I BILD
Jörg Trempler
GRU N DR ISS Z U EINER
H ISTOR ISC H EN A N T HROPOLO GIE
DER BILDER
„Kein Wissenschaftler denkt in Formeln.“1
Albert Einstein
D ie a nt h rop olog isc he Gr u nd lage
Das Verständnis der Welt ist nicht angeboren, sondern es wird vermittelt, gelehrt und gelernt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Schrift, die nicht unmittelbar
dem Menschen eigen ist, sondern durch Erziehung dem Menschen von Menschen gegeben wird.2 Von Einzelfällen abgesehen, erlernt der Heranwachsende
die Muttersprache mit großer Selbstverständlichkeit. Erscheint die Sprache dem
Menschen also in die Wiege gelegt, steckt die Schrift gewissermaßen in der
Schultüte.
Dieser grobe Vergleich steht zu Beginn, um einen grundlegenden Unterschied zwischen Bild und Schrift aufzudecken. Das Schriftlesen wird heute
institutionell gelehrt, das Bildverstehen erscheint dagegen als intuitiv. Darüber
hinaus ist zumindest ein Teil der geisteswissenschaftlichen Debatte grundsätzlich bilderlos, hingegen kaum sprachlos denkbar: Wir können uns einen Schriftgelehrten vorstellen, der sich nicht mit Bildern befasst. Wir können uns aber
keinen Bildgelehrten als Analphabeten vorstellen. Zwar lernt jedes Kind zu1
2
Albert Einstein, Leopold Infeld: Die Evolution der Physik [1938], Hamburg 1995, S. 14.
Diese Beobachtung geht von heutigen westlichen Gesellschaften aus und lässt die
Geschichte zunächst unbeachtet. Das Feld der historischen Anthropologie füllt
ganze Bibliotheken, und besonders die Fragen nach der Geburt der Sprache, dem
Verhältnis von Sprache und Schrift, dem Unterschied von gesprochener und verschriftlichter Erinnerung, der Verbreitung und Ausdifferenzierung von Schrift
usw. bilden verschiedene Forschungsfelder. Dass diese hier mit lockerer Hand in
die Fußnote gerückt werden, soll nur nochmals verdeutlichen, dass es demgegenüber keine äquivalente Forschungsenergie zugunsten des Bildes und ähnlicher
Bildphänomene gibt.
4
JÖRG TREMPLER
nächst Zeichnen und Malen, doch geschieht dies zumeist vor dem ersten Kontakt mit der Schule als klassischer Bildungseinrichtung.3 Erst mit dem Erlernen
der Schrift erreicht der Mensch das Bildungsniveau, auf dem er sich alle anderen Bereiche aus Wissenschaft und Kultur erschließen kann. Auch über Bilder
wird in der Regel diskutiert, sei es mündlich oder schriftlich und schließlich ist
dieser Text das beste Beispiel, der selbstverständlich geschrieben ist.
Zwar freut sich der Nichtsprachkundige in fremden Ländern über bildliche Leitsysteme, doch hat diese Bildsprache relativ schnell ihr Ende. Niemand
würde ernsthaft einen komplexen philosophischen Text, wie beispielsweise die
Kritik der reinen Vernunft, in einen Comic-Strip übersetzen. Demgegenüber
haben die Forschungen der letzten Jahre vermehrt gezeigt, dass sich ohne Bilder einzelne Bereiche nicht erschließen lassen und damit ein merkwürdiges
Verhältnis aufgezeigt: Zwar sind in den Wissenschaften Einsatz und Gebrauch
von Bildern seit jeher weit verbreitet und in konkreten Forschungszusammenhängen hochgeschätzt, im Allgemeinen wird ihr Wert hingegen oftmals als
gering erachtet. Gründe für diese despektierliche Behandlung der Bilder liegen
auf verschiedenen Ebenen.
Die Hierarchisierung der menschlichen Ausdrucksmittel zu Gunsten
von Sprache und Schrift ist in der europäischen Kultur zutiefst verwurzelt,
denn die klassische Bildung und namentlich die Kenntnis der Schriften Platons
hat es dem Bild nachhaltig schwer gemacht.4 Dies betrifft insbesondere die
Stellen, in denen Platon ein Urbild-Abbild-Verhältnis zu Ungunsten der Bilder
formuliert. In seiner Ideenlehre stellt er die realen Dinge als Schatten der Ideen
dar. Um das Verhältnis der Dinge zu den Ideen zu charakterisieren, verwendet
er neben ‚Teilhabe‘ den Begriff des ‚Abbilds‘. Jedes Einzelding in Raum und
Zeit ist ein Abbild eines zugrunde liegenden Urbildes (Timaios 29a ff). Da in
diesen Fällen Bilder von Menschenhand nur aufgrund von Abbildern ohne Verbindung zu den Urbildern entstehen können, geht auf Platon auch eine Gering-
3
4
Wolfgang Kemp: „… einen wahrhaft bildenden Zeichenunterricht überall einzuführen“. Zeichnen und Zeichenunterricht der Laien 1500–1870. Ein Handbuch,
Frankfurt am Main 1979; Antonius Lipsmeier: Technik und Schule. Die Ausformung des Berufsschulcurriculums unter dem Einfluß der Technik als Geschichte
des Unterrichts im Technischen Zeichnen, hg. v. Bundesinstitut für Berufsbildungsforschung, Wiesbaden 1971. Elke Schulze: Nulla dies sine linea. Universitärer Zeichenunterricht – eine problemgeschichtliche Studie, Stuttgart 2004.
Zu dieser weit verbreiteten Meinung gibt es auch vereinzelt Gegendarstellungen.
Vgl. Arbogast Schmitt: Der Philosoph als Maler – der Maler als Philosoph. Zur
Relevanz der platonischen Kunsttheorie, in: Gottfried Boehm (Hg.): Homo Pictor,
Leipzig 2001, S. 32–54.
5
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
schätzung der Künstler zurück, da diese nur Bilder von Bildern schaffen, also
ein Abbild zweiten Grades (Politeia 596e ff).5
Was der Philosoph vor mehr als zweitausend Jahren formulierte, erscheint heute als eine Art Naturgesetz. Den Zugriff auf die Welt bilden die
Naturwissenschaften und sie tun dies zumeist in einer Empirie von Messen,
Wiegen, Tasten oder Fühlen. Im Mittelpunkt steht die Natur mit ihren Veränderungen und Wechselwirkungen. Vor diesem Hintergrund können Bilder der
Natur nur wenig helfen, da sie zwar modellhaften Charakter gewinnen, nie aber
die Natur selbst ersetzen könnten. Dieses Denkmodell verdrängt den Einsatz
von Bildern, da der Zugriff auf die Welt prinzipiell auch ohne Visus buchstäblich zu begreifen, zu erklären und zu beschreiben wäre. Bilder – so das weitverbreitete Vorurteil – gehören nicht zu den harten Fakten. Doch ist das Gegenteil
der Fall: Heute sind es insbesondere die Medizin und die Naturwissenschaften,
die mit sogenannten bildgebenden Verfahren hervortreten.6 Ein klassisches
Verfahren dieser Art ist das Röntgenbild. Solche Bilder liegen außerhalb des
optischen sowie taktilen Bereiches; damit ist das Bild nicht mehr Abbild von
etwas, das man auch ohne das Abbild betrachten könnte, sondern einzig und
allein auf dem Bildweg zu betrachten.7 Das Röntgenbild ist auch deshalb ein
besonders gut geeignetes Beispiel, da das Verhältnis von Bildevidenz und Empirie so früh wie prominent Eingang in die Weltliteratur gefunden hat. Der
1924 erschiene Roman Zauberberg von Thomas Mann beschreibt den Aufenthalt Hans Castorps im Bergsanatorium und seinen schleichenden inneren
Wunsch, dieser Berg-Sanatoriumswelt dauerhaft angehören zu können. Die
Eintrittskarte dazu ist der Krankenschein, der im Zauberberg autorisiert wird
durch Röntgenbilder. Wird Hans Castorps lange Phase des Zweifelns an seiner
eigenen Krankheit durch den Bildbeweis scheinbar beendet, werden die Bilder
vom Skeptiker Settembrini gleich wieder in Frage gestellt: „Wissen Sie [so wendet er sich an Hans Castorp], daß die photographische Platte oft Flecke zeigt, die
5
6
7
In der Spätantike konnte dieses Verhältnis für die Kunsttheorie nutzbar gemacht
werden, da seit Plotin die Idee mit der künstlerischen Inventio verbunden wurde.
Damit war eine Tradition eröffnet, die den Künstler als Schöpfer der Natur ansah.
Dazu als immer noch bester Überblick: Erwin Panofsky: Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie [1924], wieder gedruckt in: Ernst Cassirer: Eidos und Eidolon, hg. v. John Michael Krois, Hamburg 2008, S. 51–301.
Dazu zuletzt überblickend und zusammenfassend: Horst Bredekamp (Hg.): Das
technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder,
Berlin 2008. Aber auch die halbjährige Zeitschrift: Bildwelten des Wissens, hg. v.
Horst Bredekamp, Matthias Bruhn, Gabriele Werner, Berlin 2003ff.
Zum Röntgenbild vgl. Vera Dünkel: Röntgenblick und Schattenbild: zur Spezifik
der frühen Röntgenbilder und ihren Deutungen um 1900, in: Das Technische Bild
(wie Anm. 6), S. 136–147; Vera Dünkel: Vergleichendes Röntgensehen: Lenkungen
und Schulungen des Blicks angesichts einer neuen Art von Bildern, in: Lena Bader/
Martin Gaier/Falk Wolf (Hg.): Vergleichendes Sehen, München 2010, S. 361–380.
6
JÖRG TREMPLER
man für Kavernen hält, und daß sie da, wo etwas ist, zuweilen keine Flecke
zeigt“ (III, 275).8 Die wissenschaftliche Genauigkeit der bildgebenden Verfahren wird also schon seit ihrer Entstehung in Frage gestellt.
Hier ist der Punkt erreicht, an dem der Aufsatz ansetzen will, da es im
Folgenden nicht einfach um die Entscheidung von wahr und falsch gehen soll.
Genauso wie Schriftquellen in den historischen Wissenschaften oder Messwerte, die als Grundlage der Naturwissenschaften dienen, einer beständigen
Kritik unterzogen werden, gibt es heute im Bereich der Grundlagenforschung
eine breite Bildkritik. Doch setzt diese Bildkritik in Teilen an falschen Fragestellungen an, da Bilder verschiedene Zustände annehmen können. Im Zentrum
steht also nicht die Debatte, ob Bilder Evidenz erzeugen können, sondern die
Frage, wann und wie Bilder als Beweise angesehen und akzeptiert werden. Der
entscheidende Punkt ist nicht – um nochmals den Zauberberg zu bemühen –,
ob Castorp oder Settembrini recht haben, sondern, dass beide Positionen in
dem Umfeld ihrer Argumente plausibel sind. Kompliziert wird das Verhältnis
zu dieser Art von Bildern, da sie gewissermaßen wie das Licht selbst, das sie
erzeugt, zwei Charaktere haben. Analog zu Welle- und Teilchencharakter des
Lichts, könnte von Repräsentations- und Dingcharakter gesprochen werden.
Der Witz ist, dass es kein Experiment gibt, das beide Zustände gleichzeitig
zeigt: Je nach Experiment wird der eine oder andere Zustand bewiesen. Damit
ist es nicht allein eine Art der Anschauung und des Betrachtens, sondern auch
schon ein Versuchsaufbau und damit ein Eingreifen, das den jeweiligen Charakter erzeugt.
Diese Hypothese liefert die Voraussetzung für den weiteren Aufbau
dieses Aufsatzes. Dabei werden zwei Kategorien auseinandergedrängt, die sich
normalerweise gegenseitig bedingen und daher kaum zu trennen sind. So wie
sich Welle- und Teilchencharakter des Lichts nur im jeweiligen Experiment
zeigen, also nicht allein durch Anschauung (das wäre im Falle der Bildgeschichte die Rezeptionsästhetik), so ist diese Unterscheidung zwischen Repräsentations- und Dingcharakter auch nicht von vornherein evident, sondern muss
hergestellt werden. Dieses Eingreifen ist ein menschliches Handeln, ein Gestalten und Formen. Dieser Punkt wird weiter unten unter dem Absatz „Sehen
8
Vgl. Dietrich von Engelhardt/Hans Wisskirchen (Hg.): „Der Zauberberg« – die
Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman. Mit einer Bibliographie der
Fachliteratur, Stuttgart 2003, S. 11. Das Zitat geht weiter: „Diagnostische Techniken sind nicht neutral, sondern werden bewertet, werden mit psychologischen und
ethischen Bedeutungen verknüpft. Die Durchleuchtung nimmt für Castorp den
Charakter des Verbotenen, Unethischen an: ‚Und Hans Castorp sah, was nicht bestimmt ist und wovon er auch niemals gedacht hatte, daß ihm bestimmt sein könne, es zu sehen: er sah in sein eigenes Grab.‘ (III, 306)“. Diese Stelle baut auch auf
ältere Literatur auf, bes. Otto Amrein: Aus den „Zauberbergen“, in: Münchener
Medizinische Wochenschrift 75 (1928), S. 909.
7
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
und Handeln“ weiter ausgeführt. Zunächst soll aber in einem ersten Schritt
zwischen künstlichen und künstlerischen Bildern unterschieden werden.
Kunst ist immer eine Veränderung, ein Gestalten, ein Präsentieren von
etwas als Kunst. Bild dagegen ist ein Hervorbringen von Gegenständen, von
Theorien oder einfach von Dingen. Diese Art von Bildern – und dies ist das
Paradox – wird zunächst nicht als Bilder wahrgenommen, sondern als die Sache
selbst. Ein Naturforscher des 18. Jahrhunderts wäre ebenso empört wie beleidigt, wenn man ihm vorwerfen würde, er habe seine Erkenntnisse aus Bildern –
also aus einer Sekundärquelle – bezogen. Selbstverständlich ist sein Untersuchungsgegenstand die Natur selbst und nicht das Bild der Natur. Gleichwohl
hantierten die europäischen Naturwissenschaftler unentwegt mit Bildern. Diese
Bilder sind weder Teil der Kunst noch der Natur, daher erscheint es sinnvoll,
von künstlichen im Gegensatz zu künstlerischen Bildern zu sprechen.
Kü nst l ic he u nd k ü nst ler isc he Bi lder
Die Diskrepanz aus Bildern, die einerseits den schöpferischen Geist ihres Produzenten präsentieren und andererseits genau im Gegenteil möglichst frei von
gestalterischer Zutat objektiv die Natur ohne Umwege zeigen wollen, wurde
wissenschaftsgeschichtlich noch durch die Versprechungen, die mit der Fotografie in die Bildgeschichte aufkamen, stark befördert.9 Eine besonders sprechende Episode in diesem Umfeld lieferte Robert Koch. Selbst als Zeichner ausgebildet, war er ein Vorreiter auf dem Gebiet der Mikrofotografie. Franziska
Brons und Horst Bredekamp stellten diese Leistung auf dieselbe Stufe wie die
bahnbrechenden medizinischen Entdeckungen des Nobelpreisträgers: „Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der Entwicklung dieser Kamera ist der
Entdeckung des Milzbrand-Bazillus durchaus an die Seite zu stellen.“10 Von
Robert Koch stammt in diesem Zusammenhang die euphorische Bemerkung:
„Das photographische Bild eines mikroskopischen Gegenstandes ist unter Umständen wichtiger, als dieser selbst.“ Weiter stellt er fest, dass die Fotografie
„nicht allein eine Illustration, sondern in erster Linie ein Beweisstück, gewissermaßen [sic.] ein Document sein soll, an dessen Glaubwürdigkeit auch nicht
9
10
Hierzu sprach Steffen Siegel in seinem Vortrag Vom Hörensagen. Bildbetrachtung ohne Bilder auf der Tagung: Was ist Wissensgeschichte, Friedrich Schiller
Universität Jena, 24. Juni 2011.
Vgl. Horst Bredekamp/Franziska Brons: Fotografie als Medium der Wissenschaft.
Kunstgeschichte, Biologie und das Elend der Illustration, in: Hubert Burda/Christa
Maar (Hg.): Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004, S. 365–381, hier
S. 372.
8
JÖRG TREMPLER
der geringste Zweifel haften darf“.11 Und schließlich ging der Biologe so weit,
dass er in der Fotografie im Gegensatz zur Zeichnung, die von der menschlichen Hand verfälscht wurde, den „Schatten des Präparates selbst als Bild festgehalten und der mikroskopische Gegenstand zeichnet sich selbst.“, sah.12
In der Radikalität und Deutlichkeit mögen diese Bemerkungen von Robert Koch einzigartig sein, in ihrem Grundzug sind sie dagegen exemplarisch,
da hier deutlich wird, dass diese Bilder, über die Koch schreibt, nichts mehr repräsentieren oder kein Eigentliches mehr abbilden, sondern sie bringen das,
was sie zeigen, selbst hervor. „Für Koch ergab sich eine so unmittelbare Bindung zwischen Objekt und Fotografie, dass sich das Repräsentationsverhältnis
aufhob […].“13
Was der Nobelpreisträger hier formuliert, umreißt das, was weiter oben
als Dingcharakter des Bildes benannt wurde. Es ist aber von entscheidender
Bedeutung, dass dasselbe Bild einen Repräsentationscharakter nicht aufgibt.
An dieser Stelle kommt nochmals die Analogie zum Welle- und Teilchencharakter des Lichtes zum Tragen. Daher wird hier ebenfalls ein zweistufiges Modell vorgeschlagen: Das Bild als Erkenntnismittel im Sinne eines Zugangs zur
materiellen Welt kann kein Abbild sein, vielmehr muss es einen Impuls, ein
Movens des Erzeugens, in sich tragen, der ohne das Bild nicht vorhanden wäre.
Gleichzeitig ist dieses Bild aber auch kein Naturprodukt wie der Milzbranderreger selbst, sondern es ist zweifellos von Menschenhand. So schwer zu begreifen wie entscheidend wichtig ist nun, dass diese vollständige Substitution von
Bild und beobachtetem Gegenstand nur vollzogen werden kann, wenn der Betrachter sein Eingreifen gewissermaßen verleugnet. In dieser Argumentationslinie steht das Buch Objektivität von Lorraine Daston und Peter Galison von
2007. Die beiden Autoren untersuchen anhand von wissenschaftlichen Atlanten die Entstehung der Objektivität. Ihre These ist, dass Objektivität nicht selbstverständlich ist, sondern eine Konstruktion darstellt und sich wandeln kann.14
Diese Wandlungen beschreiben sie von der Naturtreue zur mechanischen Objektivität bis hin zum geschulten Urteil:
„Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eigneten sich die Atlasmacher neue, bewusste ,objektive‘ Methoden der Bildgebung an – je nach
Fachgebiet in unterschiedlicher Geschwindigkeit und unterschiedlichem Ausmaß. Diese neuen Methoden zielten auf Automatisierung:
11
12
13
14
Vgl. Robert Koch: Zur Untersuchung von pathogenen Organismen, in: Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, 1881, I, S. 11 u. 14, zit. n. Bredekamp/Brons: Fotografie (wie Anm. 10), S. 373.
Ebd. S. 373.
Ebd.
Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität, Frankfurt/M. 2007, S. 45–55
9
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
Bilder sollten ,ohne Berührung‘ durch die Hand des Künstlers oder Wissenschaftlers hergestellt werden. Manchmal, aber nicht immer, war die
Photographie das bevorzugte Medium dieser ,objektiven Bilder‘. Auch
das Durchpausen und strenge Messkontrollen konnten der Sache der
mechanischen Objektivität dienen, genauso wie Photographien zum
Porträtieren von Typen zu nutzen waren. Der springende Punkt war
weder das Medium noch die Mimesis, sondern die Möglichkeit, Eingriffe auf ein Minimum zu beschränken, in der Hoffnung, ein Bild herzustellen, das nicht von Subjektivität ,verschmutzt‘ war.“15
Für die vorgestellte Diskussion ist dies von Bedeutung, da es belegt, wie wichtig
Bilder in diesem Prozess sind und wie unwichtig das bestimmte Bildmedium.
Der Wunsch nach Objektivität bringt die Vorstellung von authentischen Bildern hervor, die sich dann auf die Fototechnik als Bildtechnik überträgt. Nicht
aber ist die Bildtechnik der Fotografie von sich aus objektiv.
Ein anderes besonders schönes Beispiel für das Verhältnis von Bild und
Erkenntnis liefert die Entdeckung der Synapsen: Der wissenschaftliche Kampf
zwischen den beiden Kontrahenten Camillo Golgi und Santiago Ramón y Cajal
war „auch ein Bilderstreit“.16 Dem Italiener war es Ende des 19. Jahrhunderts
erstmals gelungen mit der sogenannten „Schwarzen Reaktion“ oder auch „Golgi-Methode“ die Struktur der Nervenzellen im Gehirn sichtbar zu machen und
mittels Mikrofotografie zu fixieren. Golgi zufolge bildeten diese Zellen ein diffuses neuronales Kommunikationsnetzwerk. Seine Erkenntnis wurde durch
seine Mikrofotografien bestätigt. Sie zeigen Nervenzellen, die sich in einem
dichten Geflecht miteinander vernetzen. Der jüngere Spanier Cajal machte sich
diese Methode zunutze, kam aber zu anderen Ergebnissen. Demnach bestand
das gesamte Nervensystem aus durch Synapsen funktionell verbundenen Nervenzellen, der Erkenntnis also, die bis zum heutigen Tag Gültigkeit hat. Für die
Bildgeschichte ist bemerkenswert, dass Golgi als der Ältere das vermeintlich
jüngere Verfahren der Mikrofotografie anwendete, während Cajal vor allem
zeichnete.17 Der Bilderstreit berührte aber auch ganz allgemein die Technik, da
Golgi Cajal beschuldigte, er beherrsche die Technik der Silberfärbung nur unzureichend, während Cajal Golgi wiederum vorwarf, er verändere seine Fotos
damit sie seine Theorie bestätigten.18 Dieser Vergleich kann somit als Beispiel
15
16
17
18
Ebd., S. 46.
Ebd., S. 121–127, hier S. 122.
Cajal fertigte nach eigenen Angaben etwa 12.000 Zeichnungen an. Diese und andere Angaben dieses Absatzes finden sich im Ausst. Kat.: Images of the Mind. Bildwelten des Geistes aus Kunst und Wissenschaft, hg. v. Colleen M. Schmitz/Ladislav Kesner, Dresden 2011, S. 170–175 mit Abbildungen.
Daston, Galison: Objektivität (wie Anm. 14), S. 126 u. 194.
10
JÖRG TREMPLER
dienen, dass die Objektivität nicht allein am Bildmedium hängt, da auch der
Einsatz der vermeintlich objektiven Fototechnik nicht vor derartigen Bilderstreiten schützt.
Es wäre aber zu kurz gegriffen, wolle man diese Auseinandersetzung
allein durch ein verschiedenes Sehen derselben Objekte begreifen.19 Dieses Beispiel lehrt vielmehr, dass es fehl am Platze wäre, von diesen Bildern als Repräsentationen von Synapsen zu sprechen, da sie ohne diese Bilder nicht sichtbar
waren. Sie sind überhaupt erst die Voraussetzung für die Erforschung von Zellen. Weitreichender ist dagegen die Forderung nach Minimierung des menschlichen Anteils bei der Erstellung dieser Darstellungen. Auch für diesen Bereich
gilt, dass es weniger die Technik war, die eine Lösung brachte, sondern die Haltung des Forschers. Zwar galt das möglichste Zurückdrängen des persönlichen
Anteils als Ziel, um die Ergebnisse nicht nach vorgefertigten idealen Theorien
ungewollt zu manipulieren, doch war den Forschern auch klar, daß diese beiden
Pole ihrerseits nicht vollständig zu erreichen waren. So stellen Daston und Galison heraus: „Daß objektive Abbildungen entweder ein Ideal oder folgerichtig
waren, kann man sich leicht vorstellen - aber sie waren beides. Ungefähr so, wie
Fairneß in einem Spiel vielleicht nie vollkommen erreicht wird, aber trotzdem
die Spielweise und den Spielverlauf prägen kann.“20 Doch ist diese Beobachtung
auch eine Voraussetzung für die grundsätzliche methodische Annahme, dass
Bilder im Bildakt immer miterzeugen, was sie darstellen. Sie sind in diesem
Sinne immer ein Produkt des menschlichen Eingreifens, eines mesnchlichen
Darstellens und einer menschlichen Erkenntnis. Darin liegt ein merkwürdiger
Widerspruch, da auf der einen Seite das Gemachte, Gestaltete und Geformte
der wissenschaftlichen Bilder in den Fokus genommen wird, auf der anderen
Seite aber das Ziel der Wissenschaftler in der Minimierung ihrer eigenen Intention lag. Hier zeigt sich eine historische Anthropologie der Bilder als Teil
der Kunstgeschichte, die seit ihrer Gründung ihren Methodenapparat permanent an den Objekten schärft.
19
20
So kürzlich Richard Wingate: „Tatsächlich handelt es sich jedoch weniger um eine
falsche Deutung als um unterschiedliche Arten, die gleichen Objekte zu sehen. Wo
Golgi zusammenhängende Verbindungen erblickte, nahm Cajal blinde Endungen
wahr: Und doch glaubten beide Männer, sie würden die Beschaffenheit ihres Materials objektiv und naturgetreu betrachten.“; vgl. Richard Wingate: Kunst, Wissenschaft und Fantasie, in: Ausst. Kat.: Images of the Mind (wie Anm. 17), S. 62.
Daston, Galison: Objektivität (wie Anm. 14), S. 128.
11
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
Sehen u nd Ha ndel n
An dieser Stelle wäre einzuwenden, dass sowohl Bilder in der Medizin und Physik als auch Bilddokumentationen der Nachrichtensender im strengen Sinne
keine Gegenstände der Kunstgeschichte sind, da sie nicht vor dem Hintergrund
der künstlerischen Gestaltung betrachtet werden wollen. „Kunst gibt nicht das
Sichtbare wieder“, so das berühmte Zitat von Paul Klee, „sondern macht sichtbar“.21
Zunächst könnte der Betrachter auf den Gedanken kommen, dass dies
auch für den Naturforscher gilt: Er macht seine Theorien mithilfe von Abbildungen sichtbar. Doch würde der Wissenschaftler niemals sagen können, dass
er einen Gedanken oder eine Theorie sichtbar macht, er würde immer sagen,
dass er aufgrund des sichtbaren Bestandes neue Theorien entwickeln konnte.
Zwischen beiden Positionen liegt die Grenze der Empirie. Die alte Weisheit,
dass der Betrachter nur das sieht, was er weiß, ist in dem Moment hinfällig,
wenn es darum geht, neue Theorien zu entwickeln, also das zu sehen, was er
zukünftig wissen wird. Diesen Prozess hat Ludwik Fleck bereits 1935 in seiner
Studie Die Entstehung einer wissenschaftlichen Tatsache mustergültig beschrieben.22 Wichtig in dem hier ausgebreiteten Zusammenhang ist sein Be-
21
22
Vgl. Paul Klee: Schöpferische Konfession 13, in: Tribüne der Kunst und der Zeit.
Eine Schriftensammlung, hg. v. Kasimir Edschmid, Berlin 1920, S. 28.
Vgl. Ludwik Fleck: Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache [Basel 1935], Stuttgart 1980. Aus Wissen und Sehen entsteht bei Fleck das
Objekt. Die Schöpfung ist vergleichbar einer Entstehung von Tatsachen, wie sie
Fleck in seinem Buch beschrieben hat: „Das unmittelbare Gestaltsehen verlangt
ein Erfahrensein in dem bestimmten Denkgebiet: erst nach vielen Erlebnissen,
eventuell nach einer Vorbildung erwirbt man die Fähigkeit, Sinn, Gestalt, geschlossene Einheit unmittelbar wahrzunehmen. Freilich verliert man zugleich die
Fähigkeit, der Gestalt Widersprechendes zu sehen. Solche Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen macht aber den Hauptbestandteil des Denkstils aus.“ (S. 121).
Wenn Fleck das Gestaltsehen an den Denkstil und das Denkkollektiv bindet, ist
Erkenntnis keine sprachlich zuvor fixierte Konvention. Es findet nicht zuerst die
Erkenntnis statt und daraufhin wird etwas gefunden und gesehen, sondern Gestaltsehen und Erkenntnis sind unmittelbar und auch untrennbar miteinander verbunden. Das Gestaltsehen braucht wiederum einen Prozess der Fixierung. Das
kann eine genaue sprachliche Darstellung als Beschreibung sein, es ist aber immer
häufiger eine bildliche Darstellung. Derartige Darstellungen sind keine Abbilder
eines Objektes, sondern Bildakte, die Tatsachen überhaupt erst hervorbringen.
Dies hat Horst Bredekamp in zahlreichen Studien für das 17. Jahrhundert gezeigt,
zuletzt: Horst Bredekamp: Galilei der Künstler. Der Mond, die Sonne, die Hand,
Berlin 2007. Zu Fleck und den Parallelen in der Kunstgeschichte besonders bei Carl
Einstein und Hans Sedlmayr vgl. Jörg Trempler: Ludwik Fleck: Entstehung und
Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache […], in: Bildwelten des Wissens,
Bd. 5,2, Berlin 2007, S. 96–97. Ich danke an dieser Stelle Michael Hagner für die
12
JÖRG TREMPLER
griff des Denkkollektivs. Fleck geht davon aus, dass die Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen nicht in einsamen Entdeckungen liegt, sondern in Teams
erfolgt, die ihr Sehen und Entdecken gegenseitig bestätigen. Mit Blick zurück
auf den Streit zwischen Golgi und Cajal wird dies nochmals deutlich. Es wäre
zu kurz gedacht, wollten wir auf dem heutigen Stand des Wissens Cajal den
Siegerkranz übergeben und Golgi dafür verurteilen, dass er falsche Bilder gemacht hat. Beide haben im strengen Sinn nichts abgebildet, sondern mit Bildern als Instrumenten gedacht.23
Dieser Beobachtung kann nun mit den Forschungen zum extended mind
noch ein weiterer Gedanke hinzugefügt werden. Andy Clark hat betont, wie
wichtig Papier und Bleistift zum Lösen einer Mathematikaufgabe sind.24 Diese
Idee ist im Sinne einer historischen Anthropologie des Menschen in einem ersten Schritt von einem Individuum auf eine Gruppe zu übertragen. Nur das
Vergewissern der Erkenntnisse durch Bilder innerhalb einer Gruppe schließt
gleichsam ‚die Gehirne zusammen‘.
In einem zweiten Schritt ist diese Entwicklung mit einer historischen
Perspektive zu versehen. Und hier sieht der Betrachter, dass nicht nur neue
Bilder neue Theorien schaffen, sondern die Bilder der alten Theorien auch ihre
unmittelbare Naturzugehörigkeit verlieren. In diesem Sinne werden sie gewissermaßen zu Bildern oder genauer: Sie werden jetzt nicht mehr in ihrem
natürlichen Charakter gesehen, sondern in ihrem bildlichen. Dieses Beispiel
verdeutlicht schließlich auch eine Trennlinie zwischen dem, was John Dewey
die Zuschauertheorie der Erkenntnis genannt hat, und herkömmlichen Vorstellungen. Dewey geht davon aus, dass der Geist nicht passiv und rezeptiv ist,
sondern im Gegenteil in die Umgebung mit eingreift.25 Sehen, Darstellen und
Betrachten sind weitgehende kommunikative Abläufe, die auf die Umwelt wirken. Bilder spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle, die in systematischer Gewichtung schon von Philosophen wie Dewey oder Ian Hacking umrissen, jedoch in einer historischen Perspektive noch nicht erfasst sind. Ausgehend
von den dargelegten Voraussetzungen wird im Folgenden Ian Hackings Idee
vom homo depictor vorgestellt, um anschließend zu fragen, ob diese Beobach-
23
24
25
Einsichtnahme in sein Manuskript Wahrnehmung ohne Medien. Zum Verhältnis
von Wissenschaftsphilosophie und Sinnesphysiologie.
Für Cajal wurde kürzlich ein Abgleich zwischen Forschungsmaterial und seinen
Zeichnungen erbracht. Vgl. Pablo Garcia-Lopez, Virginia Garcia-Marin, Mallo
Freire: The Histological Slides and Drawings of Cajal, in: Frontiers Neuroanatomy 4
(2010), S. 1–16, insbes. S. 9.
Vgl. Andy Clark, David Chalmers: The Extended Mind, in: Analysis 58/1 (1998),
S. 7–19. Wieder gedruckt in Andy Clark: Supersizing the Mind. Embodiment,
Action, and Cognitive Extension, Oxford 2008, S. 220–232, insbes. S. 221 sowie die
Beiträge in diesem Band von Rebekka Hufendiek ## und Jörg Fingerhut ##.
Vgl. John Dewey: Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989, S. 137.
13
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
tungen auch für Bilder außerhalb der Wissenschaftsgeschichte gelten und wie
ihr Verhältnis zur Kunstgeschichte ist.
Der Mensc h a ls homo de pic tor
Was in den Forschungslabors und Universitäten zum Allgemeinplatz geworden
ist, setzt sich in der breiten Öffentlichkeit erst nach und nach durch. Ein äußeres Zeichen dafür ist, dass es zwar eine große Anzahl von Publikationen zur
Geschichte der Schrift gibt, die Geschichte des Bildes dagegen erst in Ansätzen
geschrieben ist. Die Bildforschung steht, gemessen an der geleisteten Arbeit auf
dem Gebiet von Sprache und Schrift, noch am Anfang. Dies liegt auch daran,
dass zunächst die Wertschätzung von Bildern grundsätzlich steigen muss. Es
wäre jetzt sicher überzogen, Wittgensteins berühmtes Diktum pauschal auf
Bilder zu übertragen und in diesem Sinne zu behaupten, dass die Grenze unseres Bildwissens auch die Grenze unserer Gedanken wäre, doch soll diese
Übertragung andeuten, dass das Bilden und das Darstellen dem Menschen
grundsätzlich eigen ist. An dieser Stelle erscheint es hilfreich, einem Gedanken
Ian Hackings zu folgen. In seinem 1983 veröffentlichten Buch Representing
and Intervening schlägt er vor, den Mensch nicht vor allem als ein „sprechendes“, sondern vielmehr als ein „darstellendes“ Wesen zu betrachten.26 Darstellung (representation) habe das fatale Problem, dass sie scheinbar – und hier
macht Hacking den Irrtum fest – die Welt verstelle, verdecke und zustelle:
„Die Begriffe Inkommensurabilität, transzendentaler Nominalismus,
Wahrheitsersatz und Denkstil gehörten zur philosophischen Fachsprache. Sie stellen sich ein, wenn man sich Gedanken über den Zusammenhang zwischen Theorie und Welt macht. Sie alle führen in eine Sackgasse. Keiner gibt den Anstoß zur Ausbildung eines gesunden Realitätssinns.
Ein großer Teil der neueren Wissenschaftsphilosophie entspricht geradezu gewissen Erkenntnistheorien des siebzehnten Jahrhunderts. Indem
wir uns ausschließlich mit der Erkenntnis als Darstellung der Natur beschäftigen, fragen wir uns, wie es uns je gelingen kann, den Darstellungen zu entrinnen und uns an der Welt festzuhaken.“27
Hacking geht es dabei nicht allein um Bilder, sondern allgemein um Darstellungen, die auch sprachlicher Art sein können. Er unterscheidet zwischen ein-
26
27
Vgl. Ian Hacking: Representing and Intervening, Cambridge 1983, zit. n. der deutschen Ausgabe: Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Stuttgart
1996.
Ebd., S. 219.
14
JÖRG TREMPLER
fachen Sätzen wie „Der Computer steht vor mir auf dem Tisch“ und komplexeren
Sachverhalten, die über die Nennung einer einfachen Tatsache hinausgehen:
„Man kann eine Reihe komplizierter Sätze zusammenfassen, um etwas darzustellen. Das entspricht auch unserer normalen Redeweise. […] Ein einzelner
Satz wird im allgemeinen keine Darstellung sein. Eine Darstellung kann zwar
etwas Sprachliches sein, doch eine sprachliche Darstellung wird eine große
Anzahl sprachlicher Ausdrücke brauchen.“28
Diese Einsicht bringt Ian Hacking zu seiner Hauptthese, indem er den
Menschen als einen homo depictor beschreibt. Schon diese Bezeichnung lässt
vermuten, dass Hacking die Fähigkeit zur Darstellung als erste menschliche
Eigenschaft einschätzt. In dem Abschnitt „Anfänge der Sprache“ macht er sich
geradezu lustig über diejenigen Theorien, die der Sprache eine lebensverbessernde Funktion zuweisen. Er formuliert vielmehr provokant, dass die Menschen die Sprache aus Langeweile erfunden hätten, um sich abends beim Ausruhen Witze zu erzählen. „Dieses Märchen über den Ursprung der Sprache hat
den großen Vorteil, daß die Sprache dabei als etwas Menschliches angesehen
wird. Keine eingeborenen Tropenbewohner stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern schlicht der Mensch.“29
Die Pointe der Argumentation Hackings ist, dass diese Art der Darstellung nicht allein etwas abbildet, sondern überhaupt erst die Relation hervorbringt, die zu einer Abbildtheorie führen kann. Er schreibt, dass diese Dinge
erst wahr oder real werden können in einer Relation zu etwas Drittem, dass der
Mensch also Darstellungen braucht, um über Wirklichkeit sprechen zu können.
„Hier wird man einwenden,“ so Hacking weiter, „die Realität oder die Welt sei
schon dagewesen, ehe es irgendwelche Darstellungen oder eine menschliche
Sprache gegeben habe. Natürlich. Aber dass man sie als Realität auf den Begriff
bringt, ist ein zweiter Schritt. Zuerst ist da dieses menschliche Etwas, das Verfertigen von Darstellungen. Dann kommt das Urteilen, bestimmte Darstellungen seien etwas Reales oder Nichtreales, wahr oder falsch, getreu oder nicht
getreu. Schließlich kommt auch die Welt, aber nicht als etwas Erstes, sondern
als etwas Zweites, Drittes oder Viertes.“30 Oder mit anderen Worten: „Zuerst
kommt die Ebenbildlichkeit und dann die Gleichheit mit Bezug auf dieses oder
jenes. Zunächst kommt die Darstellung, und dann kommt das Wirkliche. Als
erstes gibt es das Darstellen, und sehr viel später werden Begriffe erzeugt, mit
deren Hilfe wir diese oder jene Hinsicht beschreiben können, in der eine Ähnlichkeit vorliegt.“31
28
29
30
31
Ebd., S. 225–226.
Ebd., S. 228.
Ebd., S. 229.
Ebd., S. 233.
15
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
Dies läuft mit den herkömmlichen Ideen einer Abbildtheorie fundamental überkreuz, und zwar auf zwei Ebenen, die sowohl das Bild als auch das
Abgebildete betreffen. Gemeinhin gehen wir davon aus, dass sich nicht die abgebildeten Dinge verändern, sondern sich im Laufe der Kunst- und Bildgeschichte die Art und Weise oder der Stil wie Künstler die äußere Welt ins Bild
setzten, verändert. Demzufolge kann Hacking weiter schreiben: „Neue Theorien sind neue Darstellungen. Sie stellen in unterschiedlicher Weise dar, und
daher gibt es neue Arten von Wirklichkeit. Soviel ergibt sich ohne weiteres aus
meiner Erklärung der Realität als einer Eigenschaft einer Darstellung.“32
Von ei ner Me t a h istor y z u r ei ner
Me t a-P ic t u re-H istor y
Versteht man eine Geschichte der Bilder als eine Geschichte der Wirklichkeiten, entsteht eine paradoxe Situation: Bilder werden nicht als Kunst gesehen,
sondern als Natur bzw. als Zugang zur Natur. Was auf dieser theoretischen
Ebene als das blanke Gegenteil des gängigen Verhältnisses anmutet, kann durch
Beispiele belegt werden, denen jedoch zunächst einige theoretische Überlegungen vorangestellt werden sollen. Standen in der bisherigen Argumentation
wissenschaftliche Bilder im Mittelpunkt, ist nun zu prüfen, ob diese Überlegungen auch für allgemeine Darstellungen der äußeren Welt wie Dokumentations- oder Nachrichtenbilder nützlich sind. Abschließend bleibt zu fragen, wie
sich diese Bilder zur Kunst oder besser zur Kunstgeschichte verhalten.
Der zeitliche Abstand ist für beide Vorhaben unerlässlich, da die Zeitgenossen diesen Vorgang notwendigerweise nicht hinterfragen konnten. Sie
hielten derartige Bilder für einen Ausdruck der Realität und damit waren sie es
auch. Erst nachdem sich die Realität gewandelt hat, sind wir als Analytiker
überhaupt erst in der Lage, sie kritisch zu hinterfragen. Zur Veranschaulichung
des Sachverhalts können zwei Beispiele dienen. Die von Zeitgenossen vielbeschworene Realitätsnähe von Guckkastenbildern aus dem 18. Jahrhundert ist
mit den Augen des frühen 21. Jahrhunderts kaum mehr nachzuvollziehen. Andererseits werden Fernsehbilder heute weitgehend als Abbildungen im Verhältnis 1:1 verstanden, also vermutlich so, wie seinerzeit die Guckkastenbilder. So
hatten sehr viele Fernsehzuschauer das Gefühl, sie hätten die Terrorangriffe
vom 11. September 2001 selbst miterlebt, obwohl sie nur die Live-Übertragung
von Fernsehbildern gesehen haben. Auch hier bleibt zu vermuten, dass Bildhistoriker in zweihundert Jahren darüber erstaunt sein dürften, dass zu Beginn
des 21. Jahrhunderts Fernsehbilder mit dem dargestellten Ereignis selbst substituiert wurden.
32
Ebd., S. 234–235.
16
JÖRG TREMPLER
Ein Ausdruck dieser Substitution von Bild und Ereignis zeigt sich auch
darin, dass viele Betrachter der Fernsehbilder des 11. September 2001 geäußert
haben, dass sie der Anschlag an Sequenzen aus Katastrophenfilmen erinnere.
Es wurde oftmals die Verwunderung darüber geäußert, dass nun ein reales
Ereignis wie ein Kinofilm aussah. Hier wird also eine Fiktion (Katastrophenfilm) mit einer Dokumentation (Fernsehbilder) verglichen. Der Bildhistoriker
könnte diese Aussage jedoch umdrehen und behaupten, dass gerade weil es in
einer Kultur eine Reihe von Katastrophenfilmen gab, die einen Stil geprägt haben, der zeigt, wie derartige Ereignisse aussehen könnten, diese dann auch in
einer solchen Art und Weise dokumentiert werden. Es gibt unendlich viele verschiedene Möglichkeiten, ein Ereignis darzustellen, und gemessen an der Anzahl
von Fotos, die am 11. September 2001 in New York gemacht wurden, ist nur ein
sehr kleiner Teil davon immer und immer wieder gezeigt worden.
Dieser Denkstil hat sich in der historischen Perspektive verschoben,
nicht aber der Impetus. Den Wissenschaftlern ging es immer um Natur, den
Künstlern um Kunst: Das ist der schlichte Unterschied. Das nicht einfach gemachte, sondern einzigartig und künstlerisch hergestellte Bild, steht im Zentrum des Interesses der Kunstgeschichte. Dies ist nicht der Ort, die verschiedenen Möglichkeiten, „Kunst“ zu schaffen, auch nur ansatzweise zu beleuchten.
Nur soviel: Noch der größte Realismus wird aufgrund seiner künstlerischen
Nachahmung der Natur geschätzt und verliert sich nicht in der Täuschung selbst.
Es gibt zwar in der Malerei häufig einen Illusionismus oder die sogenannten
Trompe-l‘oeil Effekte, diese leben aber von der Auflösung. Täuscht der Künstler
die Wirklichkeit vor, so muss er diese Täuschung auflösen, um sich selbst als
Künstler zu erkennen zu geben. Wenn derartige Bilder Gegenstand einer Wissenschaft sind, so heißt das Fach Kunstgeschichte.
Im Gegensatz dazu thematisierten sowohl Ian Hacking als auch Lorraine Daston und Peter Galison Bilder aus dem Bereich der Naturwissenschaft.
Die genannten Fernsehbilder entstammen dem Bereich Bildnachricht. Hinter
derartigen Bildern steht kein Künstlername, sondern vielmehr der Glaube an
Objektivität und Dokumentation. Hinterfragt man die Bilder, dekonstruiert man
gleichermaßen eine Idee von Wirklichkeitsrepräsentation. Wenn diese Bilder
Gegenstand einer Wissenschaft sind, so heißt das Fach Wissenschaftsgeschichte.
Die genannten Fächer sind über die gemeinsame Rezeption von Bildern
näher zusammen, enger verbunden und reicher vernetzt, als dies gemeinhin
angenommen wird. Die Brücke, die zwischen den Disziplinen geschlagen werden kann, heißt Form und Gestalt. Haben wir auf der einen Seite die künstlerischen Bilder, so zeigt sich, dass auf der anderen Seite zwar keine künstlerischen, aber doch künstliche Bilder in Verwendung sind. Vor dem Hintergrund
ihrer Künstlichkeit unterliegen sie aber ebenfalls den Gesetzen des Stils und
des Stilwandels, wie sie die Kunstgeschichte für die Kunstwerke erarbeitet hat.
17
GRUNDRISS ZU EINER HISTORISCHEN ANTHROPOLOGIE DER BILDER
Es ist Heinrich Wölfflins einfache Feststellung, dass nicht alles zu allen Zeiten
möglich ist, die hier den Weg leitet.33 Hätte Vincent van Gogh beispielsweise
seine berühmten Sonnenblumen nicht am Ende des 19. Jahrhunderts, sondern
bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts gemalt, wäre der Impressionismus nicht
etwa der Renaissance gefolgt, vielmehr hätte von diesem Werk wohl kaum jemand Notiz genommen. Ähnliches ist in den letzten Jahren im Bereich der
technischen Bilder nachgewiesen worden.34 Auch Ideengeschichtler können ohne
große Mühe wissenschaftliche Bilder aufgrund ihrer Machart datieren.
Die Verbindung dieser beiden Bereiche ist mutatis mutandis durch den
amerikanischen Literaturwissenschaftler und Historiker Hayden White für
seine Disziplinen vorgestellt worden. White vertritt in seinem vieldiskutierten
Buch Metahistory die These, dass nicht allein die Literaturgeschichte sich mit
der Dichtung beschäftigt, sondern auch die vermeintlich objektive Geschichtsschreibung ihre Zeitstellung in der Geschichte nicht leugnen kann, da sie ebenfalls in Abhängigkeit zur Literaturgeschichte ihrer Zeit gesehen werden muss.35
In Anlehnung an Whites Thesen konnte Daniel Fulda 1996 mit seinem Buch
Wissenschaft aus Kunst zeigen, wie die moderne deutsche Geschichtsschreibung zwischen 1760 und 1860 aus literarischen Vorstellungen entstand.36 Beide
Autoren befassen sich kein einziges Mal mit Bildern, sie haben aber der zukünftigen Bildforschung ein methodisches Werkzeug an die Hand gegeben,
wie wir in Zukunft eine Meta-Picture-History schreiben sollten.
Auch Bilder sind ähnlich wie Geschichtsdarstellungen nie objektive Dokumentationen, sie sind immer gebunden an den Stil ihrer Zeit. Bilder sind aus
dieser Perspektive betrachtet nicht etwas Sekundäres oder nur Abbildendes, sie
sind das erste und vornehmste Bildungsmittel des homo depictor.
Diese Gedanken eröffnen abschließend den Weg zu einem Unternehmen, welches schlicht als „Die Geschichte des Bildes“ bezeichnet werden könnte.
Also keine Entwicklung des Abbildens von etwas, sondern eine Geschichte des
33
34
35
36
Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst [1915], Dresden 1983, S. 18. Der gesamte Abschnitt
lautet: „Allein mit einer Analyse auf Qualität und auf Ausdruck hin ist der Tatbestand überhaupt noch nicht erschöpft. Es kommt ein drittes hinzu – und damit sind
wir zu dem springenden Punkt dieser Untersuchung gelangt: die Darstellungsart
als solche. Jeder Künstler findet bestimmte ‚optische‘ Möglichkeiten vor, an die er
gebunden ist. Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich. Das Sehen an sich hat seine
Geschichte, und die Aufdeckung dieser ‚optischen Schichten‘ muß als die elementarste Aufgabe der Kunstgeschichte betrachtet werden.“
Bredekamp (Hg.): Das technische Bild (wie Anm. 6).
Hayden White: Metahistory. Historical Imagination in Nineteenth Century Europe,
Baltimore 1974. Deutsch: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt/M. 1991.
Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen
Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin/New York 1996.
18
JÖRG TREMPLER
Bildens von Wirklichkeiten. Paradox erscheint der Ansatz nur, wem nicht eingeht, dass menschliches Denken immer auch ein bildnerisches Denken ist. Bilder verstellen nicht unsere Wirklichkeit, sondern sie konstituieren sie im
Bildakt. Für Zeitgenossen ist dieser Prozeß notwendigerweise unsichtbar, daher muß dieses Vorhaben als historische Anthropologie der Bilder angelegt
sein, da sich erst in dem geschichtlichen Wandel die zeitweise Substitution von
Darstellung und Umgebung wieder löst.