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Rainer Maria Rilke, "Duineser Elegien" ("Duino Elegies")

2008, Rainer Maria Rilke, Gedichte. Frankfurt/M.: Fischer 2008, 465-469

Brief interpretation of Rainer Maria Rilke's "Duineser Elegien"

Aus Kindlers Literatur Lexikon: Rain er Maria Rilke, >Duineser Elegien< Die Entstehungszeit der 1923 erschienenen Duineser Elegien umspannt mehr als zehn Jahre. Begonnen wurden sie im Januar 1912 auf Schloss Duino bei Triest, wo Rilke als Gast der Fürstin Marie Taxis weilte (ihr wurde der Gedichtzyklus schließlich auch gewidmet), vollendet im Februar 1922 in Muzot im Wallis. Die überlange Entstehungszeit des Werks hat viele Ursachen: persön~ liehe Krisen des Autors, der durch mehrere gescheiterte Liebesbeziehungen eskalierende Konflikt zwischen Leben und Werk, ganz besonders aber natürlich die Epochenkatastrophe des Ersten Weltkriegs, mit der der Rilke so wesentliche alteuropäische Kulturraum unterging. Ein wichtiger Grund dürfte jedoch auch in den hohen Zielen liegen, die der Autor sich mit diesem Werk selbst gesetzt hatte: Die Duineser Elegien versuchen, ein poetisches Bild der >condition humaine< zu entwerfen, das deren Probleme keineswegs leugnet, aber dennoch Impulse zu einer Bejahung des Lebens gibt. Mit lyrischen Mitteln und mit den Mitteln der Mythopoesie soll so geleistet werden, was in den Aufzeichnungen in der Erzählform des biographischen Romans nicht umfassend gelungen war. Durch diese Zielsetzung und durch ihre Anlage als weit gespannter Gedichtzyklus fügen Rilkes Elegien sich ein in die Gruppe der großen >Welt-Gedichte< der klassischen Moderne (die streng durchkomponierten Zyklen Stefan Georges, T.S. Eliots Waste Land oder Ezra Pounds Cantos). Im Wechsel mit der Evokation glück- und sinnerfüllter Augenblicke beklagen die Duineser Elegien allgemein-menschliche Probleme, wie etwa die selbstreflexive Gespaltenheit des menschlichen Bewusstseins, die Brechung der Unmittelbarkeit des Lebensvollzugs durch unser Wissen um Vergänglichkeit und Tod und die aus der Übermächtigkeit von Liebe und Sexualität resultierenden Beschädigungen und Verschuldungen. Verschärft werden diese allgemeinen Existenzprobleme noch durch spezifi465 sehe Defizite der Moderne: die Übermacht der »gedeuteten Welt« (1. Elegie)- einer auf Vernunft und Konvention beruhenden Wirklichkeitssicht, die alles Fremde, Unerklärbare und Unbeherrschbare auszugrenzen und zu verdrängen sucht und doch keine wirkliche Sicherheit bieten kann- und die Leere einer rein funktional gestalteten Zivilisation, die nicht mehr über die sinnund lebenserfüllten Bilder und Dinge früherer Kulturen verfügt. Ein Konzentrat von Rilkes Kritik der Moderne enthält das allegorische Bild der »Leid-Stadt« in der »Zehnten Elegie«, deren Bewohner auf ihrem ,.Jahrmarkt« die Herausforderungen von Schmerz, Liebe und Tod durch oberflächliche Vergnügungen und leeren Materialismus zu übertönen suchen. Um modernes Fehlverhalten zu korrigieren und das menschliche Dasein zu affirmieren, entwickelt Rilke keine Lehre, die von den Gedichten ablösbar wäre - nach dieser haben die Interpreten, die die Elegien in kommentierenden Paraphrasen auszulegen suchten, immer vergeblich gesucht. Ganz in der Tradition der >Kunstmetaphysik< des frühen Nietzsche stehend, sucht Rilke vielmehr auf genuin poetische Weise nach Bildern und Geschichten, die ein~ seitige Wertungen unterlaufen und Sinnfiguren begründen. Dazu bedient er sich in den Elegien vor allem zweier Verfahren: Mit Hilfe einer gegenbildliehen Darstellungsweise wird erstens- menschliches Dasein von den ihm unerreichbar bleibenden polaren Grenzwerten, den Existenzweisen des Tieres und des »Engels«, her bestimmt. Beide sind frei von den Aporien des menschlichen Bewusstseins, der Spaltung in Subjekt und Objekt und dem Wissen um Vergänglichkeit und Tod, leben also im »Offenen« (8. Elegie). Dabei ist der »Engel« der Elegien keineswegs mit dem des Christentums identisch. Rilke erklärt ihn als »dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist das- jenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. - Daher >schrecklich< für uns weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sicht-' baren hängen.« (An W. Hulewicz, 13. 11. 1925) In mythopoetischer Generalisierung werden- zweitens- Vorbilder eines geglückten menschlichen Daseins gestaltet: etwa das >Kind<, das zwischen der inneren, unbegrenzten Welt seiner Phantasie und der äußeren Realität noch nicht kategorisch unterscheidet; der ungebrochen wollende und handelnde »Held« (6. Elegie); die »Jungverstorbenen«, die aus einem kindheitsnahen Zustand, also noch nicht eingewöhnt in die »gedeutete Welt«, unmittelbar in den Tod gehen. Besonders wichtig sind Rilke die »großen Liebenden«, deren Schicksal er an berühmten Beispielen wie Mariana Alcoforado (1640-1723), Bettina von Arnim (1788-1859), Louise Labe (um 1525-1566) und Gaspara Stampa (1523-1554) studiert und immer wieder in seinem Werk gestaltet und gerühmt hat. Ihre Liebe >besitzlos< zu nennen, ist missverständlich, da Rilke damit weder eine platonische Beziehung ohne Sexualität meint noch eine, die primär um die Freiheit des anderen besorgt wäre. Besser wäre es, von einer >intransitiven Liebe< zu sprechen, da sich diese Liebenden vom Geliebten gelöst oder ihn verloren, dabei aber das durch die Liebe gesteigerte Gefühl bewahrt haben, das sich nun auf das Ganze der W1rklichkeit richtet und so den Aporien der >transitiven< Liebe entgeht. Zwischen diesen unerreichbaren Gegenbildern und den nur für wenige oder nur in bestimmten Lebensabschnitten erreichbaren Vorbildern liegt der Raum der >condition humaine<, wie ihn Rilke am überzeugendsten im Sinnbild der in mechanischen Bewegungen erstarrten, aber doch für Augenblicke glücksfähigen Straßenartisten der »Fünften Elegie« und im Leid, Schmerz und Trauer integrierenden (an Ägypten angelehnten) ,. Leidland « der »Zehnten Elegie« gestaltet. Neben diesen mythopoetischen Figuren und Sinnbildern enthalten die Duineser Elegien eine Fülle von Selbstdramatisierungen des lyrischen Ich auf der »Bühne des Herzens« (4. Elegie) in 466 467 den unterschiedlichsten Formen und Sprechhaltungen: in emotionalen Selbstaussprachen, in Erinnerungen an zu »lyrischen Summen« (Brief an N.v. Escher, 22. 12. 1923) verknappte persönliche Erfahrungen, in abstrakten Reflexionen, an den Leser gerichteten Fragen und Aufforderungen und in Anreden an die >dramatis personae< des Textes. . Eine gewisse Sonderstellung nehmen die »Siebente Elegie« und die »Neunte Elegie« ein, die erst in der letzten Arbeitsphase, also nach der Niederschrift des ersten Teils der Sonette an Orpheus, entstanden sind und deren >orphische< Auffassung von der Aufgabe des Menschen voraussetzen. Auf das »Schwinden« des »Außen« (7. Elegie) in der Moderne antwortet Rilke mit dem Appell zur >Verwandlung< der Dinge: »diese, von Hingang I lebenden Dinge[ ... ] I Wollen, wir sollen sie ganz im unsichtbarn Herzen verwandeln I in- o unendlich- in uns!« (9. Elegie). Um dies zu erreichen, sind, zum einen, symbolisch potente Kulturzeichen und Rituale der Vergangenheit aufzugreifen und zu aktualisieren; zum anderen muss eine ständige Neuaneignung der zunehmend unsichtbaren Lebenswelt der Moderne .versucht werden. Beides kann nicht mehr in konkret dinglicher, unmittelbar anschaulicher Weise geschehen, sondern nur in Gestaltungsformen, die deutlich abstrakter sind: sprachlich-bildlich und geistig-emotional. Diese >Verwandlung< leistet der Dichter exemplarisch und in gesteigerter Gültigkeit- sie ist aber auch eine wesentliche Aufgabe jedes individuellen Lebensvollzugs. Formal sind die Gedichte des Zyklus als >Elegien< nur ungenau bestimmt, da sie weder in Distichen geschrieben noch ausschließlich der Klage gewidmet sind. Eher liegt eine Verschmelzung von Elegie und der freirhythmisch geschriebenen und traditionell dem Götterpreis gewidmeten Hymne vor. Damit knüpft Rilke an die große Tradition deutschsprachiger Lyrik im >hohen Ton< an, die Klopstock und vor allem Hölderlin begründet haben. Aus: Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitete Auflage. Herausgegeben von Heinz Ludwig Arnold (ISBN 978-3476-04000-8).:.... © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009 J. B. Metzler'sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart (in Lizenz der Kindler Verlag GmbH). Manfred Engel 468 469 Rainer Maria Rilke Gedichte Fischer Taschenbuch Verlag _-- 'c- ·' . . ·) .... - .. -' --1 ,,.-I >w:fl_··"··.h.4, ,U ~· I.: f_'1•(;c,q · f•'~ ~ .ul.! l;;) ... ' . ll!!l' :.r:r.-11 Inhalt Das Stunden-Buch ....... . Das Buch vom mönchischen Leben Das Buch von der Pilgerschaft Das Buch von der Armut und vom Tode Das Buch der Bilder ..... Des ersten Buches erster Teil Des ersten Buches zweiter Teil Des zweiten Buches erster Teil Des zweiten Buches zweiter Teil Originalausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag, einem Unternehmen der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, Juli 2008 Für diese Ausgabe: © 2008 FischerTaschenbuch Verlag, in der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz: MedienTeam Berger, Ellwangen Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-596-90078-7 Unsere Adressen im Internet: www.fiScherverlage.de www.fiScher-klassik.de Urlivenitötsbibliothek ~ 1 Frankfurt om Moin 7 9 53 85 . 107 109 127 143 173 Neue Gedichte . . . . . . . . . . . 107 Der neuen Gedichte anderer Teil . 201 Requiem ............ . . 107 Für eine Freundin . . . . . . . Für Wolf Graf von Kalckreuth . 344 . 353 Das Marien-Leben. . 359 Duineser Elegien . . . 375 Die Sonette an Orpheus . 405 Editorische Notiz . 443 Daten zu Leben und Werk . 445 Aus Kindlers Literatur Lexikon: Rainer Maria Rilke, >Das Stunden-Buch< Rainer Maria Rilke, >Das Buch der Bilder< Rainer Maria Rilke, >Neue Gedichte< . . . Rainer Maria Rilke, >Duineser Elegien< Rainer Maria Rilke, >Die Sonette an Orpheus< . . . . . Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge . 473 449 453 457 463 469