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Gießener
Universitätsblätter
41 | 2008
Thomas Daiber
Bild, Schrift, Kulturpraxis
„eikon“ (griech.) oder „ikona“ (russ.) bezeichnen das zur Verehrung bestimmte Tafelbild der
Ostkirche. Seit dem 3. Jahrhundert wurden Bilder christlicher Heiliger und Märtyrer, später
auch Bilder von Jesus Christus angefertigt. Erst
ab dem 6. Jahrhundert aber wissen wir von der
ersten Proskynese vor einer Ikone. Seit diesem
Zeitpunkt, als man begann, sich zu dem Bild so
zu verhalten, als ob die dargestellte Person
selbst gegenwärtig sei, ab dem Zeitpunkt der liturgischen Verehrung des Bildes also entstand
der byzantinische Ikonoklasmus und vertiefte
sich die Kluft zwischen der Bilderpraxis in Ostund Westeuropa. Der Streit um die Verehrungswürdigkeit des Bildes kann als Streit um
seine semiotische Qualität verstanden werden.
Die Frage lautet: Kann es eine Bildsprache
geben, welche die Präsenz und damit auch die
Existenz des Dargestellten impliziert?
Die Frage klingt leicht abwegig, aber man
kommt dem Phänomen der Ikone nur dann
nahe, wenn man den semiotischen Anspruch
des Bildkonzeptes in seinem ganzen Ausmaß
zur Kenntnis nimmt. Dies erst eröffnet die
Möglichkeit, das Phänomen der Ikone auch
unter kultursemiotischer Perspektive zu beleuchten. Das ostkirchliche Tafelbild mit dem
Namen „Ikone“ ist ein kulturspezifisches Phänomen, eine „symbolische Form“ einer Gesellschaft, wie Cassirer dies nannte, also ein multifaktoriell sich historisch ausbildendes Denkund Wahrnehmungsmuster. Wie der Begriff
Cassirers nahelegt, sind die symbolischen Formen einer Gesellschaft keine Produkte, sondern „Modi“. Im Laufe der russischen Ikonenmalerei bildeten sich spezifische Vermittlungsstrategien von Schrift und Bild heraus, welche
sich nicht nur auf einzelnen Ikonen manifestieren, sondern vielmehr als Kulturpraxis die
Rezeption von Schrift und Bild präformieren.
Dieser Beitrag möchte die Vermittlungsstrate-
gie von Schrift und Bild auf Ikonen als eine solche Präformierung darstellen.
Der von kunstwissenschaftlicher Seite ausgearbeitete Begriff des „Bildkonzeptes“ (Belting
1990) soll als kulturspezifisch codiertes Medium (vgl. Posner 2003, 45) verstanden werden.
Die Ikone ist, so die hermeneutische Annahme,
ein kulturspezifischer Code, der die Rezeption
der Medien Schrift und Bild präformiert. Wenn
wir uns erlauben, ein „Bildkonzept“ als einen
„Code“ aufzufassen, müssen wir uns vorab
darüber verständigen, was an der Ikone zeichenhaft im Sinne eines Codes aufgefasst werden kann.
Zeichenbegriff
Die ontologische Unterscheidung von Zeichen
„nach Maßgabe ihres Grundes“, wie sie Charles S. Peirce vorgeschlagen hat, wird für Untersuchungen von primär visuell zu rezipierenden
Werken oft herangezogen, etwa bei Bal
(2006). Peirce unterscheidet ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen. Ein ikonisches Zeichen besitze, so Peirce, an sich selbst
eine Eigenschaft, durch die es signifikant wird,
auch wenn das Objekt, das damit denotiert
werden könnte, nicht existiert. Als Beispiel
dient eine Bleistiftlinie, die aufgrund von Ähnlichkeit das Zeichen einer idealen geometrischen Linie sein kann, aber an sich selbst auch
bereits deren Eigenschaften aufweist. Ein indexikalisches Zeichen dagegen verweise wie eine
Folge auf den sie verursachenden Grund, ist
das Zeichen seiner eigenen Ursache und wäre
folglich überhaupt kein Zeichen, wenn die Ursache, auf die es verweist, nicht existierte. Als
Beispiel dient ein Einschussloch, das als Zeichen
auf seine eigene Hervorbringung, den Schuss,
verweist. Das symbolische Zeichen schließlich
sei nur deshalb Zeichen, weil es konventionell
47
Abb. 1: Die heilige Maria von Ägypten, um 1850. Aus: Althaus/Koch/Zacharuk 1991, 240 = Nr. 115; Originalmaße
30,9 x 26,5 cm
als solches gebraucht werde. Ohne entsprechende Interpretanten ist das symbolische Zeichen ebenfalls kein Zeichen, sondern bedeutungsloses Sein. Als Beispiel dient der Sprachlaut, der qua Konvention Bedeutung trägt. Die
von Peirce vorgeschlagene Unterscheidung der
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drei Arten von Zeichenhaftigkeit wird gerade in
kultursemiotischen Arbeiten verstärkt herangezogen, da dem konventionellen Zeichen, also
dem Symbol, hier zwei weitere Zeichenarten
zur Seite gestellt sind, welche vor allem dem visuellen Medium zugehören. Der prototypische
Fall des ikonischen Zeichens ist das visuell
Charakteristische, der prototypische Fall des
indexikalischen Zeichens ist die visuell wahrnehmbare Spur. Allein beim symbolischen Zeichen bekommt das akustische Medium, die
natürliche Sprache, den Vorrang des prototypischen Vertreters, weil die Bedeutung eines
konventionalisierten Zeichens, in welchem Medium es auch immer realisiert wird, immer nur
sprachlich ausgedrückt werden kann.
Eine Musterikone
Als Beispiel für die Darstellung des Ikonencodes
diene eine relativ junge Ikone, die in Russland
etwa um 1850 gemalt wurde und sich heute im
Ikonenmuseum in Frankfurt a. M. befindet. Die
Ikone (Abb. 1) zeigt uns die Hl. Maria von
Ägypten mit Szenen aus ihrem Leben.
Die Ganzfigur der Maria Aegyptiaca in ihrer die
Gesamthöhe des Bildmittelfelds durchragenden Größe und in ihrer Positionierung auf der
Bildmittelachse fällt zunächst in die Augen. Figurenmaß, strahlend weiße Nimbierung sowie
hell leuchtende Bekleidung erzielen visuelle
Dominanz. Im Gegensatz zu den Personen in
den vier den Bildecken zugeordneten Szenen
aus dem Leben der Maria besitzt die Mittelfigur
überlebensgroße Maße. Eine Relation zwischen
der statuarischen Mittelfigur und den kleineren
Figuren der Szenen ergibt sich nur durch die
Landschaftskulisse mit den angedeuteten Hügeln und dekorativen Bäumen (möglicherweise
zum Lokalkolorit passende Palmen), die dem
Bild eine gewisse räumliche Tiefe verleiht. Bei
genauem Hinsehen wird aber jedem illusionistischen Eindruck einer dreidimensionalen
Räumlichkeit von einzelnen Bilddetails widersprochen. So ist beispielsweise ein der (hier wie
überall vom Betrachter aus gesehen) linken
oberen Bildecke zuzuordnender Baum unverhältnismäßig groß im Vergleich zu dem auf der
rechten Bildhälfte unten sichtbaren. Auch ist
die dominierende Mittelfigur nicht realistisch
auf einen festen Untergrund gestellt, sondern
scheint eher zu schweben. Die rechte obere
Szene, in der die Figur der Maria tatsächlich in
der Luft zu stehen scheint, ist allerdings von der
Frage der Raumrealistik auszunehmen, denn
hier soll tatsächlich dargestellt werden, wie der
geistige Mentor der Maria diese einstens
schweben gesehen habe. Die Abbildung des
„Stehens in der Luft“ ist aber wieder zu vergleichen etwa mit der knieenden Figur des hl.
Zosim in derselben Szene, welche unverbunden mit dem gemalten Untergrund erscheint.
Der Wille, jede räumlich-illusionistische Darstellung zu vermeiden, ist kennzeichnend für die
ästhetische Gestaltung des Bildkonzeptes der
Ikone und wird gerne mit Pavel Florenskij als
„umgekehrte Perspektive“ bezeichnet. Typisch
ist besonders die linke obere Bildszene. Die hl.
Maria von Ägypten lebte 17 Jahre als Prostituierte in Alexandria, ehe sie sich nach einem Bekehrungserlebnis in der Wüste als Anachoretin
kasteite. Nach 40 Jahren vollbrachten Einsiedlerdaseins wurde sie von dem Abt Zosim in der
Wüste entdeckt und über die theologischen
Grundlagen ihrer Bekehrung unterrichtet. Die
Szene zeigt, wie der Abt der nackt in der Wüste
lebenden Heiligen ein Gewand reicht, dabei allerdings schamvoll den Kopf zur Seite wendend
und die Augen vor dem nackten Frauenkörper
mit der Hand bedeckend. So jedenfalls erklärt
die Beischrift auf dem Bildrand links der Szene:
„Der selige Vater, der ehrwürdige Zosim, gibt
seinen Mantel der seligen Maria von Ägypten,
aber schaut dabei weg.“ Auf der Ikone beschirmt der Abt Zosim die Augen nicht in
Richtung des nackten Frauenkörpers, sondern
vielmehr in entgegengesetzter Richtung. Realistisch wahrgenommen will die bildliche Darstellung zu ihrer eigenen Legende nicht passen.
Genau dies aber ist eine konsequente Anwendung der „umgekehrten Perspektive“, wo alles
zur Einheit von Vorder- und Hintergrund und
zur Aufhebung der illusionistischen Raumdarstellung drängt. Das Gesicht des so wie seine
Schülerin ebenfalls heiligen Abtes darf nicht
abgewendet dargestellt sein, damit erstens
nicht der illusionistische Raumeindruck entsteht, und damit zweitens nicht das Antlitz
einer verehrungswürdigen Person verdeckt ist,
denn die Verehrung muß als Ziel das Antlitz des
Dargestellten anstreben können (dazu ausführlich Tarasov 1995, 360ff.).
Die Ikone ist ein Abbild heiliger Personen,
wobei mit dem Begriff „heilig“ bezeichnet
49
werden soll, dass Personen und Vorgänge nur
unter der Perspektive einer gläubigen Anerkenntnis des göttlichen Wirkens in der Welt
dargestellt werden. Wie eine nicht mehr nötige
Bekräftigung dieser Aussage wirkt es, dass auf
unserer Ikone noch der als solcher durch die
Schrift identifizierte „Allmächtige“ auf dem
oberen Bildrand dargestellt ist. Die inneren Bezüge der Ikone geben den Begriff der Heiligkeit
vor, der angezielt ist: In der „umgekehrten“
Perspektive wird Heiligkeit vorgeführt als Einbettung in eine zeitlos gültige, ewige und vorbildliche Ordnung.
Darstellungsform als Code
Unter welchem der drei Zeichenbegriffe von
Peirce kann nun die Ikone verstanden werden?
Der ikonische Zeichenbegriff beruht auf der
Ähnlichkeit des Zeichens mit seinem Denotat,
und genau diese Ähnlichkeit weist die klassische Ikonenästhetik andauernd von sich. (Die
im allgemeinen Bewusstsein ohnehin nicht mit
„Ikone“ assoziierten realistischen Tafelbilder
des 18. und 19. Jhs. – Beispiele in Tarasov 1995
– dürfen als Sonderfall ausgeklammert bleiben.) Alles auf Ikonen ist erkennbar, aber zugleich so gemalt, dass dem Betrachter klar
wird, dass gerade die Ähnlichkeit mit empirisch
bekannten Objekten nichts gelten soll. Unter
jeder Ikone könnte stehen, dass jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen rein zufällig sei. Die
einzelnen Bildelemente auf Ikonen sind nichtikonisch im Sinne von Peirce, insofern ein realistisches Ähnlichkeitsverhältnis von der Ästhetik
des Bildes andauernd bestritten wird.
Der gesamte Bildcode der Ikone allerdings führt
sich selbst als Zeichen in das Bild ein, dergestalt
nämlich, dass das Dargestellte nur unter der
ästhetischen Maßgabe der Form seiner Darstellung überhaupt verstanden werden kann. Das,
was die Ikone zur Ikone macht, ist nicht der
Inhalt der Darstellung, sondern vielmehr die
Darstellungsform sub specie aeternitatis, d. h.
losgelöst von realistischen, üblichen Wahrnehmungsbedingungen. Die Ästhetik der Ikone ist
daher der eigentliche Punkt, an dem das visuelle Bildkonzept und der Code zueinanderkommen. Die Form der Darstellung lässt sich
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als Anweisung begreifen, unter welcher Perspektive die dargestellten Einzelheiten zu verknüpfen sind. Der Bildcode ist eine, wenn man
so sagen darf, Verstehensanweisung der syntaktischen Verknüpfung der Szenen relativ zu
ihrem Platz auf dem Bild und relativ zu der Perspektive der Komposition. Das strittige Verhältnis von Urbild und Abbild auf Ikonen lässt sich
als ikonisch im Sinne von Peirce beschreiben.
Die Darstellungsform der Ikone hat Ähnlichkeit
mit dem Denotat deshalb, weil unbeschadet
der historischen Frage, ob es die hl. Maria von
Ägypten gegeben habe, ihre Darstellung als
Heilige nicht anders erfolgen kann als wie auf
einer Ikone, nämlich außerhalb der menschlichen Wahrnehmungsbedingtheit stehend.
Der Bildcode stellt programmatisch fest, dass
ontologische Ähnlichkeit mit dem Dargestellten aufgrund der theologischen Wahrnehmungsform besteht. Unter Beachtung der Programmatik des Bildcodes könnten die Diskussion zwischen Ost- und Westkirche und die Praxis der Ikonenverehrung rekapituliert werden.
Wenn die Praxis der Ikonenverehrung einen
Beleg für die Zeichentheorie von Peirce liefern
kann, dann hier: So wie es bei Peirce irrelevant
ist, ob es eine geometrische Linie gibt, welche
durch den Bleistiftstrich denotiert werden
könnte, weil schon der Bleistiftstrich deren
Eigenschaften aufweist, so scheint auch das
verehrende Verhältnis zu der ikonischen Zeichenhaftigkeit der Ikone die Frage nach der
Existenz des Dargestellten außerhalb des Bildes
irrelevant zu machen. Das Dargestellte macht
bereits den Eindruck der Präsenz, indem die
Form der Malerei als ikonisches Zeichen Wesenszüge des Denotates besitzt.
Die Schrift
Ein Bild, welches seine Ikonizität im Code verankert, wird Schwierigkeiten haben, sich mit
Aufschriften zu vermitteln, denn die Schrift ist
das graphische Zeichen für das Nicht-Ikonische,
nämlich das Symbolische. Die Anbringung von
Schrift auf dem Bild ist aber eine zentrale Notwendigkeit, seit der Kirchenvater Johannes von
Damaskus im 8. Jh. in der so genannten „Ersten Bilderrede“ festgesetzt hatte, dass das Bild
mit dem Namen der dargestellten Person beschriftet
sein müsse. Die obligatorische Namensbeischrift hat
den Gegnern der Ikonenverehrung ihren Einwand
entzogen, dass man nie sicher sein könne, wer denn
im Bilde verehrt würde, da
über das realistische Aussehen der Personen keine
Abb. 2: Randbeischrift: „selig“, Mittelfeldbeischrift „heilig“
Zeugnisse vorlägen. Durch
die obligatorische Namensangabe wurde der dem Bild, welche sich auf allen Ikonen bei
Einwand gegenstandslos, wurde aber auch die der obligatorischen Namensbeischrift ausprägt.
Schrift in die Ästhetik des Bildes als dessen ob- Ein nirgends, auch nicht in den so genannten
ligatorischer Bestandteil eingeführt. Seit dem „Malerhandbüchern“ schriftlich geregeltes,
frühen Mittelalter bestand daher die Aufgabe aber von der überwältigenden Mehrzahl aller
der Ikonenmaler in der Vermittlung von Schrift Ikonen befolgtes Prinzip ist die Unterscheidung
und Bild.
der Zuordnung der Namensbeischrift entweder
Diese Vermittlung ging grundsätzlich auf zwei zur zentralen Mittelfeldabbildung oder zu einer
Wegen vor sich. Zum einen wurde die Sprache Nebenszene. Die Unterscheidungsmöglichkeider Aufschriften dem Bildinhalt angeglichen, ten sind vielfältig und variieren unvorhersehbar,
zum andern wurde die Schrift graphisch ins aber die Unterscheidung an sich wird so gut wie
Malerische überführt. Beide Verfahren lassen immer angetroffen. Man betrachte nur den
sich an der vorliegenden Ikone erkennen.
Unterschied zwischen der Namensbeischrift zur
Die Angleichung der Sprache der Aufschriften Maria in den einzelnen Szenen (Abb. 2), wo „sean den Bildinhalt zeigt sich etwa formal in den lige (ghtgjlj,yfz) Maria von Ägypten“ zu lesen
erklärenden Beischriften zu einzelnen Bild- ist, während die Namensbeischrift im Nimbus
szenen auf dem Bildrand. Die erläuternden der zentralen Figur „Heilige (cdznfz) Maria von
Aufschriften stammen aus den Viten der dar- Ägypten“ lautet. Auf vorliegender Ikone hat der
gestellten Heiligen, werden gekürzt und im Maler die Unterscheidung zwischen NamensSatzbau stark vereinfacht und, das ist signifi- beischriften zu Nebenszenen und zur Zentralfikant, entweder ins Präsens oder in das als Prä- gur lexikalisch durch Variation des Epithetons
sens der Vergangenheit bezeichnete Erzähl- vorgenommen. Andere Maler realisieren den
tempus Aorist transformiert. Auf vorliegender Unterschied der Namensbeischrift orthograIkone sind die Randaufschriften präsentisch an- phisch (Marïja / Marija) oder mittels russischgebracht. Die Simplifizierung des Satzbaus auf kirchenslavischer Namensdubletten. Es fällt
das Schema Subjekt-Prädikat-Objekt reduziert schwer, eine Ikone zu finden, bei der die Nadie Aussage der Beischriften auf das Faktische mensbeischrift keine Unterscheidung zwischen
und lässt keinen Interpretationsspielraum Mittelfeldbeischrift und Randbeischrift aufweist.
weder in inhaltlicher noch in stilistisch-pragma- Der Unterschied der Beschriftungsarten hat
tischer Hinsicht. Die Umformung ins Präsens sich in Russland quasi als Phänomen der „ununterstützt die programmatische Darstellung sichtbaren Hand“ aufgrund von Quellenunterder Gegenwart des Abgebildeten. Durch die schieden herausgebildet. Während die BeiFormelhaftigkeit der Aufschrift wird die Spra- schrift bei der Zentralfigur im Bildmittelfeld
che gezähmt und die Möglichkeit vieldeutigen bereits bei den byzantinischen Vorlageikonen
Verständnisses ausgeschlossen.
vorhanden war, stammt die Namensform auf
Interessanter als die inhaltliche Zurichtung der dem Rand vorwiegend aus den oft dialektal
Aufschriften ist ihre graphische Vermittlung mit gefärbten Viten der dargestellten Heiligen. So
51
wurde nun beim Kopieren einer Ikone immer
eine byzantinisch-griechische bzw. kirchenslavisch-gräzisierte Namensbeischrift der Zentralfigur mitkopiert, während die Namensformen
zu den fakultativen Nebenszenen aus den anderen Quellen stammen und von der „offiziellen“ Namensform abweichen konnten. Der im
Akt des Ikonenkopierens den Malern bewusst
gewordene Sprachunterschied ist bemerkenswerterweise nicht im Laufe der Zeit bereinigt
worden, sondern wurde von den Kopisten vielmehr als bedeutungstragender, den Bildcode
unterstützender Unterschied verstanden und
daher auch bewusst, zum Teil mit künstlichen
Mitteln erzeugt. Der Wille, die Aufschriften
entweder graphisch oder orthographisch oder
lexikalisch nach ihrem Ort auf dem Bild zu
unterscheiden, unterwirft auch die Schrift der
räumlichen Hierarchie der Bildkomposition. Die
materielle Gestalt des sprachlichen Zeichens
wird dem Bild eingefügt, wobei die Bildkonzeption die pragmatische Extension des
Sprachzeichens reguliert. Die Beischrift im Mittelfeld gibt den Namen des Dargestellten sub
specie aeternitatis, die Beischrift an der Peripherie des Bildes gibt den Namen in quasi irdischer Lautung. In unserem Falle hat der Ikonenmaler das Verhältnis zwischen irdischer und
himmlischer Erscheinung wörtlich ausgedrückt: In den Szenen aus dem Leben der Heiligen wird Maria uns als „verehrungswürdige“
(„selige“) Frau vorgestellt, in der statuarischen
Bildmitte aber in ihrer himmlischen Bedeutung
als „Heilige“. Die Formelhaftigkeit der erzählenden Aufschriften unterwirft die Sprache
inhaltlich der Aussage des Bildes, die graphisch-lexikalische Ausführung der Namensbeischriften je nach ihrem Auftragungsort auf
der Ikone unterwirft das Sprachzeichen der
semantischen Hierarchie der Bildkonzeption.
Unsere Ikone zeigt dazu noch einen weiteren
Aufschrifttypus, nämlich den Sujettitel.
Mit der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert
machte sich in Russland verstärkt das Bedürfnis
bemerkbar, Ikonen ausführlicher zu beschriften.
Die historische Selbstvergegenwärtigung wurde
dann im Moskau des 16. Jhs. dringend, als das
Zentrum der Orthodoxie, Byzanz, vom Osmanischen Reich eingenommen wurde. Moskau
52
musste sich nun seine eigene geschichtliche
Position erfinden. Die (von den Zeitgenossen
vielleicht nur peripher wahrgenommene) Ideologie von Moskau als dem „dritten Rom“ (nach
Rom und Byzanz) gehört hierher. Öffentlich
wahrnehmbar war jedenfalls die genealogische
Absicherung des Primats der Moskauer Großfürsten, die sich nun „Zaren“ zu nennen begannen, in dem so genannten „Stufenbuch“
des Metropoliten Makarij, in dem sie historisch
bis zu den ersten christlichen römischen Kaisern
zurückgeführt wurden. Im „Stufenbuch“ wurden die Entstehung des Russischen Reiches und
die verflochtenen Machtansprüche von Staat
und Kirche in eine weltgeschichtliche und heilsgeschichtliche Perspektive gestellt.
Auf den Ikonen drückte sich die Historisierung
des Selbstverständnisses dadurch aus, dass die
Ikonenästhetik erzählend wurde. An vorliegender Ikone ist aus der Sicht des Kulturlinguisten
dieser Prozess anhand der Titelbeischrift zu dokumentieren. Der Titel ist in einer speziellen Zierschrift verfasst, welche im 16. Jahrhundert auch
die Titel- und Kapitelüberschriften von Büchern
ergriff und „vjaz'“ genannt wurde, was von
dem Verb für „weben“ oder „flechten“ abgeleitet ist. Zwar besitzen auch schon byzantinische Handschriften ab dem 11. und südslavische Handschriften ab dem 13. Jh. vergleichbare Formen der kalligraphischen Titelauszeichnung, aber die „Flechtschrift“ drang erst zum
Ende des 15. Jhs. auch in Russland vor. Sie besteht in der besonderen Längung aller Auf- und
Abstriche der Buchstaben und deren Betonung
durch einen breiteren Pinselstrich, während alle
Querstriche verkürzt und haarfein aufgetragen
wurden. Zu der schwer lesbaren Kalligraphie
kommt noch eine Fülle von Buchstabenligaturen. Die extreme Form des „vjaz'“ liegt bei unserer Ikone bereits nicht mehr vor, aber dennoch
ist ihre Titelüberschrift im Vergleich zu der nur
mäßig kalligraphisch ausgeführten Blockschrift
(„ustav“) der anderen Randinschriften bemerkenswert schwerer lesbar. Die Titelaufschrift auf
dem oberen Rand ist aber nicht nur als kalligraphische, sondern auch als semantische Neuerung zu deuten, welche die Ikone funktionell
neu bestimmt. Wir lesen (die durch die Abbreviatur zu erschließenden Wortteile stehen in
eckigen Klammern) „Bild: Das Leben der hl. se- sellschaftlichen Ideologie, erzählender Ikonenligen Maria von Ägypten“ (Obraz žitïe s[vja]toj malstil und die Rezeptionsaufforderung eines
prepodobnoj Marïi egipec[koj]). (Die Doppelung wiederholbaren Musters stimmen zusammen.
der „irdischen“ und „himmlischen“ Epitheta ist Bemerkenswert an dem Vorgang der Titeleine Besonderheit dieser Ikone, die hier nicht zu gebung der Ikone ist nun der offene Konflikt
diskutieren ist.)
zwischen Sprache und Bild. In der programmaDas erste Wort der Titelaufschrift ist ein Signal: tischen Selbstbezeichnung geht die Sprache
Die Ikone ist ein „obraz“, ein Terminus, wel- über die ihr von der Ikonenästhetik bislang
cher im Laufe der Zeit synonym mit Ikone zugewiesenen „dienenden“ Möglichkeiten
wurde, aber doch eine bestimmte Bedeutung hinaus. In Namensbeischrift und Randbeischrift
besitzt. Während der Terminus „ikona“ ein war die Sprache eine Legende, welche das VerLehnwort aus dem Griechischen ist und ein- ständnis des Dargestellten stützte. In der
fach „Bild“ oder „Abbild“ meint, ist ein Selbstbezeichnung regelt die Sprache nun das
„obraz“ vielmehr eine Substantivableitung Verständnis des Bildes.
von dem Verb „obrazovat'“ = „formen“ bzw. Die Selbstbezeichnung „obraz“ und ihre Anorganisieren“, und „obraz“ bedeutet etwa in bringung in einer schwer lesbaren Kalligraphie
der Philosophie die ideale Form, das geistige gehören als Vorgang zusammen. Wie die SpraWesen einer Sache, die Ableitung „obrazec“ che in ihrer Begrifflichkeit das Verständnis der
meint „Muster“. Eine als „obraz“ bezeichnete Malerei regelt, regelt die extreme Kalligraphie
bildliche Darstellung ist also über das „Abbild“ auch wieder das Verständnis der Sprache. Die
hinaus eine musterhafte, abstrakt-ideale Form zuweilen nur sehr mühsam zu lesende Kalligrades Dargestellten. Gegenüber dem bloßen phie wirkt wie der Versuch, die Sprache durch
„Abbild“ einer Sache hat das „Muster“ einen malerische Mittel auf den Rang der bloßen Verentscheidenden Vorzug: Während das Abbild zierung hinabzudrücken, die begriffliche Kraft
auf das einmal Gewesene, historisch Indivi- mittels Ästhetisierung dem Bild anzugleichen,
duelle und Singuläre verweist, verweist das welches weiterhin die Priorität der AufmerkMuster vielmehr auf die Wiederholbarkeit. samkeit behalten soll. Unter Anwendung der
Muster bedeutet, ein Phänomen unter der Zeichenbegriffe von Peirce lässt sich der VorPerspektive der Wiederholbarkeit zu sehen. Es
liegt auf der Hand, die historische Selbstvergewisserung von Moskau als
dritte Wiederholung von
Rom und die neue Selbstbezeichnung der Ikone als
„Muster“ zusammenzudenken. Die altrussische
Moskauer
Gesellschaft
vergewisserte sich ihres
Ranges als Wiederholung
des zentralen Sitzes der
Christenheit, und die
Ikone antwortete diesem
Selbstverständnis, indem
sie für den zeitgenössischen Betrachter wiederholbare „Muster“ ausstell- Abb. 3: „Arbeite, wie Dar’ja Garmasch“ (Hf,jnfq, rfr Lfhmz Ufhvfo!) von M. A.
te. Historisierung der ge- Nesterova-Berzina, 1946
53
Abb. 4: Ein Revolutionsplakat, anonym, 1919
Abb. 5: Propagandaplakat, Stalinzeit
gang auch so bestimmen: Ein kalligraphisches
Schriftbild nimmt ikonische Züge an, indem der
Schrift visuelle Charakteristika beigefügt werden, welche nicht zum Verständnis des Begriffsinhaltes beitragen und so den begrifflichen
Inhalt der Worte wieder wie alle anderen visuellen Inhalte der Hierarchie des Bildaufbaus unterordnen. Graphie und der Ort ihres Auftrages
werden semantisiert. So suggeriert die Titelzierschrift auf der Ikone die Aura der im 16. Jh.
aufkommenden reich geschmückten Buchseiten, sie zitiert sozusagen den Titel der Handschriften, leiht sich die Aura des Schriftlichen
und rückt doch gleichzeitig das Schriftliche
durch seine schwere Lesbarkeit wieder in den
Hintergrund. Die graphische Ausführung der
Schrift auf Ikonen ist allezeit von der Priorität
eines ikonischen Codes geregelt, der dem Lesbaren seinen Status zuweist: Rand-, Mittel- und
Titelaufschriften sind je auf ihre Weise durch
inhaltliche und graphische Markierung der
grundsätzlichen Priorität des Visuellen zugeordnet. Auf späteren Ikonen kippt das labile
Gleichgewicht zwischen Schrift und Bild,
indem erstere immer hypertropher das Visuelle
überwuchert, bis die Schrift schließlich nicht
mehr auf den Bildgrund aufgetragen wird, sondern in eigens von der Malerei ausgesparten,
eingerahmten Medaillons o. ä. erscheint. Belege von Ikonen für diese für den Sprachhistoriker (viel Text) und für den Kunstwissenschaftler
(emblematische Barockbilder usw.) interessante Entwicklung müssen hier aus Platzgründen
entfallen zugunsten der Frage der kultursemiotischen Präformierung von Schriftwahrnehmung durch das Bild.
54
Die physiognomische
Glaubwürdigkeit der Schrift
Die Ikone präformiert die Schriftwahrnehmung
auf Bildern, indem die visuelle Charakterisierung
des Lesbaren einen Rezeptionshinweis für das daran
Verstehbare mitgibt. Kultursemiotisch
bedeutet
dies, dass in Russland die
Rezipienten von Bildern
über Jahrhunderte hinweg
an eine spezielle Symbiose
von Schrift und Bild gewöhnt wurden. Natürlich
wäre es eine Überschätzung, die Ikonenästhetik allein als rezeptionssteuerndes Medium für sämtliche
bildlichen Darstellungen in
der russischen Kultur zu begreifen. Die eminente Rolle
des russischen „lubok“, des
Einblattdruckes, der gerade
in wenig alphabetisierten
Gebieten kursierte, konnte
hier ebensowenig zur Sprache kommen wie die vielfältigen Einflüsse verschiedener anderer Genres und
Strömungen. Im Bereich
der Agitationskunst allerdings zeigen sich deutliche
Strategien, welche die Vermittlung von Bild und
Schrift im Sinne vorliegender Ikone, wenngleich in
anderer Absicht, aufweisen. Drei Beispiele aus der
sowjetischen Zeit (gefun- Abb. 6: „Unerwartete Freude“, Ikonenmuseum Frankfurt/M.
Aus: Althaus/Koch/Zacharuk
den im Internet) seien
angeführt.
Das Plakat von M. A. Nesterova-Berzina von mentares bedarf. Der russische Betrachter des
1946 mit der Aufschrift „Arbeite, wie Dar'ja Bildes weiß, was ihm mitgeteilt werden soll: ein
Garmasch“ (Hf,jnfq, rfr Lfhmz Ufhvfo!) ist 'obraz' nämlich, ein musterhaftes, vorbildliches
deutlich dem Stil einer Vitenikone angeglichen Leben, das es zu wiederholen gilt.
(Abb. 3). Eine zentrale Darstellung im Bildmit- Ein Revolutionsplakat der Zarenanhänger (anotelfeld korrespondiert mit vier Randszenen, die nym, 1919) (Abb. 4) nimmt die graphische Verdeutlich kleiner ausfallen. Statt eines verbin- mittlung von Titel und Bild auf. Die Ikonographie
denden Landschaftshintergrundes dienen ver- des Plakates spielt auf das Bildmotiv des hl. Geschlungene Ährengarben der Vermittlung der orgs, des Schutzheiligen vieler russischer Städte
Szenen. Die physiognomische Glaubwürdigkeit und der russischen Armee, an und wird hier als
von Bild und Aufschrift ist so direkt an die Iko- Kampf mit dem kommunistischen Lindwurm
nenästhetik angelehnt, dass es keines Kom- ausgedeutet. Die Überschrift des Bildes „Für ein
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einiges Russland“ (Pf tlbye/ Hjccı/) ist in roten
Lettern ausgeführt, deren vertikale Striche betont, deren horizontale Striche aber wesentlich
vermindert sind. Sowohl Farbe der Aufschrift
wie Strichstilisierung erinnern direkt an die Zierschrift der Ikonentitel.
Als letztes Beispiel, welches die angesprochene
hypertrophe Ikonenbeschriftung zitiert, diene
ein Propagandaplakat der Stalinzeit (Abb. 5).
Das Bild zeigt die feierliche Überreichung einer
Urkunde, vielleicht bei einem Studienabschluss,
mit der Aufschrift „Arbeite so, wie Stalin lehrt!“,
während das Textfeld die Vorgeschichte liefert,
nämlich die vorbildliche Arbeitsmoral des Studierenden, die zu der Auszeichnung führt. Hier
ist vor allen Dingen zu beachten, dass das überreich beschriebene weiße Textfeld der Funktionsbestimmung eines öffentlichen Plakates quasi
zuwiderläuft. Ein Propagandaplakat, welches in
der Hektik der Massengroßstädte quasi mit
einem Blick die ganze Botschaft transportieren
soll, kann sicher kein Textfeld aufweisen, wo
eine halbe politische Rede abgedruckt steht. Gerade hier haben wir ein hypertroph beschriftetes
Plakat vor uns, welches dem russischen Rezipienten, gewohnt an hypertrophe Beschriftung,
eben nicht befremdlich erscheint. Es lässt sich
direkt mit der Beschriftung von Textfeldern vergleichen, etwa mit den Ikonen der „Unerwarteten Freude“ im Ikonenmuseum Frankfurt a. M.
(Abb. 6) (Inv.-Nrn. IH 453; vgl. auch IH 230, 238,
753; alle in Althaus/Koch/Zacharuk).
Wie die Ikonen zeigt auch das Plakat den
glückenden, musterhaften Abschluss einer vorbildlichen Handlung, welche selbst als die
nicht-präsente Vorgeschichte in einem weißen
56
Textfeld aus der präsenzanzeigenden Bildlichkeit ausgegliedert ist. Die Rezeption dieser Art
der Vermittlung von Schrift und Bild, wie sie
das Propagandaplakat ausnützt, ist an Ikonen
gelernt worden.
Die wenigen Beispiele müssen hier ausreichen,
um die These zu tragen, dass in der Agitationskunst des 20. Jahrhunderts der ikonische Code
auf russischen politischen Plakaten fortlebt. Das
abzubildende überzeitlich Gültige ist zwar nun
je ein anderes, das historisch-materialistische
Geschichtsgesetz oder auch das „heilige Russland“, aber im Sinne der Kultursemiotik geschieht die ikonische Denotierung des Sachverhaltes auf vergleichbare Art. Insofern macht die
Betrachtung der Vermittlungsstrategien von Bild
und Schrift auf Ikonen auf die kulturspezifische
Rezeption von Medien aufmerksam.
Erwähnte Literatur:
Althaus, K.-R., Koch, G., Zacharuk, R. (1991):
Ikonen aus der Sammlung J. Schmidt-Voigt.
Frankfurt a. M. [o. J.]
Bal, M. (2002): Kulturanalyse. Frankfurt a. M.
Belting, H. (1990): Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der
Kunst. 2. unveränd. Aufl. München 1991
Daiber, Th. (1997): Aufschriften auf russischen
Ikonen. Freiburg i. Br.
Posner, R. (2003): Kultursemiotik. In: Nünning,
A.; Nünning, V. (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Stuttgart, 39–72
Tarasov, O. Ju. (1995): Ikona i blagočestie.
Očerki ikonnogo dela v imperatorskoj Rossii. Moskva