6/2020
Materialdienst
Zeitschrift für Religionsund Weltanschauungsfragen
83. Jahrgang
INHALT
IM BLICKPUNKT
Hanna Fülling
Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen
Ein aktuelles religionspolitisches Thema und seine
historischen Linien
411
DOKUMENTATION
Stoppen wir den politischen Islam!
Ein Aufruf
428
BERICHTE
Marc Grimm / Jakob Baier
Misogynie und Antisemitismus im deutschen Gangsta-Rap
432
Franz Winter
Und wieder ein Missbrauchsfall
Yogi Bhajan und die Healthy, Happy, Holy Organization (3HO)
438
Kai Funkschmidt
Geistvolle Stille – zu Besuch bei Quäkern
446
INFORMATIONEN
Pfingstbewegung
„Christen im Widerstand“ – Ein Pfingstpastor bei den
Berliner Corona-Demonstrationen
450
Gesellschaft
QAnon – Verschwörungserzählung mit Messias
453
Neue Offenbarungen
Urteil gegen Hanauer Neuoffenbarerin
456
Hinduismus / Islam
Vom Tempel zur Moschee zum Tempel:
Ayodhya und die indische Religionspolitik
459
Weltanschauungsarbeit
„EMEL“ – Onlineberatung zu religiös begründetem Extremismus
461
In eigener Sache
Jeannine Kunert verabschiedet. Hanna Fülling hilft aus
462
STICHWORT
Martin Fritz
„Schriftprinzip“ (historisch)
463
BÜCHER
Kathrin Burger
Foodamentalismus
Wie Essen unsere Religion wurde
472
Manfred Kriener
Lecker-Land ist abgebrannt
Ernährungslügen und der rasante Wandel der Esskultur
472
Sibylle Lewitscharoff / Najem Wali
Abraham trifft Ibrahîm
Streifzüge durch Bibel und Koran
477
Tim Crane
Die Bedeutung des Glaubens
Religion aus der Sicht eines Atheisten
479
Andreas Hahn / Reinhard Hempelmann /
Oliver Koch / Matthias Pöhlmann
Evangelische Orientierung inmitten weltanschaulicher Vielfalt
Basisinformationen – Argumentationshilfen –
Handlungsempfehlungen
481
Glücklicherweise hat sich eine EZW-Vertraute bereitgefunden, in der folgenden
Vakanz mit einigen Arbeitsstunden auszuhelfen. So begrüßen wir Hanna Fülling,
die von März 2018 bis Januar 2020 bereits als wissenschaftliche Mitarbeiterin in
der EZW gearbeitet hat. Die persönlich und fachlich hochgeschätzte Kollegin ist
ansonsten Referentin für Religionspolitik der Bundestagsfraktion Bündnis 90/
Die Grünen und wird die Leserinnen und Leser der EZW-Publikationen im
nächsten halben Jahr an ihrer religionspolitischen und theologischen Expertise
teilhaben lassen. Herzlich willkommen zurück, wir freuen uns auf die neuerliche
Zusammenarbeit!
Martin Fritz für das Team der EZW
STICHWORT
Martin Fritz
„Schriftprinzip“ (historisch)
Die Bibel Alten und Neuen Testaments ist die Heilige Schrift des Christentums.
In allen christlichen Kirchen und Konfessionen spielt das „Buch der Bücher“
eine grundlegende Rolle. Allerdings charakterisiert der Bezug auf die Bibel
die protestantische Form des Christentums in besonderer Weise. Protestantische Frömmigkeit ist dezidiert Bibelfrömmigkeit. Historisch geht diese Prägung auf Martin Luther (1483 – 1546) zurück, der das Schriftprinzip zu einem
der Grundprinzipien reformatorischer Theologie erhoben hat. Dieses Prinzip
ist daher ein Schlüssel zum Verständnis protestantischen Christentums. Die
Geschichte seiner Begründung, Verschärfung, Bestreitung und Umformung
ist auch ein Schlüssel zum Verständnis innerprotestantischer Konflikte um
die rechte Gestalt von Christentum, die bis heute andauern. Gerade zwischen
„evangelikalen“ und „liberalen“ Protestanten ist der Streit um ein „bibeltreues“
Christsein nach wie vor virulent – und wird wohl nie zu schlichten sein. Aber
es lässt sich kultivierter streiten, wenn man die historischen Voraussetzungen
der umstrittenen Optionen kennt.
Grundlinien von Luthers Schriftlehre
Schon im späteren Mittelalter waren Debatten aufgekommen, ob nicht die Autorität der Bibel im Verhältnis zur Autorität der kirchlichen Tradition und des
Lehramtes höher einzustufen sei als in der gängigen Praxis von Theologie und
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Kirche. Im 15. Jahrhundert forderten dann Renaissance-Humanisten mit der
Parole ad fontes! („zurück zu den Quellen!“) eine Erneuerung der Kirche durch
Rückkehr zu den urchristlichen Urkunden. In Aufnahme und Verschärfung
dieser Impulse erhob Luther im Zuge der Ausbildung seiner reformatorischen
Theologie die Heilige Schrift zum theologischen Prinzip, und zwar zum einzigen
theologischen Prinzip. Mit „Prinzip“ ist dabei ein gegebener Punkt gemeint, der
selbst keiner Herleitung bedarf und bei dem die Entfaltung einer Lehre ihren
Anfang nehmen muss. Glaubenssätze und theologische Aussagen können und
müssen sich demnach aus der Schrift herleiten lassen. Dieser Prinzipienrang wird
später auf die Formel sola scriptura gebracht: „allein die Schrift“ – man ergänze:
„kann als Fundament von Glauben und Theologie dienen“.
Bedingung dieser Prinzipienfunktion ist die Annahme der „Klarheit der Schrift“
(claritas scripturae). Die Bibel kann nur dann als alleiniger methodischer Ausgangspunkt von Glauben und Lehre fungieren, wenn sie aus sich heraus verständlich ist. Diesen Sachverhalt bezeichnet Luther auch mit der Wendung, die
Bibel sei „ihre eigene Auslegerin“ (sui ipsius interpres). Das heißt: Weil sie aus
sich heraus verstanden werden kann, bedarf es keiner anderen autoritativen
Instanzen wie der katholischen Tradition und ihrer Verkörperung in Papst und
Konzilien, um sie als Quelle von Glauben und Lehre erst verständlich zu machen
und gültig zu interpretieren.
Damit wird das Vorhandensein von dunklen, mehrdeutigen oder auch widersprüchlichen Stellen in der Bibel keineswegs bestritten. Aber nach Luther ist die
Schrift insofern „klar“, als ihre „Mitte“, ihr wesentlicher Gehalt, evident ist. Als
„Auslegerin ihrer selbst“ biete sie ein zentrales Auslegungskriterium, anhand
dessen sich ihre vielstimmigen Aussagen zu einer einheitlichen Botschaft, dem
Evangelium, zusammenschlössen. Luther bezeichnet dieses Kriterium mit der
Formel „was Christum treibet“, und er interpretiert diese Formel im Sinne der
paulinischen Rechtfertigungslehre: Alles, was in ihr Christus bezeugt, d. h.
was die von Gott in Christus dem Menschen ohne Verdienst und Würdigkeit
geschenkte Gnade verkündet, macht den evidenten Sachgehalt der Bibel aus.
Das „allein die Schrift“ verweist also auf das „allein Christus“ (solus Christus)
und dessen Auslegung durch das „allein aus Gnade“ (sola gratia). Oder mit einer
Leitunterscheidung des 19. Jahrhunderts ausgedrückt: Das Schriftprinzip als
„Formalprinzip“ (oder methodisches Prinzip) des Luther’schen Reformstrebens
ist verknüpft mit der Rechtfertigungslehre als seinem „Materialprinzip“ (oder
inhaltlichem Prinzip).
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Die kirchenkritische Stoßrichtung des Schriftprinzips in der historischen Situation Anfang des 16. Jahrhunderts ist unverkennbar. Mit seiner Hilfe gewinnt
Luther eine Berufungsinstanz gegenüber der kirchlichen Lehre und Praxis, deren
Missstände (Bußpraxis, Ablass etc.) den reformatorischen Protest herausfordern.
Der Kirche und ihren Lehrinstanzen, die sich auf die autoritative Tradition
berufen, wird mithilfe des exklusiven Schriftprinzips die maßgebliche Autorität
in Glaubensfragen abgesprochen. Päpste und Konzilien können irren, nicht aber
die von Gott gegebene, sich selbst erklärende Bibel. Die reformatorische Formel
sola scriptura impliziert sonach die Negation der „katholischen“ Formel „Schrift
und Tradition“ (bzw. Schrift- und kirchliche Auslegungsautorität).
Das Schriftprinzip ist aber nicht auf die kritische oder konstruktiv-fundierende Funktion der Bibel für die Kirchenlehre zu reduzieren. Sein revolutionäres
Potenzial wird erst voll ersichtlich, wenn man einen anderen Aspekt von Luthers
reformatorischer Entdeckung mitberücksichtigt, der in der landläufigen Fixierung auf die Rechtfertigungslehre oftmals unterbelichtet bleibt: sein Insistieren
auf persönlichen Glauben. Dieser Aspekt klingt in der vierten solus-Formel
„allein aus Glauben“ (sola fide) an. Der Zusammenhang von Glaubensbegriff und
Schriftlehre wird an der Lehre von der doppelten „Klarheit der Schrift“ deutlich.
Glaube besteht für Luther nicht in der Annahme einer aus der Bibel erhobenen
Lehre, sondern wesentlich in einem innerlichen Vertrauen des je Einzelnen auf
Christus. Terminologisch gesprochen: Glaube entsteht dort, wo aus der „äußeren
Klarheit“ der Schrift (claritas externa), von der bisher die Rede war, eine „innere Klarheit“ (claritas interna) wird: eine durch das sachlich evidente äußere
Wort kraft des Heiligen Geistes gewirkte individuelle Gewissheit, dass Christi
Heilswerk auch für mich persönlich gilt. Das äußere Wort hat demnach nur die
Funktion eines „Vehikels“ für das letztlich unverfügbare inwendige Wirken des
Geistes im Herzen des Einzelnen. Diese Subjektivität und Individualität der
Glaubensgewissheit sowie, damit einhergehend, der bloß dienende, funktionale
Rang des äußeren Wortes relativieren die Heilsbedeutung der autoritativen Kirchenlehre in fundamentaler Weise. Nicht die der Bibel entnommene Lehre bzw.
die Zustimmung zu ihr macht den Glauben aus, sondern das innerliche Hören
des Wortes, durch das in der Seele je und je Heilsgewissheit entsteht.
Derselbe Sachverhalt lässt sich auch mit einer Lieblingsunterscheidung Luthers
aussagen: Nicht der „Buchstabe“ (bzw. das „äußere Wort“) wirkt den Glauben,
sondern der „Geist“ (bzw. das „innere Wort“), der dabei die äußeren Worte
„gleichsam als Werkzeuge“ gebraucht. Das innere ist durchaus angewiesen auf
das äußere Wort, weil sich der Heilige Geist gewissermaßen daran gebunden
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hat. (Man kann hier in Analogie zur „Inkarnation“ des Sohnes von der „Inverbation“ des Heiligen Geistes sprechen.) Dabei ist zu beachten, dass Luther gar
nicht das geschriebene Wort der Bibel für die Primärgestalt des äußeren Wortes
hält. Weil Gott schlechthin lebendig ist, darum muss auch sein Wort lebendig
sein. Nicht in der Starrheit schriftlicher Texte also, sondern in mündlicher Rede
erklingt es in wesensgemäßer Weise. Daher ist die Predigt der eigentliche Ort,
wo – kraft des Heiligen Geistes – aus äußerem inneres Wort und aus äußerer
innere Klarheit werden kann.
In der theologischen Doppelfront, in der sich Luthers Denken seit den frühen
1520er Jahren bewegt, hat diese Verknüpfung von äußerem und innerem Wort
eine doppelt kritische Funktion. Luther kann einerseits – das ist die Ursprungsintention – den bloß dienend-funktionalen Charakter des (primär mündlichen) äußeren Wortes betonen, womit das gesamte großkirchliche Lehrgebäude
torpediert wird: Schriftwort und Lehre und selbst die Predigt haben keinen
Wert an sich, weil sie ohne das unverfügbare Wirken des Geistes im Herzen
des Individuums nutzlos sind. Aber Luther kann andererseits auch die Angewiesenheit des inneren auf das äußere Wort hervorheben. Damit reagiert er auf
radikale Reformatoren, auf „Schwärmer“ wie Thomas Müntzer oder Andreas
Karlstadt, die nach seinem Dafürhalten beliebige Einfälle zu Eingebungen
des Heiligen Geistes erklären. Luther hält fest, dass das innere nicht ohne das
äußere Wort zustande kommt, und schließt damit alle willkürlichen religiösen
Behauptungen aus, die sich allein auf ein inneres Zeugnis des Geistes berufen
und sich nicht an Schrift und schriftgemäßer Predigt als „evangelisch“ ausweisen lassen.
Konsequenzen und Probleme
Wie bereits angedeutet hat das reformatorische Schriftprinzip umstürzende Konsequenzen für das Verständnis von Kirche und kirchlichem Amt. Die Autorität
der Kirche und ihrer Amtsträger wird der Schriftautorität unterstellt. Damit ist
nicht nur die unwidersprechliche Gültigkeit kirchlicher Lehrentscheide bestritten, sondern auch jede „auf besondere Geistbegabung zurückzuführende Personal- oder Amtsautorität“ (Gunther Wenz). Überhaupt begründet die funktionale
Hinordnung von Schrift und Predigt auf den Glauben des Einzelnen eine funktionale Auffassung der kirchlichen Institution und des kirchlichen Amtes, mithin
einen Einspruch gegen ihre theologische, sakramentale Überhöhung: Sie haben
nur insofern Bedeutung, als sie der Vermittlung eines biblisch begründeten
Herzensglaubens dienen, auf den es wesentlich ankommt.
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Was die konkrete Bibelauslegung angeht, wohnt Luthers Schriftprinzip – genauer:
dem darin enthaltenen Auslegungsprinzip „Christus/Rechtfertigung als Mitte der
Schrift“ – paradoxerweise ein kanonkritischer Impuls inne. In großer Gewissheit
über die „Mitte“ kann Luther manche Schriften des biblischen Kanons harsch
abwerten, sofern sie dieser Mitte seiner Wahrnehmung nach relativ fernstehen
(Jakobus-, Hebräerbrief, Offenbarung). So distanziert er sich auch von weiten
Teilen des mosaischen Gesetzes: Als „der Jüden Sachsenspiegel“ handele es sich
um ein historisches Gesetzeskorpus, das für die Christenheit keine unmittelbare
Gültigkeit mehr habe.
In Hinsicht auf die Gnadentheologie kommt es dem Schriftprinzip zu, den
Rechtfertigungsgedanken als essenziellen Inhalt lutherischer Theologie zu autorisieren. Ist dieser Gedanke als sachlich-klare Mitte der Schrift behauptet, ist
ihr zentraler Stellenwert innerhalb der gesamten Theologie ausgemacht. Dabei
ist freilich kaum zu leugnen, dass sich die Behauptung jener hermeneutischen
Mitte selbst einer Setzung des Bibelauslegers Luther verdankt. Der Reformator
erhebt zum „objektiven“ Zentrum, was ihm im Verstehen der Schrift subjektiv
als schlechterdings zentral aufgegangen ist.
Ein weiteres Problem ist in der Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität
des Schriftverständnisses zu erblicken, die mit der beschriebenen Zuordnung
von äußerem und innerem Wort gegeben ist (Jörg Lauster). Die innere Glaubenserfahrung, dass sich das äußere Wort mir selbst im Herzen heilsam erschließt,
hängt für Luther an der Bedingung der äußeren Klarheit der Schrift; und umgekehrt zielt die äußere Klarheit auf eine unverfügbare innerliche Aneignung. Der
religiöse Schriftumgang hat also eine objektive und eine subjektive Seite, deren
Verhältnis wohl auch bei Luther nicht ganz geklärt ist. Beide Seiten können
sich im Verlauf der Geschichte des Protestantismus immer wieder verselbständigen: die objektive Seite etwa im biblizistischen Haften am äußeren Wort, die
subjektive Seite in enthusiastischen Bewegungen, wo das innere Wort zuweilen
auch in inneren Stimmen vernommen wird, die nicht mehr mit dem biblischen
Evangelium übereinzubringen sind.
Die Verschärfung des Schriftprinzips in der protestantischen Schultheologie
Im Zuge der Konsolidierung der reformatorischen Theologie hat das Schriftprinzip auch Eingang in die entsprechenden Bekenntnisschriften gefunden.
So hebt die Konkordienformel von 1577 mit der Erklärung an, die biblischen
Schriften des Alten und Neuen Testaments seien „die einige [lies: einzige] Regel
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und Richtschnur (unica regula et norma)“ (Epitome § 1, BSLK 767) für die protestantische Lehre. Von römischer Seite wird dem betreffenden Prinzip auf dem
Konzil von Trient, bereits im Todesjahr Luthers 1546, eine klare lehramtliche
Absage erteilt.
Im folgenden Streit der Konfessionen verteidigt die protestantische Schultheologie des 17. Jahrhunderts das vom Reformator postulierte Prinzip als methodischen Grundstein des protestantischen Christentums, indem sie es zu einer
systematischen Schriftlehre ausbaut. Darin setzt sie das Wort der Schrift mit dem
Wort Gottes geradewegs gleich – ein Luther selbst noch ganz fremder Gedanke. „Die Heilige Schrift ist das Wort Gottes“, so Johann Gerhard (1582 – 1637).
Durch diesen Grund-Satz der schultheologischen Schriftlehre wird die Bibel
über die Bedingtheit menschlicher Überlieferungsprozesse erhoben, um ihr eine
unmittelbare Begründungsleistung für die Theologie zuschreiben zu können.
Mit der Behauptung der fraglichen Identität verschafft sich die altprotestantische Theologie gleichsam selbst direkten Zugang zu den göttlichen Wahrheiten.
Bald wird jene Identitätsbehauptung dann noch mit der Lehre von der Verbalinspiration der Schrift untermauert, wonach jedes einzelne Wort der Bibel dem
jeweiligen menschlichen Autor vom Heiligen Geist eingegeben wurde. Schriftwort und Gotteswort sind unmittelbar identisch, weil Gott die Schrift Wort für
Wort diktiert hat. Diese Lehre hat indessen nicht nur eine Fundierungsfunktion
für die Theologie, sondern auch eine Folge für den Schriftumgang. Denn sie
begünstigt ein „flächenhaftes“ Schriftverständnis. Wenn alle Worte von Gott
eingegeben sind, so müssen sie auch gleich bedeutsam sein. Dies führt zur Schriftauslegung mittels der „Dicta probantia“-Methode, bei der einzelne Schriftworte
ohne Berücksichtigung des Kontextes zur Begründung theologischer Aussagen
herangezogen werden.
Die Krise des Schriftprinzips seit der Aufklärung
Das Aufkommen eines historischen Bewusstseins in der Aufklärung und die sich
etablierende historisch-kritische Bibelexegese destruieren die Verbalinspirationslehre – und korrigieren damit einen „innerprotestantischen Betriebsunfall“
(Jörg Lauster). Allerdings wird dadurch auch das Schriftprinzip selbst nachhaltig
erschüttert.
Nach einer langen Anbahnungsphase, in der schon manche Zweifel am rein
postulatorischen Verfahren der Inspirationstheorie laut werden, kommt es in
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Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts zum Durchbruch der historisch argumentierenden Bibelkritik. Für die akademische Theologie ist dafür exemplarisch
Johann Salomo Semler (1725 – 1791) zu nennen. Der Hallenser Theologe wendet
sich gegen die altprotestantische Schriftlehre und ihre Identitätssetzung, indem er
ausdrücklich zwischen Bibel und Wort Gottes unterscheidet. Das Wort Gottes ist
demnach zwar in der Schrift zu finden, aber nicht ohne Weiteres mit ihr gleichzusetzen. Zum Beleg beschreibt Semler in seiner bahnbrechenden „Abhandlung
von freier Untersuchung des Canon“ (1771 – 1775) den langsamen Prozess der
Ausbildung des biblischen Kanons und entlarvt damit die Annahme einer von
früh an bestehenden, vom Heiligen Geist in kurzer Zeit offenbarten Heiligen
Schrift als anachronistische Fiktion. Als historisch entstandenem Schriftenkorpus kann der Bibel aber nicht in ihrer Gesamtheit eine gleichmäßig verbindliche
Autorität zukommen. Sie ist wissenschaftlich als ein historisches Zeugnis zu
lesen und vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit zu interpretieren. Erst die
Einsicht in die historische Distanz kann eine sachgemäße Auslegung garantieren, die wiederum an bestimmte Regeln gebunden ist, wie sie auch für andere
historische Texte gelten. Dieser Zugang muss aber nach Semler dem frommen
Bibelgebrauch gar keinen Abbruch tun – Bibellektüre zur privaten Erbauung
und wissenschaftlich-historische Bibelexegese hält er für gleichermaßen legitim.
In der erbaulichen Lektüre kann sich nach Semler die Schrift durch das innere
Zeugnis des Heiligen Geistes trotz allem subjektiv als Wort Gottes erweisen.
Eine breitenwirksame Erschütterung erfuhr die altprotestantische Schriftlehre
im sog. „Fragmentenstreit“. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781)
hatte zwischen 1774 und 1778 anonyme „Fragmente eines Ungenannten“ aus der
Feder des Aufklärers Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) veröffentlicht,
die mit historischen und philosophischen Argumenten die Glaubwürdigkeit der
biblischen Zeugen bestritten. In der sich anschließenden publizistischen Auseinandersetzung, die einiges zur Popularisierung der Bibelkritik beitrug, formulierte
der prominente Herausgeber eine grundsätzliche Anfrage an das protestantische
Schriftprinzip. Unter den Bedingungen des historischen Bewusstseins besteht
sein Grundproblem laut Lessing darin, dass damit die Wahrheit der christlichen
Religion von einem (in sich noch dazu sehr vielschichtigen) geschichtlichen
Dokument abhängig gemacht wird. Hier empfindet Lessing jenen „garstig breiten
Graben“, der ihn womöglich am Christentum hat irre werden lassen: „Zufällige Geschichtswahrheiten“ – die aufgrund des historischen Abstands immer
eine gewisse Abständigkeit und Zweifelhaftigkeit an sich haben – „können der
Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten“ – also in diesem Fall: der inneren
Wahrheit des Christentums – „nie werden“ (Über den Beweis des Geistes und
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der Kraft, 1777). Der prinzipiellen Begründungsfunktion der Bibel für Glauben
und Theologie ist damit eine Absage erteilt: „Die Religion ist nicht wahr, weil
die Evangelisten und Apostel sie lehrten; sondern sie lehrten sie, weil sie wahr
ist“ (Axiomata, 1778). Das protestantische Schriftprinzip ist damit aufgegeben.
Ein Zurück zur altprotestantischen Schriftlehre war für viele Theologen von
da an unmöglich. So hat beispielsweise Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834),
einer der Begründer „neuprotestantischer“ Theologie, griffig festgehalten: „Das
Ansehen der heiligen Schrift kann nicht den Glauben an Christum begründen,
vielmehr muß dieser schon vorausgesetzt werden, um der heiligen Schrift ein
besonderes Ansehen einzuräumen“ (Der christliche Glaube, § 128). Der Bibel
kommt nicht mehr in der Weise Autorität für den Glauben zu, dass diese Autorität selbst glaubensbegründend sein könnte. Lebendige Frömmigkeit gründet
nach Schleiermacher nicht auf der vorauslaufenden Ansicht über die „besondere
Beschaffenheit“ der Bibel, sondern auf einer Begegnung mit dem Geist Christi
im frommen Austausch unter Gläubigen. Das ursprüngliche Dokument entsprechender Glaubensmitteilung ist indessen das Neue Testament, und insofern
kommt ihm – gelesen vor dem Hintergrund des Alten Testaments – mittelbar
eine grundlegende Bedeutung für Glauben und Theologie zu. Und weil wir in den
Evangelien ein Bild Christi niedergelegt finden, das auch noch in unsere Gegenwart spricht, darum ist protestantische Frömmigkeit auch nach Schleiermacher
noch Bibelfrömmigkeit. Damit wird das Schriftprinzip von ihm zwar nicht aufgegeben, aber doch gegenüber seiner klassischen Gestalt erheblich umgeformt.
Ausblick
Schleiermachers Schriftlehre war natürlich nicht das letzte Wort zur Sache. Die
protestantische Theologie hat sich in den Folgejahrhunderten an dem skizzierten
Stand des Problems abgearbeitet. So hat sich die historisch-kritische Exegese in
der akademischen Theologie etabliert, nicht ohne dabei auch radikale Infragestellungen des Quellenwerts der Bibel hervorzubringen (z. B. David Friedrich
Strauß). Andererseits gab es auch immer wieder Versuche der Erneuerung des
altprotestantischen Schriftprinzips (z. B. Johann Tobias Beck, Karl Barth). Zur
Durchsetzung einer Konsensposition und zu einem Abschluss der Debatte ist
es bis heute nicht gekommen.
Innerhalb der akademischen Theologie besteht zwar Einigkeit über die Legitimität
der historisch-kritischen Bibelexegese. Was freilich deren durchaus wandelbare Ergebnisse für den Bezug des Glaubens auf die Bibel bedeuten, dazu ist
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eine einheitliche Auffassung nicht in Sicht – sofern die Frage überhaupt gestellt
und systematisch reflektiert wird. Auf der anderen Seite herrscht innerhalb
der evangelikalen und in großen Teilen der pfingstlich-charismatischen Bewegung eine geradezu identitätsstiftende Übereinkunft darüber, dass die Bibel als
unfehlbares und irrtumsloses Wort Gottes sowie als unmittelbare Quelle und
Richtschnur entschiedener Frömmigkeit anzusehen sei. Wie dieses Postulat
mit der überall sich aufdrängenden Einsicht in die inhaltliche Vielschichtigkeit
und historische Gewordenheit der biblischen Schriften zusammengehen soll,
ohne das Wahrheitsgewissen der Gläubigen schwer zu belasten und auf ihren
Glauben den Schatten der Unwahrhaftigkeit zu werfen – diese Frage wiederum
markiert den neuralgischen Punkt im Aufbau eines solchermaßen „bibeltreuen“
Christentums.
Literatur
Barth, Ulrich (2004): Die Entdeckung der Subjektivität des Glaubens. Luthers Buß-,
Schrift- und Gnadenverständnis, in: ders.: Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen,
27-51.
Lauster, Jörg (2004): Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen
Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart,
Tübingen, hier 18.
Lessing, Gotthold Ephraim (1967): Axiomata, wenn es deren in dergleichen Dingen gibt.
Wider den Herrn Pastor Goeze, in Hamburg (1778), in: ders.: Werke, hg. von Kurt
Wölfel, Bd. 3, Frankfurt a. M., 417-446, hier 436.
Lessing, Gotthold Ephraim (1967): Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777),
in: ders.: Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. 3, Frankfurt a. M., 307-312, hier 311; 309.
Pannenberg, Wolfhart (1967): Die Krise des Schriftprinzips, in: ders.: Grundfragen
Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen, 11-21.
Schleiermacher, Friedrich (2008): Der christliche Glaube, nach den Grundsäzen der
evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, 2. Aufl. (1830/31), 2 Bde. in
1 Bd., hg. von Rolf Schäfer, Berlin / New York (Studienausgabe, seitengleich mit ders.:
Kritische Gesamtausgabe, hg. von Hans-Joachim Birkner u. a., Berlin / New York
1980ff, Bde. I/13.1 und 13.2), hier Bd. 2, 316.
Steiger, Johann Anselm (2004): Art. Schriftprinzip, in: RGG4 7, 1008-1010.
Wagner, Falk (1995): Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in:
ders.: Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 68-88.
Wenz, Gunther (1988): Sola scriptura?, in: Rohls, Jan / ders. (Hg.): Vernunft des Glaubens,
Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg, Göttingen, 540-567, hier 548.
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