Academia.eduAcademia.edu

[Celan und] Rainer Maria Rilke

2008, Celan-Handbuch. Ed. by Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. Stuttgart: Metzler 2008, 299-301

Sketches the influence which Rilke's work had on Paul Celan.

8.1. Deutschsprachige Literatur vor 1945 8.1.7. Rainer Maria Rilke Lektüren In C.s Bibliothek, wie sie heute im Deutschen Literaturarchiv (Marbach) aufgestellt ist, finden sich die folgenden Rilkeana: Werkausgaben: Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte. Frankfurt/M.: Insel 1962 (Sonderausgabe in der Reihe: »Die Bücher der Neunzehn«, Nr. 86, März 1962) [Besitzvermerk: Frankfurt am Main, 14.5.62). - Ders.: Werke in drei Bänden. Bd. 1: Gedicht-Zyklen; Bd. 2: Gedichte und Übertragungen; Bd. 3: Prosa. Einleitung von Beda Allemann. Frankfurt/M.: Insel 1966. Einzelausgaben: Ders.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Bd. 1 [Bd. 2 nicht vorhanden]. Leipzig: Insel 1910 [Erstausgabe]. - Ders.: Die frühen Gedichte. Leipzig: Insel 1923. - Ders.: Geschichten vom lieben Gott. Leipzig: Insel 1920. - Ders.: Duineser Elegien. Leipzig: Insel 1923 [Erstausgabe; vor Titelblatt als Lesezeichen ein Zweigstückchen eingelegt). - Ders.: Die Sonette an Orpheus. Geschrieben als ein Grab-Mal für Wera Ouckama Knoop. Leipzig: Insel 1923 [Erstausgabe; als Lesezeichen liegt ein Zweigstückchen zwischen S. 36/37 (Sonette 11.2/3)]. - Ders.: Les Cahiers de Malte Laurids Brigge. übers. von Maurice Betz. Paris: Emile-Paul 1927 [Besitzvermerk: 2.7.1950]. - Ders.: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Leipzig: Insel 1934. - Ders.: Ewald Tragy. Wiesbaden: Insel 1959 (Insel-Bücherei 680). - Ders.: Briefe über Cezanne. Hg. von Clara Rilke. Mit einem Nachwort von Heinrich Wigand Petzet. Frankfurt/M.: Insel 1962 (Insel-Bücherei 747) [Besitzvermerk: Frankfurt, 29. Mai 1962]. Übersetzungen durch Rilke: Paul Valery: Gedichte. übertragen durch Rainer Maria Rilke. Wiesbaden: Insel 1949 [bei Cimetiere marin. Der Friedhof am Meer zahlreiche Anstreichungen und Randbemerkungen (»Stundenbuch!«, »Rilkerei!«, »idiot!«); vgl. das Teilfaksimile in: Fremde Nähe, 272]. - Das Igor-Lied. Eine Heldendichtung. Der altrussische Text mit der übertragung von RMR und der neurussischen Prosafassung von D.S. Lichatschow. Leipzig: Insel 1960 (Insel-Bücherei 689). Briefe: Rainer,Maria Rilke: Briefe. Erster Band 1897 bis 1914. Zweiter Band: 1914 bis 1926. Hg. vom Rilke-Archiv in Weimar in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt durch Karl Altheim. Wiesbaden: Insel 1950. Sekundärliteratur: Martin Heidegger: Wozu Dichter?, in: Ders.: Holzwege. Frankfurt/M.: Klostermann 1950, 248- 295 [Lektüre datiert auf 4.7.53, einige Anstreichungen). - Beda Allemann: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichtes. Pfullingen: Neske 1961 [mit eingeklebter Widmung des Verf. ]. - Insel-Almanach auf das Jahr 1967: Rainer Maria zum vierzigsten Todestag [in der Sektion 299 »Stimmen über Rilke« (69-93) ist im Beitrag von Peter Demetz aufS. 35 eine längere Passage angestrichen; vgl. Fremde Nähe, 271). - Philippe Jaccottet: Rilke par luimeme. Paris: Editions du seuil 1970 [handschriftl. Widmung durch Verf., datiert 8.5.1970). Der von Dietlinde Meinecke und Stefan Reichert in den Jahren 1972-1974 und 1987 in Paris und Moisville erstellte Bibliothekskatalog listet außerdem noch eine Reihe französischer Übersetzungen und Ausgaben französischer Gedichte auf, die meist Gisele Celan-Lestrange gehörten und vor allem in den Jahren 1950/1951 angeschafft wurden. C.s Exemplare weisen kaum Lesespuren auf (besonders wichtige wurden oben beschrieben). Detailliert dokumentiert ist nur eine Lektüre des Malte in Band 3 der Werke; sie erfolgte in zwei Schüben (leseabschnittsweise datiert 27. Februar bis 2. Mai 1968: 1. bis 26. Aufzeichnung; 6. März bis 22. Mai 1969: 27. bis 43. Aufzeichnung) und stand in unmittelbarem Zusammenhang mit C.s Unterricht an der Ecole normale superieure (Felstiner, 334). Natürlich gibt diese Bestandsaufnahme nur ein sehr unvollkommenes Bild von C.s Rilke-Rezeption, da sie die für das Frühwerk entscheidenden Lektüren nicht belegen kann. Diese begannen wohl bereits im Herbst 1934 und erreic~ ten ihren ersten Höhepunkt im Sommer 1936, als C. den Cornet und das Buch der Bilder las. C.s Biographen Chalfen (ebd., 65- 75) und Felstiner (ebd., 31-35) haben diese frühe Begegnung und den Czernowitzer Lesekreis, in dem C. seinen Zuhörerinnen vor allem Rilke-Gedichte vortrug, ausführlich geschildert. Nicht direkt bezeugt, aber mit Sicherheit auch noch für die Czernowitzer Jahre anzusetzen sind die Lektüren anderer zentraler Texte, mindestens von Stunden-Buch, Neue Gedichte, Duineser Elegien, Sonette an Orpheus, Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In Paris wurden die (teuren) Erstausgaben erst 1959 angeschafft. Für Lektüren standen aber ja auch Bibliotheken zur Verfügung; 1951 etwa hat sich C. hier zahlreiche Gedichte abgeschrieben, darunter auch Rilke-Texte in der übersetzung durch Maurice Betz (Celan/Celan-Lestrange II, 409). So spiegeln die Buchbestände die Lektüren nur bedingt wider (beispielsweise fehlt der Brief- 300 wechsel Rilke/Gide, dessen Übersetzung C. im August 1954 abbrach; Felstiner, 130 f.) . Beziehungen: Rezeptionsphasen, Verfahren, Motive, Dichterbild und Kunstauffassung Deutlicher als an der Bibliothek lässt sich C.s Rilke-Rezeption an seinem Werk ablesen. Offensichtlich gab es hier zwei Phasen: die erste prägte das Frühwerk, die zweite beeinflusste die Wende zum reifen Stil. Neben Georg Trakl (-+ VI 8.1.8.), Friedrich Hölderlin (-+ VI 8.1.5.) und, mit einigem Abstand, Stefan George ist Rilke der Autor, an dessen Werk sich der junge C. vor allem geschult hat. In seinem Frühwerk sind Rilkes Spuren allgegenwärtig. Um nur wenige, willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen: Ballade von der erloschenen Welt (GW VI, 17 f.) und Umsonst malst du Herzen ans Fenster (Cornet) (GW VI, 154), Ich laß dich, sieh, an silbernen Gemütern (Stunden-Buch) (GW VI, 89), Kein ankerloses Tasten stört die Hand (GW VI, 9) und Die Mutter, lautlos heilend aus der Nähe (Buch der Bilder, Neue Gedichte) (GW VI, 14), Zähle die Mandeln (Duineser Elegien, Sonette an Orpheus) (GW I, 78). Wahrend der Wende zum reifen Werk, also in der Entstehungszeit von Sprachgitter und Die Niemandsrose, verlagerte sich C.s Interesse auf Rilkes späte Gedichte: die Duineser Elegien, die Sonette an Orpheus und Einzelgedichte aus den Jahren 1910- 1926. Wichtig wurde ihm hier nicht mehr der Klangzauberer und Bildartist Rilke, sondern der Erfinder von »Sprachräume[n)«, von »Gedichte[n) als Wortlandschaften«, wie es C. in seiner eigenen Poetik nennt (TCA M, 102). Berühmte Beispiele aus Rilkes Werk hierfür sind Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens (Rilke II, 115 f.), Der Tod (Rilke II, 139, vgl. Celan/Wurm, 248), die Zehnte Elegie (Rilke II, 230-234), vor allem aber die spätesten Gedichte Gong (Rilke II, 396, vgl. Fülleborn, 51-57) und Mausoleum (Rilke II, 384 f.). Obwohl die Verselbstständigung des Sprachmaterials bei C. deutlich weiter vorangetrieben wird als bei Rilke, sind diese Sprachräume nach sehr ähnlichen Verfahrensweisen konstruiert: Bewusstseinsinhalte, -zustände, ganz allgemein Abstrakta aus dem menschlich-geistigen Bereich wer- VI. Kontexte und Diskurse den unmittelbar mit Dinglich-Konkretem verknüpft - am einfachsten in Kompositabildungen , wie »Atemseil«, »Schmerzknoten« (Aschenglorie (GW II, 72)), »Herzhang« (Irisch, GW II, 189), »Herzstein« (Sibirisch, GW I, 248) - und in einen mehr oder minder ausgeprägten quasi-topographischen, oft auch temporalen Konnex gestellt. So entstehen Sprachwelten, die keinerlei Mimesisbezug haben, über das Sprachmaterial aber sehr wohl Referenz einbringen (von einer Dichtung, die nur noch die Sprache selbst thematisiert, haben sich C. wie Rilke gleichermaßen distanziert). Traditionell bezeichnet man dies als »absolute Metaphorik« - ein paradoxer Terminus (da es im Text zu den Bildern ja keine »Sach«-Ebene mehr gibt), der durchaus vereinbar ist mit C.s Kfitik am (traditionellen) Metaphernbegriff und seinem Insistieren auf dem »phänomenalen Charakter« (TCA M, 87) der Sprach-Bilder als freigesetztem Potential von Klang, Denotationen und Konnotationen. Verstärkt wird diese Freisetzung noch, wenn - wie bei C. und beim spätesten Rilke - die syntaktischen Bindungen gelockert oder ganz aufgehoben werden. Was C. Rilke insgesamt verdankt, lässt sich als Katalog von Verfahrensweisen (bis hin zu Details wie dem ,harten< Enjambement, dem Gebrauch vonGedankenstrich,Klammersetzungunddurchgepunkteter Leerzeile) und Motiven (vor allem: Herz, Haus/Tempel, Baum, Auge, Stern, Atem, Rose) nur unvollkommen umschreiben. Weiter führt eine Briefäußerung C.s über seine frühe Rilke-Lektüre: >» •• • und schreiten einzeln ins Imaginäre< [der Schlussvers von Rilkes Die Flamingos; Rilke I, 575] - das war für mich, den damals [ ... J bis zu Dehmel Gekommenen, das Ereignis. Und wie mich damals, auf der Strasse und im Gehen, die Enjambements aufregten! Es war in Czernowitz [ ... ), cest la, ma foi, que Ja poesie m'a enjambe!« (Fremde Nähe, 269/271). Was C. an Rilke so erlebte, verinnerlichte und weiterentwickelte, war eine absolute Auffassung vom Dichter und von der Dichtung, deren Bausteine sich überall in der Moderne hätten finden lassen, deren Einheit aber gerade für Rilke und sein Werk charakteristisch ist: ein extremer Inspirationismus, eine existenzielle Rückbindung des Dichtens an Person und Lebenserfahrung des 301 8.1 . Deutschsprachige Literatur vor 1945 Autors (jenseits jeder »Erlebnislyrik«), die Absage an Mimesis wie Alltagssprache, der Glaube an die kommunikative Funktion der Dichtung trotz ihrer Dunkelheit, an die innere Notwendigkeit ihrer formalen Gestaltung, vor allem aber die überzeugung von der ,u-topischen<Dignität poetischer Rede, die Mitteilungsgrenzen überschreiten und Kontingenz wie raum-zeitliche Begrenzungen der Empirie transzendieren kann. lntertextuelles: ,Gegenworte, und ,Meridiane, In ihrer schwachen Form ist Intertextualität bei C. eine ausschließlich produktionsästhetische Kategorie: ein Wort- oder Bildfund, der den eigenen Schaffensprozess in Gang setzt (vgl.: Böschenstein 1992, Fülleborn, Lyon). Drei (wiederum beliebig ausgewählte) Beispiele dafür wären: »graugeschlagenes Herzhammersilber« (Hinausgekrönt, GW I, 271) - Rilke: »Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens« (Zehnte Elegie, Rilke II, 230); »Atemwende« (in der Büchnerpreis-Rede, GW III, 195, und als Gedichtbandtitel) - Rilke: »die Luft, wie eine Scholle, umzuschaufeln:/ ein neues Atemfeld« (Jetzt wär es Zeit, daß Götter treten (Rilke II, 394); Zeitgehöft (als Zyklustitel im gleichnamigen Gedichtband, GW III, 67)) - Rilke: »ein letztes/ Gehöft von Gefühl« (Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens, Rilke II, 115). Wichtiger sind Gedichte, die zur Gänze (oder doch in wesentlichen Teilen) eine bewusste Replik auf einen Text Rilkes darstellen. In Begrifflichkeit sind solche Bezugnahmen entweder »Meridiane«, in denen sich überraschende Verwandtschaften . und Gemeinsamkeiten über raumzeitliche Distanzen hinweg auftun, oder »Gegenworte«, in denen, nach dem Muster der Kontrafaktur, Motive und Verfahrensweisen des Fremdtextes übernommen werden, um damit die eigene, andersartige oder sogar gegenteilige Erfahrung auszudrücken. Im Verhältnis zu Rilke gehören C.s poetische Repliken meist zu den Gegenworten; so etwa: Corona (1948 (GW III, 59)) zu Rilkes Herbsttag (Rilke I, 281) und Schlaf Mohn (Rilke I, 574, vgl. Böschenstein 1992, 174- 176; Geisenhanslüke, 212- 214); Die Niemandsrose bzw. Psalm (GW I, 225) zu Rilkes Grabspruch Rose, oh reiner Wider- C.f spruch (Rilke II, 394) und zu Cimetiere (Rilke V, 290, vgl. Lyon, 205-207; Böschenstein 1992, 176178); Mit uns (GW III, 151) zu Rilkes Fünfte Elegie, bes. V. 1-61 (Rilke II, 214-216, vgl. Lyon, 207f.). In diese Reihe mag auch C.s Fragment gebliebene Walliser Elegie (GW VII, 314-317) gehören. Der Findung eines Meridians am nächsten kommen die Langgedichte am Ende der Niemandsrose, vor allem Hüttenfenster (GW I, 278 f.), das zahlreiche Formulierungen aus den Duineser Elegien verwendet und die Sternbild-Metapher aus Rilkes Sieh den Himmel (Sonette an Orpheus I. 11 (Rilke II, 246)) zustimmend aufgreift. Literatur Ausgaben GW - TCAM. Zitierte Ausgabe: Rilke, Rainer Maria (1996 und 2003): Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Dorothea Lauterbach, Horst Nalewski und August Stahl. Frankfurt/M. u. a. Forschung Baer, Ulrich (2004): The Perfection of Poetry: Rainer Maria Rilke und Paul C., in: New German Critique 91, 171-189. - Bennholdt-Thomsen, Anke (1991): Das poetologische Raum-Konzept bei Rilke und C., in: CJb 4, 117-149. - Böschenstein, Bernhard (1992): Rilkeund' C., in: Blätter der Rilke-Gesellschaft 19, 173-185. Ders. (2003): »Umdichtungen« derselben Gedichte. George, Rilke und C. im Vergleich, in: Peter Wiesinger u. a. (Hg.): Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Bd. 11: Übersetzung. Berlin, 151-156. - Fülleborn, Ulrich (1975): Rilke und C., in: Ingeborg H. Solbrig, Joachim W Storck (Hg.): Rilke heute. Beziehungen und Wirkungen. Frankfurt/M., 4970. - Geisenhanslüke, Achim (1994): >Umwege von dir zu dir?, Intertextualität und Erinnerung bei Paul C., in: Euphorion 98, 209-226. - Harbusch, Ute (2005): Gegenübersetzungen. Paul C.s übertragungen französischer Symbolisten. Göttingen, bes. 369- 377. - Lyon, James K. (1986): Rilke und C., in: Argumentum e silentio, 199-213. - Pennone, Florence (2003): Wirkung und Gegenwirkung. Paul Valery, Rainer Maria Rilke und Paul C., in: Peter Wiesinger u. a. (Hg.): Zeitenwende. Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Bd. 11: Übersetzung. Berlin, 157-164. ~ Sandbank, Shimort (1997): The Sign of the Rose: Vaughan, Rilke, C., in: Comparative Literature 49 (1997), 195208. Manfred Engel Markus May Peter Goßens Jürgen Lehmann (Hrsg.) CelanHandbuch Leben - Werk - Wirkung Verlag J. B. Metzler Stuttgart · Weimar