Mittelalterliche Retabel in Hessen. Ed. U. Schütte, H. Locher, K. Niehr, J. Sander & X. Stolzenburg, vol. 2, Petersberg 2019, pp. 162-167.
innern ist an das nicht mehr erhaltene, aber relativ gut dokumentierte Retabel der Abtei Sain... more innern ist an das nicht mehr erhaltene, aber relativ gut dokumentierte Retabel der Abtei Saint-Vaast in Arras, wo für neu erworbene Alabasterstatuetten 1432 ein Kasten aus Holz gezimmert wurde. 5 Ohnehin wurde durch die Farbfassung die Wirkung der Teile vereinheitlicht, sodass die unterschiedlichen Werkstoffe nicht mehr individuell in Erscheinung traten. Die ,Lorcher Kreuztragung' ist ein herausragendes Werk des sog. Weichen Stils, der um und nach 1400 die Bildkünste prägt. Die künstlerischen Voraussetzungen liegen in der Malerei und Skulptur der Burgundischen Niederlande und Nordfrankreichs, deren Kultur zu einem Leitbild für ganz Europa wurde. Wenn für den Stil dieser Zeit auch der Begriff Internationale Gotik benutzt wird, dann deutet das auf die weite Verbreitung etwa identischer Standards in der Figuren-und Raumbildung. Ähnlich wie Weicher Stil trifft dies jedoch nur einen Teil des besonderen Charakters der Kunstwerke. Bezeichnend erscheint die nicht ohne Gegensätze operierende Präsentation von Figuren und Szenen: Neben eine noch ganz in mittelalterlicher Tradition verhaftete Idealität und krass übersteigernde Abstraktion tritt ein neues, auf genauer Beobachtung basierendes Naturstudium, das Anlass gab, die Artefakte dieser Zeit als Vorläufer der europäischen Renaissance zu sehen. 6 Das Lorcher Ensemble muss in einer hochspezialisierten Werkstatt entstanden sein, deren genaue Lokalisierung allerdings kaum mehr möglich ist. Eine gewisse Anzahl von Arbeiten im gleichen Material, die vom Mittelrhein überliefert sind, macht die Herkunft aus diesem Gebiet wahrscheinlich. Hier dürften mehrere Ateliers beheimatet gewesen sein, die Tonprodukte herstellten. Sie aufgrund stilistischer Kriterien sauber voneinander zu scheiden, gelingt anhand der erhaltenen Werke jedoch nur bis zu einem gewissen Grad. Der für das Lorcher Retabel zuständigen Produktionsstätte weitere Arbeiten zuzuschreiben, ist ebenfalls nicht einfach. Nahe stehen unter anderen die sog. ,Dernbacher Beweinung' im Limburger Diözesanmuseum, Fragmente aus der Kirche St. Leonhard in Frankfurt, ein Altärchen mit der Verkündigung aus dem Kölner Diözesanmuseum und das Retabel mit dem Marientod aus Kronberg. Hinzu kommen weitere stilistisch und über die Motivik verwandte Arbeiten, etwa das ,Tondoerffer-Epitaph' aus St. Lorenz in Nürnberg, das als mittelrheinisches Exportstück nach Franken gekommen sein könnte. 7 Der Aufbau des Lorcher Werks zeigt eine szenische Reihung von Figuren auf wenig tiefer Bühne, die durch Überschneidung und Staffelung Räumlichkeit suggerieren. Dies geschieht in einem Kasten mit rechteckiger Öffnung, der die Grenzen des Geschehens markiert und dieses Geschehen wie in einem Bild rahmt. Die Konstruktion des Kastens dürfte von burgundischen Altaraufsätzen inspiriert worden sein. Ein Reflex solcher oder ähnlicher Konstruktionen mit Schleiermaßwerk findet sich in der Malerei, etwa in Rogier van der Weydens ,Kreuzabnahme' aus dem Madrider Prado. Erhaltene Schnitzretabel aus den burgundischen Niederlanden, die ebenfalls figürliche Szenen auf eine schmale Bühne setzen, weisen jedoch eine andere Proportionierung auf: Indem sie einzelne Statuetten oder erzählende Reliefs durch große Maßwerkzonen überhöhen, stehen figürliche und architektonische Elemente in einem ausgeglichenen Verhältnis, das die Aufmerksamkeit des Betrachters von den Figuren ablenkt. Die beiden für die Kartause Champmol angefertigten Retabel des Jacques de Baerze (Dijon, Musée des Beaux-Arts) zeigen diese Konstellation und bekräftigen so den Abstand der repräsentativ überhöhten Szenen zum Gläubigen. 8 Ganz anders in Lorch. Die Figurengruppen dort füllen den Schrein vollständig aus und sind durch diese optische Dominanz ersichtlich auf eine intensive Betrachtung hin angelegt. Fast wie in einem lebenden Bild präsentieren sich die dargestellten Personen wie Akteure in einem Schauspiel. Christus ist, ähnlich wie Simon, in vorderster Ebene angeordnet. Als wichtigste Person erscheint er besonders groß. Aufmerksamkeit zieht er dadurch auf sich, dass er sich aus dem Bild herausund dem Gläubigen vor dem Altar zuwendet. In dieser Pose erinnert er an eine Variante der in dieser Zeit entwickelten Figur des Kreuzträgers als aus dem Geschehen herausgelöste monumentale Figur. 9 Beim Lorcher Retabel erfordert die Hintereinanderstaffelung der Personen und Elemente, die zu zahlreichen Überschneidungen führt, einen -im wahrsten Sinne des Wortes -beweglichen Betrachter. Allein bereits das partielle oder ganze Verdecken von Gesichtern durch Drehung, durch Verhüllung oder durch andere Figuren und Gegenstände macht aus der Szene ein Bild voller spannungsreicher Motive, die nach Entschleierung und Entschlüsselung verlangen. Die darin zum Ausdruck kommende besondere Qualität der Gestaltung wird unter anderem deutlich beim Vergleich mit dem kurz zuvor entstandenen Relief der Kreuztragung am Havelberger Lettner, in dem die Staffelung und Verschränkung der Figuren nur in Ansätzen sichtbar ist. 10 Auch in ihrem strukturellen Aufbau bietet die ,Lorcher Kreuztragung' ein vorzügliches Beispiel für die Inszenierung einer Episode aus dem Passionsgeschehen. Während bis dahin die Kreuztragung fast immer nur als Nebenszene in größeren Zyklen präsent war, wird seit dem 15. Jahrhundert diese im wahrsten Sinne des Wortes auf den Tod Christi hinführende Begebenheit zu einem zentralen Ereignis. Das war nicht allein eine künstlerische, sondern auch eine argumentations-und erzähltechnische Herausforderung. Es mussten eine Massenszene und die Gefühlswelt einzelner Personen miteinander die lorcHer Kreuztragung D ie nach Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs heute nur noch fragmentarisch erhaltene sog. ,Lorcher Kreuztragung' , ein aus mehreren Figuren und Figurengruppen bestehendes Tonrelief, gehört zu einer größeren Anzahl von Werken in diesem Material, die um und nach 1400 am Mittelrhein und an der Mosel entstanden sind (Abb. 1). Bei der im frühen 19. Jahrhundert verkauften, seit 1935 im Berliner Museumsbesitz befindlichen Arbeit dürfte es sich um den Aufsatz eines Altars der Kirche St. Martin zu Lorch am Rhein handeln. Der zugehörige, in einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert überlieferte querrechteckige Kasten war wohl eine Neuanfertigung. Der ursprüngliche Schrein wird aus Holz gewesen sein. Er bot einen durch Rahmung eingefassten und durch einen Maßwerkschleier in Ton nach oben abgeschlossenen Raum, in dem sich das Geschehen abspielte. 1 Flügel waren ursprünglich wohl vorhanden; über ihr Aussehen lässt sich allerdings nichts mehr sagen. Die Szene war (und ist nach der Rekonstruktion von 1987 wieder) in drei geringfügig voneinander abgesetzte Teile gegliedert: die zentrale Gruppe zeigte den unter der Last des Kreuzes gebeugten Jesus, dem Simon von Cyrene beim Tragen hilft. Hinter dem waagerechten Längsbalken waren, im Gesichtsbereich überschnitten, Soldaten erkennbar. Links davon sah man die trauenden Frauen mit Maria und Johannes an der Spitze, am Schluss Veronika mit dem Schweißtuch. Auf der gegenüberliegenden Seite wurden die beiden verurteilten Räuber zur Kreuzigung geführt. Mit dieser Gesamtanlage ergab sich eine Art Triptychon, das Haupt-und Nebenszenen voneinander schied und doch ein einziges Bild präsentierte. Die Skulpturen tragen Reste zweier Fassungen; aus der älteren lässt sich die ursprüngliche starkfarbige Polychromie des Werks erschließen, die vor allem in Rot, Blau, Grün und Gold Akzente setzte. Für die Rekonstruktion bleibt die 1837 als Stich publizierte Zeichnung ausschlaggebend, weil auf ihr die Figurengruppe vor den Zerstörungen zu sehen ist. Der dort überlieferte Aufbau scheint weitgehend verlässlich; höchstens die Trennung der einzelnen Gruppen voneinander ist zu sehr betont. 2 Die gravierendsten Verluste im heutigen Zustand sind die Figur des Christus, ersetzt durch eine Replik nach einem Abguss vom Original aus dem frühen 19. Jahrhundert, die beiden Schächer, Teile der Soldaten, der Stifter, das Kreuz und der Maßwerkschleier, von dem sich lediglich ein kleines Stück erhalten hat. Auf dem Stich bricht das Maßwerk rechts mit einem halben Motiv ab. Wie es hier um die ursprüngliche Gestaltung bestellt war, bleibt umstritten: Vielleicht war der erneuerte Kasten kleiner als der originale aus dem Mittelalter; vielleicht aber war das Maßwerk ursprünglich anders angebracht und kragte baldachinartig vor. Das für den Altaraufsatz gewählte Material ist in der Kunst um und nach 1400 am Mittelrhein, aber auch etwa in Franken oder Bayern weit verbreitet. 3 Mit dem kostengünstigen, leicht formbaren Werkstoff ließen sich besonders gut voluminös fließende Gewänder anlegen und ausdrucksvolle Physiognomien modellieren. Dementsprechend darf Tonplastik als besonders geeignetes Instrument gelten, um die künstlerischen Ideale der Zeit umzusetzen: eine üppige Plastizität, Figuren in starker Bewegung und mit eindrücklicher Gestik, differenziert ausgearbeitete Details wie Haare, Gesichter oder Accessoires der Kleidung. Alles dies setzt auf einen Betrachter, der sich von der Detailgenauigkeit des Bildes affizieren lässt. Hinzu kommt die Möglichkeit, Teile nach Modeln im Formguss zu produzierenwas z.B. für die Gesichter der Frauen geschah -und so im Sinne ökonomischer Arbeitsorganisation effektiv zu arbeiten. 4 Auch die in Lorch zu vermutende Kombination der Materialien für Schrein und Figuren ist nicht ungewöhnlich. Zu er-Klaus nieHr
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Papers by Klaus Niehr
Materiell existierende wie erfundene Porträtreihen lassen sich als Aussagen oder Experimente, als Herausforderungen oder kulturelle Notwendigkeiten sehen und als individuelle Praktiken einer Bildgebung beschreiben, bei denen es auf Fülle und Synthese ebenso ankommt wie auf die Visualisierung von Geschichte und die Darlegung von Struktur. Sie sind abhängig von weitreichenden gesellschaftlichen wie ständischen Gepflogenheiten und Konventionen, unterliegen aber auch politischen, diplomatischen, freundschaftlichen oder familiären Bedingungen wie solchen des Sammelns. Die an diesen Gegebenheiten orientierten Analysen von Bildserien vermitteln Einblicke in eine Kulturpraxis der Frühen Neuzeit, welche auf immer wieder neue Weise Überlegungen zu den Möglichkeiten einer sinnvollen Ordnung von Komplexität anregte.