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Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film

2013

Bilder über Vergangenheit haben bei der Verarbeitung von Geschichte die Funktion, historische Ereignisse für die Betrachtenden zu Erlebnissen zu verdichten. Bewerten die Betrachtenden diese Erlebnisse, können sie Erfahrungen sammeln und damit ihren Erfahrungsschatz bereichern. Die Bilder werden für sie bedeutungsvoll. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bilder authentisch wirken, das heißt, dass sie in einem als real erkannten und anerkannten historischen Kontext stehen. Der folgende Beitrag untersucht, wie Bilder mit diesem doppelten Anspruch nach Bedeutung und Authentizität fertig werden. Er unternimmt dann einen Transfer zu Filmen, die er als schon vom Hersteller gereihte Serienbilder versteht. Um Filme gleichzeitig authentisch und bedeutungsvoll werden zu lassen, bedienen sich Filmschaffende verschiedener Strategien. Der Beitrag entwirft eine systematische, historisch verankerte Gliederung. (DIPF/Orig.)

Utz, Hans Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 6, S. 835-848 Quellenangabe/ Reference: Utz, Hans: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film - In: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 6, S. 835-848 - URN: urn:nbn:de:0111-opus-71726 - DOI: 10.25656/01:7172 https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-opus-71726 https://doi.org/10.25656/01:7172 in Kooperation mit / in cooperation with: http://www.juventa.de Nutzungsbedingungen Terms of use Gewährt wird ein nicht exklusives, nicht übertragbares, persönliches und beschränktes Recht auf Nutzung dieses Dokuments. Dieses Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt. Die Nutzung stellt keine Übertragung des Eigentumsrechts an diesem Dokument dar und gilt vorbehaltlich der folgenden Einschränkungen: Auf sämtlichen Kopien dieses Dokuments müssen alle Urheberrechtshinweise und sonstigen Hinweise auf gesetzlichen Schutz beibehalten werden. 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Kontakt / Contact: peDOCS DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation Informationszentrum (IZ) Bildung E-Mail: [email protected] Internet: www.pedocs.de Jahrgang 56 – Heft 6 November/Dezember 2010 Inhaltsverzeichnis Thementeil: Bildkompetenz Roland Reichenbach/Nicolaj van der Meulen Ästhetisches Urteil und Bildkompetenz. Einleitend zum Thementeil ................... 795 Käte Meyer-Drawe Die Macht des Bildes – eine bildungstheoretische Reflexion ............................... 806 Nicolaj van der Meulen Bildkompetenz an der Kreuzung von Visueller Kommunikation und Bildtheorie. Unerledigte Anfragen an den Kunstunterricht ....................................................... 819 Hans Utz Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film ............................................................... 835 Regula Fankhauser Inniger/Peter Labudde-Dimmler Bildrezeption und Bildkompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht: Herausforderungen und Desiderata ........................................................................ 849 Deutscher Bildungsserver Linktipps zum Thema „Bildkompetenz“ ................................................................ 861 Allgemeiner Teil Georg Breidenstein Überlegungen zu einer Theorie des Unterrichts .................................................... 869 Marc Thielen Jenseits von Tradition – Modernität und Veränderung männlicher Lebensweisen in der Migration als Provokation für die (Sexual-)Pädagogik ............................... 888 I Dina Kuhlee/Jürgen van Buer Bildungspolitische Leitbilder und Realitäten des Bildungssystems: Zu den Chancen Lebenslangen Lernens bei benachteiligten Jugendlichen ....................... 907 Besprechungen Marcelo Caruso Sandra Rademacher: Der erste Schultag. Pädagogische Berufskulturen im deutsch-amerikanischen Vergleich........................................................................... 925 Jörg Fischer Peter Bleckmann/Anja Durde (Hrsg.): Lokale Bildungslandschaften. Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen ............................................... 927 Hans-Ulrich Grunder/Mascia Rüfenacht Gerhard de Haan/Tobias Rülcker: Der Konstruktivismus als Grundlage für die Pädagogik................................................................................................................. 931 Wilfried Plöger Klaus Moegling: Kompetenzaufbau im fächerübergreifenden Unterricht – Förderung vernetzten Denkens und komplexen Handelns ...................................... 934 Ralf Schieferdecker Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel: Band 1: Elternbeteiligung und Band 2: Unterricht .................................................. 937 Dokumentation Pädagogische Neuerscheinungen ........................................................................... 940 Impressum .............................................................................................................. U 3 II Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film 835 Hans Utz Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film Zusammenfassung: Bilder über Vergangenheit haben bei der Verarbeitung von Geschichte die Funktion, historische Ereignisse für die Betrachtenden zu Erlebnissen zu verdichten. Bewerten die Betrachtenden diese Erlebnisse, können sie Erfahrungen sammeln und damit ihren Erfahrungsschatz bereichern. Die Bilder werden für sie bedeutungsvoll. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bilder authentisch wirken, das heißt, dass sie in einem als real erkannten und anerkannten historischen Kontext stehen. Der folgende Beitrag untersucht, wie Bilder mit diesem doppelten Anspruch nach Bedeutung und Authentizität fertig werden. Er unternimmt dann einen Transfer zu Filmen, die er als schon vom Hersteller gereihte Serienbilder versteht. Um Filme gleichzeitig authentisch und bedeutungsvoll werden zu lassen, bedienen sich Filmschaffende verschiedener Strategien. Der Beitrag entwirft eine systematische, historisch verankerte Gliederung. Geschichtsunterricht1 hat heute mehr als vor vierzig Jahren mit Bildern und Filmen zu tun – das zeigt ein grober Vergleich zwischen den damaligen textlastigen und den heutigen farbenprächtig illustrierten Schulgeschichtsbüchern. Dabei geht der Einfluss des Bildes nicht nur auf den ‚iconic turn‘ in der Gesellschaft zurück, sondern auch auf eine erweiterte Funktion des Geschichtsunterrichts. Dieser dient nicht mehr ausschließlich der Vermittlung der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Orientierung der Schüler/innen im Rahmen der Geschichtskultur, so dass sie in ihr mündig werden (vgl. Mayer/Pandel/Schönemann 2006, S. 74f.).2 Unter Geschichtskultur zusammengefasst wird dabei alles, was die Schüler/innen außerhalb des Geschichtsunterrichts, das heißt in andern Schulfächern und außerhalb der Schule in den Medien, ja sogar in der Unterhaltung an Geschichte mitvermittelt erhalten. Diese Geschichtskultur hat der Geschichtsunterricht aufzunehmen, mit Geschichte in Verbindung zu bringen und im Idealfall in der Geschichte zu verankern. Unter Geschichte versteht die Fachdidaktik dabei die Gesamtheit der Erinnerungen und erinnerten Sachverhalte, der Denkvorgänge, Ereignisse und Einflüsse, die mit der Dimension Zeit verbunden sind (vgl. Rüsen 2008, S. 2353). Die Geschichtskultur hat seit dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung gewonnen, da sich mehr Menschen und Staaten an geschichtlichen Ereignissen orientieren, seitdem Ideologien an Bedeutung verloren haben. Diese Geschichtsorientierung zeigt sich an der 1 Der Titel deutet es an: Diese Ausführungen bewegen sich nicht auf der theoretischen Ebene der Forschung, sondern auf der Schnittstelle der Fachdidaktik Geschichte, der Entwicklung von Lehrmitteln und des Geschichtsunterrichts. 2 Dass Geschichte jenseits der Geschichtswissenschaft nicht nur existiert, sondern mehr als die Diffusion von Geschichte auf populärwissenschaftlicher oder populärer Ebene bedeutet, ist im deutschsprachigen Sprachraum relativ lange verkannt worden (Bösch/Goschler 2009, S. 14ff.). 3 Dieses Kapitel wurde ursprünglich 1992 verfasst. Z.f.Päd. – 56. Jahrgang 2010 – Heft 6 836 Thementeil Häufung der Auseinandersetzungen um die Bewertung historischer Ereignisse in den letzten zwanzig Jahren (vgl. Seybold 2005).4 Dieses gesteigerte Interesse an Geschichte ist gleichzeitig stärker durch Bilder und Filme als durch Texte (im engeren Sinn) geprägt worden: Zwischen Spiel- und Dokumentarfilm eröffnet sich eine weites Spektrum von Dokudrama, Dramadok und Doku-Soap (vgl. Lipkin/Paget/Roscoe 2006, S. 14ff.), Bilder wie in der Ausstellung über die „Verbrechen der Wehrmacht“ erregen Anstoß, Filme von „Schindlers Liste“ über „Fahrenheit 9/11“ bis zu „Darwins Alptraum“ wühlen auf. Das motiviert zur Frage dieses Beitrags: Was bedeuten Bilder für die Darstellung von Zeit, der grundlegenden Dimension historischen Denkens? Welche Chancen und Probleme eröffnen sich dabei, wenn Fachdidaktik und Unterrichtspraxis Zeit in Bildern fassen? Auf den ersten Blick scheint das Problem trivial: Jede Überwachungskamera, jedes am Fernsehen übertragene Skiabfahrtsrennen zeigt ja – oft mit eingeblendeter Zeitangabe –, wie die Zeit ab- und verläuft. Ist nicht gerade die rasche Abfolge von Bildern ein Beweis für die kontinuierliche Abfolge der Zeit? Kann nicht gerade der Echtzeitfilm wie kein anderes Medium illustrieren, wie eng miteinander verbunden Zeit und Geschichte ablaufen? Doch wenn man nicht direkt von der Zeit auf den Film kommt, sondern den Umweg über das Bild einschlägt, ergeben sich didaktisch produktive Irritationen. Der vorliegende Beitrag schlägt deshalb einen Dreischritt ein: Zeit + Bild + Film. Zeit Wie stellen wir uns – in unserer persönlichen Geschichtskultur – den Ablauf eines Jahres vor? Als eine fortlaufende Linie, als ein sich schließender Kreis? Kippt unsere Vorstellung, wenn wir uns mehrere, vielleicht noch kreisförmig gedachte Jahre hintereinander als Jahrzehnt vorstellen? Ob wir der vorsokratischen zyklischen Zeit-Vorstellung oder der Newton’schen linearen folgen, wir verbildlichen uns Zeit als Kontinuum, als gegebenen Ablauf von sich folgenden Zeitabschnitten. Vor allem die von Plato begründete lineare Zeitvorstellung zieht eine Skalierung des Zeitstrahls und eine Messung der Zeitabschnitte nach sich (vgl. Gloy 2008, S. 15ff.). Geschichte, verstanden als Chronologie, verkörpert diesen Ablauf und ist ihrerseits an ihn gebunden. Während wir seit der Renaissance und der Erfindung der Perspektive akzeptieren, dass ein Raum im Wesentlichen vom Standort des Betrachters/der Betrachterin und seiner/ihrer ‚Perspektive‘ abhängt, nehmen wir die Zeit immer noch als eine unabhängige 4 Seybold nennt als solche Auseinandersetzungen unter anderen: die Fortsetzung des Historikerstreits um die Vergleichbarkeit von GULAG und Holocaust, die Diskussion um den Luftkrieg gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg (Großbritannien 1992), um den Widerstand gegen Hitler im Zusammenhang mit einer Ausstellung in München 1994/95, um die nachrichtenlosen Vermögen und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (1996–1999) und bezüglich des Raubgoldes in Schweden (1997–2000), die Wehrmachtausstellung in Deutschland (1996–1999), die Goldhagen-Debatte (1996/97). Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film 837 Größe wahr. Dies, obwohl Einsteins Spezielle Relativitätstheorie diese als von Ort und Geschwindigkeit des Betrachters/der Betrachterin abhängig erklärte und obwohl die Quantentheorie nachwies, dass sich die Zeit wegen der Doppelnatur des Elektrons als Teilchen oder Welle gewissermaßen auffächert und auf verschiedenen Ebenen nebeneinander verläuft. Die Quantenmechanik ist von der Annahme einer kontinuierlichen Zeit abgekommen (vgl. Muga/Sala/Egusguiza 2008, S. 1ff.5). Die moderne Physik der großen und der kleinen Räume, die Astro- und die Quantenphysik, geht von einem Zeitgewebe aus (vgl. Gloy 2008, S. 33ff.). Anschaulich entwerfen der CERN-Physiker Brian Cox und die Quantenphysikerin Fay Dowker eine Metapher der Zeit als Sandkörnerhaufen: Jede Zeiteinheit ist ein Sandkorn, das sich über verschiedene andere Sandkörner setzt und gleichzeitig mit mehreren in direkter Verbindung steht.6 Diese moderne Vorstellung trifft sich verblüffend mit dem intuitiven Gebrauch, den auch wir Laien von der Zeit machen: Im konkreten Alltag ziehen wir nicht eine Abfolge von Ereignissen hinter uns her; wir erinnern uns nicht bewusst an das unmittelbar zuvor Geschehene, sondern an diejenigen Ereignisse, die uns besonders präsent sind, weil wir sie im gegenwärtigen Moment für unser Handeln beiziehen können; dies, obwohl sie bisweilen zeitlich weit zurückliegen. Wenn wir uns diese Ereignisse wieder in Erinnerung rufen können, handelt es sich um Erleb- Abb. 1: Historische Zeit als drei Ebenen von Ereignissen, Erlebnissen und nisse, die uns eine Orientierungshilfe bieErfahrungen ten; bei einem Referat beispielweise die Erinnerung an ein letztes Referat und nicht die Hinfahrt zum Referatsort, auch wenn diese weniger lang zurückliegt. Wenn es uns sogar gelungen ist, diese Erlebnisse zu bewerten, dann können wir auf Erfahrungen basieren, die uns gleiche Fehler nicht wiederholen lassen (Abb. 1). Wie in der modernen physikalischen Auffassung einer diskontinuierlichen Zeit schichten sich in der historischen Zeit verschiedene Schichten, gewissermaßen Sandkörner, aufeinander. Indem wir Zeit gerade nicht als lineares Band mit immer unscharfer werdenden Ereignissen denken, sondern uns aus der Erinnerung die gerade passenden Erlebnisse in die Gegenwart heranholen, ‚vergegenwärtigen‘, lassen wir mehrere Zeitebenen übereinander laufen. Dasselbe gilt auch kollektiv für die Geschichte und die Geschichtskultur: In bestimmten Situationen werden bestimmte Epochen der Geschichte besonders aktuell. Wir finden 5 Einleitender Artikel der Herausgeber S. 1–25. Vgl. ferner die Vorlesungsunterlagen ‚Zeit und Quantenmechanik‘ von Gerd Röpke (2002). 6 Olding 2006, Minuten 42f. 838 Thementeil solche Brennpunkte des Interesses in wissenschaftlichen Untersuchungen, in populären Darstellungen, in Bildern und Filmen: gegenwärtig beispielsweise die Entstehung und Evolution der Menschen, die alten Hochkulturen, die Entdeckungsfahrten, die Mongolen und Hunnen, die Weltwirtschaftskrise, den Holocaust und die Zeit des Kalten Krieges. Bestimmte Ausschnitte aus der Vergangenheit sind für uns in einer bestimmten Gegenwartssituation ganz besonders wichtig, während andere Epochen der Geschichte eher im Windschatten liegen und nur antiquarisches Interesse genießen. Erst durch unser Interesse entsteht aus Vergangenheit Geschichte, entstehen Bilder. Wie es Jörn Rüsen ausdrückt: „Historisches Denken macht aus Zeit Sinn“ (Rüsen 1990, S. 11). Bild Es sind also aktuelle Problemlagen, die uns veranlassen, uns aus der Geschichte Bilder zu machen, welche unser Handeln heute beeinflussen können. Dabei kann Bild im übertragenen Sinn von ‚Vorstellung‘ verstanden werden, aber durchaus auch im wörtlichen. Ein bekanntes Bild ist die Fotografie einer Gruppe von Jüdinnen und Juden, die am Ende des Warschauer GhettoAufstandes im Mai 1943 abgeführt wurden; dies wegen des unidentifizierten Jungen, der vor dem Gewehr des SS-Mannes Joseph Blösche seine Hände hebt (Abb. 2). Abb. 2: Fotografie 14 im Stroop-Bericht mit der originalen Legende (der Kontrast Dieses Bild wird in immer wieder anin der Legende wurde bei der deren Zusammenhängen reproduziert, um Bearbeitung verstärkt). entsprechende Botschaften zu untermauern. Treffend hat Christoph Hamann dafür den Begriff ‚Wechselrahmen‘ geprägt (Hamann 2000, S. 727ff., 2002):7 Das Bild (in unterschiedlichen Ausschnitten) ist zwar immer dasselbe – aber es wird auf einen Kontext zugeschnitten neu gerahmt. Einige Beispiele: ● ● In einem Ausstellungsplakat für die Berliner Gedächtnisausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ von 1960 wird ein Zusammenhang zwischen dem jüdischen Knaben und Einstein hergestellt: Die Verfolgung des Knaben erscheint stellvertretend als Akt gegen das, was Einstein verkörpert: Genie, Fortschritt und Friede. Die Installationskünstlerin Judy Chicago montiert in ihrer Installation „Un/Gleichgewicht der Macht“ 1991 den Knaben im Zentrum von Bildern mit Gewalt an Kindern, um auf die asymmetrische Machtverteilung überall in der Welt hinzuweisen. 7 Die nachfolgend resümierten Beispiele sind teilweise aktualisiert. Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film ● ● ● 839 Samuel Bak nimmt in seiner „Studie F“ aus „Landschaften jüdischer Erfahrung“ aus dem Jahr 1995 dem Knaben die Gesichtszüge und die knabenhaften Kniesocken, um darauf hinzuweisen, dass Verfolgung und vielleicht auch Kapitulation generell zur jüdischen erinnerten Geschichte gehören. Alan Schechner montiert 2003 dem nur noch durch Gesicht, Mütze und eine Hand repräsentierten Knaben in „The Legacy of Abused Children: From Poland to Palestine“ eine Fotografie mit einem von israelischen Soldaten abgeführten, vor Angst die Hosen nässenden Palästinenserknaben.8 Das Bild erhält in diesem Zusammenhang einen antizionistischen Vorwurf unterlegt: „Ihr Juden/Jüdinnen verantwortet nun dasselbe, was euch zugefügt worden ist.“ Dass allerdings der Knabe zuvor Steine auf die Soldaten geworfen hatte, hat zu einer heftigen Diskussion über diesen Wechselrahmen geführt. Gerade umgekehrt argumentiert die Holocaust-Überlebende Yala Korwin im 1987 zum Bild verfassten Gedicht „The little Boy with his Hands up“: Für sie ist die durch das Bild repräsentierte Entwicklung Ursache und Rechtfertigung des Zionismus.9 War das Bild ursprünglich ein Zeugnis für den Holocaust gewesen, so dient es – als Erfahrung bewertet und als Erlebnis erinnert – zur Vergegenwärtigung unterschiedlichster Themen in der aktuellen Zeit. Aber schon seine erste Vergegenwärtigung als HolocaustZeugnis blendet meist und in den Schulgeschichtsbüchern immer aus, dass es sich um eine Täterfotografie handelt; der Auftraggeber des nur mit den Initialen F.W. bekannten Fotografen war der Kommandant dieser schrecklichen Ghetto-Räumungsaktion, SSGruppenführer Jürgen Stroop; er ließ unter das Bild die Legende „Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt.“ setzen, eine Legende, die ebenfalls meist ausgeblendet wird, weil sie nicht mehr in die ‚Wechselrahmen‘ passt, in die man das Bild setzt (Stroop 1943, Bild 14).10 Die Herauslösung des Bildes aus seinem Zusammenhang ist so komplett, dass sich die Forschung nicht dafür interessiert, es mit der Fotografie Nr. 7 desselben Albums in Verbindung zu bringen; darauf wird dargestellt, wie die möglicherweise teilweise gleichen Menschen wenig später abgeführt werden. Es ist offenbar kein Bedürfnis vorhanden, einen Ablauf im Schicksal des Kna- Abb. 3: Der Beizug eines historischen Bildes ben zu rekonstruieren. Auch die Tatsache, für Botschaften der Gegenwart. 8 http://dottycommies.com/holocaust10.html [09.06.2010]. 9 www.yalakorwin.com/FromMyBook.html [09.06.2010]. 10 Das nur in drei Exemplaren hergestellte Album diente dazu, Stroop bei Heinrich Himmler in ein gutes Licht zu stellen und für weitere Aufträge zu empfehlen. – Das Bild ist unterdessen oft besprochen worden, so oft, dass wir es in einer neuen Publikation unternommen haben, den Knaben abzudecken, um darauf hinzuweisen, dass wir eigentlich nur noch ihn ins Auge fassen oder vielleicht als Ikone nicht einmal mehr betrachten (Dreier u.a. 2008, Umschlag). 840 Thementeil dass sich bis heute vier Männer in diesem wiedererkannt haben, zeigt, dass das Bild universal geworden ist und sich aus dem historischen Kontext gelöst hat (Abb. 3). Bei unbekannten Bildern kann dieser Prozess der Isolierung aus der Geschichte zu einem Bedeutungsverlust führen. Ein Beispiel: Eine aus einer Hinterlassenschaft ans Archiv des Kulturhistorischen Vereins Ettingen (CH) übergebene Fotografie scheint uns als solche trivial und bedeutungslos (Abb. 4). Erst auf der Rückseite eröffnet eine handschriftliche Notiz die tragische Geschichte: „Unter diesen Baumstamm gerieten Basil Kron und F. Pflugi auf der Schulreise nach Magglingen ca. 1938“. Mindestens Friedrich Pflugi wurde dabei erdrückt! Erst durch diese Verankerung im historischen Zusammenhang gewinnt das Bild einen Erlebnis- (Betroffenheit) und einen Erfahrungswert (nicht auf Baumstämmen im abschüssigen Gelände spielen). Und über das historische Ereignis dieses Unglückfalls hinaus macht uns das Bild sensibel dafür, dass hinter banalen Schnappschüssen und harmlosen Baumstämmen ganze Geschichten lauern (Abb. 5). Die Fotografie bringt uns diesen Unglücksfall vor über 70 Jahren näher, als Worte es vermögen. Bilder können aber nicht nur einen Augenblick festhalten, den wir später nicht mehr verstehen, sondern auch – ohne Legende und Erklärung – eine ganze Geschichte erzählen. In Zeichnungen ist die Integration mehrerer aufeinanderfolgender Zustände möglich wie beispielsweise im berühmten Stich von Theodor de Bry über Kolumbus’ Begegnung mit den Einwohnern/Einwohnerinnen von Guanahany (Abb. 6). Abb. 4: Aus dem geschichtlichen Zusammenhang herausgelöste und damit ihrer Bedeutung verlustig gegangene Fotografie (Ettingen, Archiv KHV, Nr. 336). Abb. 5: Das in Abb. 4 gezeigte Foto hat seinen Erlebnis- und Erfahrungswert verloren und gewinnt ihn wieder, wenn es auf der Ereignisebene wieder kontextualisiert wird. Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film 841 Hier Abb. 6 einfügen (ganz normal!!!!) Abb. 6: Mögliche Lesart des Stiches von Theodor de Bry: Kolumbus‘ Landung in Guanahani, 1594: 1: Kolumbus’ erste Begegnung mit den Indios, 2: Aufstellen eines Kreuzes, 3: Jagd auf Indios, 4: ihre Verfrachtung auf die Schiffe, 5: Flucht der Indios in die Wälder. In Serienbildern können sogar anspruchsvolle Vor- und Rückgriffe vorkommen. So wird im Wandteppich von Bayeux im Bild 33 der verhängnisvolle Komet über der Herr- Abb. 7: Bilder 23 und 33 im Wandteppich von Bayeux (2. Hälfte schaft des Königs Hades 11. Jahrhunderts): Der Betrachter bei der Ablegung des Vasalleneids durch Harald Godwinson in Bild 23 weist rald gezeigt, auf den auf den Unglück verheißenden Kometen hin, der dann in schon zehn Bilder früBild 33 erscheint. her bei dessen Zeremonie des Vaselleneids ein Betrachter hingewiesen hat (Abb. 7) (vgl. Kuder 2005, S. 3ff.).11 11 Kleinere Geschichten wie Bewegungen können noch einfacher in Bildern zur Darstellung gebracht werden: in Comic-Zeichnungen durch entsprechende Zeichen (Striche in der Bewegungsrichtung, Wölkchen bei einem rasanten Start), oder in Fotos durch gerichtete Unschärfe. 842 Thementeil Wenn wir den Teppich von Bayeux betrachten, erhalten wir zuerst Einzelereignisse vermittelt, die uns an sich wenig sagen; sobald wir aber die zwischen den Einzelbildern ablaufende Geschichte verstehen, wird das Bild zu einem Erlebnis (oder sogar einer Erfahrung). Der Erlebnis- und Erfahrungswert von Einzelbildern können wir auch erhöhen, indem wir mehrere aneinander reihen, die nicht einmal im Zusammenhang zueinander aufgenommen worden sind. Die ‚History Helpline‘, ein Unterrichtsservice für Geschichtslehrer/innen, bereitet beispielsweise für die Erzählung des Ablaufes des Zweiten Weltkrieges zehn Fotografien mit einem Ikonen-Charakter auf (Abb. 8). Die Schüler/innen werden so anhand von Zusammenhängen zwischen den Bil- Abb. 8: Aus Bildern konstruierter Ablauf des dern durch den Ablauf geführt. Jedes Bild Zweiten Weltkrieges (‚History Helpsteht dabei in einem künstlich hergestellten line‘, Unterrichtseinheit 31, Mai 2009, www.historyhelpline.ch). Zusammenhang zu den zeitlich benachbarten. Auch hier stehen Bilder gleichsam als kondensierte Momente des Ablaufs; mit der Verbindung zwischen ihnen wird die Zeit dazwischen, wenngleich nicht sichtbar, so doch durch Interpolation erfahrbar gemacht. Bilder können also dann ein Erlebnis oder eine Erfahrung aus der Vergangenheit vermitteln, wenn sie selbst authentisch in dieser Vergangenheit verwurzelt sind. Im Prinzip geschieht diese Vermittlung von Erlebnis und Erfahrung nach drei Methoden: durch Neudeutung eines Bildes (‚Wechselrahmen‘, Abb. 2), durch Kontextualisierung eines an sich aussagelosen Bildes (gewissermaßen eine ‚Rahmung‘, Abb. 4) und durch die Kombination von Bildern zu einem Ablauf, damit zu einer Konstruktion von Geschichte (gewissermaßen eine ‚Assortierung‘, Abb. 8). Film Besonders stark wirkt diese Assortierung dann, wenn sie schon bei der Herstellung der Bilder beabsichtigt worden ist, wie beim Teppich von Bayeux oder bei Serien-Fotografien. Ein unbekannter Fotograf schoss im Auftrag des Kommandos der 707. deutschen Infanteriedivision am 26. Oktober 1941 sieben Fotografien über den letzten Gang von zwei Widerstandkämpfern und einer Widerstandskämpferin im besetzten weißrussischen Minsk bis zu ihrer Erhängung (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002 bzw. Tec/Weiß 1999).12 Diese sieben Fotografien werden oft hintereinander gereiht gezeigt, 12 Bilder 1 und 3: Hamburger Institut für Sozialforschung 2002, S. 476; Bild 2: Tec/Weiß 1999, S. 322ff. Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film gerade auch in Dokumentarfilmen (vgl. Thiel/Heer 1997; Verhoeven 2006; Kade 2010).13 Der Ablauf, die Geschichte, erscheint so logisch, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin sich von einem Bild zum nächsten die Geschichte selbst wie in einem Film rekonstruieren kann. Die erste Fotografie zeigt die siebzehnjährige Masha Bruskina, deren Name bis heute in Weißrussland nicht offiziell anerkannt ist (sie war eine Jüdin) mit zwei Widerstandskämpfern und einem Plakat um den Hals, auf dem die drei als Partisanen bezeichnet werden (Abb. 9). Das zweite Bild zeigt die drei auf dem Weg zur Hinrichtung am Fotografen vorbeigehen. Dann musste Masha Bruskina – so die dritte Fotografie – auf einen Hocker steigen, und ein Offizier (Offiziere hatten die Hinrichtung als so genannten ‚Ehrendienst‘ gleich selbst übernommen) legte ihr den Strick um den Hals. Dabei wandte sich Masha Bruskina immer wieder diesem Offizier zu und vom Publikum ab, was völlig untypisch ist und durch den Augenzeugen Pjotr Borisenko bestätigt wird: Sie drehte sich immer wieder um, weil sie nicht dem Publikum zur Schau gestellt werden wollte. Nach diesem dritten Bild darf also der ‚BilderFilm‘ eigentlich nicht weiterlaufen. Trotzdem werden die folgenden Fotografien mit der gehängten Frau und ihren beiden Gefährten sehr oft gezeigt. Offensichtlich ist das Bedürfnis nach Erlebnis und Erfahrung stärker als der Respekt vor dem Zeige-Verbot, das Masha Bruskina als letzte Botschaft hinterlassen hat. 843 Abb. 9: Hinrichtung von Masha Bruskina in Minsk, 26. Oktober 1941, erste drei Bilder. 13 Filmbeispiele: Thiel/Heer 1997, Ansage durch Hervé Claude, Minute 2; Verhoeven 2006, Minute 8:30. 844 Thementeil Dieses Beispiel zwischen Einzelbild und Film zeigt exemplarisch die Faszination durch aufeinanderfolgende Bilder auf: Serienbilder potenzieren gewissermaßen die Erlebnisse und Erfahrungen, weil sie erstens stärker als Einzelbilder aus sich heraus Vergangenheit zu Erlebnis oder Erfahrung werden lassen und zweitens durch die Raffung der Zeit zu verdichteten Geschichten die Spannung erhöhen (Abb. 10). Für Schüler/innen (und wohl auch für das große Publikum von Dokumentarfil- Abb. 10: Die Steigerung von Erfahrung und Erlebnis durch die Zeitraffung. men) ist die durch Filme erzählte Geschichte geradezu identisch mit der Vergangenheit. Dagegen begeistert sich niemand für die Aufzeichnungen einer Bank-Überwachungskamera, solange dort die Geschichte unverdichtet abgebildet wird. Nur der Abschnitt über einen gefilmten Überfall stößt auf Interesse. Dokumentierende Filme14 haben also deshalb einen besonders hohen Erlebnis- und Erfahrungswert, weil sie besonders konzentriert eine als authentisch empfundene Vergangenheit vermitteln. Die Assortierung von Bildern zu Filmen erweist sich als mächtiges Instrument, um als echt anerkannte Vergangenheit zu Erlebnissen und Erfahrungen werden zu lassen. Allerdings ist die Gleichsetzung von Vergangenheit und Film als dessen Abbildung dann ein gefährlich vereinfachender Vorgang, wenn den Schülerinnen und Schülern nicht bewusst wird, dass auch dokumentierende Filme gestaltete Geschichten und ihre Regisseure/Regisseurinnen bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse vermitteln wollen. Die Kenntnis der Gestaltungsstrategien kann helfen, den Unterschied zwischen einem Film und der von ihm dargestellten Vergangenheit bewusst werden zu lassen. Ein Ziel des Geschichtsunterrichts, Mündigkeit gegenüber und in der Geschichtskultur, wird dadurch gefördert. Angelehnt an die Theorie von Bill Nichols (vgl. Nichols 1995, S. 149ff., 2001) und diese erweiternd bzw. vereinfachend unterscheidet das folgende Modell sechs Strategien oder Modi der Dokumentarfilmenden, um Vergangenheit zu authentischer Geschichte zu verdichten. In ihrer Entstehung folgen sich diese Modi chro- Abb. 11: Modell der Entwicklung der Dokumentarfilmstrategien (nach Bill nologisch (oft an technische ErrungenNichols, weiter entwickelt). 14 Es wird hier unterschieden zwischen den Begriffen ‚Dokumentarfilm‘ als einer Selbstcharakterisierung von Filmen und ‚dokumentierenden Filmen‘ etwa auch in Nachrichtensendungen oder gar in Werbefilmen, welche im Prinzip auch die Dokumentarfilm-Funktion übernehmen, ohne den Anspruch darauf explizit zu verkünden. Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film 845 schaften geknüpft), lösen sich aber nicht ab, sondern erweitern das Spektrum der Möglichkeiten, Vergangenheit als Geschichte zum Erlebnis oder zur Erfahrung werden zu lassen (Abb. 11): 1. In der so genannten Stummfilmzeit dominierte der poetische Modus: Die aus technischen Gründen statisch aufgenommenen Bilder mit langen Einstellungen sowie der fehlende Kommentar lassen uns als Filmbetrachter/innen Zeit, uns aus den Bildern unsere eigene Geschichte zu machen. Entgegen dem allgemeinen Vorurteil sind wir ja nicht einfach passive Konsument/innen, sondern drehen gewissermaßen einen eigenen Film mit (vgl. Kloepfer 1982, S. 375).15 – Zur Illustration am Beispiel der ‚Filmbilder‘ über die Hinrichtung von Masha Bruskina: Zwischen den drei Bildern in Abbildung 9 stellen sich die Bildbetrachter/innen weitere vor, so dass eine fugenlose Geschichte entsteht. Gerade durch diesen aktiven, im Wortsinn ‚poetischen‘ Prozess – ‚poiesis‘ als ‚Erschaffung‘ – identifizieren sie sich besonders intensiv mit der Handlung. 2. Mit der Möglichkeit der Lichttonspur erweiterte der Film seit 1930 seine Möglichkeiten um einen auf dem Filmstreifen abgespeicherten, separat aufgenommenen Kommentar, der die Bilder beschreibt und durch sie bestätigt wird. Dieser so genannt expositorische Modus wurde im Zeitalter der ideologischen Auseinandersetzung zwischen 1930 und 1960 besonders oft eingesetzt, weil sich damit weltanschauliche Überzeugungen in Dokumentarfilmen verkünden ließen. – Zur Illustration an unserem Beispiel: Zu den drei Bildern in Abbildung 9 wird ein Kommentar gesprochen (in diesem Beitrag ist er schriftlich verfasst), der zusätzliche Informationen einbringt und die Sichtweise der Betrachtenden steuert. 3. Die um 1960 auch für den professionellen Film akzeptierte portable 16mm-Bildkamera mit Batteriestromversorgung ermöglichte das Filmen nicht gestellter Szenen, die Kamera-Eigengeräusch-Unterdrückung und das Kravattenmikrophon die Aufnahme von Originalton. Dementsprechend wurden die sechziger Jahre dominiert von der Strategie des ‚Direct Cinema‘ (USA) bzw. des ‚Cinéma Vérité‘ (Frankreich) mit dem Anspruch, durch Registrieren der nicht gestellten Realität wirklich wahre Geschichten abzubilden. Im Extremfall figurierte die Kamera auch unabhängig von einer Kameraführung direkt als Überwachungskamera. Dieser beobachtende Modus prägt den heutigen Dokumentarfilm in der Geschichtskultur. – Zur Illustration: In unserem Beispiel (Abb. 9) können wir uns einen Fachmann oder eine Zeitzeugin vorstellen, welche/r im Film auftritt und die drei Fotografien erläutert (vgl. Kade 2010).16 4. Die Einsicht, dass eine solche objektive Beobachtung nicht möglich, sondern mindestens in ihrem örtlich festgelegten Ausschnitt und ihrem zeitlichen Anfang und Ende durch den Beobachter/die Beobachterin bestimmt ist, führte in den siebziger 15 Rolf Kloepfer bezeichnet diese schöpferische Tätigkeit der Filmbetrachtenden im Wortsinn sehr zutreffend als Sympraxis. 16 Filmbeispiel aus dem Internet. 846 Thementeil Jahren dazu, die Regie in den Film einzubeziehen. Nicht die Aussage der beobachteten Personen, sondern ihre Interaktion mit dem Interviewer erschien als ein Stück weit authentischere Realität: interagierender Modus (vgl. Nichols 2001, S. 33).17 Die Talkshows griffen zur gleichen Zeit auf diese Strategie zurück. – In unserem Beispiel von den Bildern der Hinrichtung der Masha Bruskina: ein kontroverses Gespräch über die Anerkennung ihrer Tat und Haltung durch die heutige weißrussische Gesellschaft und Politik. 5. Doch auch ein gefilmtes Gespräch ist arrangiert, das heißt, dem Betrachter oder der Betrachterin wurde vorenthalten, wie es zustande gekommen war; also musste der Film auch seine eigenen Hintergründe, die Interessen der Beteiligten und die Absprachen, offenlegen. Dank der Videotechnik war es ferner möglich, Gefilmtes gleich wieder den Gefilmten vorzulegen und sie darüber reflektieren zu lassen. Dieser reflexive Modus machte in den achtziger Jahren die Geschichte des Films zu einem Teil seines Inhalts. – In unserem Beispiel (Abb. 9) drängt sich die Frage auf, ob Täter-Bilder wie die Fotos der Gehängten gegen deren letzten Willen reproduziert werden dürfen. 6. Seit 1991 besteht die Möglichkeit der digitalen Bildaufnahme, -verarbeitung und -bearbeitung. In den neunziger Jahren konnten gefilmte Bilder nachretouchiert, aber auch nicht filmbare Geschichten als ‚reenactment‘ nachgestellt und in den dokumentarischen Teil eines Films eingefügt werden. Die Fähigkeit des Films, eine Geschichte auch im nicht direkt darstellbaren Bereich zu erzählen, verstärkt im performativen Modus seine Authentizität. Diese wird nicht mehr allein auf den abgespielten Filmstreifen zurückgeführt, sondern auf den durch ihn veranlassten, im Kopf der Betrachtenden ablaufenden Film. – Im genannten Beispiel könnten die Bilder über die Hinrichtung der Masha Bruskina ergänzt werden durch Spielszenen über ihre Widerstandsaktionen im Spital vor deren Entdeckung oder durch eine Computersimulation des letzten Weges, den die drei gehen mussten. Die systematische (und damit immer auch künstliche) Einteilung der Strategien bzw. Modi, mit denen dokumentierende Filme Vergangenheit in als Erlebnis und Erfahrung relevante Geschichte verwandeln, kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass Bilder eine Brückenfunktion für die Vermittlung von Geschichte übernehmen können: Sie sind einerseits in der Vergangenheit verwurzelt, andrerseits für die Betrachtenden aber bedeutungsvoll. Schlussfolgerung Bild- und Filmquellen stehen bei der Repräsentation von Vergangenheit in einem Spannungsfeld: Sie müssen in ihrem historischen Kontext, gewissermaßen der linearen Zeit, 17 Nichols verwendet den Begriff participatory mode. Die hier vorgeschlagene Begriffsdefinition vermeidet ihn, weil er nicht klärt, wer im Film partizipiert. Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film 847 erfassbar sein und damit authentisch wirken. Sie müssen aber auch zu einem Erlebnis oder gar einer Erfahrung für die Betrachtenden gestaltet werden, damit sie nicht antiquarisches Material bleiben. Das heißt, sie müssen aus einer tiefer liegenden Zeitebene an die Oberfläche kommen und für die Betrachtenden bedeutungsvoll werden. Aus sich heraus generieren Bilder diese Wirkung nur selten, nur dann nämlich, wenn sie eine Geschichte erzählen. Ist das nicht der Fall, werden Bilder dadurch mit Bedeutung aufgeladen, dass sie mit einer Botschaft verbunden (‚Wechselrahmen‘), dass sie kontextualisiert (‚Rahmung‘) oder mit anderen Bildern in einen Zusammenhang gebracht werden (‚Assortierung‘). Auch dokumentierende Filme können nur bedeutungsvoll werden und authentisch bleiben, wenn sie nach bestimmten Strategien bewusst gestaltet werden. Diese Gestaltungsstrategien müssen den Filmbetrachtern/Filmbetrachterinnen bewusst sein. Nur dann kann ihnen klar werden, dass ein dokumentierender Film nur insoweit dokumentiert, als sie ihn als dokumentierend anerkennen. Deshalb werden hier sechs Strategien identifiziert und unterschieden, welche in den Filmen einzeln oder (meist) ineinander verflochten erkannt werden können. Die Bilddidaktik muss um eine Filmdidaktik in dieser Richtung erweitert werden. Literatur Bösch, F./Goschler, C. (2009): Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History. In: Bösch, F./Goschler, C. (Hrsg.): Public history. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt a.M.: Campus Verlag. Dreier, W./Fuchs, E./Radkau, V./Utz, H. (Hrsg.) (2008): Schlüsselbilder des Nationalsozialismus. Fotohistorische und didaktische Überlegungen. Wien: Studien Verlag. Gloy, K. (2008): Philosophiegeschichte der Zeit. Paderborn: Fink. Hamann, Ch. (2000): „Die Wendung aufs Subjekt“: Zum Foto des Jungen aus dem Warschauer Ghetto. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 12, S. 727–741. Hamann, Ch. (2002): Bilderwelten und Weltbilder. Fotos, die Geschichte(n) mach(t)en. 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Mainz: ZDF/Arte. Abstract: In the processing of history, pictures of the past fulfill the function of condensing historical events into experiences in the eye of the observer. When the viewers evaluate these experiences they can, in turn, gain experience and are thus able to add to their wealth of experience. The pictures become meaningful to them. However, this presupposes that the pictures appear to be authentic, i.e. that they are placed within a historical context recognized and acknowledged to be real. The following contribution examines in how far pictures are up to this double challenge of meaningfulness and authenticity. Then, a transfer is made to films which are regarded as serial pictures strung together by the producer. In order to turn films into something simultaneously authentic and meaningful, filmmakers employ different strategies. The author develops a systematic, historically anchored classification. Anschrift des Autors Prof. Dr. Hans Utz, Pädagogische Hochschule FHNW, Riehenstrasse 154, CH-4058 Basel E-Mail: [email protected]