zeiteblicke 7 (2008), Nr. 2
Bild und Text, Kunst und Geschichte.
Ein Interview mit Bernhard Jussen
urn:nbn:de:0009-9-14436
<1>
Herr Jussen, Ihre Qualifikationsschriften haben sich mit Themen der mittelalterlichen
Familien- und Sozialgeschichte beschäftigt. Hat sich aus dieser Arbeit ein Interesse an
bildlichen Darstellungen entwickelt, oder speist sich dieses aus anderen Quellen?
<2>
Es speist sich weniger aus dem Gegenstand als aus dem Zugriff. Das Buch „Der Name der
Witwe“ sollte ursprünglich „Die Witwe denken“ heißen, ein leider im Deutschen nicht
möglicher Gallizismus. Ich wollte einen Beitrag schreiben zu der Frage, wie das zu jener Zeit
(in den 1990ern) allenthalben als Anspruch reklamierte Weiterschreiten von der
Ideengeschichte zur Diskursgeschichte geleistet werden kann. Der Königsweg, den uns
damals die prominenten Autoren – Chartier, Raulff und andere – anboten und den ich bis
heute plausibel finde, war der semantische Zugriff. Wenn ich verstehen will, wie kollektive
Grundhaltungen und Ideologeme auf Dauer gestellt werden, befasse ich mich mit den
Institutionalisierungen dieser Bedeutungsgeflechte, ihrer Sedimentierung in
Ausdrucksmustern. In meinen Augen versteht es sich, dass dazu die Konzentration auf
Textmaterial im Sinne der Begriffsgeschichte zwar wichtig ist, aber nicht ausreicht. Die
Erkenntnischance liegt gerade in den unterschiedlichen Potentialen und
Semantisierungsmöglichkeiten der verschiedenen Ausdrucksmittel – der Sprache, des
Textes, des Bildes, des Klangs, des Rituals, des Habitus.
<3>
Der gleichzeitige Blick auf textliche und bildliche Semantiken war von der Hoffnung geleitet,
Bedeutungserzeugung zugleich in situativer Instabilität und in diskursiver Stillgestelltheit
erfassen zu können. Wenn ich von der Annahme ausgehe, dass Bedeutung zwar situativ
bedingt und instabil, aber in ihrer Fluktuation doch eingeschränkt und über längere Zeit
wieder erkennbar ist, dann sind die Kongruenzen und Spannungen zwischen bildlicher und
textlicher Bedeutungserzeugung ein nahe liegender forschungspraktischer Ansatz.
<4>
Die Öffnung des Blicks auf verschiedene Medien ist auch deshalb nötig, weil die Relevanz
der jeweiligen Medien kulturspezifisch verschieden ist. Vielleicht ist in der afrikanischen
Geschichte (davon verstehe ich nichts) der Tanz ein viel wichtigeres Medium der
Bedeutungserzeugung und -stabilisierung als in der latein-europäischen.
<5>
Gibt es bestimmte Themengebiete, wie zum Beispiel die Alltagsgeschichte oder die
Geschichte des „privaten“ Lebens, für die ein Zugang über Bilder besonders relevant ist?
<6>
Generell kann man wohl unterstellen, dass Kulturen (oder auch Milieus) sich stark
unterscheiden in der Gewichtung der Ausdrucksmittel (Sprache, Text, Bild, Klang, Ritual,
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch
übermitteln und zum Download bereitstellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse
http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html
Habitus), mit denen sie jeweils Bedeutungen erzeugen, stabilisieren und verwandeln. Dies ist
zwar auch eine Frage der Dominanz etwa des Textes über das Bild oder umgekehrt, aber
zunächst ist es eine Frage unterschiedlicher Potentiale und Semantisierungsmöglichkeiten
der verschiedenen Ausdrucksmittel. Über welche Medien leistet eine Kultur
Traditionsbindung (die lange russische Ikonenproduktion), über welches können
Überschreitungen des Bestehenden erprobt werden (der höfische Roman des Mittelalters)?
So könnte es zunächst produktiv sein, in den von Ihnen genannten sozialen Bereichen (wie
in allen anderen) zu untersuchen, welche Kommunikations- oder Strukturierungsleistung
über welches Medium organisiert worden ist. Wenn ich Ihre Frage in dieser Art verstehe,
bieten weder Bilder noch eines der anderen Medien einen privilegierten Zugang zu
Alltagsgeschichte und privatem Leben.
<7>
Anders kann es sich verhalten, wenn Sie weniger auf ein Erkenntnis- als auf ein
Quellenproblem zielen: In wenig schriftgewandten Milieus, deren Aussagen nur durch den
Filter hegemonialen Beobachterschrifttums auf uns gekommen sind, können Artefakte (ex
voto Gaben etwa), einen privilegierten Zugang gegenüber Schriftzeugnissen bieten. Ähnlich
mag es in Kolonialgesellschaften sein, in denen die Schriftkultur der Kolonialherren nicht viel
übrig gelassen hat von der ursprünglichen Schriftlichkeit. Aber diese Gesellschaften sind
nicht mein Feld.
<8>
Man kann Ihre Annahme aber auch medienspezifisch begründen. Wenn wir auf
Beobachterzeugnisse angewiesen sind, etwa auf Aufzeichnungen und Fotografien von
Missionaren, so mag man unterstellen, dass die darin beschriebenen und dargestellten
Subjekte im Foto mehr Einfluss auf ihre Darstellung hatten als im Text. Das Foto, zumindest
das mehr oder weniger inszenierte, bleibt anders als der Text auf Mittun des beobachteten
Subjektes angewiesen. Darin mag eine Chance für den Historiker liegen.
<9>
Bilder als historische Quellen heranzuziehen, hat in der Geschichtswissenschaft durchaus
Tradition, z.B. in den Arbeiten von Percy Ernst Schramm. Was haben wir uns unter dem
iconic turn vorzustellen? Mehr als eine Modeerscheinung?
<10>
Alles was turn heißt, mag Mode sein, aber ein Modegegenstand ist ja nicht per se unsinnig.
Manches, was als Mode galt, ging einfach wieder vorbei, aber anderes – denken Sie an das
Reden über Habitus oder Diskurs – ist absorbiert worden und als kleine Münze des
selbstverständlich Akzeptierten geendet. Was den Aufmerksamkeits-turn zur Bildlichkeit
angeht, scheint mir für die Geschichtswissenschaft ein längerfristiger Effekt wünschenswert.
Eine bildwissenschaftliche Tradition kann die Geschichtswissenschaft wohl kaum ernsthaft
reklamieren. Der sogenannte iconic turn wird zwar in der Mediävistik bisweilen mit einem
‚das-machen-wir-schon-lange’ gekontert, und Schramm gehört dann zu den
Lieblingsbeispielen. Es ist aber unübersehbar, dass Schramm zwar selbst Warburg’sche
Sichtweisen aufgegriffen hat und damit eine Perspektivenöffnung hätte mitinitiieren können,
die Schramm-Rezeption hat diese Öffnung aber kaum mitvollzogen. Der Hinweis auf
Forscherindividuen sagt nichts über die Fachkultur. Entscheidend ist, dass
bildwissenschaftliches Training bislang nicht zur geschichtswissenschaftlichen
Ausbildungskultur gehört. Wer von jenen, die zurzeit den Nachwuchs trainieren, hat eine
bildwissenschaftliche Beobachtungssicherheit, die mit der textwissenschaftlichen mithalten
kann? Ich jedenfalls bin davon sehr weit entfernt. Wenn das geschichtswissenschaftliche
Interesse an bildlichen Medien anhält, dann ist die nächste Generation vielleicht sicherer als
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch
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wir. Enzyklopädische Werke wie der Bilderatlas des 20. Jahrhunderts von Gerhard Paul
bereiten ja nicht zuletzt eine neue Ausbildungssituation vor.
<11>
Auf einen weiteren langfristigen Effekt ist zu hoffen, er betrifft die Editionslage: Wer als
Mediävist neben der mittelalterlichen Geschichte auch die Rezeptionsgeschichte zu seinem
Gegenstand zählt, steht zur Zeit vor einem Materialproblem. Wie Mittelalterimaginarien in der
Moderne erzeugt, verbreitet und stabil weitergegeben worden sind, kann man an
Historienbildern wie jenen in Goslar oder Aachen nicht untersuchen. Dazu muss man den
Weg dieser Bilder verfolgen von der Goslarer Pfalz bis auf den Wohnzimmertisch einer
Arbeiterfamilie im Ruhrgebiet. Verbreitungswege und Kanonisierungsphänomene solcher
Bildwelten lassen sich nur auf der Grundlage massenhaft verbreiteten Bildmaterials
untersuchen, also anhand von Bildprogrammen in Schulbüchern, Nationalgeschichten,
Spielkarten (Quartetten), den vor dem Fernsehzeitalter sehr einflussreichen Reklamebildern
oder den preiswerten, oft in mehreren hunderttausend Exemplaren vertriebenen „Blauen
Büchern“. Viele dieser Konvolute sind kaum zugänglich. Wer sich für Kolonialimaginarien im
Deutschland des 19. und 20. Jahrhunderts interessiert, braucht Zugriff auf die Medien, die
diese Imaginarien verbreitet haben – neben Sammelbildern also etwa auf Kolonialpostkarten,
Missionspostkarten oder auf die aufwendig bebilderten Zigarrenbanderolen und
Zigarrenkisten. Weltmarktführer – jedenfalls bis zur Reichskristallnacht – für
Zigarrenausstattungen war zum Beispiel eine deutsche Firma, das Material ist umfassend
erhalten, muss nur ediert werden. Oder: Antisemitismus ist in Deutschland im 19. und 20.
Jahrhundert nicht zuletzt auf Postkarten und Vignetten artikuliert und verbreitet worden. Nur
wenige davon sind publiziert. Jedes dieser Konvolute umfasst leicht tausende (wie bei
antisemitischen Postkarten oder Missionspostkarten), oft (wie bei den Zigarrenausstattungen
und Reklamebildern) zehntausende Motive. Es gibt genügend Sammler, die stolz darauf
sind, dass ihre Sammlungen nun das Interesse der Wissenschaft finden. Es ist zu hoffen,
dass hier eine Editionstätigkeit einsetzt, die es uns erst ermöglicht, uns den Bilderhorizont
vergangener Gesellschaften zu erschließen. Ich selbst trage mit dem „Atlas des Historischen
Bildwissens“ zu dieser Erschließung bei; er soll helfen, den Zusammenhang von kollektivem
Bildwissen und historischer Imagination in der Moderne zu untersuchen (bislang sind die
Liebig-Bilder ediert, die Reklame-Sammelbilder mit historischen Motiven und die rund 1100
antisemitischen Postkarten aus der Sammlung Wolfgang Haney 1 ; an die KolonialImaginarien der Zigarrenausstattungen gehen wir gerade heran, ebenso an weitere Teile der
Antisemitica-Sammlung von Wolfgang Haney).
<12>
Sie sind Mittelalterhistoriker, haben sich durch Ihre Bildeditionen aber auch mit anderen
Epochen beschäftigt. Das heutige Zeitalter wird gern als ein Medienzeitalter bezeichnet, und
man meint dabei meist die modernen Kommunikationsmedien wie Film, Fernsehen, Internet.
Doch auch in anderen Epochen waren Medien und Bilder wichtig, so z.B. in Gesellschaften
mit einem hohen Anteil an nicht alphabetisierter Bevölkerung wie im Mittelalter. Gibt es Ihrer
Meinung nach Zeiten oder Gesellschaften, für die visuelle Repräsentationen besonders
wichtig sind?
<13>
1
Bernhard Jussen (Hg.): Liebig´s Sammelbilder. Vollständige Edition aller 1138 Serien (= Atlas des
Historischen Bildwissens 1), Berlin 2002. Ders. (Hg.): Die Sammelbilder mit historischen Themen (=
Atlas des Historischen Bildwissens 2), Berlin 2008. Juliane Peters (Hg.): Antisemitische Postkarten
aus der Sammlung Wolfgang Haney (= Atlas des Historischen Bildwissens 3), Berlin 2008.
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch
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Dazu habe ich keine wissenschaftlich belastbare Meinung, nur ein Frageinteresse, das ich
eingangs schon skizziert habe. Ich unterstelle zunächst, dass verschiedene Gesellschaften
die zur Verfügung stehenden Medien kultureller Sinnerzeugung unterschiedlich einsetzen.
Wer diese Unterschiedlichkeit makrohistorisch verstehen will, könnte mit grobmaschigen
Vergleichen des angeblich bildärmeren Judentums (dem wird ja auch widersprochen), des
lange im engen Formenrepertoire der Ikonenmalerei verweilenden Russlands und des sich
seit dem Spätmittelalter bildlich rasant entwickelnden Lateineuropa beginnen. Es wäre
hilfreich zu wissen, wie sich ein derart unterschiedlicher Bildgebrauch im Gebrauch der
anderen Ausdrucksformen widerspiegelt.
<14>
Ihre Frage nach Zeiten, in denen visuelle Repräsentation besonders wichtig ist, öffnet aber
noch eine andere Perspektive: Wenn man unterstellt, dass Gesellschaften manche
Ausdrucksmöglichkeiten eher zur Traditionsbindung, andere eher zur
Transformationserprobung nutzen, dann kann man Zeiten beschleunigter Transformation
zumindest probehalber mit der (vermutlich zu simplen) Frage absuchen, ob sich das ‚Neue’
eher in nicht-verbalisierter Form zeigt als in verbalisierter. Ich habe am Text- und
Bildprogramm des Jungfrauenspiegels (eines oft abgeschriebenen und abgezeichneten
paränetischen Textes für die Frauenseelsorge aus dem 12. Jahrhundert) beobachtet, dass
der Text noch recht getreu die Standards mittelalterlicher ethischer Mahnrede wiedergibt und
im Vorgang des Kopierens kaum verändert, während sich die Bilder insbesondere im
Vorgang des Kopierens von den Vorlagen lösen und die zunächst noch in sie
eingeschriebenen ‚ursprünglichen’ traditionellen Botschaften im verändernden Kopieren
abstreifen. Die Illuminatoren waren freier als die Textkopisten.
<15>
Als Mediävist beschäftigen Sie sich mit einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen
grundsätzlich anders ist als unsere heutige. Bedeutet dies, dass wir es hier mit einer
ähnlichen Alteritätserfahrung zu tun haben wie im Bereich der außereuropäischen
Geschichte? Benötigen wir für den Zugang zu außereuropäischen Kulturen und ihren Bildern
einen grundsätzlich anderen als für Europa? Oder ist nicht die von Monica Juneja in ihrem
Beitrag angesprochene Veränderung des Kontextes der Bilder – z.B. vom sakralen Bild zum
Kunstobjekt – ein Problem, das auch für einige europäische Bilder gilt?
<16>
Warum sollte der Zugang zu außereuropäischen oder mittelalterlichen Kulturen anders sein
als der zu heutigen europäischen? Wenn der Zugang anders wäre, ließen sich die
Beobachtungen nicht vergleichen. Das Alteritätsparadigma, mit dem Sie und ich akademisch
sozialisiert worden sind, hat sicher viel geleistet, aber inzwischen mehren sich die Blicke auf
die Erkenntnisgrenzen dieses Vorgehens, nicht ganz zu Unrecht.
<17>
Wenn ich als wissenschaftlichen Konsens voraussetze, dass Bedeutung von Wörtern, Bildoder Klangformeln, Habitusformen und so weiter kontextabhängig ist und dass zum
relevanten Kontext auch der Gebrauchszusammenhang gehört, dann braucht man für das
Mittelalter oder außereuropäische Gesellschaften und seine Bilder keinen anderen Zugang
als für die Moderne. Wenn Bedeutung im Kontext entsteht, dann bedeutet dasselbe Objekt in
verschiedenen Kontexten Unterschiedliches: In dem von Frau Junejas beobachteten Fall ist
die ausgegrabene Statue im Dorfkontext eine Gottheit, die unter einen Baum gehört, und im
Archäologenkontext ein Kunstwerk, das ins Museum gehört. Dies scheint mir aber weniger
ein Problem des Zugangs zu sein, als eher der Informationslage. Den Gesellschaften Ihres
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch
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und denen meines Forschungsinteresses ist gemein, dass wir selten wie in Frau Junejas Fall
mehrere konkurrierende bedeutungserzeugende Kontexte rekonstruieren können.
<18>
Sie haben sich viel mit dem Formproblem in der Geschichtsschreibung beschäftigt, sowohl
im Hinblick auf die Wirkung von Bildern, als auch im Hinblick auf Kunstwerke und Literatur.
(Reihe „Historische Semantik“ sowie die Serie „Von der künstlerischen Produktion der
Geschichte“). Ihr Ansatz, dass die wissenschaftliche Konstruktion der Vergangenheit durch
den Historiker nur eine unter vielen Formen von historischer Erkenntnis sei, und dass die
„künstlerische Produktion der Geschichte“ eine ebenso wichtige Art der Historie sei, klingt
zugleich faszinierend und provokativ.
<19>
Wir müssten uns zunächst darüber verständigen, ob wir die gleiche Auffassung von der
Aufgabe der Geschichtswissenschaft haben. In meinen Augen ist Geschichtswissenschaft
eine politische Wissenschaft. Sie greift in jeweils gegenwärtige Problemlagen mit
historischen Argumenten ein. Jede politische Transformation ruft – soviel dürfte
geschichtswissenschaftlicher Konsens sein – ein Neuschreiben und Neubebildern der
Vergangenheit hervor, und die wissenschaftlich ausgebildeten Historiker sind die (ihrem
Selbstverständnis nach kritischen) Kommentatoren dieser andauernden Rückprojektionen
politischer Problem- und Interessenlagen.
<20>
Die Formulierungen, auf die Sie zurückgreifen, stammen aus meinem Buch mit Jochen Gerz,
meinem ersten Buch zu diesem Thema, jetzt über zehn Jahre alt. 2 Ulrich Raulff hatte 1995 in
seinem Buch über Marc Bloch erklärt, dass akademische Tätigkeit nicht die einzige Form sei,
„Historie zu betreiben und historisches Bewusstsein zu bilden“. Ästhetische Formen der
Arbeit am kulturellen Gedächtnis – filmische, literarische, klangliche, bildliche – werden in
Raulffs Formel unter die Formen des ‚Historie Betreiben’ subsumiert. Ich habe diesen
Gedanken zunächst übernommen, weil er als eine erste Versuchsanordnung für das
Gespräch zwischen Wissenschaftlern und Künstlern nützlich schien. Tatsächlich aber ist er
nicht nützlich, weil er von Fachkollegen eher als provokativ oder übertrieben aufgefasst wird,
mithin das zu klärende Problem eher verstellt. Die Frage der Publikationsreihe ist weder
schwierig nachzuvollziehen noch provokativ: Akademische Historiker wollen in die
Vergangenheitsvorstellungen ihres Publikums eingreifen, dafür werden sie aus öffentlichen
Mitteln bezahlt. Sie bedienen sich dazu bestimmter Verfahren, deren Legitimität durch die
Konventionen ihrer Disziplin gewährleistet wird. In die gleichen Vergangenheitsvorstellungen
des gleichen Publikums greifen aber auch andere ein – bildende Künstler, Literaten,
Journalisten, Komponisten – mit Mitteln und Methoden, die anderen Qualitätskriterien
unterliegen als die der akademischen Historie.
<21>
Sie betonen die Notwendigkeit eines „Dialogs“ zwischen den Beiden. Daraus ergeben sich
einige Fragen: Wie stellen Sie sich den dialogischen Prozess vor? In welcher Sprache, mit
welchem hermeneutischen Instrumentarium soll er stattfinden? Die kulturwissenschaftliche
Kommunikation über Bilder findet überwiegend über Texte statt, das Visuelle wird sozusagen
in eine andere Sprache übersetzt. Welche Art der Selbstreflexion auf beiden Seiten benötigt
ein solcher Annäherungsversuch? Wie stehen Künstler zu diesem Übersetzungsprozess aus
dem einen Medium in das andere, der auch eine „Repräsentation“ bildet?
2
Bernhard Jussen (Hg.). Jochen Gerz (= Von der künstlerischen Produktion der Geschichte 1),
Göttingen 1997.
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<22>
Die Künstler, mit denen ich zu tun hatte, waren zumeist mit wissenschaftlicher Produktion
und Wissenschaftssprache weit besser vertraut als die Wissenschaftler mit den Positionen
selbst der bekanntesten historisch arbeitenden Künstler. Ich habe erwartet, dass Christian
Boltanski, Hanne Darboven oder Jochen Gerz gewissermaßen Klassiker sind, künstlerische
Exponenten der Kriegskindergeneration, die zum normalen Wissensbestand vieler
Geisteswissenschaftler gehören. Das ist aber nicht der Fall, die weitaus meisten meiner
Kollegen, auch aus der Literaturwissenschaft, kennen sie nicht. „Dialog“ ist insofern zunächst
einmal das Aufarbeiten eines gesellschaftlichen Teilbereiches, in dem historische Diskussion
mit ästhetischen Mitteln betrieben wird. Jenseits spektakulärer Fälle wie dem „Denkmal für
die ermordeten Juden Europas“, dem „Namen der Rose“ oder „Schindlers Liste“ wird dieser
Bereich historischer Diskussion von der Geschichtswissenschaft nicht gut, allenfalls mit
feuilletonistischem Interesse, beobachtet. Literatur und Theater werden nach meinem
Eindruck breiter wahrgenommen als bildende Gegenwartskunst.
<23>
Einige Künstler bewegen sich zwischen beiden Medien, indem sie gern über ihre
künstlerische Produktion reden. Sind es dabei die Begriffe des Kulturwissenschaftlers, die
sie verwenden?
<24>
Das ist sehr verschieden. Manche sind als Gesprächspartner eher auf der akademischsoziologischen, andere eher auf der poetischen Seite. Ulrike Grossarth hat mich auf der
Documenta 10 (auf der sie einen großen, zentralen Raum im Friedericianum eingerichtet
hat) beeindruckt, als sie bei der Veranstaltung „100 Tage – 100 Gäste“ ihre Arbeit in
‚unserer’ akademischen Sprache erklärt hat, im Rückgriff auf sozialanthropologische und
philosophische Leitautoren. Da Plessner zu ihren Referenzfiguren gehörte, habe ich für das
Buch mit ihr unter anderem den Soziologen Karl-Siegbert Rehberg (er war Assistent von
Arnold Gehlen) als Autor und Gesprächspartner eingeladen, was sehr ergiebig war. Jochen
Gerz hat bei der ersten Tagung der Reihe am Max-Planck-Institut für Geschichte mit Heinz
Dieter Kittsteiner eine scharfe Diskussion in ‚unserer’ Sprache geführt. Andere, wie Christian
Boltanski oder Anne und Patrick Poirier sprechen eher in poetischer Manier, was die
Geisteswissenschaftler im Gespräch etwas hilfloser macht, andere wie Hanne Darboven
entziehen sich der Selbstdeutung.
<25>
Was für Veränderungen in den Kulturwissenschaften – sowohl in den Formen des
Verstehens als auch in den Prinzipien der Darstellung – könnte die von Ihnen angeregte
Integration künstlerischer Arbeit in die akademische Reflexion initiieren?
<26>
Ich möchte den Stellenwert dieser Schnittstelle nicht übertreiben. Im Falle meiner Reihe ging
es bislang in jeden Band um methodische Grundsatzfragen, was nach einer Weile redundant
wird.
<27>
Im Moment aber sehe ich einige nützliche Effekte: In der Geschichtswissenschaft (auf jeden
Fall in der Mediävistik) könnte die Frage präsenter werden, weshalb unsere Gesellschaft sich
eigentlich ein Heer von Historikern leistet, welchen Relevanzbezug deren Arbeit hat und
haben sollte. Darauf kann man viele Antworten geben, aber ein Verdrängen der Frage nach
der Relevanz des eigenen Faches wird sicher schnell bestraft. Die professionellen
Vergangenheitsentwerfer können sich erheblich leichter selbst positionieren, wenn sie die
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anderen Teilnehmer an den Auseinandersetzungen um die Vergangenheitsentwürfe im Blick
haben und deren Diskurse verstehen. Wer als akademischer Historiker das andauernde
öffentliche Neuschreiben und Neubebildern der Vergangenheit kritisch kommentieren will,
sollte das Diskussionsniveau derer kennen, die ebenfalls, wenn auch mit anderen Mitteln,
kommentieren. Wie kann eine Oper über die RAF (Helmut Lachenmann) funktionieren? Wie
erzeugt eine Generation von bildenden Künstlern (Jörg Herold etwa oder Ulrike Grossarth),
für die der zweite Weltkrieg eine vermittelte Erfahrung ist, eine Ausdrucksweise, die sich von
den Ausdrucksmitteln derer unterscheidet, die (wie Jochen Gerz, Anne und Patrick Poirier
oder Hanne Darboven) im Bunker gesessen haben und durch zerstörte Städte gegangen
sind? Bildende Kunst ist nicht anders als Geisteswissenschaft ein Medium zur
Kommentierung gesellschaftlicher Problemlagen.
<28>
Zwar kann man sich theoretisch leicht darauf einigen, dass die Geschichtswissenschaft
Gefangene der eigenen Zeit ist – etwa wenn nach 1989 den Mittelalterentwürfen die Spuren
des Kalten Krieges ausgetrieben werden (in einer neuen Feudalismusdiskussion), wenn
zunehmend Europa statt die Nation zum Normalformat der historischen Narrative wird (auf
dem Handbuchmarkt), oder wenn gegenwärtig beim Überdenken des lateineuropäischen
Mittelalters der Vergleich mit den islamischen und semitischen Kulturen viel stärkeres
Gewicht bekommt (denken Sie an die makrohistorischen Entwürfe von Michael Borgolte und
Michael Mitterauer). Aber es ist schwierig, dieser Gefangenschaft in der Zeitgenossenschaft
jeweils gewahr zu werden. Für die Selbstreflexion über die eigene Zeitgenossenschaft sind
Seismographen nützlich, die so gut es geht die eigene Beteiligung sichtbar machen. Dazu
dürfte die Beobachtung parallel stattfindender Diskussionen in anderen Feldern besonders
geeignet sein. Sicher nicht zufällig verlaufen die Metaphernkonjunkturen (Archäologie, Archiv
usw.) im akademischen wie im künstlerischen und kunstkritischen Diskurs sehr ähnlich. Als
sich im geschichtswissenschaftliche Betrieb zunächst Archäologie und dann Archiv als
Leitmetapher historischer Tätigkeit durchsetzten, waren diese Metaphern als Leitworte der
Kunstkritik und der künstlerischen Ausdrucksweisen schon etabliert. Die Abneigung gegen
große Gesten und die Liebe zum Kleinen, Bescheidenen, Einfachen (Lindqvist:Grabe, wo Du
stehst, 3 ) entwickelte sich in der Geschichtswissenschaft (Geschichtswerkstätten) und der
Gegenwartskunst (Metkens Ausstellung „Spurensicherung“) 4 gleichermaßen.
<29>
Nicht selten scheinen Suchrichtungen im Kunstbetrieb früher aufzutauchen als in den
Geisteswissenschaften. Auf der Documenta 11 (2002) waren in den zentralen Räumen des
Friedericanum zwei Arbeiten gegenübergestellt von On Kawara und Hanne Darboven, die
sich mit Zeit befassten und paradigmatisch die sehr unterschiedlichen Zeitkulturen sichtbar
machten, in denen sie entstanden sind. Vor ein paar Jahren war es noch kaum möglich,
Autorinnen oder Autoren zu finden, die sich mit diesen unterschiedlichen Zeitlichkeitsmustern
befassen wollten. Heute gibt es zumindest in Bielefeld und in Konstanz dazu
Forschungsprojekte, in Bielefeld unter dem Leitwort „Temporalstrukturen“ (Martina Kessel),
in Konstanz unter dem Leitwort „Zeitkulturen“ (ein Graduiertenkolleg).
<30>
3
Sven Lindqvist: Grabe, wo du stehst : Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte , Bonn
1989 (orig. 1978).
4
Günter Metken: Spurensicherung. Kunst als Anthropologie und Selbsterforschung, Fiktive
Wissenschaften in der heutigen Kunst, Köln 1977. Ferner: Günter Metken: Spurensicherung. Eine
Revision, Texte 1977 – 1995, Amsterdam 1996.
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Wie fließend sind die Grenzen zwischen den beiden Sphären der „Produktion der
Geschichte“?
<31>
In den 1980er und 1990er Jahren, als in der Folge von Hayden White nochmals intensiv der
Status von historischer Erkenntnis, von Fakten, Tatsachen und Objektivität diskutiert wurde,
waren nicht wenige Historiker von der Vorstellung angezogen, dass die Grenzen fließend
seien und (wie Michael Stolleis damals meinte) »der Historiker nur eine gelehrte und sich auf
ältere Texte und Zeichen stützende Spezies der Gattung ›Dichter/Schriftsteller‹ ist«. Nicht
zuletzt die Beschäftigung mit Gegenwartskunst hätte helfen können, die Grenzlinien deutlich
zu ziehen, ohne dadurch zu Faktenverteidigern zu werden. Egon Flaig und Jan Assmann
zum Beispiel haben das in der Auseinandersetzung mit Anne und Patrick Poirier deutlich
gemacht. 5 Es geht weniger darum, die Grenzen fließend zu machen, als darum, die
verschiedenen Leistungsfähigkeiten abzuwägen.
<32>
Wie bewerten Sie als Historiker die Möglichkeiten und Grenzen des Experiments mit Jochen
und Esther Gerz?
<33>
Es war sehr günstig, dass die Reihe „Von der künstlerischen Produktion der Geschichte“ mit
Esther und Jochen Gerz beginnen konnte, weil die auf die NS-Zeit bezogenen Arbeiten von
Esther und Jochen Gerz relativ bekannt waren und weil Jochen Gerz die Sprache der
Akademiker zu bedienen versteht. Ich habe erwartet, dass sie zu der Reihe einen
künstlerischen Beitrag im Stil oder zumindest aus dem Themenfeld ihrer berühmten Arbeiten
liefern. Aber mit ihrem Beitrag „Gründe zu Lächeln“ haben Esther und Jochen Gerz sich –
ebenso wie nach ihnen Anne und Patrick Poirier – meiner Erwartungshaltung entzogen. Sie
haben keinen den NS betreffenden Beitrag geliefert.
<34>
Ich war zunächst besorgt, weil ich erwartete, dass das Projekt im Kontext meiner Frage nicht
funktioniert. Zu meiner Überraschung kam es anders. Das Projekt sollte mit den Mitarbeitern
des Max-Planck-Institutes für Geschichte durchgeführt werden. Es wurde auf einer
Vollversammlung aber so heftig diskutiert, dass an eine gemeinsame Realisierung nicht
mehr zu denken war. Die wort- und durchsetzungsstärkste Gruppe, Historiker aus der
Generation von Jochen Gerz, haben die „Gründe zu lächeln“ direkt in politische Kontexte
eingeordnet. Ein deutscher Historiker des späten 20. Jahrhunderts – zumal aus einem MaxPlanck-Institut – lächelt nicht. Poetisierung der Geschichte, Lächeln, am Ende des 20.
Jahrhunderts als deutsche Historiker, das sei das falsche Signal. Tränen wurden als
Alternative vorgeschlagen und die Möglichkeit eingefordert, wenigstens etwas dazu
schreiben zu dürfen. Auch die Direktoren sorgten sich anfangs um ein womöglich falsches
politisches Signal des Instituts. Demgegenüber hatten die beteiligten Kolleginnen und
Kollegen in meinem Alter – sowohl am MPI für Geschichte als auch an den beteiligten
Universitäten – keine Sorge vor falschen Signalen. Wir stießen hier also sehr heftig auf das
Problem der generationenspezifischen Verschiebungen, das wenig später – in der
Goldhagendebatte – breit diskutiert wurde. Kurzum, die Möglichkeiten des Projektes, in der
Gedächtniskultur einen wunden Punkt zwischen den Generationen, eine generationelle
Verschiebung, offenzulegen, sind bei den Vorbereitungen am Max-Planck-Institut für
Geschichte augenfällig geworden. Die gleiche Erfahrung hat Ulrike Grossarth gemacht, als
5
Bernhard Jussen (Hg.): Archäologie zwischen Imagination und Wissenschaft: Anne und Patrick
Poirier (= Von der künstlerischen Produktion der Geschichte 2), Göttingen 1999.
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sie 2002 am MPI für Geschichte ihre Arbeit diskutierte. Ihre Suche nach vermittelten
ästhetischen Formen für eine nur noch vermittelte NS-Erinnerung wurde von einigen, die
noch eigene Kindheitserinnerungen hatten, als unangemessen zurückgewiesen.
<35>
Ihr Ansatz sieht eine Annäherung zwischen den „Kulturwissenschaften“ und der Kunst vor –
aber innerhalb der ersten Gruppe gibt es auch disziplinäre Trennwände, etwa zwischen der
Geschichtswissenschaft und der Kunstgeschichte, die besonders in Deutschland immer noch
als hermetisch betrachtet werden. Wie bewerten Sie diese Grenzen?
<36>
Annäherung heißt zunächst nichts anderes, als dass ich jene Personen aus dem anderen
Metier (Künstler, Komponisten, Filmregisseure, Literaten) überhaupt wahrnehme als Akteure,
die mit völlig anderen Mitteln etwas Ähnliches beabsichtigen wie ich, nämlich in historische
Imagination einzugreifen. Diese Art der Annäherung ist letztlich eher eine Grenzziehung. Ich
sollte daran erinnern, dass Mitte der 1990er Jahre, als ich diese Reihe „Von der
künstlerischen Produktion der Geschichte“ begann, überraschend viele Kollegen in den
historischen Wissenschaften irgendwie von Hayden White infiziert waren und allen Ernstes
darüber sinnierten, ob ihre Tätigkeit letztlich als eine Form von Kunst zu begreifen sei. Ich
fand diese Texte zwar langweilig, weil Autoren wie die beiden Assmanns, Flaig oder Oexle
das erkenntnistheoretische Problem besser und ausreichend gründlich im Griff hatten. Aber
dieses Hayden-White-Virus verwies doch auf ein Desiderat: Die ganze Diskussion um den
Status historischen Entwurfsdenkens drehte sich zwar dauernd um die Rolle von Ästhetik
und Fiktion, aber was die plötzlich zu Kolleginnen und Kollegen gewordenen Nachbarn aus
der schreibenden und bildenden Kunst genau machten, wie diese Spezialisten ästhetischer
Artikulation arbeiteten, das schien niemanden zu interessieren. Insofern versammeln diese
Bücher zunächst einmal Wissenschaftler, die bereit sind, hinzuschauen und ihr eigenes
Arbeiten ins Verhältnis zu setzen zu ästhetischen Strategien. Durchweg ist diese
Annäherung stets in eine Abgrenzung gemündet.
<37>
Wenn wir Historiker uns Bildern zuwenden, was trennt und verbindet uns von
kunstgeschichtlichen Zugangsweisen?
<38>
Erkenntnistheoretisch prinzipiell nichts, arbeitspraktisch das Training und die Erfahrung im
Umgang mit dem Medium Bild, und was das Erkenntnisinteresse angeht, vielleicht die
Fragerichtung: Vielleicht lenkt die Wissenschaftskultur der Kunstgeschichte den Blick eher
auf künstlerische Einzigartigkeit und Innovation, während die geschichtswissenschaftliche
Wissenschaftskultur eher zum sozialhistorischen Breitenargument animiert. Es ist ein
Problem des iconic turn, das in meinen Augen auch auf dem letzten Historikertag deutlich
wurde, dass die meisten Historiker (ich gehöre dazu) den Umgang mit Bildern einfach nicht
gelernt haben. Das lässt sich auch nicht ausreichend nachholen. Am ehesten kann die
Geschichtswissenschaft etwas beitragen in Bereichen, die die Kunstwissenschaft selbst
gerade erst erschließt, also etwa dort, wo sie sich in eine Bildwissenschaft wendet. Dabei
kommt auch Material in den Blick, das wenige Chancen hat, als Kunst durchzugehen. Das
Material, das ich gerade mit Blick auf die Mittelalterrezeption (Sammelbilder, Postkarten,
Vignetten) ediere, erfordert Fragestellungen, die auch in der Kunstwissenschaft bislang nicht
zum Kerngeschäft gehört haben.
<39>
Was müssen wir können, um uns als Historiker mit Bildern auseinanderzusetzen?
Jedermann darf dieses Werk unter den Bedingungen der Digital Peer Publishing Lizenz elektronisch
übermitteln und zum Download bereitstellen. Der Lizenztext ist im Internet abrufbar unter der Adresse
http://www.dipp.nrw.de/lizenzen/dppl/dppl/DPPL_v2_de_06-2004.html
<40>
Historiker tun sich schwer, wenn es für die Deutung eines bildlichen Phänomens keinen
Textbeleg gibt. Deshalb ist Panofsky in der Geschichtswissenschaft noch hoch im Kurs, der
seine Bilddeutungen auf Textbelege stützte. Historiker müssen vermutlich zunächst von den
Kunsthistorikern lernen, Bilder als autonomes Medium hinzunehmen und eine Deutung von
Bildstrategien und Bildformulierungen zu akzeptieren, für die es keine stützenden Textbelege
gibt. Für Kunsthistoriker ist Leo Steinbergs „The Sexuality of Christ“ (1983 und 1996)
offenbar ein langweiliges Beispiel, weil Steinberg „nur“ auf der Ebene der Ikonografie
argumentiert. Aber für Historiker – jedenfalls für mich –ist „The Sexuality of Christ“ ein
unmittelbar einleuchtendes – und in der Lehre leicht vermittelbares – Beispiel für das, womit
man auf der Bildebene rechnen muss.
<41>
Lassen sich Bilder genauso als historische Quellen „lesen“ wie schriftliche Zeugnisse? Oder
nehmen wir Bildern nicht ihren „Eigensinn“, wenn wir unterstellen, sie ließen sich „lesen“?
<42>
Liegt hier nicht im metaphorischen Gebrauch des Wortes ‚lesen’ das Problem? Zur Deutung
einer Urkunde braucht man ein anderes Instrumentarium als zur Deutung eines höfischen
Romans. Um dies darzulegen, muss ich keinen ‚Eigensinn’ der Urkunde reklamieren.
Verschiedene Medien brauchen ebenso wie verschiedene Text- oder Bildsorten
verschiedene Deutungstechniken. Ein großer Unterschied dürfte die Semantisierbarkeit sein.
Texte sind präziser semantisierbar als Bilder und erst recht als Musik.
<43>
Wie wichtig sind für die Historiker als Geschichtsschreiber künstlerische Zugänge, die ja oft
eher bildlich sind? Wie verhält sich Text und Bild zueinander, wenn, z.B. wie bei Hanne
Darboven, der Text zum Bild wird? Wie verhält sich dieses wiederum zu den radikaleren
diskursanalytischen Ansätzen, die alles zum Text erklären, auch Bilder, Monumente etc.?
Brauchen wir vielleicht eine neue Diskussion darüber, was Bilder überhaupt sind?
<44>
Egon Flaig hat in einem Aufsatz mit dem Titel „Warum die Kunst der Geschichtswissenschaft
nicht helfen kann“ darauf verwiesen, dass der Lackmustest für den Nutzen der bildenden
Kunst für die Geschichtswissenschaft der Nachweis forschungspraktischer Impulse ist.
Dieser Nachweis ist natürlich nicht leicht zu führen. Flaig ist der Auffassung, dass für eine
Wissenschaft, die begrifflich konzipieren muss, die an sprachlich vermittelten Modellen der
Vergangenheit arbeitet, alle Codes jenseits der Sprache (bildliche etwa oder klangliche)
defizitär seien. Begriffliche Erkenntnis müsse ein Betrachter immer schon mitbringen, an
Bildwerken könne er sie nur aktualisieren. Zwar könne ein Kunstwerk wissenschaftliche
Reflexionen auslösen (er zeigt dies am Tempel der 100 Säulen von Anne und Patrick
Poirier), doch sei die Kulturwissenschaft auf solche Anregungen nicht angewiesen, da sie die
wichtigsten Impulse aus sich selbst heraus gebäre.
<45>
Angesichts der geradezu atemberaubenden Bedeutungsüberfrachtung der Gegenwartskunst
durch die Kunstkritik ist diese harte Haltung zunächst einmal wichtig. Aber es gibt Aspekte
wissenschaftlichen Arbeitens, bei denen dem Kunstbetrieb eine durchaus konstruktive Rolle
zukommen kann. Ich habe schon die ständig nötige Relevanzfrage erwähnt und das
schwierige Problem, den Anteil der eigenen Zeitgenossenschaft an der wissenschaftlichen
Argumentation freizulegen. Hier kann der Kunstbetrieb ein Seismograf sein. Nicht zu
vergessen, wenn auch systematisch nicht kalkulierbar, ist die wissenschaftshistorische
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Vorstellung, dass wissenschaftliche Paradigmenwechsel eine Denkweise erfordern, die aus
der disziplinären Matrix und ihrem Prozess der fortwährenden intellektuellen
Ausdifferenzierung ausbricht.
<46>
Der französische Pastor Jean de Léry verfasste 1580 eine Histoire, in der er über seine
Erfahrungen in der Neuen Welt berichtet. Dabei reflektiert er auch das Schreiben der
Geschichte selbst: „Eine neue Welt braucht eine neue Art zu schreiben“, schlägt er vor. Sind
wir auch herausgefordert, neu zu schreiben? Verändert eine Geschichtsschreibung mithilfe
von Bildern unser Schreiben der Geschichte? Lässt sich Geschichte nur mit Bildern und
ganz ohne Text „schreiben“, ein Zitieren und Arrangieren von Bildern so wie Aby Warburgs
Mnemosysneatlas?
<47>
Sicher wäre es wünschenswert, wenn die theoretischen und methodischen Veränderungen
der letzten rund vier Jahrzehnte nicht nur im Inhalt, sondern auch in den Schreibweisen der
Monografien mehr Niederschlag finden würden, wenn es mehr vernetzende als lineare
Darstellungsweisen gäbe, die das Vielperspektivische und Nicht-Kohärente der Geschichte,
das wir gerne darstellen würden, in eine Anschauungsform übertragen. Aber die
existierenden Versuche, so interessant sie im Einzelnen sein mögen, machen auch deutlich,
warum sie nicht rezipiert werden. Das gilt etwa für Martin Warnkes „Politische Landschaften“
(der sich über weite Strecken auf das Arrangieren von Bildern beschränkt) ebenso wie für
Catherine Davids „Politics – Poetics“ zur Dokumenta X (das mit ineinander verschachtelten
und parallel laufenden Texten arbeitet) oder Hans-Ulrich Gumbrechts „In 1926“ (in dem die
Textteile alphabetisch sortiert sind und keine Leserichtung vorgeben wollen). Vielleicht
markiert Ihr Vorschlag des „Geschichte Schreibens ohne Text“ den Übergang des
akademischen Historikers in ein anderes Metier.
<48>
Bei der Edition der Liebig-Sammelbilder geht es Ihnen auch darum, Quellen bereit zu stellen,
mit deren Hilfe man die Wirkung bestimmter Bilder und Identitätsentwürfe auf breitere
Bevölkerungskreise untersuchen kann. Sind Bilder hierfür ein besonders geeignetes
Medium?
<49>
Sie wirken viel direkter als Texte, und vor allen Dingen sind sie nicht selten im Gegensatz zu
Texten oft unentrinnbar. Ich habe viele illustrierte deutsche Nationalgeschichten gesammelt,
einige waren offizielle Geschenke (ein Wehrmachtsoffizier verschenkt zu Weihnachten
einem Untergebenen Suchenwirths „Deutsche Geschichte“, eine Abiturientin bekommt für
gute Leistungen Hans Günthers „Rassenkunde des deutschen Volkes“). Die Beschenkten
mögen die Texte nicht gelesen haben, aber die Titelvignetten oder -bilder sind das Mindeste,
das sich ihnen eingeprägt haben wird. Geradezu seriell ist Uta von Naumburg in den 1930er
bis 1950er Jahren für Buchtitel verwendetet worden. Man brauchte die Bücher nicht zu
lesen, um den Abbildungen zu begegnen.
<50>
Wer sich für die Formierung und Transformierung breitenwirksamer Semantiken interessiert,
hat in den massenhaft verbreiteten Bildkonvoluten wie den Sammelbildern vom Typ Liebig
ein ideales Beobachtungsobjekt. Denn die Auswahl der Bildgegenstände etwa für
Sammelbilder (aber auch Nationalgeschichten oder Schulbücher für den
Geschichtsunterricht) unterlag gewissen Kanonisierungen, die sich veränderten, ohne dass
es eine steuernde Hand gab, die diese Veränderung anordnete. Die Transformationen von
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Bildmotiven in massenhaft verbreiteten Bildkonvoluten sind ein hervorragender Gegenstand
für die Erforschung von Veränderungsprozessen, deren Steuerer man nicht fixieren kann,
gewissermaßen für soziale Emergenzphänomene.
Gesprächspartner
Prof. Dr. Bernhard Jussen
Goethe-Universität Frankfurt
Historisches Seminar
Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte
Grüneburgplatz 1
60629 Frankfurt
[email protected]
Prof. Dr. Barbara Potthast
Universität zu Köln
Historisches Seminar
Abteilung für iberische und lateinamerikanische Geschichte
Albertus-Magnus-Platz
50923 Köln
[email protected]
Empfohlene Zitierweise:
Bernhard Jussen / Barbara Potthast : Interview zu Bild und Text, Kunst und Geschichte , in:
zeitenblicke 7, Nr. 2, [01.10.2008], URL:
http://www.zeitenblicke.de/2008/2/interview/index_html, URN: urn:nbn:de:0009-9-14436
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