatz hat aber auch ein kulturell reiches Leben abseits von ihrem berühmten Ehemann geführt, über das mein heutiger Post erzählen wird.

Rastenburg
(1917)

Lona "Muschelkalk" Ringelnatz kommt als Leonharda - Rufname "Lona" - Pieper am 22. November 1898, also morgen vor 126 Jahren, in Rastenburg in Ostpreußen zur Welt. Sie ist die Tochter des Bürgermeisters der Stadt, Wilhelm Pieper, 1861 in Horsthausen bei Herne geboren, ausgebildeter Verwaltungssekretär. Die Mutter, Johanna Raske, stammt ebenfalls aus dem Westen, aus Isselburg im Münsterland. Lona ist das jüngste ihrer drei Kinder: Bruder Hans ist 1893, Schwester Gerda 1894 geboren. 

Die Familie hat schon seit einigen Jahren im deutschen Osten nach einem Umzug 1894 nach Landsberg an der Warthe gelebt, wo der ehrgeizige Vater in seiner beruflichen Karriere weiter kommen kann.

Die Mutter stirbt, da ist das Mädchen noch ein Kleinkind von zwei Jahren. Der Vater heiratet 1902 Elise Loewner, eine Ostpreußin, die Hauslehrerin bei einem Baron von Boitzenburg gewesen ist. Die wird die wichtigste Bezugsperson der Halbwaisen und noch weitere drei weitere Töchter mit Lonas Vater  bekommen: Hilde (*1904), Ursula (*1908) und Elisabeth (*1909).

Die Familie gehört zur guten Gesellschaft in der Zehntausend-Einwohner-Stadt, wohnt auf der Rastenhöhe am Stadtrand und verfügt über eine eigene Sitzbank in der protestantischen Kirche der preußischen Garnisonsstadt. Als Bürgermeister veranlasst der Vater die Erweiterung des Schienenverkehrs und lässt Wasserwerk wie Kanalisation mit Kläranlage installieren. Er engagiert sich darüberhinaus im Vorstand des Ostpreußischen Städtetages und Reichsverbandes deutscher Städte. Bürgermeister wird er bis 1921 bleiben.

Lona besucht in ihrem Geburtsort die Höhere Töchterschule, die bis zur zehnten Klasse geht. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, wird sie mit ihren drei kleinen Schwestern nach Samland, der Halbinsel, die Kurische Nehrung und Frisches Haff voneinander trennt, in Sicherheit gebracht. Dort leben sie bei einer befreundeten Gärtnerfamilie, kehren nach einem Jahr aber wieder nach Rastenburg zurück. Lona pflegt anschließend mit ihrer älteren Schwester verletzte Soldaten im Lazarett in Rastenburg.

1916 darf sie dann eine berufliche Ausbildung beginnen, da ist der Vater sehr fortschrittlich eingestellt. Für Lona wäre auch eine Ausbildung zur Lehrerin nach ihrem Schulabschluss möglich. Da sie besondere Freude an den Sprachen Englisch & Französisch hat, entscheidet sie sich für diesen Fächerschwerpunkt und wählt als Ausbildungsort Eisenach, wo Dorothea "Dora" Kurtius in der Burgstraße 16 eine entsprechende Institution mit angeschlossenem Pensionat unterhält. Mit dem Zug reist die 17jährige erwartungsfroh im Frühsommer 1916 nach Thüringen.

Dora Kurtius hat dereinst im Münchner "Simpl" den dortigen "Hausdichter" Hans Bötticher kennen & schätzen gelernt. Sie ist es, die ihm in finanziellen Nöten 1912 einen Posten eines Privatbibliothekars beim Grafen Yorck von Wartenburg vermittelt. Er besucht sie immer wieder in ihrem Eisenacher Mädchenpensionat und findet unter ihren Schülerinnen so manchen Schwarm. Auch seine Urlaube vom Kriegsdienst auf den Sperrschiffen vor der Nord- und Ostseeküste verbringt er gerne in der Wartburgstadt. Und so trifft der fast 33jährige auch auf die blutjunge Lona.

Schon am 6. Juni schreibt er ihr: "...Wenn Du so viel im Herzen wie im Kopf hast möchte ich einmal mit Dir den ganzen Wartburg-Abhang herunterkollern … sei geküsst von Deinem frechen Hans." Doch sie bleibt ihm gegenüber reserviert, einmal, weil es ihre Art ist, zum anderen ist sie mit ihren Gedanken zu Hause in Rastenburg. Dort ist die Stiefmutter gestorben, und der Vater mit den kleineren Geschwistern allein. Ihr Verhalten bringt ihr bei Hans den Namen "Muschelkalk" ein, erscheint sie ihm doch wie der harte, hochwertige Mörtel aus Muschelschalen, der an der Küste üblich ist. Nach einem zweiten Treffen bedauert sie ihr Verhalten dann aber auch schon: 

"... dass ich nicht lieber zu Dir war. Doch ich kann so schwer zeigen, was ich fühle. Glaub mir, ich hab Dich auch lieb, sehr lieb und möchte Dir so gern etwas Liebes tun." 

Hans scheint sie sich als seine Frau vorstellen zu können, wendet sich dann aber in Cuxhaven der Schauspielerin Annemarie Ruland zu, der er das Interesse am Schreiben eines Theaterstückes verdankt. Zwar dankt er Lona & ihren Geschwistern höflich für ein Weihnachtspäckchen, doch weiterer Kontakt unterbleibt und kommt erst wieder zustande, nachdem der Krieg vorbei ist und Hans ohne Sold & Uniform in Berlin zurechtkommen muss. In einem Gedicht vom 6. Dezember 1918, welches er ihr schickt, nennt er sie eine "muschelverkalkte Perle" - der Kontakt bleibt weiterhin lose. Lona ist nach ihrem Abschluss nun als Sprachlehrerin in Rastenburg tätig, wo sie im Elternhaus bei ihrem zum dritten Mal verheirateten Vater wohnt.

Im November 1919 treffen sich die beiden wieder in einer Berliner Weinstube - ein Rendezvous, das von ihrem Bruder vermasselt wird. In der weiteren brieflichen Tuchfühlung klären sie immer wieder ihre Lebenskonzepte & Emotionen. Der fünfzehn Jahre Ältere konfrontiert sie u.a. mit seinen Vorstellungen von Sexualität, was die junge Frau durchaus verwirrt. Er schreibt ihr: "Du bist noch ganz verstrickt in die schmutzige Wolle, mit dem die kleinliche Bourgeoisie ihre Kinder umspinnt."

Doch Lona mag ihn sehr, ihn, der nun so zielstrebig als Dichter Jochim Ringelnatz durchstarten will, und fasst ein gemeinsames Zusammenleben ins Auge.

Hans Gustav Bötticher, am 7. August 1883 im sächsischen Wurzen als Sohn eines Musterzeichners und später hauptberuflichen Verfassers von humoristischen Versen und Kinderbüchern auf die Welt gekommen, verbringt seine Kindheit & Jugend in Leipzig, wo er als Schüler auffällt ( Lehrerurteil: "ein Schulrüpel ersten Ranges" ) und schließlich mit dem Einjährigen-Freiwilligen-Examen (Obersekundareife) abgeht, um ab 1901 als Schiffsjunge auf einem Segelschiff zu arbeiten. 
Doch auch das glückt ihm nicht vollends, und er wird letzten Endes dreißig Berufe während dieser Zeit ausüben, hungern und darben, bis er 1904 Militärdienst bei der Kaiserlichen Marine ableisten bzw. im Jahr darauf als unbezahlter Lehrling in eine Hamburger Dachpappenfirma tätig werden kann. Er verfasst gleichzeitig Gedichte und malt Ölbilder. 
Über Stationen in Frankfurt/Main & Amsterdam gelangt Hans Bötticher als Buchhalter in ein Münchner Reisebüro. Die Stelle erschleicht er sich mit der Behauptung, fünf Sprachen zu sprechen. Mehr Erfolg verschaffen ihm seine Auftritte in der Münchner Künstlerkneipe "Simpl" und Buchveröffentlichungen wie Zeitschriftenbeiträge & Gedichte. Finanziell wird er aber ausgenutzt, so dass er nach Tirol, Riga, Kurland ausweicht. Es folgen Tätigkeiten als Bibliothekar, Fremdenführer, Schaufenstergestalter, bevor er sich bei Kriegsbeginn freiwillig zur Marine meldet. Nach Kriegsende sympathisiert er kurzzeitig mit der Novemberrevolution und nimmt das Pseudonym Joachim Ringelnatz an, mit dem er ab da seine Gedichte  unterzeichnen wird.

Die Zeitgeschichte erschwert das alles: Hans muss als ehemaliger Soldat nach München zurück, so die Vorschriften der Demobilisierung. Und Lona erhält eine Stelle als Lehrerin in Godesberg bei Bonn. Als er von der "Simpl"-Wirtin Kathi Kobus ein Angebot über 1200 Mark Gage erhält, drängt er auf Hochzeit. Ja, er wird richtig ungeduldig, auch weil der künftige Schwiegervater so lange zögert, auf sein durchaus sehr bürgerlich abgefasstes Heiratsgesuch zu antworten, und Lona lieber einen gemeinsamen Wohnsitz in Rastenburg nehmen würde. Es geht viel Post hin und her, es wird argumentiert und gefordert - der so kesse Dichter hat da so seine patriarchalischen Vorstellungen vom "Hausgeistchen"  und was er tun wird, "wenn Muschelkalk in meinen Händen nicht das wird, was ich erhoffe?", da wird mir beim Lesen ganz schwummerig! Die junge Frau gibt nach und zieht nach München.

Hochzeitsfoto
Überraschenderweise kommt "Muschelkalk" bei der Bohème im "Simpl" gut an, und am 7. August 1920 - Ringelnatz' 37. Geburtstag - findet die Hochzeitsfeier bei einer Frau namens Friedländer statt, die derartiges privat veranstaltet. Lona ist gerade mal 21 Jahre alt.

Einen Tag später wird im "Simpl" gefeiert und am 17. August erfolgt die standesamtliche Trauung mit anschließendem zweisamen Essen in einer Weinstube. Dort trägt der Dichter seiner jungen Frau das berühmte "Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument" vor: 

Das ist nun kein richtiger Scherz.
Ich bin auch nicht richtig froh. 
Ich habe auch kein richtiges Herz.
Ich bin nur ein kleiner, unanständiger Schalk.
Mein richtiges Herz. Das ist anderwärts, irgendwo
Im Muschelkalk.

So der Schluss des Gedichts...

Trotz vollkommen neuer Umgebung, politischen Unwägbarkeiten, der  Zugehörigkeit zur Bohème - Lona wird später über diese Phase formulieren:

"Es war schon eine turbulente Zeit, diese Jahre nach dem ersten Weltkrieg, die Kokainzeit... nun, mir hat das alles nicht geschadet, obwohl ich die jüngste in unserem Kreis war." ( Quelle hier )

Das erste Mal lebt sie so nah bei ihrem und mit einem Mann ( zunächst in seinem Einzelzimmer ), der sehr eigenwillige Gewohnheiten & Vorlieben hat. Schließlich können die beiden als Schwarzmieter in eine Zweizimmerwohnung in der Hohenzollernstraße 31a/Gartenhaus in Schwabing ziehen. Zehn Jahre werden sie dort bis zu ihrem Umzug nach Berlin im Februar 1930 bleiben. Von ihrer beider Angst vor Ausweisung aus der Wohnung legt das Gedicht "Angstgebet in Wohnungsnot" (1923) Zeugnis ab. 

Auch sind sie in  immer wieder in Geldnot. Ringelnatz arbeitet aushilfsweise als Prüfer der Postüberwachungsstelle in München und tritt wieder im "Simpl" auf, sie gibt Sprachunterricht und untervermietet ein Zimmer. Die Wohnung ist ein sehr persönliches Museum mit Kuriositäten, die Ringelnatz aus aller Welt gesammelt hat und Zeichnungen wie Malereien befreundeter Künstler an den Wänden wie auch Skulpturen, darunter der heute berühmte Ringelnatzkopf von Renée Sintenis, und einer penibel geführten Bibliothek.

Lona ist nie aufs Hausfrauendasein vorbereitet worden, lässt ihren Mann kochen ( was der gerne tut ), wäscht allerdings die Wäsche im entsprechenden Kessel in der Gemeinschaftswaschküche, lässt sich aber auch gerne von ihm zum Ausgehen bewegen. Vor der Inflation kann das Paar im Laufe der Zeit dann so viel Geld sammeln, dass ein Hauskauf avisiert wird ( die Inflation macht einen Strich durch die Rechnung ). 

Schon wenige Wochen nach der Eheschließung hat Ringelnatz ein Engagement im Berliner Kabarett "Schall und Rauch". Dabei lernt er den weltbekannten Stummfilmstar Asta Nielsen kennen, die seine Darbietungen schätzt. Auch der Bremer Silberwarenfabrikant Carl Wilkens wird ein Fan und lässt in die Mitte einer massiven Holztür seines neuen Geschäftes den Kuttel Daddeldu schnitzen. So heißt die Kunstfigur, mit der der Künstler, gekleidet in einen Matrosenanzug, nun auftritt.

Das junge Ehepaar ist also immer wieder für längere Zeit getrennt und führt eine ausführliche Korrespondenz. Daraus kann man die Konfliktpunkte in der Beziehung ablesen: Sie kann nicht gut mit Geld umgehen, er gibt Grund zur Eifersucht, hat doch die junge Frau alles auf eine Karte gesetzt und sich für den lebenserfahreneren Mann entschieden. Auch Wäsche wird mittels Post hin und her geschickt, schmutzig oder gewaschen.

Ein Glücksfall ist für uns heute, dass Lona seine wie ihre Briefe systematisch sammelt, später mit Schreibmaschine abschreiben lässt und eine Kopie an einen Sammler in Halle weitergibt. Auch seine Gedichte & seine ganzen Manuskripte schreibt zunächst sie selbst auf der Schreibmaschine ab, verschickt diese, liest Korrektur der Bücher, die zur Veröffentlichung anstehen, und kümmert sich um weitere Engagements ihres Mannes. Lona scheint alles zu geben, um ihm, den aufsteigenden Star der Kabarettszene, zu unterstützen.

Eher selten kann sie ihn an seinen Auftrittsorten besuchen, dazu ist dann doch nicht genug Geld da. Während er zwei Singlereisen - 1925 nach Paris und 1928 nach London - unternimmt, beschränkt sie sich auf Familienbesuche in Rastenburg und sucht Unterhaltung & Abwechslung in München - die Stadt mag sie inzwischen gern. Ihre anfängliche Zurückhaltung in der Münchner Gesellschaft legt sie bald ab, kann locker Konversation betreiben und wird sehr beliebt in einem immer umfangreicheren Freundeskreis, darunter auch etliche künstlerisch tätige Frauen. Eine Freundschaft entwickelt sich auch mit dem Ringelnatz-Verehrer Dr. Julius Gescher aus Traben-Trarbach an der Mosel, der das Paar 1925 zum Weihnachtsfest in das Haus seiner Mutter einlädt.

Sie wird auch immer versierter im Umgang mit Verlagen & Verlegern, lernt Einzelheiten der Buchherstellung kennen, die Bedeutung von Rezensionen, Honoraren und Tantiemen. Zunächst erscheinen nur kleine Heftchen mit Ringelnatz-Poemen von weniger als 20 Seiten bei Alfred Richard Meyer, später entwickelt sich der Kontakt zum Verlag Kurt Wolff und die ersten, bis heute bekannten Gedichtbände kommen heraus. Auch Prosa von ihm wird ab 1922 veröffentlicht. Später wird er seine Bücher selbst illustrieren oder die Umschläge entwerfen. Schließlich kann er über die Berliner Galerie von Alfred Flechtheim Bilder im Wert von 64.000 Mark verkaufen, was er seiner Frau mit Freuden mitteilt.

Lona in München ist nun sein unabkömmlicher  "Lebensadjudant", führt all seine Bücher, was dem Ordnungsmenschen sehr wichtig ist, einmal darüber, wann & wo welcher Text angenommen worden ist, wie hoch das Honorar bzw. wann es gezahlt worden ist. Ein anderes Buch vermerkt, wann welches Manuskript verfasst und/oder gegebenenfalls überarbeitet worden ist. Und dann gibt es noch ein "Kritikenbuch" bzw. ein Adressbuch ( vergleiche auch dieser Post ).

Lona sammelt auch in Umschlägen die Kabarett-Plakate von seinen Auftritten, alles gesondert in Kartons mit "Erledigt" oder "Unerledigt" auf dem Etikett. Ihr Mann hat durchaus selbst einen Überblick, aber die Kontakte zu den verschiedenen Kabaretts hält Lona und schreibt dafür launige Briefe, von denen selbst er entzückt ist.

Seine Reisen als Künstler kommen dem natürlichen Drang des Dichters nach Veränderung, nach Erlebnis und Abenteuer lange entgegen, erschließen sie ihm doch neue Schauplätze und bringen Inspiration für immer neue Gedichte, die unterwegs notiert werden. Doch Lona nimmt auch immer mehr die Schattenseiten dieses Lebens wahr:

"Abgesehen von den wenigen literarischen Kabaretts, wie Wolzogens Schall und Rauch oder der Wilden Bühne der Trude Hesterberg in Berlin, mußte Ringelnatz sowohl in Berlin als auch in anderen Städten in ganz gewöhnlichen Tingeltangels zusammen mit Tanz-Girls, primitiven Komikern usw. auftreten."

Gegen Ende der zwanziger Jahre erstarkt zudem die politische Reaktion deutlich, und das Leben als Kabarettist wird durch den wachsenden Nazieinfluss immer mehr erschwert. Besonders in München, der von diesen anmaßend als "Hauptstadt der Bewegung" beanspruchten Stadt, verschlechtert sich das politische wie das kulturelle Klima zusehends. "Aus der dümmsten Stadt in der Welt" ziehen die Ringelnatz schlussendlich im Frühjahr 1930 nach Berlin und richten sich in einer Atelierwohnung am Sachsenplatz ein. Sie sind jetzt 32 bzw. 47 Jahre alt.

Wohnhaus Sachsenplatz, heute Brixplatz
Wirtschaftlich geht es ihnen zunächst ganz gut. Lona kann als freie Mitarbeiterin im Verlag Internationale Bibliothek arbeiten, fertigt Übersetzungen an, vervollkommnet ihr Fähigkeiten auf der Schreibmaschine und lernt Spanisch. Das Paar wohnt in einem Teil der Stadt, in dem Prominente ihre Nachbarn sind wie Paul Hindemith, Max Schmeling und Anny Ondra, Veit Harlan und die Schauspieler Hilde Körber & Walter Rilla, Heinrich George, Berta Drews, Paul Wegener zu ihrem Freundeskreis gehören. Auch intensiviert sich der Kontakt zu Asta Nielsen & Renée Sintenis. Noch herrscht ein fröhliches Miteinander und ein tolles Einweihungsfest wird am Sachsenplatz gefeiert.

Beim "Geheimen Kinder-Spiel-Buch" ( 1931) verlangt die Zensurbehörde den Vermerk "Nur für Erwachsene" auf dem Einband. Bald dürfen einige der Ringelnatz - Gedichte aus vorwiegend moralischen Gründen nicht mehr veröffentlicht werden. Das schränkt die Existenzgrundlage des Ehepaares ein. Dennoch gewinnt Lona immer mehr Selbstsicherheit & Selbstbewusstsein, kontrolliert die Tantiemenzahlungen und managt Konflikte ihres sehr leicht aufbrausenden Mannes geschickt. Was die Bewältigung des Alltags anbelangt, ist sie ohnehin die Überlegene. Auch schafft sie sich ein weiteres Standbein als Lehrerin für Stenografie.

Den Beeinträchtigungen, denen sie sich durch den Umzug aus München zu entgehen gehofft hatten, entgehen sie aufgrund der hitlersche Machtübernahme nicht. Ringelnatz - Veröffentlichungen bei Rowohlt befinden sich zunächst in der Grauzone und im Juli 1933 kann noch die Gedicht-Sammlung "103 Gedichte" publiziert werden. Im Oktober erhält er dann allerdings ein Auftrittsverbot. Dass es dem Dichter auch physisch nicht gut geht, ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr zu übersehen.

Einmal noch darf Ringelnatz zu einem Gastspiel in die Schweiz reisen. Todkrank kommt er im Februar 1934 mit dem Flieger nach Berlin zurück. Seine seit langem schwelende Magen- und Lungentuberkulose ist zum Ausbruch gekommen. 

Der Freund Julius Gescher verschafft ihm über seinen Freund, den Arzt & Dichter Gottfried Benn, einen Platz im Sanatorium "Waldhaus Charlottenburg" in SommerfeldDen Sommer 1934  kann er noch dank eines Spendenaufrufes von Freunden in dem Sanatorium in der Nähe von Berlin verbringen. Lona besucht ihn regelmäßig, liest ihm englischsprachige Literatur vor, aber auch Märchen, spielt mit ihm Schach, packt ihm kleine "Scherzverschen" unters Kopfkissen oder lässt diese ihm beim Frühstück durch die Schwester zukommen. Aber auch mitgebrachter Alkohol ist ihm ein Trost.

Über den Stand seiner Erkrankung unterrichtet ihn sein Arzt bewusst nicht. "Sie ist über seinen Zustand aufgeklärt", schreibt ihre Biografin Barbara Hartlage - Laufenberg hier. "Aber glauben will sie es nicht."

Im Oktober kehrt er in die gemeinsame Wohnung zurück, schreibt immer noch, hat literarische Pläne. Seine Frau spricht von einem "traurigen Idyll" und lebt mit ihm in dem Bewusstsein, dass das Ende nah ist. Am 17. November 1934 ist die Lebenskerze des Joachim Ringelnatz' dann abgebrannt. Die 36 Jahre alte Lona steht nun alleine da. Den Rest ihres Lebens wird sie sich darum bemühen, dass sein Werk überlebt. Nachlasspflege und alltäglicher Existenzkampf werden die nächste Zeit prägen.

Lona muss die Wohnung aufgeben und zieht in die Achenbachstraße, vergräbt sich jedoch nicht. Sie nimmt eine Stelle beim Kunst- & Antiquitätenhändler Wertheim an - auf die Tantiemenzahlungen von Rowohlt kann sie sich nicht verlassen. Sie tippt weiter unveröffentlichte Ringelnatz - Texte ab und bereitet Schwarzweiß-Fotos von 20 seiner Gemälde vor.

Mit dem gemeinsamen Freund Hans Siemsen, Exilant in Frankreich, unterstützt vom Lektor Franz Hessel ( siehe auch dieser Post ), bringt sie seine noch unveröffentlichten Texte heraus ( "Der Nachlaß", 1935 ) und stellt mit u.a. dem Verleger Karl Heinz Silomon das Buch "In memoriam Joachim Ringelnatz" zusammen, das 1937 als Privatdruck in kleiner Auflage erscheint, finanziert durch einen Mäzen und eine erste aussagekräftige Darstellung seines Lebens und Wirkens. Wäre dieses Buch in falsche Hände geraten, hätte das für Lona den Weg ins KZ bedeutet...

Ihre Arbeit bei Wertheim verliert sie, als der innerhalb von vier Wochen sein Geschäft schließen muss, kommt aber zu einer Halbtagsstelle bei einem Städtebau-Architekten und wird freie Lektorin bei Rowohlt, indem sie Gutachten zu englisch- & französischsprachiger Literatur erstellt. An Freund Siemsen schreibt sie einmal: "Mir geht es bis auf das verlorene Ringelnatz - Dasein gut."

Im Sommer 1938 verliert sie allerdings auch wieder ihre Arbeit bei Rowohlt, weil der Verlag Berufsverbot erhält. Inzwischen hat sich eine romantische Beziehung zu Julius Gescher entwickelt, und Lona ist von ihm schwanger. Ihn zu heiraten, weist sie erst einmal weit von sich. Als der gemeinsame Sohn Norbert am 14. Dezember 1938 gesund zur Welt kommt, ist sie überglücklich & erleichtert, dass sie als Vierzigjährige alles heil an Leib & Seele überstanden hat. Ein paar Wochen später heiratet sie dann doch Julius Gescher, zieht zu ihm und befindet sich erstmals in gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen, hat ein Kindermädchen und arbeitet in der Praxis ihres Mannes im Büro. 

Mit ihrem Sohn
( 1942 )

Zu Beginn des Krieges wird Julius Gescher im Berliner Westend für ein Reserve-Lazarett dienstverpflichtet. Dort kann er die Erstausgaben und Gemälde von Joachim Ringelnatz in einem Keller einlagern - zum Glück: Als 1943 bei einem schweren Angriff auf Berlin ihre Wohnung völlig ausbrennt, ist auch Lona mit ihrem kleinen Sohn im Luftschutzkeller des Krankenhauses. Anschließend zieht sie mit dem Jungen zu ihrer Schwiegermutter an die Mosel. Norbert wird dort 1944 eingeschult, Lona hat immerhin Kontakt zu zwei anderen Frauen. Ihr Mann kommt in seinen Urlauben zu Besuch, auch Weihnachten 1944.

Das ist ihr letztes Wiedersehen: Am 25. Mai 1945 stirbt Julius Gescher in Berlin an einer Infektion mit Scharlach, die er sich bei der Operation eines erkrankten Soldaten zugezogen hat. Lona ist noch keine 47 Jahre alt und zum zweiten Mal Witwe, dazu alleinerziehend.

Von Geschers Tod erfährt sie erst Monate später, im Juli gerüchteweise, dann im September amtlich. Sie versucht ein Übersetzungsbüro aufzumachen, verdingt sich dann aber als Dolmetscherin bei der Militärdienststelle in Zell an der Mosel. Erst sind dort Amerikaner, dann Franzosen, auch im Haus der Schwiegermutter einquartiert. Doch Lona will zurück nach Berlin, verträgt sie doch das schwülwarme Sommerklima an der Mosel nicht ( was ich gut verstehen kann ). 

Auf eine Zuzugsgenehmigung muss sie länger warten, und in Berlin braucht sie ja eine Wohnung. Ein Glück ist, dass sie in Berlin den fast zwanzig Jahre jüngeren ehemaligen Drucker & Lektor bei Rowohlt & Kleinverleger während der Nazizeit, Karl Heinz Henssel, kennt. Und der erhält sogar als einer der ersten 1946 von den Alliierten eine Druckerlizenz. Zunächst wird aber nur der kleine Norbert von einer Vertrauten Lonas nach Berlin gebracht, wo er bei den Henssels wohnen kann. Der ist es auch, der Lona zunächst zu einem Zimmer, dann einer Wohnung in Zehlendorf verhilft.

In seinem Verlag kann sie dann auch bald als Übersetzerin und Lektorin für 450 Reichsmark arbeiten. Im März 1949 hält sie ihre erste Übersetzung von Gedichten des späteren Nobelpreisträger Saint-John Perse in den Händen. Sie ist wohl stolz darauf, dass sie Eigenes schaffen kann, und legt Wert darauf, dass sie bei Henssel wie anderen Verlagen als Leonharda Gescher aufgeführt wird.

Nachdem Deutschland durch die Nazis von neuen Entwicklungen auf künstlerisch-literarischem Gebiet ausgeschlossen gewesen ist, besteht ein großer Appetit auf das, was anderswo geschrieben worden ist. Übersetzungen sind also gefragt, und Lona ist da ob ihrer Sprachkompetenz prädestiniert. Zunächst erarbeitet sie allerdings mit Henssel erst einmal ein 500-Seiten- Sammelband mit Ringelnatz-Gedichten, der 1950 unter dem Titel"Und auf einmal steht es neben dir" herauskommt. Zum 70. Geburtstag ihres Mannes 1953 kommt eine billigere Ausgabe mit Gedichten in die Buchhandlungen, von ihr ausgewählt.

Ab 1954 erscheinen drei ihrer Übersetzungen der Bücher von Monique Saint-Hélier, einer Schweizerin & Freundin Rilkes, im Suhrkamp Verlag. 

Für diesen Verlag übersetzt sie auch "Moderato Cantabile" von Marguerite Duras ( siehe dieser Post ) und für den Verlag Hoffmann & Campe Michel de Castillos "Elegie der Nacht", ein Buch, dass die Leser der Nachkriegszeit aufrüttelt. Der Autor beschreibt darin die Leidensgeschichte des Jungen Tanguy im KZ Mauthausen - seine eigene Geschichte! 1960 wird diesem Buch der Sonderpreis des Deutschen Jugendbuchpreises verliehen. Ein kleiner Erfolg auch für die Übersetzerin!

Für Henssel überträgt sie auch 1956 "My Left Foot" ( dt. "Mein linker Fuß" ) des Dubliners Christy Brown, 1957 "Haunted Land" ( dt. "Wir sind erst achtzehn doch alt wie Berge" ) des Australiers Randolph Stow und 1958 "The Lost World of the Kalahari" ( dt. "Die verlorene Welt der Kalaharen" ) des Südafrikaners Laurens van der Post, alle aus dem Englischen. In den 1960er Jahren vertraut ihr der Rowohlt Verlag Texte des bedeutenden afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwin an, die in ihrer Übersetzung 1963 herauskommen: "Schwarz und Weiß oder Was es heißt, ein Amerikaner zu sein" ( verärgert ist sie, weil bei diesem Buch der Name "Ringelnatz" verwendet wird ). Insgesamt übersetzt sie in der Nachkriegszeit neunzehn Bücher.

Lona (1959), Norbert Gescher (o.J.)
Außerdem veröffentlicht Lona 1964 einen Teil der Briefe, die Ringelnatz ihr geschrieben hat, versehen mit erläuternden Zwischentexten unter dem Titel "Reisebriefe an M". In diesem Fall, die mit dem Werk von Ringelnatz zu tun haben, tritt sie wieder als Muschelkalk Ringelnatz auf, sie nutzt also unterschiedliche Namen, um jeder ihrer verschiedenen Lebenssituationen ihr Recht zu lassen. Sie wird betonen, dass ihr ihre Nachkriegstätigkeit ein Stück eigenes Leben bedeutet hat, die ihr auch  durchaus Anerkennung in den Feuilletons  verschafft. Ihr gilt aber auch das Verdienst, dass die Werke ihres Mannes in der Nachkriegszeit gleich wieder präsent sind ( und dadurch sich bis heute großer Bekanntheit & Beliebtheit erfreuen ).

Seit 1957 wohnt Lona in der Klopstockstraße in der Nähe des Bahnhofs Zoo, nachdem der Sohn Abitur gemacht und ein Studium der Theaterwissenschaften aufgenommen hat ( später geht er auf eine Schauspielschule ). Der Sohn wird auch die Nachlassverwaltung für Joachim Ringelnatz & seine Werke übernehmen.

Zu Beginn der 1970er Jahre lassen Lonas geistige Fähigkeiten nach und sie kann nicht mehr alleine leben. Ihr Sohn dreht mit seinem Freund Dieter Schwarz 1972 einen 30-minütigen Film, der an ihrem 75. Geburtstag 1993 vor einem kleineren Kreis aufgeführt wird.

Schließlich wird Lona in der Bonhoeffer- Klinik, einer Einrichtung für psychisch Kranke, untergebracht, die damals auch Menschen mit Demenz aufnimmt. Doch Sohn Norbert übernimmt die Vormundschaft und Verleger Henssel erreicht über einen befreundeten Arzt, dass sie in einer Klinik des Theodor-Wenzel-Werks untergebracht wird. Die Ringelnatz - Tantiemen reichen für die Finanzierung des Aufenthaltes. Dort stirbt Lona Ringelnatz am 26. Februar 1977 mit 78 Jahren. 

In seiner Todesanzeige im Berliner "Tagesspiegel" bittet der Sohn um Spenden für die "Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger" statt Blumen & Kränzen - eine Hommage an ihren ersten Mann, der das Meer über alles geliebt hat. Sie selbst ruht auf dem Friedhof Heerstraße im heutigen Ortsteil Berlin-Westend an der Seite ihres zweiten Mannes Julius Gescher.

2020/21 sorgt eine Ausstellung im Cuxhavener Ringelnatz-Museum dafür, dass mit dem Namen "Muschelkalk" eine ganz konkrete Person, eine Frau aus Fleisch & Blut, die mehr als die Hälfte ihres Lebens ganz für sich allein existiert hat, verbunden werden kann - gut so, finde ich.

       

 

Auch heute wieder die Verlinkungen zu den Posts der Frauen, die in der vergangenen Woche einen Gedenktag hatten:

Donnerstag, 14. November 2024

Great Women #397: Wilma Rudolph

"Es ist kurz vor drei am Nachmittag des 2. September 1960: Ein zehnjähriger Olympia-Fan sitzt mit roten Ohren vor dem Fernseher, gleich startet in Rom das 100-Meter-Finale der Frauen. Tags zuvor hat der deutsche Sprinter Armin Hary den Lauf der Männer mit neuem olympischem Rekord in 10,2 Sekunden für sich entschieden. Im Finale der Frauen ist keine deutsche Läuferin mehr vertreten. Möge die Beste gewinnen!" So beschreibt Klaus Legewie sein Erleben dieses historischen Tages in der "ZEIT". Und ich dachte beim Lesen sofort, der Text könnte glatt von mir sein, habe ich das Ereignis damals bei meiner Patentante vor deren Fernseher fasziniert verfolgt. ( Es waren die allerersten Olympia - Übertragungen im Fernsehen damals. ) Die, die dann so sensationell gewonnen hat, möchte ich heute hier an dieser Stelle würdigen: Wilma Rudolph.

"Winning is great, sure, 
but if you are really going to do something in life, 
the secret is learning how to lose. 
Nobody goes undefeated all the time. 
If you can pick up after a crushing defeat, 
and go on to win again, you are going to be a champion someday." 

Wilma Glodean Rudolph erblickt am 23. Juni 1940 in Saint Bethlehem, Tennessee das Licht der Welt. Ihre Mutter ist Blanche Pettus, 1908 in Tennessee geboren und seit 1932 mit Eddie Boyd Rudolph verheiratet, der schon 1887 ebenfalls in diesem Bundesstaat noch in die Sklaverei geboren worden ist. Elf Kinder hat dieser bereits von seiner ersten Frau, die bei der Geburt ihres letzten Kindes 1930 gestorben ist. Blanche wird weitere sechs Kinder auf die Welt bringen: Gus (*1931), Rosevelt (*1933), George Vanderbilt (*1936), Yvonne Marie (*1938), und nach Wilma noch Wesley (*1942). Die Eltern verdienen den Lebensunterhalt für die Familie als Gepäckträger bei der Eisenbahn & Gelegenheitsarbeiter bzw. als Dienstmädchen in Privathaushalten der Weißen von Clarksville.

Wilma wächst also in einer wahren Großfamilie auf, die nicht auf Rosen gebettet ist. Bei ihrer vorzeitigen Geburt wiegt sie nur zwei Kilogramm und wird in Zukunft mit zahlreichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben. Bis zu ihrem vierten Geburtstag macht sie zweimal eine doppelseitige Lungenentzündung und einmal Scharlach durch. Bald darauf erkrankt sie dann auch noch an Polio ( "Kinderlähmung" ). Die Folge: keine Kraft mehr in ihrem linken Bein und Fuß. Die Pflege der kranken Kleinen fällt der arbeitenden Mutter nicht leicht. Doch sie sagt sich auch: "With God-given ability, persistence and faith you can do any thing you want."

Weil es für Afroamerikaner*innen in ihrer Heimatstadt nicht die nötige medizinische Versorgung gibt, fährt die Mutter mit Wilma im Bus zur Physiotherapie im Meharry Medical College in das 90 Meilen entfernte Nashville, immer im dichten Gedränge hinten im "Greyhound" sitzend, was für afroamerikanische US-Bürger vorgeschrieben ist. Noch gilt die strikte Apartheid der Jim-Crow-Gesetze in den Staaten. 

Die Ärzte machen wenig Hoffnung, dass Wilma je wieder wird springen oder tanzen können, verpassen ihr aber eine Beinschiene aus Metall und später einen speziell angepassten orthopädischen Schuh. Mehrmals täglich massieren ihr die Geschwister das Bein. Erst mit acht Jahren kann das Mädchen dann wieder mit der Schiene gehen.

Die Liebe und Sorge ihrer Familie zeigen letztendlich Wirkung: Mit elf Jahren kann Wilma ohne Hilfsmittel gehen. Endlich kann sie mit ihren Geschwistern spielen – und die spielen am liebsten Basketball. Also rennt auch Wilma - barfuß - über den Platz, als hätte sie nie etwas anderes getan, und tritt in die Fußstapfen ihrer Schwester Yvonne. In der achten Klasse beginnt sie Basketball in der Mannschaft der Burt High School in Clarksville zu spielen. Einer ihrer Highschool-Sportlehrer verpasst dem Mädchen den anerkennenden Spitznamen "Skeeter", das Synonym für Moskito: "Weil du klein und schnell bist und mir immer im Weg stehst."

Coach Ed Temple und seine "Tigerbelles",
Wilma ganz links
(1956)
Vielleicht wäre Wilma eine gute Basketballspielerin geworden, hätte es nicht diesen Ed Temple gegeben, Soziologie - Professor an der Tennessee State University und gleichzeitig der erfolgreichste amerikanische Leichtathletik-Trainer, ein Pionier der Frauenleichtathletik. 

Als Schiedsrichter eines Basketball - Matches erkennt er das Talent des   1,80 Meter großen, sehr schlanken Mädchens. Obwohl sie erst vierzehn Jahre alt ist, darf sie an seinem Sommertrainingsprogramm an der Tennessee State University teilnehmen und mit den "Tennessee State Tigerbelles" der Uni trainieren. Temple verschafft ihr ein Stipendium, und Wilma kann schließlich ihr olympisches Debüt bei den Spielen 1956 in Melbourne geben: Mit gerade einmal 16 Jahren gehört sie der amerikanischen 4x100-Meter-Staffel an, die eine Bronzemedaille gewinnt. 

Wilmas Zukunft scheint klar: Sie wird die Schule abschließen und dann die Universität besuchen, für die sie nun schon seit Jahren bei Laufwettbewerben antritt. Doch die junge Sportlerin wird in ihrem letzten Schuljahr mit achtzehn Jahren schwanger. Mit ihrem Freund, dem fast gleichaltrigen Basketballspieler Robert Lee Eldridge, bekommt sie eine Tochter mit Namen Yolanda. Sie muss sich hämische Kommentare gefallen lassen: Das war’s wohl mit der Sportkarriere!

Doch Wilma "Skeeter" Rudolph lässt sich nicht aufhalten. Sie macht ihren Schulabschluss, schreibt sich an der Universität ein und konzentriert sich auf ihr großes Ziel, die Olympischen Spiele 1960 in Rom. Dass sie Anfang Juli 1960 bei den US-Trials in Corpus Christi mit 22,9 Sekunden über 200 Meter als erste Frau unter der 23-Sekunden-Grenze bleibt - ein Weltrekord, der acht Jahre lang Bestand haben wird -, sichert ihr das Flugticket in die Ewige Stadt.

Was dort passiert, übertrifft dann die schlimmsten Wettbewerbs-Alpträume: Kurz vor einem Lauf knickt Wilma mit dem Knöchel um. 

"Am Morgen des 2. September 1960 war der Knöchel von Amerikas schnellster Frau noch immer grün und blau und deutlich geschwollen. Wenige Stunden blieben bis zum ersten Halbfinale über 100 Meter. 'Skeeter' Rudolph machte ein paar Testsprints - und entschied sich, zu starten", schreibt Alex Raack 2020 im "Spiegel".


Und sie schafft es: Beim Finale des 100-Meter-Laufs läuft sie nach 11,0 Sekunden ins Ziel. ( Die Rekordzeit wird allerdings nicht als Weltrekord gewertet, da der Wind mit 2,75 Metern pro Sekunde das Maximum von 2 Metern überschritten hat. A star is born!

Mit Jutta Heine, der Zweitplatzierten,
und der Britin Dorothy Hyman
(1960)
Eine weitere Goldmedaille gewinnt Wilma im Finale des 200-Meter-Laufs mit einer Zeit von 24,0 Sekunden, nachdem sie im Eröffnungslauf einen neuen olympischen Rekord von 23,2 Sekunden aufgestellt hat. Nach diesen Siegen wird sie auf der ganzen Welt als "die schnellste Frau der Geschichte" gefeiert. ( Und ein bisschen kommen beim Videogucken die Gefühle wieder auf, die ich damals für sie empfunden habe, bin ich doch die einzige Sprinterin in einer Familie lauter Langstreckenläufer gewesen...)

Und schließlich und endlich erhält sie noch eine dritte Goldmedaille als Schlussläuferin der 4 x 100-Meter-Staffel der USA in einer Zeit von 44,5 Sekunden.

Ihre Motivation: Sie will Jesse Owens ehren, den gefeierten amerikanischen Sportler und Star der Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin, der ihr immer eine Inspiration gewesen ist.

Ein unvergleichlicher Medienrummel setzt ein: Französische Journalisten nennen sie "La Perle Noire", die italienische Presse lobt sie als "La Gazzella Nera", die seriöse deutsche Presse bewundert ganz selbstverständlich die langen Beine der "Negerin" und ist sich des rassistischen Untertons dieses Spitznamens nicht mal bewusst. In Amerika ist Wilma ab jetzt "Der Tornado". Da 1960 zum ersten Mal die Spiele weltweit im Fernsehen übertragen werden, wird die Zwanzigjährige ein internationaler Star. Das verstärkt auch noch ihre Tournee durch Europa, wo sie von begeisterten Italienern, Griechen, Engländern, Niederländern und Deutschen gefeiert wird. Allein 40 000 Zuschauer strömen in Berlin beim Internationalen Stadionfest (Istaf) in die Arena, um sie laufen zu sehen.

Doch besonders das, was nach ihrem Welterfolg in den USA geschieht, wird die Leistungssportlerin im Nachhinein kritisch sehen:
"Ich bin als Symbol des freien Amerikas gefeiert worden. Heute weiß ich, dass ich missbraucht worden bin."

Demonstration am 29.5.1963
Das geht schon los mit der Party am "Welcome Wilma Day", dem 4. Oktober 1960, in ihrer Heimatstadt Clarksville. Bei der sollen gemäß den geltenden Gesetzen in Tennessee Schwarze und Weiße getrennt feiern. Wilma lässt ausrichten, dass sie nur dabei sein wird, wenn alle zusammen feiern. Und so wird dies die erste Veranstaltung ohne Rassentrennung in der Geschichte des Bundesstaates. Der Gouverneur von Tennessee, Buford Ellington, ein strikter Anhänger der Rassentrennung, hat das Nachsehen. 

Doch noch lässt sich die junge Frau von ihrem Erfolg blenden: "Sie müssen wissen, er ist ein Weißer. Er hat in seinem Leben zuvor nie einem Neger zu irgendetwas gratuliert." Um die Diskriminierung der Afroamerikaner vergessen zu machen, heißt es ab da auch immer wieder: "She isn’t colored, she is gold."- Floskeln, die den akuten Rassismus übertünchen sollen. 

"Dass ihr Land den Erfolg seines größten schwarzen Sportstars nur benutzte, um sich als offene, gerechte und antirassistische Gesellschaft zu zeigen, die die Vereinigten Staaten bis heute nicht sind, erfuhr Rudolph nur wenige Wochen nach den Feierlichkeiten, als ihr gemeinsam mit ihrem Vater der Besuch eines angesagten Restaurants verwehrt wurde", weiß der "Spiegel" später zu berichten.

Drei Jahre später wird sie eine von 300 schwarzen Demonstranten sein, die am 29. Mai 1963 versuchen, Rassenbarrieren in einem der letzten getrennten Restaurants in Clarksville - "Shoney's" - zu durchbrechen,  welches ihnen die Türen vor der Nase zuschlägt. Die Demonstrierenden werden von mehr als 150 weißen Jugendlichen verhöhnt und belästigt. 

Links mit Muhammad Ali, rechts mit ihren Eltern
(1960)

Doch zurück zur privaten Wilma: 1961 stirbt ihr Vater mit 73 Jahren, sie heiratet William Ward, ein Mitglied des Leichtathletikteams des North Carolina College in Durham, und widersteht den Avancen von Cassius Clay - heute bekannter als Muhammad Ali -, mit dem sie sich in Rom angefreundet hat und der sie in seiner Heimatstadt Louisville, Kentucky in einem rosa Cadillac-Cabriolet herumfährt. Die Ehe mit Ward wird schon 1963 wieder geschieden.

Im Juli 1962 verbessert sie in Stuttgart ihren 100-Meter-Weltrekord auf 11,2 Sekunden. Dieser und die über 200 Meter (22,9 Sekunden) bzw. 4 x 100 Meter Staffel werden auf Jahre Gültigkeit behalten. Doch von ihre Rekorden kann Wilma nicht leben: ".. was soll man schon antworten, wenn dir einer sagt: wenn du weiß wärst, wärst du Millionärin.“ Sie kapiert, dass "es für eine schwarze Frau unmöglich war, in der Werbe- und Marketingwelt Amerikas Geld zu verdienen." Also muss sie ihre Berufsausbildung zu Ende bringen.

Eine komplizierte Blinddarm-Operation macht ihr den Entschluss wahrscheinlich noch leichter: Mit 22 Jahren beendet sie ihre Karriere als aktive Sprinterin. Ihre Triumphe bisher seien ihr genug, erklärt sie den verdutzten Journalisten.

Sie schließt ihr Studium 1963 mit einen Bachelor-Abschluss in Grundschulpädagogik ab. Im selben Jahr unternimmt sie noch als Sonderbotschafterin des US-Außenministeriums eine einmonatige Reise nach Westafrika zu den Freundschaftsspielen 1963 in Dakar, Senegal. Sie besucht Sportveranstaltungen & Schulen in Ghana, Guinea, Mali und Obervolta und tritt in Fernseh- und Radiosendungen auf.

Mit ihren Kindern Yolanda, Djuanna & Robert jr.
(1969)
Später im selben Jahr heiratet sie Robert Eldridge, den Vater ihrer ersten Tochter Yolanda, nachdem sie die gemeinsame zweite Tochter Djuanna zur Welt gebracht hat. Robert Jr. wird 1965 and Xurry 1971 die Familie vergrößern. 1980 wird diese Ehe geschieden.

Wilma arbeitet zunächst als Lehrerin an der Cobb Elementary School, die sie selbst als Kind besucht hat, und trainiert Leichtathletik an der Burt High School, deren Schülerin und Sportlerin sie gewesen ist. 

Auch fühlt sie sich der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner verbunden und nimmt an Märschen und Demonstrationen in den 1960er Jahren teil. 

Politisch einspannen lässt sie sich aber nicht. 1972 versucht das der Republikaner  Richard Nixon. Er möchte sie als immer noch berühmtes schwarzes Gesicht für seinen Wahlkampf gewinnen. Wilma aber sympathisiert eher mit der Black-Power-Bewegung. 

Die "Welt" zitiert sie 1976 mit den Worten: "Es gibt keine Gerechtigkeit für uns. Die einzige Waffe der Schwarzen ist Gewalt."

ca. 1984
Schon 1974 ist sie als erste Afroamerikanerin in die Hall of Fame der US-Leichtathleten aufgenommen worden. Sie entwickelt Sportprogramme im Rahmen staatlich geförderter Projekte, die die städtische Jugend von der Straße weg zum Sport bringen sollen und gründet schließlich 1981 zur Unterstützung junger schwarzer Athleten die "Wilma Rudolph Foundation", eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Indianapolis, Indiana. "Wenn überhaupt irgendetwas von mir bleibt", sagt sie der "New York Times" einmal, "dann ist es diese Stiftung." Ihr wohl prominentester Schützling wird Florence Griffith-Joyner, der ebenfalls das Kunststück gelungen ist, bei den Olympischen Spielen dreimal Gold zu gewinnen

Sechs Jahre später wechselt sie zur DePauw University in Greencastle, Indiana, als dortige Leiterin des Leichtathletikprogramms für Frauen. Auch berät sie den Universitätspräsidenten in Minderheitenangelegenheiten. 

1984 hat sie die Spiele in Los Angeles kommentieren dürfen, und 1987 jubeln ihr 80.000 Menschen in Indianapolis zu, als sie bei den "Pan American Games" das Feuer entzündet. Anfang der 1990er-Jahre  ist Wilma auch noch einmal in Berlin zu Gast, um als Olympia-Botschafterin die ( später gescheiterte ) Bewerbung der Stadt um die Sommerspiele 2000 zu unterstützen.

Im Juli 1994 kurz nach dem Tod ihrer Mutter Blanche am 12. Mai wird bei ihr selbst ein Hirntumor festgestellt sowie Krebszellen am Kehlkopf entdeckt. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide. 

Am 12. November 1994 stirbt Wilma Rudolph in ihrem Haus in Brentwood, einem Vorort von Nashville, Tennessee. Sie ist nur 54 Jahre alt geworden. Zu ihrer Beerdigung bei der Edgefield Missionary Baptist Church in Clarksville  strömen Tausende und in ganz Tennessee wehen die Fahnen auf halbmast. 

Ihren Kampf gegen Diskriminierung führen heute andere afroamerikanische Sportler  & Sportlerinnen fort. Ihre beeindruckende Lebensgeschichte wird in dutzenden Filmen und Kinderbüchern weiterhin erzählt.

In Berlin wird mit dem Abzug der US-Truppen im Jahr 1994 die "Berlin American High School" (BAHS) der Berliner Bevölkerung übergeben und in die Gesamtschule Am Hegewinkel umgewandelt. Zu Ehren der unvergessenen Sprinterin wird die Schule im Sommer 2000 in "Wilma Rudolph Oberschule" umbenannt. 

In Clarksville, wo Wilma groß geworden ist,  gibt es eine Bronzestatue am Cumberland River, das "Wilma Rudolph Event Center" mit tausend Plätzen und einen Wilma Rudolph Boulevard. Der 23. Juni ist inzwischen der "Wilma Rudolph Day" im Heimat -Bundesstaat der Sportlerin. 2004 gibt der United States Postal Service eine 23-Cent-Briefmarke mit dem Porträt der Olympiasiegerin heraus.