Utz, Hans
Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 6, S. 835-848
Quellenangabe/ Reference:
Utz, Hans: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film - In: Zeitschrift für Pädagogik 56 (2010) 6, S.
835-848 - URN: urn:nbn:de:0111-opus-71726 - DOI: 10.25656/01:7172
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0111-opus-71726
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Jahrgang 56 – Heft 6
November/Dezember 2010
Inhaltsverzeichnis
Thementeil: Bildkompetenz
Roland Reichenbach/Nicolaj van der Meulen
Ästhetisches Urteil und Bildkompetenz. Einleitend zum Thementeil ................... 795
Käte Meyer-Drawe
Die Macht des Bildes – eine bildungstheoretische Reflexion ............................... 806
Nicolaj van der Meulen
Bildkompetenz an der Kreuzung von Visueller Kommunikation und Bildtheorie.
Unerledigte Anfragen an den Kunstunterricht ....................................................... 819
Hans Utz
Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film ............................................................... 835
Regula Fankhauser Inniger/Peter Labudde-Dimmler
Bildrezeption und Bildkompetenz im naturwissenschaftlichen Unterricht:
Herausforderungen und Desiderata ........................................................................ 849
Deutscher Bildungsserver
Linktipps zum Thema „Bildkompetenz“ ................................................................ 861
Allgemeiner Teil
Georg Breidenstein
Überlegungen zu einer Theorie des Unterrichts .................................................... 869
Marc Thielen
Jenseits von Tradition – Modernität und Veränderung männlicher Lebensweisen
in der Migration als Provokation für die (Sexual-)Pädagogik ............................... 888
I
Dina Kuhlee/Jürgen van Buer
Bildungspolitische Leitbilder und Realitäten des Bildungssystems: Zu den
Chancen Lebenslangen Lernens bei benachteiligten Jugendlichen ....................... 907
Besprechungen
Marcelo Caruso
Sandra Rademacher: Der erste Schultag. Pädagogische Berufskulturen im
deutsch-amerikanischen Vergleich........................................................................... 925
Jörg Fischer
Peter Bleckmann/Anja Durde (Hrsg.): Lokale Bildungslandschaften.
Perspektiven für Ganztagsschulen und Kommunen ............................................... 927
Hans-Ulrich Grunder/Mascia Rüfenacht
Gerhard de Haan/Tobias Rülcker: Der Konstruktivismus als Grundlage für die
Pädagogik................................................................................................................. 931
Wilfried Plöger
Klaus Moegling: Kompetenzaufbau im fächerübergreifenden Unterricht –
Förderung vernetzten Denkens und komplexen Handelns ...................................... 934
Ralf Schieferdecker
Sara Fürstenau/Mechthild Gomolla (Hrsg.): Migration und schulischer Wandel:
Band 1: Elternbeteiligung und Band 2: Unterricht .................................................. 937
Dokumentation
Pädagogische Neuerscheinungen ........................................................................... 940
Impressum .............................................................................................................. U 3
II
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
835
Hans Utz
Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
Zusammenfassung: Bilder über Vergangenheit haben bei der Verarbeitung von Geschichte die Funktion, historische Ereignisse für die Betrachtenden zu Erlebnissen zu
verdichten. Bewerten die Betrachtenden diese Erlebnisse, können sie Erfahrungen sammeln und damit ihren Erfahrungsschatz bereichern. Die Bilder werden für sie bedeutungsvoll. Voraussetzung ist allerdings, dass die Bilder authentisch wirken, das heißt,
dass sie in einem als real erkannten und anerkannten historischen Kontext stehen. Der
folgende Beitrag untersucht, wie Bilder mit diesem doppelten Anspruch nach Bedeutung
und Authentizität fertig werden. Er unternimmt dann einen Transfer zu Filmen, die er als
schon vom Hersteller gereihte Serienbilder versteht. Um Filme gleichzeitig authentisch
und bedeutungsvoll werden zu lassen, bedienen sich Filmschaffende verschiedener Strategien. Der Beitrag entwirft eine systematische, historisch verankerte Gliederung.
Geschichtsunterricht1 hat heute mehr als vor vierzig Jahren mit Bildern und Filmen zu
tun – das zeigt ein grober Vergleich zwischen den damaligen textlastigen und den heutigen farbenprächtig illustrierten Schulgeschichtsbüchern. Dabei geht der Einfluss des
Bildes nicht nur auf den ‚iconic turn‘ in der Gesellschaft zurück, sondern auch auf eine
erweiterte Funktion des Geschichtsunterrichts. Dieser dient nicht mehr ausschließlich
der Vermittlung der Geschichtswissenschaft, sondern auch der Orientierung der Schüler/innen im Rahmen der Geschichtskultur, so dass sie in ihr mündig werden (vgl.
Mayer/Pandel/Schönemann 2006, S. 74f.).2 Unter Geschichtskultur zusammengefasst
wird dabei alles, was die Schüler/innen außerhalb des Geschichtsunterrichts, das heißt
in andern Schulfächern und außerhalb der Schule in den Medien, ja sogar in der Unterhaltung an Geschichte mitvermittelt erhalten.
Diese Geschichtskultur hat der Geschichtsunterricht aufzunehmen, mit Geschichte
in Verbindung zu bringen und im Idealfall in der Geschichte zu verankern. Unter Geschichte versteht die Fachdidaktik dabei die Gesamtheit der Erinnerungen und erinnerten Sachverhalte, der Denkvorgänge, Ereignisse und Einflüsse, die mit der Dimension
Zeit verbunden sind (vgl. Rüsen 2008, S. 2353).
Die Geschichtskultur hat seit dem Ende des Kalten Krieges an Bedeutung gewonnen,
da sich mehr Menschen und Staaten an geschichtlichen Ereignissen orientieren, seitdem
Ideologien an Bedeutung verloren haben. Diese Geschichtsorientierung zeigt sich an der
1 Der Titel deutet es an: Diese Ausführungen bewegen sich nicht auf der theoretischen Ebene
der Forschung, sondern auf der Schnittstelle der Fachdidaktik Geschichte, der Entwicklung
von Lehrmitteln und des Geschichtsunterrichts.
2 Dass Geschichte jenseits der Geschichtswissenschaft nicht nur existiert, sondern mehr als die
Diffusion von Geschichte auf populärwissenschaftlicher oder populärer Ebene bedeutet, ist im
deutschsprachigen Sprachraum relativ lange verkannt worden (Bösch/Goschler 2009, S. 14ff.).
3 Dieses Kapitel wurde ursprünglich 1992 verfasst.
Z.f.Päd. – 56. Jahrgang 2010 – Heft 6
836
Thementeil
Häufung der Auseinandersetzungen um die Bewertung historischer Ereignisse in den
letzten zwanzig Jahren (vgl. Seybold 2005).4 Dieses gesteigerte Interesse an Geschichte
ist gleichzeitig stärker durch Bilder und Filme als durch Texte (im engeren Sinn) geprägt
worden: Zwischen Spiel- und Dokumentarfilm eröffnet sich eine weites Spektrum von
Dokudrama, Dramadok und Doku-Soap (vgl. Lipkin/Paget/Roscoe 2006, S. 14ff.), Bilder wie in der Ausstellung über die „Verbrechen der Wehrmacht“ erregen Anstoß, Filme
von „Schindlers Liste“ über „Fahrenheit 9/11“ bis zu „Darwins Alptraum“ wühlen auf.
Das motiviert zur Frage dieses Beitrags: Was bedeuten Bilder für die Darstellung
von Zeit, der grundlegenden Dimension historischen Denkens? Welche Chancen und
Probleme eröffnen sich dabei, wenn Fachdidaktik und Unterrichtspraxis Zeit in Bildern
fassen? Auf den ersten Blick scheint das Problem trivial: Jede Überwachungskamera,
jedes am Fernsehen übertragene Skiabfahrtsrennen zeigt ja – oft mit eingeblendeter
Zeitangabe –, wie die Zeit ab- und verläuft. Ist nicht gerade die rasche Abfolge von Bildern ein Beweis für die kontinuierliche Abfolge der Zeit? Kann nicht gerade der Echtzeitfilm wie kein anderes Medium illustrieren, wie eng miteinander verbunden Zeit und
Geschichte ablaufen?
Doch wenn man nicht direkt von der Zeit auf den Film kommt, sondern den Umweg
über das Bild einschlägt, ergeben sich didaktisch produktive Irritationen. Der vorliegende Beitrag schlägt deshalb einen Dreischritt ein: Zeit + Bild + Film.
Zeit
Wie stellen wir uns – in unserer persönlichen Geschichtskultur – den Ablauf eines Jahres vor? Als eine fortlaufende Linie, als ein sich schließender Kreis? Kippt unsere Vorstellung, wenn wir uns mehrere, vielleicht noch kreisförmig gedachte Jahre hintereinander als Jahrzehnt vorstellen?
Ob wir der vorsokratischen zyklischen Zeit-Vorstellung oder der Newton’schen linearen folgen, wir verbildlichen uns Zeit als Kontinuum, als gegebenen Ablauf von sich
folgenden Zeitabschnitten. Vor allem die von Plato begründete lineare Zeitvorstellung
zieht eine Skalierung des Zeitstrahls und eine Messung der Zeitabschnitte nach sich
(vgl. Gloy 2008, S. 15ff.). Geschichte, verstanden als Chronologie, verkörpert diesen
Ablauf und ist ihrerseits an ihn gebunden.
Während wir seit der Renaissance und der Erfindung der Perspektive akzeptieren,
dass ein Raum im Wesentlichen vom Standort des Betrachters/der Betrachterin und seiner/ihrer ‚Perspektive‘ abhängt, nehmen wir die Zeit immer noch als eine unabhängige
4 Seybold nennt als solche Auseinandersetzungen unter anderen: die Fortsetzung des Historikerstreits um die Vergleichbarkeit von GULAG und Holocaust, die Diskussion um den Luftkrieg gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg (Großbritannien 1992), um den Widerstand
gegen Hitler im Zusammenhang mit einer Ausstellung in München 1994/95, um die nachrichtenlosen Vermögen und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (1996–1999) und
bezüglich des Raubgoldes in Schweden (1997–2000), die Wehrmachtausstellung in Deutschland (1996–1999), die Goldhagen-Debatte (1996/97).
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
837
Größe wahr. Dies, obwohl Einsteins Spezielle Relativitätstheorie diese als von Ort und
Geschwindigkeit des Betrachters/der Betrachterin abhängig erklärte und obwohl die
Quantentheorie nachwies, dass sich die Zeit wegen der Doppelnatur des Elektrons als
Teilchen oder Welle gewissermaßen auffächert und auf verschiedenen Ebenen nebeneinander verläuft. Die Quantenmechanik ist von der Annahme einer kontinuierlichen Zeit
abgekommen (vgl. Muga/Sala/Egusguiza 2008, S. 1ff.5). Die moderne Physik der großen und der kleinen Räume, die Astro- und die Quantenphysik, geht von einem Zeitgewebe aus (vgl. Gloy 2008, S. 33ff.). Anschaulich entwerfen der CERN-Physiker Brian
Cox und die Quantenphysikerin Fay Dowker eine Metapher der Zeit als Sandkörnerhaufen: Jede Zeiteinheit ist ein Sandkorn, das sich über verschiedene andere Sandkörner
setzt und gleichzeitig mit mehreren in direkter Verbindung steht.6
Diese moderne Vorstellung trifft sich
verblüffend mit dem intuitiven Gebrauch,
den auch wir Laien von der Zeit machen:
Im konkreten Alltag ziehen wir nicht eine
Abfolge von Ereignissen hinter uns her;
wir erinnern uns nicht bewusst an das unmittelbar zuvor Geschehene, sondern an
diejenigen Ereignisse, die uns besonders
präsent sind, weil wir sie im gegenwärtigen Moment für unser Handeln beiziehen
können; dies, obwohl sie bisweilen zeitlich weit zurückliegen. Wenn wir uns
diese Ereignisse wieder in Erinnerung
rufen können, handelt es sich um Erleb- Abb. 1: Historische Zeit als drei Ebenen von
Ereignissen, Erlebnissen und
nisse, die uns eine Orientierungshilfe bieErfahrungen
ten; bei einem Referat beispielweise die
Erinnerung an ein letztes Referat und nicht die Hinfahrt zum Referatsort, auch wenn
diese weniger lang zurückliegt. Wenn es uns sogar gelungen ist, diese Erlebnisse zu bewerten, dann können wir auf Erfahrungen basieren, die uns gleiche Fehler nicht wiederholen lassen (Abb. 1).
Wie in der modernen physikalischen Auffassung einer diskontinuierlichen Zeit
schichten sich in der historischen Zeit verschiedene Schichten, gewissermaßen Sandkörner, aufeinander. Indem wir Zeit gerade nicht als lineares Band mit immer unscharfer
werdenden Ereignissen denken, sondern uns aus der Erinnerung die gerade passenden
Erlebnisse in die Gegenwart heranholen, ‚vergegenwärtigen‘, lassen wir mehrere Zeitebenen übereinander laufen.
Dasselbe gilt auch kollektiv für die Geschichte und die Geschichtskultur: In bestimmten Situationen werden bestimmte Epochen der Geschichte besonders aktuell. Wir finden
5 Einleitender Artikel der Herausgeber S. 1–25. Vgl. ferner die Vorlesungsunterlagen ‚Zeit und
Quantenmechanik‘ von Gerd Röpke (2002).
6 Olding 2006, Minuten 42f.
838
Thementeil
solche Brennpunkte des Interesses in wissenschaftlichen Untersuchungen, in populären
Darstellungen, in Bildern und Filmen: gegenwärtig beispielsweise die Entstehung und
Evolution der Menschen, die alten Hochkulturen, die Entdeckungsfahrten, die Mongolen
und Hunnen, die Weltwirtschaftskrise, den Holocaust und die Zeit des Kalten Krieges.
Bestimmte Ausschnitte aus der Vergangenheit sind für uns in einer bestimmten Gegenwartssituation ganz besonders wichtig, während andere Epochen der Geschichte
eher im Windschatten liegen und nur antiquarisches Interesse genießen. Erst durch unser Interesse entsteht aus Vergangenheit Geschichte, entstehen Bilder. Wie es Jörn Rüsen ausdrückt: „Historisches Denken macht aus Zeit Sinn“ (Rüsen 1990, S. 11).
Bild
Es sind also aktuelle Problemlagen, die uns
veranlassen, uns aus der Geschichte Bilder
zu machen, welche unser Handeln heute
beeinflussen können. Dabei kann Bild im
übertragenen Sinn von ‚Vorstellung‘ verstanden werden, aber durchaus auch im
wörtlichen. Ein bekanntes Bild ist die Fotografie einer Gruppe von Jüdinnen und Juden, die am Ende des Warschauer GhettoAufstandes im Mai 1943 abgeführt wurden; dies wegen des unidentifizierten Jungen, der vor dem Gewehr des SS-Mannes
Joseph Blösche seine Hände hebt (Abb. 2). Abb. 2: Fotografie 14 im Stroop-Bericht mit
der originalen Legende (der Kontrast
Dieses Bild wird in immer wieder anin der Legende wurde bei der
deren Zusammenhängen reproduziert, um
Bearbeitung verstärkt).
entsprechende Botschaften zu untermauern. Treffend hat Christoph Hamann dafür
den Begriff ‚Wechselrahmen‘ geprägt (Hamann 2000, S. 727ff., 2002):7 Das Bild (in
unterschiedlichen Ausschnitten) ist zwar immer dasselbe – aber es wird auf einen Kontext zugeschnitten neu gerahmt. Einige Beispiele:
●
●
In einem Ausstellungsplakat für die Berliner Gedächtnisausstellung „Die Vergangenheit mahnt“ von 1960 wird ein Zusammenhang zwischen dem jüdischen Knaben
und Einstein hergestellt: Die Verfolgung des Knaben erscheint stellvertretend als Akt
gegen das, was Einstein verkörpert: Genie, Fortschritt und Friede.
Die Installationskünstlerin Judy Chicago montiert in ihrer Installation „Un/Gleichgewicht der Macht“ 1991 den Knaben im Zentrum von Bildern mit Gewalt an Kindern, um auf die asymmetrische Machtverteilung überall in der Welt hinzuweisen.
7 Die nachfolgend resümierten Beispiele sind teilweise aktualisiert.
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
●
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●
839
Samuel Bak nimmt in seiner „Studie F“ aus „Landschaften jüdischer Erfahrung“ aus
dem Jahr 1995 dem Knaben die Gesichtszüge und die knabenhaften Kniesocken, um
darauf hinzuweisen, dass Verfolgung und vielleicht auch Kapitulation generell zur
jüdischen erinnerten Geschichte gehören.
Alan Schechner montiert 2003 dem nur noch durch Gesicht, Mütze und eine Hand
repräsentierten Knaben in „The Legacy of Abused Children: From Poland to Palestine“ eine Fotografie mit einem von israelischen Soldaten abgeführten, vor Angst die
Hosen nässenden Palästinenserknaben.8 Das Bild erhält in diesem Zusammenhang
einen antizionistischen Vorwurf unterlegt: „Ihr Juden/Jüdinnen verantwortet nun
dasselbe, was euch zugefügt worden ist.“ Dass allerdings der Knabe zuvor Steine auf
die Soldaten geworfen hatte, hat zu einer heftigen Diskussion über diesen Wechselrahmen geführt.
Gerade umgekehrt argumentiert die Holocaust-Überlebende Yala Korwin im 1987
zum Bild verfassten Gedicht „The little Boy with his Hands up“: Für sie ist die durch
das Bild repräsentierte Entwicklung Ursache und Rechtfertigung des Zionismus.9
War das Bild ursprünglich ein Zeugnis für den Holocaust gewesen, so dient es – als Erfahrung bewertet und als Erlebnis erinnert – zur Vergegenwärtigung unterschiedlichster
Themen in der aktuellen Zeit. Aber schon seine erste Vergegenwärtigung als HolocaustZeugnis blendet meist und in den Schulgeschichtsbüchern immer aus, dass es sich um
eine Täterfotografie handelt; der Auftraggeber des nur mit den Initialen F.W. bekannten
Fotografen war der Kommandant dieser schrecklichen Ghetto-Räumungsaktion, SSGruppenführer Jürgen Stroop; er ließ unter das Bild die Legende „Mit Gewalt aus Bunkern hervorgeholt.“ setzen, eine Legende, die ebenfalls meist ausgeblendet wird, weil
sie nicht mehr in die ‚Wechselrahmen‘ passt, in die man das Bild setzt (Stroop 1943,
Bild 14).10 Die Herauslösung des Bildes
aus seinem Zusammenhang ist so komplett, dass sich die Forschung nicht dafür
interessiert, es mit der Fotografie Nr. 7
desselben Albums in Verbindung zu bringen; darauf wird dargestellt, wie die möglicherweise teilweise gleichen Menschen
wenig später abgeführt werden.
Es ist offenbar kein Bedürfnis vorhanden, einen Ablauf im Schicksal des Kna- Abb. 3: Der Beizug eines historischen Bildes
ben zu rekonstruieren. Auch die Tatsache,
für Botschaften der Gegenwart.
8 http://dottycommies.com/holocaust10.html [09.06.2010].
9 www.yalakorwin.com/FromMyBook.html [09.06.2010].
10 Das nur in drei Exemplaren hergestellte Album diente dazu, Stroop bei Heinrich Himmler in
ein gutes Licht zu stellen und für weitere Aufträge zu empfehlen. – Das Bild ist unterdessen
oft besprochen worden, so oft, dass wir es in einer neuen Publikation unternommen haben,
den Knaben abzudecken, um darauf hinzuweisen, dass wir eigentlich nur noch ihn ins Auge
fassen oder vielleicht als Ikone nicht einmal mehr betrachten (Dreier u.a. 2008, Umschlag).
840
Thementeil
dass sich bis heute vier Männer in diesem wiedererkannt haben, zeigt, dass das Bild universal geworden ist und sich aus dem historischen Kontext gelöst hat (Abb. 3).
Bei unbekannten Bildern kann dieser
Prozess der Isolierung aus der Geschichte
zu einem Bedeutungsverlust führen. Ein
Beispiel: Eine aus einer Hinterlassenschaft ans Archiv des Kulturhistorischen
Vereins Ettingen (CH) übergebene Fotografie scheint uns als solche trivial und
bedeutungslos (Abb. 4).
Erst auf der Rückseite eröffnet eine handschriftliche Notiz die tragische Geschichte: „Unter diesen Baumstamm gerieten Basil Kron und F. Pflugi auf der
Schulreise nach Magglingen ca. 1938“.
Mindestens Friedrich Pflugi wurde dabei
erdrückt! Erst durch diese Verankerung
im historischen Zusammenhang gewinnt
das Bild einen Erlebnis- (Betroffenheit)
und einen Erfahrungswert (nicht auf
Baumstämmen im abschüssigen Gelände
spielen). Und über das historische Ereignis dieses Unglückfalls hinaus macht uns
das Bild sensibel dafür, dass hinter banalen Schnappschüssen und harmlosen
Baumstämmen ganze Geschichten lauern
(Abb. 5). Die Fotografie bringt uns diesen
Unglücksfall vor über 70 Jahren näher, als
Worte es vermögen.
Bilder können aber nicht nur einen Augenblick festhalten, den wir später nicht
mehr verstehen, sondern auch – ohne Legende und Erklärung – eine ganze Geschichte erzählen. In Zeichnungen ist die
Integration mehrerer aufeinanderfolgender Zustände möglich wie beispielsweise
im berühmten Stich von Theodor de Bry
über Kolumbus’ Begegnung mit den Einwohnern/Einwohnerinnen von Guanahany (Abb. 6).
Abb. 4: Aus dem geschichtlichen Zusammenhang herausgelöste und damit ihrer
Bedeutung verlustig gegangene
Fotografie (Ettingen, Archiv KHV,
Nr. 336).
Abb. 5: Das in Abb. 4 gezeigte Foto hat
seinen Erlebnis- und Erfahrungswert
verloren und gewinnt ihn wieder, wenn
es auf der Ereignisebene wieder
kontextualisiert wird.
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
841
Hier Abb. 6 einfügen (ganz normal!!!!)
Abb. 6: Mögliche Lesart des Stiches von Theodor de Bry: Kolumbus‘ Landung in Guanahani,
1594: 1: Kolumbus’ erste Begegnung mit den Indios, 2: Aufstellen eines Kreuzes,
3: Jagd auf Indios, 4: ihre Verfrachtung auf die Schiffe, 5: Flucht der Indios in die Wälder.
In Serienbildern können sogar anspruchsvolle Vor- und Rückgriffe vorkommen. So
wird im Wandteppich
von Bayeux im Bild 33
der
verhängnisvolle
Komet über der Herr- Abb. 7: Bilder 23 und 33 im Wandteppich von Bayeux (2. Hälfte
schaft des Königs Hades 11. Jahrhunderts): Der Betrachter bei der Ablegung
des Vasalleneids durch Harald Godwinson in Bild 23 weist
rald gezeigt, auf den
auf den Unglück verheißenden Kometen hin, der dann in
schon zehn Bilder früBild 33 erscheint.
her bei dessen Zeremonie des Vaselleneids ein
Betrachter hingewiesen hat (Abb. 7) (vgl. Kuder 2005, S. 3ff.).11
11 Kleinere Geschichten wie Bewegungen können noch einfacher in Bildern zur Darstellung
gebracht werden: in Comic-Zeichnungen durch entsprechende Zeichen (Striche in der Bewegungsrichtung, Wölkchen bei einem rasanten Start), oder in Fotos durch gerichtete Unschärfe.
842
Thementeil
Wenn wir den Teppich von Bayeux betrachten, erhalten wir zuerst Einzelereignisse vermittelt, die uns an sich wenig sagen; sobald wir aber die zwischen den Einzelbildern ablaufende Geschichte verstehen, wird das Bild zu einem Erlebnis (oder sogar einer Erfahrung).
Der Erlebnis- und Erfahrungswert von
Einzelbildern können wir auch erhöhen,
indem wir mehrere aneinander reihen, die
nicht einmal im Zusammenhang zueinander aufgenommen worden sind. Die ‚History Helpline‘, ein Unterrichtsservice für
Geschichtslehrer/innen, bereitet beispielsweise für die Erzählung des Ablaufes des
Zweiten Weltkrieges zehn Fotografien mit
einem Ikonen-Charakter auf (Abb. 8).
Die Schüler/innen werden so anhand
von Zusammenhängen zwischen den Bil- Abb. 8: Aus Bildern konstruierter Ablauf des
dern durch den Ablauf geführt. Jedes Bild
Zweiten Weltkrieges (‚History Helpsteht dabei in einem künstlich hergestellten
line‘, Unterrichtseinheit 31, Mai 2009,
www.historyhelpline.ch).
Zusammenhang zu den zeitlich benachbarten. Auch hier stehen Bilder gleichsam als
kondensierte Momente des Ablaufs; mit der Verbindung zwischen ihnen wird die Zeit dazwischen, wenngleich nicht sichtbar, so doch durch Interpolation erfahrbar gemacht.
Bilder können also dann ein Erlebnis oder eine Erfahrung aus der Vergangenheit vermitteln, wenn sie selbst authentisch in dieser Vergangenheit verwurzelt sind. Im Prinzip
geschieht diese Vermittlung von Erlebnis und Erfahrung nach drei Methoden: durch
Neudeutung eines Bildes (‚Wechselrahmen‘, Abb. 2), durch Kontextualisierung eines
an sich aussagelosen Bildes (gewissermaßen eine ‚Rahmung‘, Abb. 4) und durch die
Kombination von Bildern zu einem Ablauf, damit zu einer Konstruktion von Geschichte
(gewissermaßen eine ‚Assortierung‘, Abb. 8).
Film
Besonders stark wirkt diese Assortierung dann, wenn sie schon bei der Herstellung der
Bilder beabsichtigt worden ist, wie beim Teppich von Bayeux oder bei Serien-Fotografien. Ein unbekannter Fotograf schoss im Auftrag des Kommandos der 707. deutschen
Infanteriedivision am 26. Oktober 1941 sieben Fotografien über den letzten Gang von
zwei Widerstandkämpfern und einer Widerstandskämpferin im besetzten weißrussischen Minsk bis zu ihrer Erhängung (Hamburger Institut für Sozialforschung 2002 bzw.
Tec/Weiß 1999).12 Diese sieben Fotografien werden oft hintereinander gereiht gezeigt,
12 Bilder 1 und 3: Hamburger Institut für Sozialforschung 2002, S. 476; Bild 2: Tec/Weiß 1999,
S. 322ff.
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
gerade auch in Dokumentarfilmen (vgl.
Thiel/Heer 1997; Verhoeven 2006; Kade
2010).13 Der Ablauf, die Geschichte, erscheint so logisch, dass der Zuschauer
oder die Zuschauerin sich von einem Bild
zum nächsten die Geschichte selbst wie in
einem Film rekonstruieren kann. Die erste
Fotografie zeigt die siebzehnjährige Masha Bruskina, deren Name bis heute in
Weißrussland nicht offiziell anerkannt ist
(sie war eine Jüdin) mit zwei Widerstandskämpfern und einem Plakat um den Hals,
auf dem die drei als Partisanen bezeichnet
werden (Abb. 9). Das zweite Bild zeigt
die drei auf dem Weg zur Hinrichtung am
Fotografen vorbeigehen. Dann musste
Masha Bruskina – so die dritte Fotografie – auf einen Hocker steigen, und ein Offizier (Offiziere hatten die Hinrichtung als
so genannten ‚Ehrendienst‘ gleich selbst
übernommen) legte ihr den Strick um den
Hals. Dabei wandte sich Masha Bruskina
immer wieder diesem Offizier zu und vom
Publikum ab, was völlig untypisch ist und
durch den Augenzeugen Pjotr Borisenko
bestätigt wird: Sie drehte sich immer wieder um, weil sie nicht dem Publikum zur
Schau gestellt werden wollte. Nach diesem dritten Bild darf also der ‚BilderFilm‘ eigentlich nicht weiterlaufen. Trotzdem werden die folgenden Fotografien
mit der gehängten Frau und ihren beiden
Gefährten sehr oft gezeigt. Offensichtlich
ist das Bedürfnis nach Erlebnis und Erfahrung stärker als der Respekt vor dem
Zeige-Verbot, das Masha Bruskina als
letzte Botschaft hinterlassen hat.
843
Abb. 9: Hinrichtung von Masha Bruskina in
Minsk, 26. Oktober 1941, erste drei
Bilder.
13 Filmbeispiele: Thiel/Heer 1997, Ansage durch Hervé Claude, Minute 2; Verhoeven 2006,
Minute 8:30.
844
Thementeil
Dieses Beispiel zwischen Einzelbild und
Film zeigt exemplarisch die Faszination
durch aufeinanderfolgende Bilder auf: Serienbilder potenzieren gewissermaßen die
Erlebnisse und Erfahrungen, weil sie erstens stärker als Einzelbilder aus sich heraus Vergangenheit zu Erlebnis oder Erfahrung werden lassen und zweitens durch
die Raffung der Zeit zu verdichteten Geschichten die Spannung erhöhen (Abb. 10).
Für Schüler/innen (und wohl auch für
das große Publikum von Dokumentarfil- Abb. 10: Die Steigerung von Erfahrung und
Erlebnis durch die Zeitraffung.
men) ist die durch Filme erzählte Geschichte geradezu identisch mit der Vergangenheit. Dagegen begeistert sich niemand für die Aufzeichnungen einer Bank-Überwachungskamera, solange dort die Geschichte unverdichtet abgebildet wird. Nur der
Abschnitt über einen gefilmten Überfall stößt auf Interesse. Dokumentierende Filme14
haben also deshalb einen besonders hohen Erlebnis- und Erfahrungswert, weil sie besonders konzentriert eine als authentisch empfundene Vergangenheit vermitteln. Die
Assortierung von Bildern zu Filmen erweist sich als mächtiges Instrument, um als echt
anerkannte Vergangenheit zu Erlebnissen und Erfahrungen werden zu lassen.
Allerdings ist die Gleichsetzung von Vergangenheit und Film als dessen Abbildung
dann ein gefährlich vereinfachender Vorgang, wenn den Schülerinnen und Schülern
nicht bewusst wird, dass auch dokumentierende Filme gestaltete Geschichten und ihre
Regisseure/Regisseurinnen bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse vermitteln wollen.
Die Kenntnis der Gestaltungsstrategien kann helfen, den Unterschied zwischen einem
Film und der von ihm dargestellten Vergangenheit bewusst werden zu lassen. Ein Ziel
des Geschichtsunterrichts, Mündigkeit gegenüber und in der Geschichtskultur, wird dadurch gefördert.
Angelehnt an die Theorie von Bill Nichols (vgl. Nichols 1995, S. 149ff., 2001)
und diese erweiternd bzw. vereinfachend
unterscheidet das folgende Modell sechs
Strategien oder Modi der Dokumentarfilmenden, um Vergangenheit zu authentischer Geschichte zu verdichten. In ihrer
Entstehung folgen sich diese Modi chro- Abb. 11: Modell der Entwicklung der Dokumentarfilmstrategien (nach Bill
nologisch (oft an technische ErrungenNichols, weiter entwickelt).
14 Es wird hier unterschieden zwischen den Begriffen ‚Dokumentarfilm‘ als einer Selbstcharakterisierung von Filmen und ‚dokumentierenden Filmen‘ etwa auch in Nachrichtensendungen
oder gar in Werbefilmen, welche im Prinzip auch die Dokumentarfilm-Funktion übernehmen,
ohne den Anspruch darauf explizit zu verkünden.
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
845
schaften geknüpft), lösen sich aber nicht ab, sondern erweitern das Spektrum der Möglichkeiten, Vergangenheit als Geschichte zum Erlebnis oder zur Erfahrung werden zu
lassen (Abb. 11):
1. In der so genannten Stummfilmzeit dominierte der poetische Modus: Die aus technischen Gründen statisch aufgenommenen Bilder mit langen Einstellungen sowie der
fehlende Kommentar lassen uns als Filmbetrachter/innen Zeit, uns aus den Bildern
unsere eigene Geschichte zu machen. Entgegen dem allgemeinen Vorurteil sind wir
ja nicht einfach passive Konsument/innen, sondern drehen gewissermaßen einen eigenen Film mit (vgl. Kloepfer 1982, S. 375).15 – Zur Illustration am Beispiel der
‚Filmbilder‘ über die Hinrichtung von Masha Bruskina: Zwischen den drei Bildern
in Abbildung 9 stellen sich die Bildbetrachter/innen weitere vor, so dass eine fugenlose Geschichte entsteht. Gerade durch diesen aktiven, im Wortsinn ‚poetischen‘
Prozess – ‚poiesis‘ als ‚Erschaffung‘ – identifizieren sie sich besonders intensiv mit
der Handlung.
2. Mit der Möglichkeit der Lichttonspur erweiterte der Film seit 1930 seine Möglichkeiten um einen auf dem Filmstreifen abgespeicherten, separat aufgenommenen
Kommentar, der die Bilder beschreibt und durch sie bestätigt wird. Dieser so genannt expositorische Modus wurde im Zeitalter der ideologischen Auseinandersetzung zwischen 1930 und 1960 besonders oft eingesetzt, weil sich damit weltanschauliche Überzeugungen in Dokumentarfilmen verkünden ließen. – Zur Illustration an unserem Beispiel: Zu den drei Bildern in Abbildung 9 wird ein Kommentar
gesprochen (in diesem Beitrag ist er schriftlich verfasst), der zusätzliche Informationen einbringt und die Sichtweise der Betrachtenden steuert.
3. Die um 1960 auch für den professionellen Film akzeptierte portable 16mm-Bildkamera mit Batteriestromversorgung ermöglichte das Filmen nicht gestellter Szenen,
die Kamera-Eigengeräusch-Unterdrückung und das Kravattenmikrophon die Aufnahme von Originalton. Dementsprechend wurden die sechziger Jahre dominiert
von der Strategie des ‚Direct Cinema‘ (USA) bzw. des ‚Cinéma Vérité‘ (Frankreich)
mit dem Anspruch, durch Registrieren der nicht gestellten Realität wirklich wahre
Geschichten abzubilden. Im Extremfall figurierte die Kamera auch unabhängig von
einer Kameraführung direkt als Überwachungskamera. Dieser beobachtende Modus
prägt den heutigen Dokumentarfilm in der Geschichtskultur. – Zur Illustration: In
unserem Beispiel (Abb. 9) können wir uns einen Fachmann oder eine Zeitzeugin
vorstellen, welche/r im Film auftritt und die drei Fotografien erläutert (vgl. Kade
2010).16
4. Die Einsicht, dass eine solche objektive Beobachtung nicht möglich, sondern mindestens in ihrem örtlich festgelegten Ausschnitt und ihrem zeitlichen Anfang und
Ende durch den Beobachter/die Beobachterin bestimmt ist, führte in den siebziger
15 Rolf Kloepfer bezeichnet diese schöpferische Tätigkeit der Filmbetrachtenden im Wortsinn
sehr zutreffend als Sympraxis.
16 Filmbeispiel aus dem Internet.
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Thementeil
Jahren dazu, die Regie in den Film einzubeziehen. Nicht die Aussage der beobachteten Personen, sondern ihre Interaktion mit dem Interviewer erschien als ein Stück
weit authentischere Realität: interagierender Modus (vgl. Nichols 2001, S. 33).17
Die Talkshows griffen zur gleichen Zeit auf diese Strategie zurück. – In unserem
Beispiel von den Bildern der Hinrichtung der Masha Bruskina: ein kontroverses Gespräch über die Anerkennung ihrer Tat und Haltung durch die heutige weißrussische
Gesellschaft und Politik.
5. Doch auch ein gefilmtes Gespräch ist arrangiert, das heißt, dem Betrachter oder der
Betrachterin wurde vorenthalten, wie es zustande gekommen war; also musste der
Film auch seine eigenen Hintergründe, die Interessen der Beteiligten und die Absprachen, offenlegen. Dank der Videotechnik war es ferner möglich, Gefilmtes
gleich wieder den Gefilmten vorzulegen und sie darüber reflektieren zu lassen. Dieser reflexive Modus machte in den achtziger Jahren die Geschichte des Films zu
einem Teil seines Inhalts. – In unserem Beispiel (Abb. 9) drängt sich die Frage auf,
ob Täter-Bilder wie die Fotos der Gehängten gegen deren letzten Willen reproduziert
werden dürfen.
6. Seit 1991 besteht die Möglichkeit der digitalen Bildaufnahme, -verarbeitung und
-bearbeitung. In den neunziger Jahren konnten gefilmte Bilder nachretouchiert, aber
auch nicht filmbare Geschichten als ‚reenactment‘ nachgestellt und in den dokumentarischen Teil eines Films eingefügt werden. Die Fähigkeit des Films, eine Geschichte auch im nicht direkt darstellbaren Bereich zu erzählen, verstärkt im performativen Modus seine Authentizität. Diese wird nicht mehr allein auf den abgespielten Filmstreifen zurückgeführt, sondern auf den durch ihn veranlassten, im Kopf der
Betrachtenden ablaufenden Film. – Im genannten Beispiel könnten die Bilder über
die Hinrichtung der Masha Bruskina ergänzt werden durch Spielszenen über ihre
Widerstandsaktionen im Spital vor deren Entdeckung oder durch eine Computersimulation des letzten Weges, den die drei gehen mussten.
Die systematische (und damit immer auch künstliche) Einteilung der Strategien bzw.
Modi, mit denen dokumentierende Filme Vergangenheit in als Erlebnis und Erfahrung
relevante Geschichte verwandeln, kann das Bewusstsein dafür schärfen, dass Bilder
eine Brückenfunktion für die Vermittlung von Geschichte übernehmen können: Sie sind
einerseits in der Vergangenheit verwurzelt, andrerseits für die Betrachtenden aber bedeutungsvoll.
Schlussfolgerung
Bild- und Filmquellen stehen bei der Repräsentation von Vergangenheit in einem Spannungsfeld: Sie müssen in ihrem historischen Kontext, gewissermaßen der linearen Zeit,
17 Nichols verwendet den Begriff participatory mode. Die hier vorgeschlagene Begriffsdefinition vermeidet ihn, weil er nicht klärt, wer im Film partizipiert.
Utz: Geschichtsunterricht: Zeit + Bild + Film
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erfassbar sein und damit authentisch wirken. Sie müssen aber auch zu einem Erlebnis
oder gar einer Erfahrung für die Betrachtenden gestaltet werden, damit sie nicht antiquarisches Material bleiben. Das heißt, sie müssen aus einer tiefer liegenden Zeitebene
an die Oberfläche kommen und für die Betrachtenden bedeutungsvoll werden. Aus sich
heraus generieren Bilder diese Wirkung nur selten, nur dann nämlich, wenn sie eine Geschichte erzählen. Ist das nicht der Fall, werden Bilder dadurch mit Bedeutung aufgeladen, dass sie mit einer Botschaft verbunden (‚Wechselrahmen‘), dass sie kontextualisiert (‚Rahmung‘) oder mit anderen Bildern in einen Zusammenhang gebracht werden
(‚Assortierung‘). Auch dokumentierende Filme können nur bedeutungsvoll werden und
authentisch bleiben, wenn sie nach bestimmten Strategien bewusst gestaltet werden.
Diese Gestaltungsstrategien müssen den Filmbetrachtern/Filmbetrachterinnen bewusst
sein. Nur dann kann ihnen klar werden, dass ein dokumentierender Film nur insoweit
dokumentiert, als sie ihn als dokumentierend anerkennen. Deshalb werden hier sechs
Strategien identifiziert und unterschieden, welche in den Filmen einzeln oder (meist) ineinander verflochten erkannt werden können. Die Bilddidaktik muss um eine Filmdidaktik in dieser Richtung erweitert werden.
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Abstract: In the processing of history, pictures of the past fulfill the function of condensing historical events into experiences in the eye of the observer. When the viewers evaluate these experiences they can, in turn, gain experience and are thus able to add to their
wealth of experience. The pictures become meaningful to them. However, this presupposes that the pictures appear to be authentic, i.e. that they are placed within a historical
context recognized and acknowledged to be real. The following contribution examines in
how far pictures are up to this double challenge of meaningfulness and authenticity. Then,
a transfer is made to films which are regarded as serial pictures strung together by the
producer. In order to turn films into something simultaneously authentic and meaningful,
filmmakers employ different strategies. The author develops a systematic, historically anchored classification.
Anschrift des Autors
Prof. Dr. Hans Utz, Pädagogische Hochschule FHNW, Riehenstrasse 154, CH-4058 Basel
E-Mail:
[email protected]