Eva Kernbauer (Hg.)
Kunstgeschichtlichkeit
Eva Kernbauer (Hg.)
Kunstgeschichtlichkeit
Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst
Wilhelm Fink
Mit Unterstützung der Universität für angewandte Kunst Wien
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
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Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5959-6
Inhalt
eva kernbauer
Kunst, Geschichtlichkeit. Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
jacques rancière
Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers . . . . . . . . . . 33
maria muhle
„Aufteilung der Zeiten“ – Die Anachronie der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . 51
eric c. h. de bruyn
Das holografische Fenster und andere reale Anachronismen . . . . . . . . . . . . . . 67
antonia von schöning
Archäologie der Zukunft. Zum Entwurf von Geschichtlichkeit in
Walid Raads Scratching on Things I Could Disavow – A History of
Art in the Arab World . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
david joselit
Über Aggregatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
helmut draxler
Jenseits des Augenblicks: Geschichte, Kritik und Kunst der Gegenwart . . . . 129
werner busch
„Vergangenheit wird nie wieder Gegenwart“.
Zum Fremdwerden zitierter Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
sabeth buchmann
Geschichte auf Probe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
kerstin stakemeier
Medienportraits. Äquivalenz, Subjektivierung und Postmoderne. . . . . . . . . . 185
6
INHALT
christa blümlinger
Film als Kunst der Passagen.
Apichatpong Weerasethakuls Variationen über „Boonmee“ . . . . . . . . . . . . . . 199
vera lauf
Tradition der Innovation. Genealogien der Moderne bei Paulina Ołowska . . 217
beatrice von bismarck
Der Teufel trägt Geschichtlichkeit oder Im Look der Provokation:
When Attitudes Become Form – Bern 1969/Venice 2013 . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Biografien der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
Eva Kernbauer
Kunst, Geschichtlichkeit.
Zur Einleitung
Kunstwerke eignen sich hervorragend zur Verkehrung chronologischer Abfolgen
und zur Überbrückung historischer Distanzen. Sie können vergangene Bildsprachen wiederbeleben, auf widersprüchliche zeitliche Modalitäten rekurrieren und
eigenmächtig kunsthistoriografische Modelle hervorbringen. Dieses Durchdringen
künstlerischer und kunstwissenschaftlicher Praxis, benannt mit dem Kunstwort
„Kunstgeschichtlichkeit“, steht im Zentrum dieses Bandes.
Die Frage nach Geschichtsmodellen, die in der Gegenwartskunst zum Einsatz
gebracht werden, steht im Kontext mehrerer aktueller Diskussionen: zum Begriff
der Gegenwartskunst1 und der Frage nach ihrer Verschränkung mit der Geschichte,
zur Überarbeitung historischer Genealogien durch Kunstwerke, zur fortdauernden
Aktualität der Moderne, zu Formen des Zugriffs auf Geschichte wie Wiederholung, Referenzialismus, Aneignung und Appropriation, ja zu möglichen Vergangenheiten und Zukünften der Welt im Großen und Ganzen, die über und durch
die Kunst erklärt werden sollen. Innerhalb dieser Debatten verfolgt der vorliegende
Band kleinteiligere Fragen: nach den Chronopolitiken und Zeitregimes der Gegenwartskunst; nach der kunsthistorischen Selbstverortung von Künstlern und Künstlerinnen und dem häufig expliziten Konkurrenzverhältnis zwischen kunstwissenschaftlicher und künstlerischer Praxis; nach den Methoden und Figurationen des
Geschichtlichen in der Gegenwartskunst und nach der Ausarbeitung eines Vokabulars zu deren Beschreibung, das sich nicht in Diagnosen vom Ende kritischer
Kunst im Posthistoire erschöpft, sondern der Verhandlung von Subjektivität, Kritik und Innovation innerhalb des gegenwärtigen Geschichtsbewusstseins gerecht
wird. Wenn mit „Kunstgeschichtlichkeit“ daher ein so umfassend angelegter Neologismus vorgeschlagen wird, so nicht zur Behauptung eines „neuen“ Phänomens,
sondern mit dem Ziel, verschiedene, teils gut vertraute Aspekte und Debatten
innerhalb eines gemeinsamen thematischen Rahmens zu betrachten. Dass dieser
Rahmen sich so deutlich auf „Geschichtlichkeit“ bezieht, ist dem Eindruck des
Überbordens von (Kunst-)Geschichtsbezügen in der Gegenwartskunst geschuldet,
wobei sich die Frage stellt, was die künstlerische und theoretische Beschäftigung
mit diesen heute strukturiert. Dabei ist es offensichtlich kaum entscheidend, ob die
1 Vgl. Juliane Rebentisch, Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung, Hamburg 2013, S. 10 – 11.
10
EVA KERNBAUER
Hinwendung zur Geschichte nun als zwanglos oder als zwanghaft beurteilt wird
(auf Geschichtslosigkeit oder auf Geschichtsbesessenheit hinweist), kann doch das
eine als ein Symptom des anderen interpretiert werden.
Die Durchdringung künstlerischer und kunstwissenschaftlicher Arbeit trägt die
Handschrift einer akademisch geprägten Kunstpraxis. Kunstgeschichtsschreibung
selbst in die Hand zu nehmen, kann bedeuten, einer neuen Anforderung an künstlerische Professionalität zu entsprechen und informationsgesellschaftliche Skills
durch die Bereitstellung eines umfassenden Kontexts der eigenen künstlerischen
Tätigkeit unter Beweis zu stellen. Zwar kann eine solche Selbstverortung ebenso
gut praktisch wie theoretisch artikuliert werden, doch mag der seit den 1960er
Jahren vollzogene Bruch mit handwerklich-künstlerischen Traditionen2 dazu beigetragen haben, dass die historischen Bande expliziter (und daher häufiger verbal)
ausformuliert werden als zuvor. Über solche Selbsthistorisierungen mag man spotten, wie etwa Sven Lütticken über den „einmaligen“ Kunsthistoriker-Künstler Jeff
Wall,3 der die theoretische und praktische Artikulation historischer Bezüge gekonnt
ineinander webt. Nun gilt dieser Spott primär dem nahtlosen Übergang zwischen
dem Künstler und dem Kunsthistoriker, dem Umstand, dass dieser sich in Bildtraditionen einfügt, anstatt sie in Unordnung zu bringen. Doch ist der Blick in die
Geschichte auch ein selbstkritisches und/oder institutionskritisches Projekt, wenn
er darauf angelegt ist, die historische, gesellschaftliche und politische Bedingtheit
der aktuellen Kunstproduktion zu betrachten. Dahinter liegt das historiografische
Ethos, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte auf das Erfassen der Gegenwart
abzielen soll. Es gilt als Merkmal künstlerischer (und nicht nur künstlerischer)
Reife, zu erfassen, an welchem historischen Moment man sich befindet, oder
zumindest der Blindheit der Gegenwartsposition zu trotzen: Erst aus dem Begreifen der eigenen geschichtlichen Position in der Gegenwart kann das Neue entstehen, wie es Florian Pumhösl einmal formuliert hat.4 Oder, aus der Perspektive
seiner damaligen Interviewpartnerin Juliane Rebentisch, „um den historischen Ort
der Gegenwart zu bestimmen, muss man die Gegenwart zur Vergangenheit in ein
Verhältnis setzen, und zwar so, dass die Gegenwart durch dieses Verhältnis eine
Richtung, die Richtung einer historischen Entwicklung erhält“.5
Nun führt das Stöbern in der Geschichte selten zu feststehenden Dingen und
Fakten, selten zur Möglichkeit, „[e]twas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurück-
2 Der Art & Language-Künstler Ian Burn verstand das „De-Skilling“ der Kunstproduktion der
1960er Jahre als Bruch mit der Geschichte: „[S]kills are not merely manual dexterity but forms of
knowledge. [...] Thus deskilling means a rupture with a historical body of knowledge – in other
words, a dehistoricization of the practice of art.“ Zitiert nach Thomas McDonough, „Production/
Projection. Notes on the Capitalist Fairy Tale“, in: The Art of Projection, Ostfildern 2009, S. 126.
3 Sven Lütticken, „The Story of Art. According to Jeff Wall“, in: ders., Secret Publicity. Essays on
Contemporary Art, Rotterdam 2005, S. 69 – 82.
4 Florian Pumhösl in Konversation mit Juliane Rebentisch, in: Wachstum und Entwicklung,
Ausst.-Kat. Galerie im Taxispalais, Innsbruck 2004, n. p.
5 Rebentisch 2013, S. 13.
EINLEITUNG
11
zuführen“6: In der Geschichte findet man in der Regel nicht (nur) das, was man
gesucht hat. Künstlerische Verfahren des Sammelns, der Wiederholung, der Aneignung und des Rückblicks drücken daher nicht notwendigerweise konservative
(bewahrende) oder tradierende (fortschreibende) Haltungen aus. Sie können dem
Wunsch nach Veränderung und Aktualisierung der Geschichte geschuldet sein,
dem Blick auf die Interdependenz von Vergangenheit und Gegenwart, die nicht als
feststehende Kategorien verankert, sondern ins Schwanken gebracht werden. Hartmut Böhme hat ein dementsprechendes Konzept künstlerischen Wandels vorgestellt, das dieser gegenseitigen Destabilisierung von Geschichte und Gegenwart
Rechnung trägt. Im Zuge der Transformation, dem Schaffen von „Neuem“, wird
die Vergangenheit „gebildet, modelliert, verändert, angereichert, aber auch negiert,
verfemt, vergessen oder zerstört“. Böhme schlägt zur Beschreibung der fortlaufenden gegenseitigen Aktualisierung von Geschichte und Gegenwart den Begriff der
Allelopoiese vor, der das „gegenseitige Erschaffen von Aufnahmekultur und Referenzkultur“7 bezeichnet. Hier wird das Aufeinanderbeziehen von Geschichte und
Gegenwart zu einem dekonstruktiven Verfahren, das zur Entstellung, ja zur völligen Unkenntlichmachung8 von beiden führen kann.
Die künstlerische Beschäftigung mit (Kunst-)Geschichte eignet sich daher für
unterschiedliche chronopolitische Ansätze. Wenn sich nun bestimmte Qualitätsmerkmale innerhalb des künstlerischen Geschichtsbezugs anbieten, wie etwa die
Reflexion der eigenen Position, die Destabilisierung normierender Terminologien,
die Insistenz auf Aktualisierung der Geschichte,9 so gibt es daneben auch Verfahren, die als verdächtig gelten: solche, die den Mythos (im Sinne Roland Barthes’)
erst erzeugen anstatt zu historisieren; „propagandistisch[e], dekorativ[e], affirmativ[e]“ Praktiken;10 künstlerische Geschichtsbezüge, die wenig mehr als Ressourcenschonung angesichts digitaler Überproduktion vermuten lassen; solche, die die
Objekte ihrer historisierenden Begierde zu Tode streicheln, anstatt sie wiederzubeleben; schließlich die ziellose künstlerische Sammelwut, die dem verwirrten Publikum verstreute Fundstücke ohne wahrnehmbare Agenda präsentiert (ein Verfahren
allerdings, mit dem man zumindest von kunsthistorischer Seite größte Sympathie
erwarten kann). Man unterschätze nicht die Antriebskraft der affektiven Kräfte des
Geschichtsbezugs! Es ist, außerhalb des zeitgenössischen Zusammenhangs, aufschlussreich, dass gerade mit der zunehmenden Verwissenschaftlichung histori-
6 Friedrich Nietzsche, „Götzen-Dämmerung“, in: ders., Kritische Studienausgabe in 15 Bänden,
hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York 1967 – 1977, Bd. 6, S. 92,
zitiert nach Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder, Berlin 2010, S. 185.
7 Hartmut Böhme, „Einladung zur Transformation“, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hrsg. von Hartmut Böhme u. a., München 2011, S. 8, 9.
8 Peter de Bolla, „Disfiguring History“, Diacritics, Winter 1986, S. 57.
9 Die Aktivierung der Vergangenheit wird regelmäßig als ein ausschlaggebendes Merkmal kritischer künstlerischer Geschichtsarbeit genannt, vgl. etwa: Sven Lütticken, „Secret Publicity. The
Avant-Garde Repeated“, in: Lütticken 2005, S. 23.
10 David Geers, „Neo-Modern“, October, 139, Winter 2012, S. 13.
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EVA KERNBAUER
schen Interesses im 17. und im 18. Jahrhundert vor der maßlosen Sammelleidenschaft der Connaisseure und Antiquare (der Amateur-Historiker) gewarnt wurde.
In einem 1685 publizierten Dictionnaire général et curieux beschrieb César de
Rochefort, dem Titel seiner eigenen Publikation zum Trotz, diese Neugier (‚curiosité‘) unter anderem als einen „Heißhunger auf nutzlose, unbrauchbare und
unrechte Dinge“, und in weiterer Folge als verdammenswerte Krankheit, juckendes
Geschwür, gierigen Blutegel, beißenden Wurm und so fort.11 Den englischen
Gelehrten John Evelyn soll seine eigene Curiosity zur Feststellung verleitet haben,
„God has given enough for use, not for Curiosity, which is Endless“.12 Der Begriff
„Curiosity“ bezeichnet hier nicht Geschichtsinteresse im Sinne historischer Tiefenbohrungen, sondern eine in die Breite gehende, ausufernde Sammellust, die manchen referenzialistischen Verfahren nicht unähnlich ist.
Doch sind die Probleme der Verstrickungen mit der Geschichte nicht nur
gesundheitliche, und sie betreffen nicht nur die oben genannten mythisierenden
oder nostalgischen Verfahren. Wie Helmut Draxler festgestellt hat, wird mit der
Vorstellung von Geschichte als einem offenen Prozess das westliche aktivistische
Paradigma festgeschrieben, dass Geschichte ‚gemacht‘ werden kann, also eine „imaginäre Verfügungsmacht“ über Geschichte, Gegenwart und Zukunft entworfen.13
Angesichts des Umstands, dass diese Verfügungsmacht oft hoffnungsfroh künstlerischer Arbeit zugeschrieben wird, erstaunt es, wie selten Ermüdungs- oder Überforderungserscheinungen angesichts dieses Imperativs zum Überblick, der Reflexion
und Aktivismus, Denken und Tun aneinander bindet, kundgetan werden. Dieses
zum Handeln verpflichtende Geschichtsbewusstsein ist ein Signum der Moderne,14
einer Moderne, die Zukunftsorientiertheit und Tradition als aufeinander bezogene
Konzepte entworfen hat. Und es ist ein exklusiv westlicher, wenn nicht europäischer
Wert. Einen Platz in dieser Geschichte auszuverhandeln ist auch ein politisches
Projekt, eines, das (in den Worten E. P. Thompsons) der „ungeheuerlichen Arroganz der Nachwelt“15 entgegengesetzt werden muss und, möchte man ergänzen,
derjenigen des westlichen Geschichtskonzepts. Diese Chronopolitik ist Grundlage
derjenigen Geopolitik, die den „Anderen“ zugleich mit einem Platz in der Geschichte
auch einen in der Gegenwart verweigert, wobei die Leugnung der Zugehörigkeit
zur Zeitgenossenschaft kein fehlerhaftes Nebenprodukt des kolonialistischen Diskurses ist, sondern dessen Bedingung.16 Unter diesen Vorzeichen kann die Gegenwartskunst sehr gute Gründe haben, unfähig oder unwillig zu sein, mit der
11 Vgl. César de Rochefort, Dictionnaire général et curieux, Lyon 1685, S. 93 – 94.
12 John Evelyn, zitiert nach Walter E. Houghton, „The English virtuoso in the seventeenth century“, The Journal of the History of Ideas, III, 1942, S. 51.
13 Helmut Draxler, „Was tun? Was lassen? Passivität und Geschichte“, in: Theorien der Passivität,
hrsg. von Kathrin Busch und Helmut Draxler, München 2013, S. 209.
14 Nicholas B. Dirks, „History as a Sign of the Modern“, Public Culture, 2, Frühjahr 1990,
S. 25 – 32.
15 E. P. Thompson, zit. nach Dirks 1990, S. 26.
16 Johannes Fabian, Time and the Other: How Anthropology makes its Object, New York 2002, S. 73, 144.
EINLEITUNG
13
Geschichte abzuschließen. Die Verortung in einer aus westlicher Perspektive global
gedachten Kunstgeschichte kann als Weg zur raschen Anerkennung dienen, umgekehrt kann, wie Antonia von Schönings Beitrag in diesem Band zeigt, der Versuch
der Aneignung westlicher Kunstgeschichtskonzeptionen ins Absurde führen.
Der vormodernistische Ersatzort, der nichtwestlichen Kulturen anstelle eines
Platzes in der Geschichte angeboten wurde, war der des Brauchtums, das der Logik
der Wiederholung anstelle derjenigen der Neuschöpfung zugeordnet wird, was
erlaubte, nichtwestliche Kunst anthropologisch anstatt kunsthistorisch zu denken.
Tatsächlich fällt auf, dass nichtwestliche Kunst heute weitestgehend aus dem reichen Fundus historischer Bezugsfelder ausgenommen wird, so als könne sie nicht
sinnstiftend wiederholt werden (während die Wiederholung – legitimiert durch
das geschichtswissenschaftliche Verfahren des Reenactment – zu einer weitgehend
akzeptierten Möglichkeit kritischer historischer Bezugnahme geworden ist).
Die Problematik dieses auf ein westliches Zentrum fixierten Geschichtsbezugs
sei durch einen Ausschnitt aus einem Gespräch Doug Aitkens mit der Regisseurin
Claire Denis illustriert. Denis erzählt:
„Meine Eltern reisten viel. Mein Vater wurde in Bangkok geboren. Reisen war ihr
Leben. Sie gestalteten ihr Leben um die Bewegung über den Erdball herum. [...] Als
ich aufwuchs, sagte mein Vater immer zu mir, ‚Im Leben musst du dich zwischen
Geschichte und Geografie entscheiden‘. Als Kind zog mich Geografie immer mehr
an als Geschichte. Ich wollte sein wie mein Vater. Ich wollte Karten lesen können wie
er. Er testete mich, ‚Wo ist Norden, wo ist Süden?‘ Ich spiele dieses Spielchen immer
noch, wenn ich in einer neuen Stadt ankomme, ich muss Norden finden, sobald ich
dort bin.“17
Diese Anekdote, in der sich die Ablehnung von Geschichte aus der Familientradition speist, birgt eine klare Opposition: sich mit der Vergangenheit beschäftigen
heißt, zu Hause nicht wegzukommen; umgekehrt erlaubt Mobilität keinerlei
Geschichtlichkeit. Auch innerhalb dieses Kontexts findet eines der wichtigsten
kunsttheoretischen Statements zum Thema der „Kunstgeschichtlichkeit“, Hal Fosters 1996 publiziertes Buch The return of the real, einen Platz.18 Fosters Publikation
war der veränderten Wiederkehr der Kunst der Moderne in den Neoavantgarden
gewidmet und verfolgte die Frage, wie die Kontaktaufnahme mit der Vergangenheit
zur Abwendung von gegenwärtigen und Entwicklung neuer Praktiken führen kann.
Foster arbeitete mit den Figuren der „Parallaxe“, der scheinbaren Veränderung eines
Objektes, wenn der Beobachter seine eigene Position verschiebt, und der „Nach-
17 Vgl. Claire Denis im Gespräch mit Doug Aitken, in: Broken Screen. 26 Conversations with Doug
Aitken, hrsg. von Noel Daniel, New York 2006, S. 99 (Übers. d. A.).
18 Hal Foster, The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge,
MA 1996. Vgl. ders., „Archives of Modern Art“, October, 99, Winter 2002, S. 81 – 95, in Auseinandersetzung mit Michael Frieds „Painting Memories. On the Containment of the Past in
Baudelaire and Manet“, Critical Inquiry, 10, 3, März 1984, S. 510 – 542, sowie ders., Manets
Modernism. The Face of Painting in the 1960s, Chicago 1998.
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EVA KERNBAUER
träglichkeit“, mit der er etwa die verspätete Realisierung des avantgardistischen
Bruchs mit traditionellen Kunstformen in der institutionskritischen Nachmoderne
beschrieb. Damit stellte er der von Clement Greenberg und Michael Fried betonten, sich aus der Logik der Gattungsspezifik speisenden, formalen und diachronen
Verbindungslinie der Moderne19 den avantgardistischen Bruch mit eben dieser Tradition durch die Etablierung gesellschaftsbezogener künstlerischer Kompetenzfelder zur Seite. Dieses Bemühen um eine Verschränkung von „horizontal“ (sozial)
und „vertikal“ (historisch) gedachten Achsen ist für ein kritisches Verständnis von
Geschichtsbezügen bedeutend. Diese sind nicht als einzeln in die Vergangenheit
verlaufende Stränge zu verstehen, sondern können immer wieder neue politische
und soziale Anliegen in Vergangenheit wie Gegenwart bergen und mit sich führen.
Geschichtsarbeit wird im Kontext dieses Bandes daher nicht als ein Verfahren
betrachtet, das solcher Arbeit am Sediment der Geschichte ein vermeintlich „sauberes“ oder säuberndes Verständnis formaler Genealogien entgegensetzt.
Vielleicht wird gerade in den gegenwärtig verwendeten künstlerischen Strategien der Neuformatierung und Neustrukturierung von Inhalten, wie sie David
Joselit vorgestellt hat, die Notwendigkeit der Verschränkung (oder die Unmöglichkeit einer grundsätzlichen Trennung) von „vertikalen“ und „horizontalen“ Achsen
deutlich. Joselit nennt in diesem Zusammenhang vier Methoden: Appropriation
und Neuzusammenstellung, dokumentarische und akkumulative Verfahren, Wiederholungen und Analyse/Kommentar.20 Zeitlich zurückgreifende Vorgangsweisen
werden so zugleich als Modi synchroner Sammlung und Vernetzung nutzbar, im
Sinne der Realisierung des konzeptuellen Werks als in die Tiefe wie in die Breite
ausgreifendes Distributionssystem21.
Geschichte schreiben, Geschichte machen
Historisch betrachtet, waren kunst- und kulturhistoriografische Entwürfe grundlegend an der Entstehung geschichtlichen Denkens beteiligt.22 Es mag also nicht
übertrieben sein, der aktuellen Reproduktions- und Reformatierungskunst einen
hohen Stellenwert nicht nur als kulturelle „Symptome“, sondern als Instrumente
19 Clement Greenberg, „Modernist Painting“ (1960), in: ders., The Collected Essays and Criticism, Bd. 4, Modernism with a Vengeance, 1957–1969, hrsg. von John O’Brian, Chicago 1993,
S. 85 – 93; Michael Fried, „Three American Painters: Kenneth Noland, Jules Olitski, Frank Stella“, in: ders., Art and Objecthood. Essays and Reviews, Chicago 1998, S. 213 – 265.
20 David Joselit, After Art, Princeton 2013, S. 34 – 38.
21 Vgl. Sabeth Buchmann, „ProduzentInnen im Vergleich“, in: The Artist As..., hrsg. von Matthias
Michalka, Wien 2006, S. 13 – 32, sowie Craig Owens, „From Work to Frame, or, Is There Life
After ,The Death of the Author‘?“, in: Beyond Recognition. Representation, Power, and Culture,
hrsg. von Scott Bryson, Barbara Kruger u. a., Berkeley 1992, S. 122 – 139.
22 Hans Robert Jauß, „Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes“, in: Charles Perrault, Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les
arts et les sciences (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; Bd. 2), München
1964, S. 23 – 33.
EINLEITUNG
15
neuer Formen von Geschichtsschreibung zuzugestehen. Allerdings können, wie zu
sehen war, nicht einfach allgemeingültige Kriterien erstellt werden, um „gute“ von
„schlechten“, „interessante“ von „uninteressanten“ Geschichtsbezügen zu scheiden. Schon ein Blick auf die häufige Auseinandersetzung der Gegenwartskunst mit
der Moderne (ihrer „Antike“, wie es bei der Documenta 12 hieß) zeigt, wie unterschiedlich historische Anleihen geschehen und interpretiert werden können: als
künstlerisch-wissenschaftliche Aufsprengung der großen Geschichtserzählungen
des 20. Jahrhunderts, als postkoloniale Re-Appropriation durch die ehemaligen
kolonialen Laboratorien der westlichen Moderne,23 oder aber als neo-formalistische Rückkehr in ein Goldenes Zeitalter24. Diese letzte Interpretation kann wohl
nur im US-amerikanischen Kontext, und auch dort nur sehr eingeschränkt, Geltung beanspruchen. Tatsächlich lässt und ließ sich die Auseinandersetzung mit
dem Trauma der Moderne eher im Modus der Freud’schen „Nachträglichkeit“
beschreiben als ein kulturpsychologisches „Nachleben“ im Sinne Aby Warburgs,
wie es Georges Didi-Huberman unlängst formuliert hat: als ein „nicht-natürliche[r]“ Prozess, der von künstlichen Wiederbelebungen abhängt und nicht mit
einer Wiederauferstehung oder einem „Weiterleben“ gleichzusetzen ist, sondern
eigentümliche Untote hervorbringt.25
In einem Aufsatz über Formalismus und Historizität in der US-amerikanischen
und europäischen Kunst hat Benjamin Buchloh 1977 die Konzeption europäisch-institutionskritischer Geschichtlichkeit aufgegriffen, um Arbeiten von Künstlern wie Marcel Broodthaers und Daniel Buren gegenüber einer präsenzorientierten, formalistisch-tautologischen US-amerikanischen Kunst herauszustellen.26 Die
Wertungen mögen sich gewandelt haben, die Opposition der westlichen Nachmodernen ist selbst Geschichte geworden. Doch scheint in der Unterscheidung künstlerischer und kunsthistorischer Arbeit das historistische Aperçu der Trennung zwischen denjenigen, die Geschichte machen, und denjenigen, die sie schrieben,
fortzuleben. Ein Bemühen dieses Bandes ist, den Anteil von Künstler_innen an der
Entwicklung kunsthistoriografischer Modelle und ihre Verstrickung mit diesen zu
unterstreichen und so eine Verknüpfung von Historisierung, Selbsthistorisierung
und Enthistorisierung zu denken, die die gegenläufigen Bewegungen eines ahistorischen, rein originär gedachten Kunstverständnisses mit dessen Verflechtung (und
Auflösung) in historische Bezüge in Auseinandersetzung bringt.
Bezugnahmen auf die Geschichtlichkeit der Kunst bedeuten, mit einem jeder
künstlerischen Setzung inhärenten Aspekt umzugehen und Stellung zu wissensökonomischen, auktorialen und historischen Fragen der Kunstproduktion zu
23 Kader Attia, „Re-Appropriation“, in: Colonial Modern. Aesthetics of the Past – Rebellion for the
Future, hrsg. von Tom Avermaete, London 2010, S. 50 – 57.
24 Geers 2012.
25 Didi-Huberman 2010.
26 Benjamin H. D. Buchloh, „Formalism and historicity – changing concepts in American and
European art since 1945“, in: Europe in the Seventies. Aspects of Recent Art, hrsg. von Anne Rorimer, Ausst.-Kat. Art Institute of Chicago, Chicago 1977, S. 82 – 111.
16
EVA KERNBAUER
beziehen. Geschichtlichkeit ist ein unausweichlicher Bestandteil jeder künstlerischen Arbeit, wobei dies nicht notwendig eine Fort- sondern eine Umschreibung
der (Kunst-)Geschichte mit sich bringt. Häufig wird in diesem Zusammenhang
eine Formulierung T. S. Eliots zitiert:
„Die Notwendigkeit, daß [der Künstler] sich in Ordnungen und Zusammenhänge einfüge, ist durchaus nicht nur einseitig; von den Nachwirkungen der Tatsache,
dass ein neues Kunstwerk entstanden ist, werden zugleich auch alle vorangegangenen
Kunstwerke mitbetroffen. Die vorhandenen Literaturdenkmäler stellen untereinander eine ideale Ordnung dar, die dadurch, daß ein neues (ein wirklich neues) Kunstwerk sich ihnen zugesellt, eine gewisse Veränderung erfährt.“27
Diese Passage enthält den Gedanken der Reversibilität historischer Folgenlogik,
demonstriert jedoch ebenso die Unmöglichkeit, Geschichtsmodelle jeweils für spezifische politische Inhalte zu reklamieren. So zeigt die Geschichte der Moderne das
hohe politische Potenzial linearer Geschichtsmodelle; umgekehrt können
Zeitsprünge und Zeitfaltungen revolutionär gedacht sein, aber auch völlig belanglos werden. Eliots Konzept beinhaltet das Potenzial zur völligen Transformation der
Tradition, verfolgt jedoch ganz andere Vorstellungen. Demnach entspringt die
künstlerische Tätigkeit vollständig aus der „ideale[n] Ordnung“ der Tradition und
fügt sich – sofern sie Platz nehmen darf – sogleich wieder in sie ein. Sein Modell
depersonalisierter Autorschaft besteht in der aufopfernden Selbstauslöschung des
Künstlersubjekts, das vollkommen in der europäischen Tradition aufgeht. Der
Schwerpunkt des oben genannten Zitats liegt denn auch weniger auf der „gewissen“ Veränderung als auf dem „wirklich neuen“ Kunstwerk, das im Dienste der
ständigen Aktualisierung und damit dem Fortbestand der Tradition steht.
Es erstaunt wenig, dass George Kubler sich für Eliots Konzeption interessiert
hat, insbesondere für den (von ihm salopp so bezeichneten) „Eliot-Effekt“, den er
in André Malraux’ Voix de Silence beobachtete: „Dort sind bedeutende Künstler
dargestellt, die die Traditionen, in denen sie stehen, durch ihre eigenen neuartigen
Beiträge rückwirkend verändern.“28 Auf einer solchen Dimension historischer
Dynamik beruht auch das Konzept der Sequenz (oder „Abfolge“), das Kubler in
seinem in Künstler- wie Theoretiker_innenkreisen rasch rezipierten Aufsatz The
Shape of Time (1962) formulierte. Demnach sind bedeutende Kunstwerke dadurch
verbunden, dass sie „Lösungen“ für dasselbe „Problem“ darstellen. Es gibt „offene“
und „geschlossene“ Sequenzen: solche Probleme, für die noch aktiv Lösungen
gefunden werden, und solche, die (möglicherweise vorübergehend) als uninteressant oder als obsolet gelten. „Jedes bedeutende Kunstwerk kann als ein historisches
27 T. S. Eliot, „Tradition und individuelle Begabung“ (1919), in: ders., Essays I: Kultur und Religion, Bildung und Erziehung, Gesellschaft, Literatur, Kritik (Werke, Bd. 2), Frankfurt a. M. 1967,
S. 347.
28 George Kubler, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt a. M. 1982,
S. 207, Fn. 5.
EINLEITUNG
17
Ereignis angesehen werden und als die schwer erarbeitete Lösung eines Problems.“
Nun kann es nicht endlos viele Sequenzen geben, denn jede entspricht einem
„bewusst wahrgenommenen Problem, das für seine erfolgreiche Lösung der ernsthaften Aufmerksamkeit vieler Menschen bedarf“.29 Und noch weniger sind die
daraus entstandenen Artefakte gleichberechtigt: „[B]edeutende“ Kunstwerke oder
„primäre Objekte“ bestimmen den künstlerischen Wandel (und damit den Verlauf
der Abfolge); die zahlreichen anderen beschreiben die unausweichliche „Replikenflut“, auf die allerdings der oder die mit der Identifikation der Sequenz beschäftigte
Kunsthistoriker_in aufgrund des Verlusts des bedeutenderen historischen Materials
angewiesen sein kann.30
Wenn sich ein Kunstwerk auf ein weit zurück oder ein weit entfernt liegendes
bezieht, dann kann es eine Kunstgeschichtsschreibung eröffnen, die Sprünge,
Wiederholungen und Umschreibungen linearer Zeitabläufe mit sich bringt. Ein
Kunstwerk kann auf mehreren Sequenzketten liegen (unterschiedliche Probleme
bearbeiten), womöglich mit unterschiedlichen Anfangs- und Endpunkten,
Geschwindigkeiten, Höhepunkten, Pausen und Stillständen. Die frühe Lösung
eines Problems kann historisch zum gleichen Zeitpunkt auftauchen wie eine späte
Lösung einer anderen Sequenz. Das „systematische“ Alter eines Kunstwerks (die
Stellung, die es innerhalb der Sequenz einnimmt) ist daher bedeutender als sein
chronologisches Alter. Aus alledem ergibt sich, dass die „Geschichte der Dinge“
eine eigene Logik hat, die sich nicht in synchronen, chronologisch aneinandergereihten Epochenabfolgen erschöpft. In sich allerdings verlaufen die Sequenzen
streng linear: Jedes Kunstwerk hat auf der Problemlösungskette einen festen Platz
und „reduziert den Umfang der Möglichkeiten für die nachfolgende Position“.31
Mit einer informationswissenschaftlich geprägten Begrifflichkeit32 wandte sich
Kubler gegen lebenszyklische Beschreibungen von Geschichtsverläufen, wie sie die
Kunstgeschichtsschreibung von Vasari bis Winckelmann geprägt hatten und in der
Stilgeschichte fortlebten. Ganz befreite er sich zwar von der kunsthistoriografischen Terminologie nicht: „Historisch betrachtet, werden nur solche Lösungen zu
einer Sequenz verkettet, die durch die Bande der Tradition und wechselnder Einflüsse miteinander verbunden sind.“33 In diesem Satz verwendet Kubler die tradi-
29 Ebd., S. 71, 76.
30 Ebd., S. 78.
31 Ebd., S. 97. Aus Kublers Sicht verengten sich die Sequenzketten in seiner zeitgenössischen
Gegenwart: Hier kündigte sich offensichtlich nicht gerade ein Ende der Geschichte, aber ein
Ende der Sequenzketten an.
32 Pamela M. Lee, „Ultramoderne, or, How George Kubler Stole the Time in Sixties’ Art“, Grey
Room, 2, Winter 2001, S. 46 – 77; vgl. dies., Chronophobia. On Time in the Art of the 1960s,
Cambridge, MA und London, 1990, S. 218 – 256.
33 Kubler 1982, S. 72. Trotz Kublers Ablehnung der Stilgeschichte weist sein Konzept der Sequenz
Parallelen zu Sempers Stillehre auf, denen interessant wäre nachzugehen. Vgl. Gottfried Semper,
Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik [1860/63], Frankfurt a. M. und München 1977.
18
EVA KERNBAUER
tionellen Begriffe „Tradition“ und „Einfluss“ ganz unproblematisiert, drückt aber
dennoch eine Absetzung von kunsthistorischen Interessen aus. Die Kunstwerke
enthaltenden Sequenzketten sind zwar innerhalb eines Geschichtsverlaufs, aber
nicht damit identisch gedacht. Kubler verfolgte nicht die Möglichkeiten kohärenter
historiografischer Darstellungen, sondern derjenigen des eigenwilligen und wandelbaren Verlaufs der Objektreihen selbst.
In The Shape of Time hob Kubler mehrfach die Bedeutung seines Lehrers und
Doktorvaters Henri Focillon hervor, dessen Publikation Vie des Formes34 die Grundlage der Entwicklung seines Modells der Sequenzketten bildete. Deutlich weniger
explizit blieb die enge Beziehung zu einem weiteren seiner Lehrer, Erwin Panofsky,
mit dem er seit seiner Studienzeit in regelmäßigem Austausch stand.35 Zumindest
indirekt aber war Panofsky in The Shape of Time sehr viel umfassender präsent,
machte Kubler darin doch seine Ablehnung der Ikonologie deutlich: diese sei nur
an Kontinuität, nicht an der Darstellung von Brüchen und Rupturen interessiert
und vermöge aufgrund ihrer Textbasiertheit nicht, Artefakte nichtschriftlicher Kulturen zu erfassen.36 Dieser Punkt war zentral, da sein Hauptanliegen eine Ausweitung der Anwendungsbereiche historiografischer Modelle auf nichtwestliche Artefakte darstellte – ein Punkt, dem er seine hohe gegenwärtige Aktualität verdankt.37
Kublers Ablehnung dominanter kunsthistoriografischer Modelle traf einen
empfindlichen Nerv und trug vermutlich nicht unerheblich zu seiner raschen
Anerkennung bei. Dabei war seine Systematik, ebenso wie die von ihm verwendete
Begrifflichkeit, ganz offensichtlich von eben diesen Modellen, auch von der Ikonologie, geprägt, sodass manche Rezensenten deren Ablehnung als wenig nachvollziehbar befanden. Der polnische Ikonologe Jan Białostocki etwa setzte deren simplifizierender Darstellung als rein sprachlich determinierte Symbolentschlüsselung
eine aktuellere Definition durch den in New Yorker Kunstkreisen hoch geschätzten
Kunsthistoriker Meyer Schapiro entgegen.38 Doch war Kubler wenig an der Bedeutungsforschung von Kunstwerken als kulturelle Symbole interessiert, sondern an
34 Henri Focillon, Vie des Formes, Paris 1934, dt.: Das Leben der Formen, Bern 1954.
35 Kubler erwähnt Panofsky direkt nur kurz an einer Stelle, mit Hinweis auf seinen Aufsatz „Über
die Reihenfolge der vier Meister von Reims“, der ein Fallbeispiel eines künstlerischen Anachronismus gegenüber gültigen stilgeschichtlichen Konzeptionen beschreibt. Kubler 1982, S. 185.
36 Im englischen Original ist der entsprechende Absatz „Iconologial diminutions“ betitelt (George
Kubler, The Shape of Time. Remark on the History of Things, New Haven und London 1962,
S. 127), ein direkter Angriff auf die Ikonologie, den die deutsche Übersetzung „Ikonographische
Forschung“ unterschlägt (Kubler 1982, S. 64).
37 Vgl. die Bezüge auf Kubler durch David Summers, Real Spaces. World art history and the rise of
Western modernism, London 2003. Ausführlicher dazu: Kerstin Schankweiler, „Brüche und Rupturen. Eine postkoloniale Relektüre von George Kublers The Shape of Time“, in: Im Maschenwerk der Kunstgeschichte. Eine Revision von George Kublers „The Shape of Time“, hrsg. von Sarah
Maupeu u. a., Berlin 2014, S. 127 – 145.
38 Jan Białostocki, Rezension von George Kublers The Shape of Time, The Art Bulletin, 47, 1, März
1965, S. 135 – 139.
EINLEITUNG
19
deren Betrachtung „als ein System formaler Beziehungen“.39 Nun tut die bis heute
häufig bemerkte Inkonsequenz seiner Argumentation40 dem Umstand, dass es ihm
gelang, sowohl Kunstgeschichte wie auch Formalanalyse mit seinem Aufsatz aus
der Reserve zu locken, kaum Abbruch. (Eine hartnäckige Inkonsequenz ist ja auch
in der klassisch kunsthistorischen Terminologie enthalten, die etwa Begriffe wie
„barock“, „impressionistisch“ oder „expressionistisch“ – ganz zu schweigen vom
„Problem des Klassizismus“ – ebenso gerne als Epochenbegriffe wie als formale
Beschreibungskriterien anwendet.41) Doch macht Białostockis Kritik – die etwa
auch Siegfried Kracauer teilte42 – auf einen noch weiter gehenden Zwiespalt aufmerksam, den Kubler offensichtlich selbst ebenfalls empfand. Zumindest fühlte er
sich von Panofskys mehrfacher Empfehlung seines Buches angehalten, diesem zu
schreiben,
„something which should be more clearly and prominently said in the book itself,
namely, that the models of thematic study on which my idea about sequence rests, are
the iconographic essays to which you treated us all in Studies in Iconology. It is this
kind of alignment which I sought to extend to other domains. When the opportunity
to do so presents itself, I shall make the point clearer in print.“43
Bereits 1961 hatte Kubler unter dem Titel „Disjunction and Mutational Energy“
eine Rezension von Panofskys Renaissance and Renascences publiziert, die eine
detaillierte Auseinandersetzung mit den darin enthaltenen kunsthistoriografisch-methodischen Argumenten zeigt. Wie der Titel der Rezension zeigt, galt Kublers Interesse dem von Panofsky entwickelten Disjunktionsprinzip (dem Auseinandertreten künstlerischer Formen und Bedeutungsinhalten) sowie der begrifflichen
Darstellung formalen Wandels. In Renaissance and Renascences fand er Bestätigung
für diejenigen Überlegungen, die ihn gerade beschäftigten,44 in The Shape of Time
39 Kubler 1982, S. 29.
40 Vgl. dazu ausführlich Maupeu u. a. 2014.
41 Andrea Pinotti, „Ma Grünewald era davvero espressionista? La storia degli stili fra anacronismo
e retroscopia“, in: Anacronie. La temporalità plurale delle immagini, Carte Semiotiche 2013, hrsg.
von Angela Mengoni, Lucca 2013, S. 19 – 28.
42 Kracauer zeigte sich gegenüber Panofsky erstaunt über die explizite Ablehnung der Ikonologie:
Er sähe nicht, wie eine Formklasse ohne Untersuchung der Bedeutung des Problems, dem sie
entspringt, auskommen könne (Siegfried Kracauer an Erwin Panofsky, Brief vom 31. März 1962,
in: Siegfried Kracauer – Erwin Panofsky, Briefwechsel 1941 – 1966, hrsg. von Volker Breidecker,
Berlin 1996, Nr. 62, S. 68).
43 George Kubler an Erwin Panofsky, 15. Mai 1962, in: Erwin Panofsky, Korrespondenz
1910–1968, hrsg. von Dieter Wuttke, Wiesbaden 2011, Bd. V, Nr. 2869, S. 227.
44 Vgl. die von Richard C. Smith und Thomas F. Reese durchgeführte Gespräche mit George Kubler
in der Serie „Interviews with Art Historians 1991 – 2002“ des Getty Research Institute vom 30. März
1991 und 18. November 1991, in denen Kubler eine gerade für die frühen 1960er Jahre, die Zeit der
Publikationen von Renaissance and Renascences und The Shape of Time, große Übereinstimmung in den
großen methodischen und theoretischen Fragen mit Panofsky feststellt: KUBLER: „[...] My thought at
that time was molded by his. [...] “ SMITH: „On the use of iconology, too.“ KUBLER: „Yes.“
20
EVA KERNBAUER
blieb dies gleichwohl unerwähnt.45 Es ist eine Ironie des Schicksals, dass die Übersendung eben desjenigen Hefts von Art News an Panofsky, das Kublers wertschätzende Rezension von Renaissance and Renascences enthielt, die bekannte, heftige
Auseinandersetzung zwischen Panofsky und Barnett Newman um einen Druckfehler in der Ausgabe der Zeitschrift auslöste, die Beat Wyss als ein (in seiner Lesart
primär Panofsky zugeschriebenes) Versäumnis einer Dialogaufnahme zwischen der
New Yorker Kunstszene und der von Exileuropäern dominierten akademischen
Kunstgeschichte der Ostküste beschrieben hat.46 Ein Paradefall also des Konflikts
zwischen (Gegenwarts-)Kunst und Kunstgeschichte, der zum Zeitpunkt der 1960er
Jahre vor dem Hintergrund des wachsenden akademischen Distinktionsdrangs
künstlerischer Theoriebildung eine weitere Spielart erfahren hatte. Diese Frontstellung zwischen Kunst und Kunstgeschichte hat Gottfried Boehm in seiner Einleitung zur deutschen Erstausgabe von Kublers The Shape of Time (Die Form der Zeit,
1982) auf den folgenden Punkt gebracht: „Die Aufgabe, Kunst-Geschichte zu
schreiben, endet in einem Paradox: entweder Kunst, dann aber keine Geschichte
– oder Geschichte, dann aber keine Kunstgeschichte.“47 Womit indirekt eine weitere Spielart des Konflikts eröffnet war: die Opposition zwischen einer durch die
Betrachtung von Gegenwartskunst motivierten (bildwissenschaftlichen) Kunsttheorie und einer an Methodenfragen uninteressierten Kunstgeschichte, wie sie ab den
1980er Jahren auch institutionelle Konsequenzen hatte.48
45 Gelegenheit, diese Bezüge deutlicher auszuführen, ergab sich für Kubler 1975 in einem Aufsatz,
in dem er gleichermaßen die Verwendung ikonologischer Methoden für seine Forschungsgebiete
als auch die Bedeutung von Panofskys Renaissance and Renascences hervorhob: George Kubler,
„History – Or Anthropology – of Art?“, Critical Inquiry, 1, 4, Juni 1975, S. 757 – 767.
46 Vgl. dazu: Beat Wyss, Ein Druckfehler. Panofsky versus Newman – Verpasste Chancen eines Dialogs,
Köln 1993. Dass Wyss allerdings Panofsky vorwirft, gleich zwei Chancen zur Aufnahme eines
Dialogs mit der New Yorker Kunstszene versäumt zu haben (einmal zu Kubler, einmal zu Newman),
liegt an einer Fehldarstellung der Beziehungen zwischen Kubler und Panofsky, die vermutlich
daraus rührt, dass Panofskys Korrespondenz zum damaligen Zeitpunkt noch nicht publiziert war.
Vgl. zum erweiterten Kontext dieser Debatte Kunstgeschichte und Gegenwartskunst. Vom Nutzen
und Nachteil der Zeitgenossenschaft, hrsg. von Verena Krieger, Köln, Weimar, Wien 2008.
47 Gottfried Boehm, „Kunst versus Geschichte: ein unerledigtes Problem“, in: Kubler 1982,
S. 13. Eine aus US-amerikanischer Sicht formulierte Neuverteilung der Karten gibt Rosalind
Krauss’ Präsentation Georges Didi-Hubermans vor dem US-amerikanischen Publikum, in der
sie eine Kontinuität von Robert Morris’ Kritik an kunsthistoriografischen Darstellungen zu
dessen methodologischen Zugängen evoziert: Rosalind Krauss, „Critical Reflections: Georges
Didi-Huberman“, Artforum, Januar 1995, S. 64 – 65 und 103 – 104.
48 Vgl. in diesem Kontext die Debatte um Hans Beltings Das Ende der Kunstgeschichte?, München
1983 bzw. ders., Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995. Vgl.
zum Vorwurf der Opposition von Kunst und Kunstgeschichte die Ausdifferenzierung Stefan Germers: „Mortifizierung ist dem kunstgeschichtlichen Gewerbe inhärent: anders als die Kunsttheorie,
die ihren Gegenstand für zeitlos, und im Unterschied zur Kunstkritik, die ihn für gegenwärtig hält,
stellt sich die Kunstgeschichte ihre Objekte – unabhängig vom tatsächlichen Datum ihrer Entstehung – gewöhnlich als vergangen (und deshalb der historischen Rekonstruktion so zugänglich wie
bedürftig) vor.“ Stefan Germer, „Mit den Augen des Kartographen – Navigationshilfen im Posthistoire, in: Kunst ohne Geschichte? Ansichten zu Kunst und Kunstgeschichte heute, hrsg. von Anne-Marie
EINLEITUNG
21
Es geht hier nicht darum, Beat Wyss’ Argumentation und damit den Spieß
umzukehren oder Kubler gar eine strategische Unterschlagung seiner kunsthistorischen Wurzeln zu unterstellen. Dennoch ist die begeisterte Aufnahme seines Aufsatzes in der New Yorker Kunstszene aufschlussreich. Jenseits der Frage gegenseitiger Versäumnisse zwischen Künstler_innen und Kunsthistoriker_innen ist es
ebenso bedauerlich wie folgerichtig, dass die institutionelle Dominanz stilgeschichtlicher Konzeptionen in der Kunstgeschichte und ihre reflexartige Theoriefeindlichkeit und Abwehrhaltung gegen die jeweilige Gegenwartskunst dazu
geführt hat, dass die Ausformulierung innovativer kunsthistoriografischer Konzepte regelmäßig gegen die Kunstgeschichte als Wissenschaftsdisziplin geschehen
ist. Selbst der Umstand, dass sie so zahlreiche und vielfältige methodische Entwürfe
dazu beigetragen hat, hat dies nicht verändert, selbst wenn die Gewährsmänner
Aby Warburg oder Georges Didi-Huberman heißen.49 Als Wissenschaftsdisziplin
hat sie von dem wiederholten Beschuss wohl mehr profitiert denn gelitten. Eine
Kunstgeschichte jedenfalls, die sich nicht für die Gegenwart interessiert, nicht
bewusst von Gegenwartsfragen ausgeht, wäre auch nach Maßgabe des geschichtswissenschaftlichen Ethos ein Unding.
Ketten, Maschen, Falten, Sprünge
Georges Didi-Hubermans Beschäftigung mit dem ikonologischen Analysemodell
Aby Warburgs hat der aktuellen Forschung einen umfassenden Horizont zur Auseinandersetzung mit nicht-chronologischen Zeitmodellen eröffnet. Statt einer
Kette der großen Meisterwerke, die analog zu einer „great chain of being“ gedacht
werden kann, war für Warburg, wie Didi-Huberman eindrücklich beschrieben
hat, eher die Orientierung an Thomas Carlyles „great chaos of being“ maßgeblich;50 nicht die Einschreibung einzelner Kunstwerke in stabile Zeitflüsse, sondern
ihr symptomatisches, notwendig heterochrones Nachleben in die Gegenwart.
Warburgs Verfolgung des „Formengedächtnisses“ ist offen für die „Unreinheit der
Zeit“, die bei der Betrachtung von Kunst nicht klar geteilt, gelenkt, kategorisiert
werden kann; sein Erinnern ist dasjenige des Symptoms, nicht dasjenige des
Gedächtnisses, das die Kontinuität der Tradition gewährleistet.51
Ich möchte in diesem Kontext vor allem einen einfachen, aber grundlegenden
Punkt hervorheben, der auch für Kubler entscheidend war: „Tradition war für
Warburg nicht ein Strom, auf dem Ereignisse und Menschen dahingetragen werden. Einflüsse bedeuten nicht passives Annehmen, sondern erfordern die Anstren-
Bonnet und Gabriele Kopp-Schmidt, München 1995, S. 141 (mit weiteren Verweisen).
49 Vgl. Johannes Grave, „Die Kunstgeschichte als Unruhestifter im Bilddiskurs. Zur Rolle der
Fachgeschichte in Zeiten des iconic turn“, Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, Forum
„Wissenschaftsgeschichte der Kunstgeschichte“ (2009). Im erwähnten Kontext vgl. Georges
Didi-Huberman, Devant l’ image. Question posée aux fins d’une histoire de l’art, Paris 1990.
50 Georges Didi-Huberman, Das Nachleben der Bilder, Berlin 2010, S. 77.
51 Didi-Huberman 2010, S. 78.
22
EVA KERNBAUER
gung der Anpassung, ‚eine Auseinandersetzung‘, wie Warburg es formulierte, und
zwar mit der Gegenwart wie mit der Vergangenheit.“52 Daraus ergibt sich ein konkretes wissenschaftliches Problem: „Sobald man eine künstlerische Erscheinung im
Lichte der ihr eigenen Voraussetzungen betrachtet, verlieren stilistische Kriterien
ihre festgelegte Bedeutung.“53 Ein historisch genauer Blick auf Formen macht die
Stilgeschichte unwirksam. Direkt in das Zentrum dieser Problematik hinein geht
Hubert Damischs (psycho-)analytische Ikonologie in Le jugement de Pâris: in eine
Abkehr von der Vorstellung von der Zeit als ein Gefäß, in das das Kunstwerk vom
Historiker hineingestellt wird,
„eine Beziehung, die ganz einfach gedacht ist, wie ein Behältnis und sein Inhalt: die
Geschichte findet statt in der Zeit, sie schreibt sich in sie ein und entfaltet sich in ihr.
[...]. Während es doch ganz offensichtlich das betrachtete Objekt ist, [...] das die Zeit
herstellt, die eigentliche Dauer, in die es sich einschreibt, und in der es verlangt, erfahren und betrachtet zu werden. [...] Kunst (um nicht erst vom Unbewussten zu sprechen, von dem Freud sagte, es habe keine ‚Geschichte‘) kümmert sich nicht um solche Fragen und vergleichbare Skrupel; sie nimmt ihr Material wo sie es finden kann
(was nicht heißt, zufällig) und verwendet es ihren eigenen Zwecken entsprechend,
wobei sie es häufig ganz absichtlich von seinen Entstehungskontexten abbringt.“54
Alexander Nagel und Christopher S. Wood haben in ihrem gemeinsam verfassten
Buch Anachronic Renaissance 2010 den Begriff der Anachronie zur Beschreibung
einer der Chronologie enthobenen zeitlichen Mobilität von Kunstwerken vorgestellt.55 So wie die chronologische Zeit zu den ihr eigenen Figurationen geführt
hat (Uhren, Kalender, Annalen und Chroniken), so bringt die bildende Kunst
demnach eigene Geschichtsverläufe hervor: Wiederholungen, Rückläufigkeit,
Dehnungen, Verdopplungen, Faltungen und Biegungen, wobei die anachronische
Qualität von Kunstwerken nicht nur diese Formationen umfasst, sondern genereller die Fähigkeit, miteinander unvereinbare Modelle von Zeitlichkeit in Spannung
zu halten.56
Der Begriff des ‚Anachronischen‘ ist in Absetzung vom ‚Anachronistischen‘
entwickelt, das die falsche Verortung eines Ereignisses auf dem zeitlichen Ablauf
bezeichnet. Nagels und Woods Verwendung orientiert sich an dem in diesem
Band erstmals in deutscher Übersetzung abgedruckten Text Jacques Rancières,
52 Gertrud Bing, „A. M. Warburg“ (1965), in: Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und
Würdigungen, hrsg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1979, S. 449.
53 Ebd., S. 445.
54 Vgl. Hubert Damisch, Le jugement de Pâris, Paris 1992, S. 113 – 114 (Übers. d. A.); vgl. zu einer
von Damisch ausgehenden Auseinandersetzung mit diesem anachronischen Analysemodell
Mengoni 2013.
55 Alexander Nagel und Christopher S. Wood, Anachronic Renaissance, New York 2010; zuvor
bereits: dies., „Interventions. Towards a New Model of Renaissance Anachronism“, Art Bulletin,
September 2005, 87, 3, S. 403 – 415.
56 Nagel und Wood 2010, S. 18: „The ability of the work of art to hold incompatible models in
suspension without deciding is the key to art’s anachronic quality [...]“.
EINLEITUNG
23
„Le concept d’anachronisme et la verité de l’historien“, der ein Modell des Anachronischen als Bedingung für Geschichte eröffnet, ebenso wie an Margreta de
Grazias Skizze einer (Kultur-)Geschichte des Anachronismus.57
Die Vorstellung von Heterochronien ist für die Renaissance nicht neu, wie
Nagel und Wood unterstreichen. Doch es ist aus mehreren Gründen besonders
interessant, sie im Kontext der Renaissanceforschung zu verfolgen. Einerseits aus
historischen Gründen: Wie Nagel und Wood zeigen, galt zu Beginn der Neuzeit
der Instabilität der Zeit besondere Aufmerksamkeit. Andererseits aus wissenschaftstheoretischen Gründen, da die heterochrone Verfasstheit der Renaissance den darin
verorteten Entstehungsbeginn der performativen Produktion von Autorschaft problematisiert. Autorschaft ist ein Konzept der Innovation, der Neuerung. Dem
Konzept der Autorschaft entsprechend ist der kunsthistorische Zeitfluss klar in ein
„vor“ und ein „nach“ dem Werk geteilt.58
Nagel und Wood stellen diesem performativen Modell dasjenige der Substitution zur Seite. Die Logik der Substitution beschreibt die Möglichkeit, dass neue
Kunstwerke für alte stehen können, ja faktisch als „alt“ verstanden werden, sodass
ein Kunstwerk mehr als einer Zeit zugleich angehören kann (worin auch eine Wendung gegen singularisierende Bildpraktiken59 enthalten ist). Es konnten darin
unterschiedliche Modelle für Zeitlichkeitsproduktion versammelt sein, wobei das
Substitutions- wie das Autorschaftsmodell auf derselben Grundannahme basieren,
dass nämlich Form historiografisch aussagekräftig ist, sich als Spur einer Zeit, einer
Epoche, einer Kultur, also als „Stil“ lesen lässt. Charakteristisch für die Kunst der
Neuzeit sind die „Interferenzen“ zwischen dem performativen Autorschaftsmodell
(innerhalb dessen Wiederholungen nur als Fälschungen oder Kopien wahrnehmbar wären) und dem Substitutionsmodell, wobei die Moderne Autorschaftsmodelle
einseitig auf die Spitze getrieben habe.60
Dieser Punkt ist auch für den vorliegenden Band zentral: Es soll nicht darum
gehen, Anachronie als eine Alternative zu Geschichtsmodellen darzustellen, sondern als ein historiografisches Instrument zu verstehen, das dem gleichförmigen
„Strom“ der Geschichte das Potenzial von Ereignissen und Bedeutungssetzungen
entgegenzustellen vermag. Die Anachronie ist eine Bedingung für Geschichte
ebenso wie für deren Verstehen durch die Geschichtswissenschaft, wenngleich sie
kein wissenschaftliches Instrument im direkten Sinne darstellt. Anders, mit Jacques
Rancière, gesagt: „Die Geschichte konstituiert sich als Wissenschaft, indem sie
durch literarische Verfahren philosophische Fragen löst, die sie sich als solche zu
stellen vermeidet.“61
57 Margreta de Grazia, „Anachronism“, in: Cultural Reformations: Medieval and Renaissance in
Literary History, hrsg. von Brian Cummings und James Simpson, Oxford 2010, S. 13 – 32.
58 Nagel und Wood 2010, S. 15.
59 Vgl. Das Bild im Plural. Mehrteilige Bildformen zwischen Geschichte und Gegenwart, hrsg. von
David Ganz und Felix Thürlemann, Berlin 2010.
60 Nagel und Wood 2005, S. 403.
61 Jacques Rancière, „Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers“, in diesem
24
EVA KERNBAUER
Der Gedanke der kognitiven Distanz von der Vergangenheit als Grundlage der
Fähigkeit, jüngere und ältere Stile gleichermaßen nachzuahmen, findet sich bereits
bei Panofskys Aufsatz „Das erste Blatt aus dem ,Libro‘ Giorgio Vasaris“ (1930),
weiterentwickelt hat er ihn zu einer Analogie zwischen der Entwicklung der Zentralperspektive und der Position der „historischen Perspektive“ der italienischen
Renaissance auf die Antike in Renaissance and Renascences.62 Nun stand allerdings
eine solche „vollständige und rationalisierte Ansicht“63, so meinen Nagel und
Wood, der italienischen Renaissance nicht zur Verfügung. Und, noch weiter
gehend, ist ein solches Denken ungeeignet, die komplexe Struktur geschichtlicher
Bezüge in der Renaissance zu erfassen, da es zur Unterscheidung zwischen „guten
Anachronismen“ wie der Etablierung von Autorschaft durch Bezug auf die vergangene Antike oder der Möglichkeit der freien, bedeutungssetzenden Stilwahl auf der
einen Seite, und Fehldatierungen, Fälschungen oder anderen Verkehrungen der
chronologischen Ordnung auf der anderen Seite führt. Zwar dürfte Panofsky nicht
unbedingt der strengste Gewährsmann der Stilgeschichte gewesen sein. Der Vermutung etwa, dass die anachronistische Liebe der Renaissance zur Antike nichts als
Lust an reiner Verkleidung sei, diese jedoch nicht ihrer Epoche enthebe, hielt
Panofsky ein Beispiel entgegen, das ihn nahe an das Substitutionsmodell bringt:
„‚Ein Mädchen von achtzehn Jahren‘, so wurde gesagt, ‚das die Kleider anzieht, die
ihre Großmutter mit achtzehn trug, wird eher ihrer Großmutter, wie sie damals war,
gleichen als der Großmutter von heute; aber sie wird nicht fühlen oder handeln, wie
es ihre Großmutter vor einem halben Jahrhundert tat‘. [...] Wenn dieses Mädchen
aber die Kleidung ihrer Großmutter gut findet und sie immer trägt in der Meinung,
daß sie ihr besser stehen als die, die sie früher trug, wird sie es unmöglich finden,
nicht auch ihre Bewegungen, ihr Verhalten, ihre Sprache und ihre Reaktionen ihrer
verwandelten Erscheinung anzupassen.“64
Wie allerdings soll eine solche Verknotung von Anachronismen ohne Bruch mit
chronologischen Historiografien zu denken sein, ohne Beeinträchtigung der kognitiven Distanz auf die Kunst der Antike?
Nun ist der Glaube an die Fähigkeit zu einem quasi-perspektivischen Überblick
nicht nur die Grundlage der Renaissance(-forschung), sondern ein Gründungsmythos des kunsthistorischen Denkens, das nicht nur die Neuzeit, sondern die Kunstgeschichte mit der Renaissance beginnen lässt. Macht man das kunsthistorische
Band, S. 33.
62 Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt a.M. 1979, S. 112; diese
Passage war bereits im ersten Aufsatz zum Thema enthalten, der in die spätere gleichnamige
Buchpublikation einging (Erwin Panofsky, „Renaissance and Renascences“, The Kenyon Review,
6, 1944, S. 201 – 236).
63 Panofsky 1979, S. 112.
64 Panofsky 1979, S. 49 – 50; auch für diese Passage vgl. Panofsky 1944. Das Beispiel des 18-jährigen Mädchens hatte Lynn Thorndike ins Spiel gebracht, um sein Argument zu untermauern,
dass es keinen grundlegenden Bruch zwischen Mittelalter und Renaissance gegeben habe.
EINLEITUNG
25
Verdienst der Renaissance nicht länger von der Fähigkeit zur Etablierung perspektivisch gedachter historiografischer Linien abhängig, so ergeben sich auch für die
Kunstgeschichte spannungsreichere Bezugspunkte. Zudem finden sich, wie Hal
Foster deutlich gemacht hat,65 in Nagels und Woods Kritik an historisch-distanzierten Autorschaftsmodellen postmoderne Dekonstruktionen von Autorschaft
wieder. Tatsächlich lässt sich durch die Lektüre von Anachronic Renaissance die
Frage des Umgangs der Appropriation Art der frühen 1980er Jahre mit Autorschaftsmodellen komplexer denken und nicht auf Aneignungsrhetoriken auktorialer Macht reduzieren. Dies hat nicht mit der von Douglas Crimp kritisierten institutionellen Aneignung der künstlerischen Aneignung zu tun66, oder damit, dass,
wie Isabelle Graw festgestellt hat, der Appropriation Art nicht nur kritische, sondern auch fetischisierende Momente inhärent sind.67 Weil Aneignung als handlungstheoretisches Konzept genutzt werden kann, markiert sie weniger eine „Einschreibung“ in die Autorschaftskette als deren Unterbrechung. Der Akt des
Appropriierens – im Sinne einer Strategie, eines „handlungstheoretischen Konzepts“ – suggeriert die Möglichkeit einer Kontrolle über die Bedeutungsverfasstheit
der Aneignung und entwirft das imaginäre Szenario einer klaren Trennung zwischen vorher und nachher, zwischen Angeeignetem und Aneigner_innen.
Abseits der nun ausführlich etablierten Notwendigkeit der Hervorhebung eines
eigenen Geschichtsverlaufs für die Kunst sei auf den doppelten Aspekt der Feststellung von Hans Robert Jauß hingewiesen, „daß der Anspruch des Satzes, der Mensch
mache seine Geschichte selbst, im Bereich der Künste wohl am ehesten Evidenz
gewinnt“.68 Damit ist einerseits die angesprochene durchaus ambivalente Verpflichtung oder Anmaßung eines solchen Anspruchs umfasst. Jauß hat die Bedeutung kunst- und kulturhistoriografischer Modelle für die Entwicklung des
Geschichtsverständnisses der Aufklärung hervorgehoben, ihren Beitrag zu dem
entscheidenden Moment, in dem sich die Vorstellung einer singularisierten
Geschichte gegen die Vielfalt der erzählten Geschichten durchsetzte, kurz gesagt
zur „Formierung historischer Erkenntnis im Denken der Aufklärung“.69 Abschließend stellt er die Frage, „ob die Geschichte der Kunst, die man zumeist als abhängige und ‚arme Verwandte‘ der allgemeinen Historie anzusehen pflegt, nicht auch
65 Hal Foster, „Preposterous Timing“, London Review of Books, 34, 21, 8. November 2012,
S. 12 – 14.
66 Douglas Crimp, „Appropriating Appropriation“, in: ders., On the Museum’s Ruins, Cambridge,
MA 1993, S. 126 – 136.
67 Isabelle Graw, „Wo Aneignung war, soll Zuneigung werden. Faszination, Subversion und
Enteignung in der Appropriation Art“, in: Ausst.-Kat. Louise Lawler and Others, hrsg. von
Philipp Kaiser, Ostfildern-Ruit 2004, S. 45 – 67.
68 Hans Robert Jauß, „Geschichte der Kunst und Historie“, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung
(Poetik & Hermeneutik V), hrsg. von Reinhart Koselleck und Wolf-Dieter Stempel, München
1973, S. 175. Vgl. eine ähnliche Beobachtung in Hans Blumenberg, Säkularisierung und
Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1974, S. 43.
69 Jauß 1964.
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EVA KERNBAUER
einmal der gebende Teil gewesen sein und künftig wieder ein mögliches Paradigma
geschichtlicher Erkenntnis werden kann“.70 Ein Band, der sich mit den Anachronien der Kunst ebenso wie der Kunsthistoriografie beschäftigt, kann von einem
Blick auf vormoderne Geschichtskonzeptionen profitieren, von deren Überzeugung von der Eigengesetzlichkeit der Kunst und von dem reichen philosophischen
Wissen um die Existenz unterschiedlicher Zeitlogiken nebeneinander,71 deren Vereinheitlichung erst die Moderne angestrebt hat. Wenn aber die Möglichkeit, Kunst
als Instrument der Historiografie einzusetzen, sich in der Gegenwartskunst so
nachdrücklich zu eröffnen scheint, dann vermutlich unter anderen Vorzeichen als
jenen, die Jauß in den 1960er und 1970er Jahren im Blick hatte: mit einem weitaus
größeren Einsatz von künstlerischer Seite jedenfalls, mit einer deutlich ambivalenteren Haltung gegenüber dem Anspruch, Geschichte durch Kunst zu machen, und
mit einem starken Interesse an dezentrierten Praktiken, durch die es möglich wird,
Kunst historisch in ihrer sozialen Verschränkung wahrzunehmen.
Zu den Beiträgen in diesem Band
Die in diesem Band versammelten Beiträge sind mehrheitlich aus Vorträgen zur
Tagung „Kunstgeschichtlichkeit“ entstanden, die im Oktober 2013 an der Universität für angewandte Kunst Wien veranstaltet wurde.72 Zusätzlich sind Vera Lauf,
Maria Muhle und Kerstin Stakemeier der Einladung gefolgt, sich mit dem Thema
auseinanderzusetzen.
Der hier erstmals in deutscher Übersetzung veröffentlichte Text Jacques
Rancières, „Der Begriff des Anachronismus und die Wahrheit des Historikers“, war
bereits ein zentraler Ausgangspunkt der 2013 veranstalteten Tagung und ist es
ebenso für die Konzeption des Bandes geblieben. Sein Verständnis von
Anachronismus umfasst mehr als die falsche chronologische Datierung eines
Ereignisses: Es bezeichnet den Wechsel zu nicht-chronologischen Zeiten, mit
denen jeweils unterschiedliche Wahrheitsregimes verbunden sind.73 Ein Ereignis
als „anachronistisch“ zu bezeichnen, kann dazu dienen, die Geschichte einem
„Wahrscheinlichkeitsregime“ zu unterwerfen, das sie gegenüber dem, was in ihrem
Verlauf „nicht möglich“ gewesen sein soll, immunisiert. Gegen diese Verwendung
stellt Rancière die „Anachronie“ (ein Begriff, den er in diesem Artikel entwickelt,
jedoch in späteren Schriften nicht immer unter dieser Bezeichnung aufgreift): die
Unstimmigkeit einer Handlung, eines Ereignisses, eines Gedankens, eines Subjekts
mit dem ihm zugewiesenen Platz auf dem zeitlichen Verlauf. „Anachronie“ macht
70 Jauß 1973, S. 178.
71 Vgl. dazu etwa Siegfried Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, hrsg. von Ingrid Belke,
Frankfurt a. M. 2009, S. 154 – 158, mit Verweisen, sowie de Grazia 2010.
72 Kunstgeschichtlichkeit. Historizität und Anachronie in der Gegenwartskunst, Universität für angewandte Kunst, Wien, 17. – 19. Oktober 2013.
73 Vgl. dazu die Unterscheidung Vicos zwischen vier Formen des Anachronismus: die Zuordnung
keiner Ereignisse in einer Zeit, die voller Ereignisse war (und umgekehrt), sowie die Fehler, Zeiten zu verbinden, die getrennt werden sollten (und umgekehrt). Vgl. de Grazia 2010, S. 20.