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Cage und Boulez

John Cage / Pierre Boulez Eine Arbeit im Fach: Musikästhetik verfasst von Dominik Hüppin und Andreas Schelker eingereicht bei Tihomir Popovic, Januar 2014 Inhaltsverzeichnis 1 John Cage ........................................................................................................................................2 1.1 Auf der Suche nach dem „Neuen“........................................................................................2 1.2 Klänge, Ruhe und spiritueller Zufall ....................................................................................4 1.3 Vom Komponisten zum Klangorganisator............................................................................5 2 Pierre Boulez: Gefühlskalte Gallionsfigur der Avantgarde oder ein intellektueller, genialer Musikallrounder.................................................................................................................................6 2.1 Von den Jugendjahren zum „Shootingstar“ der avantgardistischen Musik .......................6 2.2 Der absolutistische Rebell.....................................................................................................7 2.3 Die Gallionsfigur altert – „Work in progress“ als Lebensphilosophie oder Denk- und Arbeitsweise................................................................................................................................8 2.4 Boulez heute........................................................................................................................10 3 Beziehung von Cage und Boulez..................................................................................................10 3.1 Der Briefwechsel.................................................................................................................10 3.2 Cage über Boulez................................................................................................................11 4 Schlusswort....................................................................................................................................12 5 Literaturverzeichnis......................................................................................................................12 1 John Cage 1.1 Auf der Suche nach dem „Neuen“ John Cage wurde 1912 in Kalifornien geboren wo er auch den grössten Teil seiner Kindheit verbrachte. Sein Vater war Erfinder und seine Mutter arbeitete als Redakteurin bei der Los Angeles Time. Von seinen Eltern hat niemand das College gemacht und doch arbeiteten sie in Jobs wo man normalerweise studiert hat. Als Erfinder vermochte es sein Vater Lösungen für Probleme zu finden. „Wenn einer behaupte, „das geht nicht“, zeige einem das, was zu tun sei.“ 1 Dieses Statement von seinem Vater prägte auch John Cage der ebenfalls nie das College abschloss. „Ich war schockiert, im College einhundert meiner Mitstudenten in der Bibliothek ein und dasselbe Buch lesen zu sehen. Anstatt es ihnen gleichzutun, ging ich ins Magazin und las das erste Buch, das von einem Autor, dessen Name mit «Z» begann, geschrieben war. Ich bekam die beste Note im 1 John Cage, Ein autobiografisches Statement Kurs. Das brachte mich zu der Überzeugung, dass die Institution nicht sinnvoll orientiert sei. Also ging ich.“ 2 John Cage flog nach Paris und befasste sich intensiv mit Architektur. Bald merkte er aber, dass ihn Musik und Kunst noch mehr interessierte. Er flog nach Mallorca und begann zu komponieren. Seine Kompositionen waren streng nach einer mathematischen Methode, die er aber selber nicht mehr weiss. Ihm erschienen die Kompositionen nicht nach Musik und er liess in Mallorca zurück. 1931 kehrte er nach Kalifornien zurück und begann Texte zu vertonen. Zu dieser Zeit lernte er auch Arnold Schönberg kennen und bat ihn, ihn zu unterrichten. Schönberg zögerte, unterrichtetet ihn dann aber umsonst, weil er merkte, dass es Cage ernst war. Nach zwei Jahren Unterricht wollte Schönberg ihn aber nicht weiter unterrichten und meinte, er werde es nie lernen, Musik zu schreiben. „Warum nicht?“ „Sie werden an eine Wand stoßen und nicht durch sie hindurchgehen können.“ „Dann werde ich mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand anrennen.“3 Als Grund für die Unfähigkeit Musik zu schreiben nannte Schönberg Cages Unverständnis für Harmonien. Daraufhin begann Cage Perkussionsmusik zu schreiben. Die Kompositionen bestanden aus kurzen Motiven. Die grossen Teile einer Komposition hatten die gleiche Struktur wie die kleinen Motive. Cage sah darin seine Antwort auf Schönbergs strukturale Harmonie. Schönberg interessierte sich nicht wesentlich dafür und lehnte Aufführungseinladungen ab. Zu dieser Zeit arbeitete Cage oft mit modernen Tänzer zusammen und vertonte abstrakte Filme. Er lebte mit seiner Frau in Santa Monica, wo sie das Buchbinden erlernten und mit den Angestellten in einem grossen Haus lebten. Am Abend spielten sie jeweils Cages Perkussionsmusik. 1938 siedelte Cage nach Seattle über und arbeitete an der Cornish School als Pianist und Korrepetitor für Tanzklassen. Auch gründete er dort ein Schlagzeugensemble. Die akademische Idee, dass die Absicht der Musik Kommunikation sei, konnte Cage nicht teilen, da die Hörer seine Musik auch nicht zu verstehen schienen. Die Idee brachte ihn sogar ziemlich durcheinander, so dass er beschloss, das Komponieren aufzugeben, falls er keinen anderen Grund dafür fände. Sein Interesse an anderen Kulturen liess in aber weiter hoffen und bei einer indischen Sängerin und Tabla-Spielerin fand er eine Antwort. „Der Zweck der Musik ist es, das Bewusstsein zu ernüchtern und zu beruhigen, um es dadurch für göttliche Einflüsse empfänglich zu machen. Ich fand auch in den Schriften von Ananda K. Coomaraswamy, dass die Aufgabe des Künstlers darin liege, die Natur in ihren Verfahrensweisen nachzuahmen. Ich wurde weniger verstört und fing wieder an zu arbeiten.“4 2 John Cage, Ein autobiografisches Statement 3 John Cage, Ein autobiografisches Statement 4 John Cage, Ein autobiografisches Statement Für eine Tänzerin konnte Cage Musik zu einem Tanz in afrikanischem Stil schreiben. Da es aber an dem Aufführungsort keinen Platz für Instrumente hatte und er mit dem dort stehenden Flügel mit herkömmlicher Spielweise keine afrikanische Musik hinkriegte, entschied er sich das Klavier zu präparieren und es entstand daraus ein kleines „Perkussionsorchester“. John Cage gilt als Erfinder des präparierten Klaviers. 1951 komponierte John Cage das erste auf Basis des Zufallsverfahren gegründete Stück. 1952 komponierte - oder vielleicht besser gesagt - gestaltete er das erste Happening. Eine Kombination aus Tanz, Lesungen, Musik und bildender Kunst. Ab den 50er Jahren war sein Leben geprägt durch Abwechslung von Rückzug (Pilze sammeln auf dem Land), Tourneen durch Europa und die Staaten, und Kooperationen mit diversen Künstler verschiedener Richtungen (Musik, bildende Kunst, Tanz, Film). John Cage war anfangs seiner Arbeit sehr umstritten, schaffte es aber durch seine extremen musikästhetischen Ansichten und Experimente, einer der einflussreichsten Komponisten der Avantgarde zu werden. 1.2 Klänge, Ruhe und spiritueller Zufall John Cage war stets auf der Suche nach etwas Neuem. Wie sein Vater als Erfinder nach Lösungen suchte für das „Unmögliche“ so suchte Cage nach Lösungen für noch nie dagewesene Musik. Zu einer späteren Serie von seinen Werken (Two, One, Five, Seven...) sagte er folgendes: „In jedem dieser Werke ziele ich auf etwas, das ich noch nicht gefunden habe. Meine Lieblingsmusik ist die, die ich noch nicht gehört habe. Ich höre die Musik nicht, die ich schreibe. Ich schreibe, um die Musik zu hören, die ich noch nicht gehört habe. Wir leben in einer Zeit, in der sich für viele Menschen das Bewusstsein von dem, was für sie Musik ist oder sein könnte, geändert hat. Etwas, das nicht wie ein Mensch spricht oder redet, das nicht seine Definition im Lexikon oder seine Theorie in den Schulen kennt, etwas, das sich nur durch das Faktum seiner Schwingungen ausdrückt. Menschen, die auf den schieren Schwingungsvorgang Acht haben, nicht in Bezug zu einer fixierten idealen Aufführung, sondern jedes Mal gespannt darauf, wie es sich diesmal ereignet, nicht notwendigerweise zweimal in der gleichen Weise. Eine Musik, die den Hörer zu dem Augenblick trägt, wo er ist.“5 Der Moment war für Cage sehr wichtig und seine meisten Kompositionen beinhalten mehr Freiheit für den Interpreten als gewohnt. John Cage hörte in allem Musik, sei es ein Automotor, die Natur oder auch nur sein eigener Atem. „Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um 5 Cage, John: ein autobiografisches Statement sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente.“6 Die Verknüpfung zur traditionellen Musik sah er einzig noch in dem „Formprinzip“. Eines seiner berühmtesten Werke heisst 4'33' und besteht aus Ruhe in drei Akten. Auch in diesem Stück lässt er dem Interpreten viel Freiheit, indem er die Dauer und die Wahl der (nicht) benutzten Instrumente nicht vorschreibt. 4'33'' ist lediglich die Dauer der Uraufführung und hat sich deshalb als Name durchgesetzt. Um die Dauer der drei Akte festzulegen benutzte Cage das I Ging. I Ging ist eine chinesische Orakelsammlung. Durch ein Zufallsereignis wie z.B. Münzwurf, werden dabei bestimmte Handlungsmöglichkeiten oder Orakeltexte ermittelt. Auch in der Ruhe ist Musik, denn es gibt keine absolute Ruhe. Für diese Erkenntnis zog sich Cage in einen schalldichten Raum zurück und nahm seinen Atem und das fliessen des Blutes in seinen Adern als Musik wahr. 1.3 Vom Komponisten zum Klangorganisator Mit seinen klangvollen Kompositionen stiess Cage auch immer wieder auf Widerstand und in die Diskussion, ob denn dies noch Musik sei. Selbstbewusst und mit einem freidenkerischen Geist sagt er: „Sollte das Wort Musik heilig sein und den Instrumenten des 18. und 19. Jahrhunderts vorbehalten, können wir dafür ein sinnvolleres setzen: Klangorganisation“7 Sich selber bezeichnete er anstelle vom Komponisten, als „Klangorganisator“. Mit diesem Statement nimmt er vielen Gegnern den Wind aus den Segeln. Viele meinen darüber Bescheid zu wissen, was Musik ist und bezweifelten Cage als Komponisten (z.B. Arnold Schönberg), niemand kann aber sagen, dass er nicht ein cleverer „Klangorganisator“ ist. Die Zukunft der Musik und der Komponisten sieht Cage folgendermassen: „Während in der Vergangenheit eine Auseinandersetzung zwischen Dissonanz und Konsonanz im Gange war, wird es in naher Zukunft die zwischen dem Geräusch und den sogenannten musikalischen Klängen sein. Die gegenwärtigen Methoden, Musik zu schreiben, allen voran diejenigen, welche mit der Harmonik und ihrer Beziehung zu besonderen Stufen im Klangfeld arbeiten, werden für den Komponisten unzulänglich sein, der dem gesamten Klangfeld gegenüber steht.“8 John Cage starb im August 1992, drei Tage vor seinem 80. Geburtstag in seiner Wohnung in New York an einem Schlaganfall. 6 Texte zur Musikästhetik, Reclam 7 Texte zur Musikästhetik, Reclam, S. 307 8 Texte zur Musikästhetik, Reclam, S. 308 2 Pierre Boulez: Gefühlskalte Gallionsfigur der Avantgarde oder ein intellektueller, genialer Musikallrounder „Zum Teufel nein! Es gilt beherzt gegen die Behauptung zu Felde zu ziehen, dass die „intellektuelle“ Reflexion für die „Inspiration“ schädlich sei – das Wort „Inspiration“ in seinem blitzumzuckten, orakelhaften Sinn gebraucht!“ Pierre Boulez Betrachten wir die europäische Musik und das musikalische Umfeld der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, kommen wir um Pierre Boulez nicht herum. Er entfachte das glimmende Feuer, das die zweite Wiener Schule um Schönberg erzeugte, zu einem lodernden Flächenbrand. Die Musikwelt wurde in helle Aufregung versetzt. Musikästhetiker, Komponisten und Rezipienten erstarrten oder besser gesagt, warteten mit „Argusohren“ auf die Fortsetzung des musikalischen Erbes Schönbergs und Weberns. Dieses Erbe trat der Besagte selbstbewusst und radikal an. 2.1 Von den Jugendjahren zum „Shootingstar“ der avantgardistischen Musik Pierre Boulez wurde am 26. März 1925 in Montbrison im französischen Département Loire geboren. Wäre es nach seinem Vater gegangen, wäre er Ingenieur geworden. Es sprach auch einiges dafür, dass der Mittelstands-Junge aus der französischen Provinz in die Fussstapfen seines Erzeugers treten würde, der als Techniker in der Stahlbranche arbeitete. Er war gut in der Schule, mathematisch so begabt, dass er vom katholischen Collège in Saint-Etienne weiter nach Lyon auf ein naturwissenschaftliches Spezial-Seminar geschickt wurde. Womöglich wäre er sogar in dieser Linie geblieben, wenn es ihn nicht nach Paris gezogen hätte. Mit 18 Jahren nabelte er sich von zuhause ab, ging in die französische Hauptstadt und änderte grundlegend seine Zukunftspläne. Im Oktober 1944 schrieb er sich am Konservatorium in der Klasse für Harmonielehre von Olivier Messiaen ein. Aus dem Hobby - seit dem siebten Lebensjahr hatte er Klavierunterricht bekommen und war ausserdem im Schulchor aktiv gewesen - wurde eine Leidenschaft. Durch Messiaen lernte er die Klangwelt von Strawinsky, Bartók und der alten und neuen Wiener Schule kennen. Durch ihn verstand er auch, wie wichtig es ist, nicht über Musik, sondern in Musik zu denken. Als erste Talentprobe sendete der französische Rundfunk seine "Trois Psalmodies" (1945) für Klavier, noch zaghafte Schülerarbeiten im Stil des Lehrers mit einem Hang zu Schönbergscher Abstraktion. Doch bald schon sollte sich der „Élève“ als eigenständiger Komponist bewähren. Ein kurzer Unterricht bei René Leibowitz brachte ihm die Dodekaphonie nahe, atonale, serielle und elektroakustische Experimente folgten. 1951 beschäftigte er sich in der „Groupe de Recherches Musicales“ von Pierre Schaeffer mit der Musique concrète und besuchte 1952 erstmals die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Dort wirkte er 1955 bis 1967 als Dozent und als Dirigent des Darmstädter Kammerensembles. Seine erste Anstellung als Leiter der „Compagnie RenaudBarrault“ brachte ihn mit der Bühnenmusik zusammen, 1954 gründete er eine Konzertreihe für neue Musik, die „Domaine Musical“. Im Jahr darauf gelang ihm mit "Le marteau sans maître" der internationale Durchbruch als Komponist. 2.2 Der absolutistische Rebell Neben Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono gehört Pierre Boulez seit Mitte der 1950er Jahre zu den herausragenden Vertretern der musikalischen Avantgarde, speziell der seriellen Musik. In seinen Kompositionen verbindet Boulez Rationaliät und Logik mit den poetischen Traditionen der französischen Musik, insbesondere des Impressionismus. Seine erste Schaffensphase ist von einer äusserst kritischen Einstellung zum eigenen Werk wie zu den Kompositionen anderer geprägt. So störte er mehrmals mit Gleichgesinnten Aufführungen konservativerer Kollegen und zog zahlreiche Frühwerke wieder zurück9. Das selbstbewusste, intellektuelle und kalte Auftreten Boulez beeindruckte und schüchterte zugleich ein. Zudem waren die 50er Jahre der richtige Zeitpunkt für solche radikalen Vorstösse. Der zweite Weltkrieg war überwunden und die Komponisten der Avantgarde versuchten die „Altlasten“ endgültig loszuwerden. Der Bruch mit der „alten Generation und alten Regeln“ musste zwangsläufig stattfinden. Boulez nahm zu dieser Zeit dermassen viel Platz ein, dass viele Komponisten sich nicht mehr trauten, nicht seriell zu komponieren. Der Personenkult um Nono, Stockhausen und Boulez nahm zuweilen sektenmässige Züge an. Dieser Zustand machte den jungen Boulez noch selbstsicherer, verlieh ihm eine gewisse Macht und veranlasste ihn zu spitzigen Äusserungen. In dieser Rolle gefiel sich Boulez zusehends. Bei einem Interview mit den Spiegelredaktoren Felix Schmidt und Jürgen Hohmeyer anlässlich der Bayreuther Festspiele – wo er Wagners „Parsifal“ dirigierte - antwortete Boulez auf die Frage, ob die modernen Opern des gefeierten Hans Werner Henze substanziell wichtig sind, folgendermassen: „Henzes Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern. Ich denke da immer an einen lackierten Friseur, der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes "Prinz von Homburg" zum Beispiel ist ein unglücklicher Aufguss von Verdis "Don Carlos" - von seinen andern Opern ganz zu schweigen. Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist machen, er glaubt, dass er immer König ist.“10 Weiter wurde er gefragt, was ihn ausser Parsifal noch interessieren würde. Er antwortete mit 9 Andere Stücke hat er mehrmals überarbeitet und erweitert; er betrachtet sie nicht als abgeschlossene Werke, sondern eher als Forschungsprojekte. 10 „SPRENGT DIE OPERNHÄUSER IN DIE LUFT! SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, Spiegel Nr. 40, 1967 folgenden schnippischen Worten. „Sehr wenig, ein paar weitere Wagner-Opern, Mozart, Mussorgski und Debussy. Dann ist schon Schluss. Wenn mir jemand anbieten würde, ich solle Verdis "Macht des Schicksals" dirigieren, ginge ich lieber spazieren.“ Diese und unzählige weitere musikästhetische Äusserungen, zementierten Boulez Platz als Gallionsfigur der zeitgenössischen Musik. Diese „jugendliche“ Arroganz und seine intellektuelle Art Musik zu komponieren und zu analysieren, liessen Boulez in den Mitte 50er Jahren zu dieser Figur werden. Er war zu diesem Zeitpunkt das musikalische Epizentrum und omnipräsent (Referent bei den Darmstädter Ferienkursen, Dozent an der Musikakademie in Basel (1960-63) und 1963 an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts), gefeierter Dirigent, um nur einige Stationen zu nennen). Komponisten, die einen anderen Weg des Komponierens bevorzugten, wurden vom Boulezschen Dunstkreis an den Rand der Peripherie gedrängt und dort verschmäht oder belächelt. 2.3 Die Gallionsfigur altert – „Work in progress“ als Lebensphilosophie oder Denk- und Arbeitsweise. Mit zunehmendem Alter wird aus dem radikal, seriell-analytisch denkenden Komponisten ein reflektierender, relativierender aber immer noch stark analytischer Musikallrounder. Boulez überarbeitet und revidiert seine Werke regelmässig und passt sie so den momentanen musikalischen Strömungen an. Es gibt nur wenige Werke in seinem Œuvre die nicht revidiert wurden. Sogar ganze Kompositionsweisen wurden von Boulez wiederrufen. „Die „serielle“ Entwicklung der fünfziger Jahre beruhte im Wesentlichen auf der Utopie, dass die Schreibweise das Phänomen hervorbringe; die Strenge des technischen Apparats sollte unausgesprochen die ästhetische Gültigkeit garantieren. Man verspürt eine gewisse Faszination angesichts dieses Versuchs, Sprache zu entpersönlichen, innerhalb eines deterministischen Kontextes eine Anzahl von Funktionen spielen zu lassen und die Rolle des Komponisten auf das Verzeichnen der Resultate, auf ein Funktionsprotokoll zu beschränken: Die Schreibweise ist nicht mehr Vermittler des Handelns, sondern dessen Motor. Wollte man dieses Vorgehen zum Äussersten treiben, müsste man die Anfangs-Entscheidungen ebenso strikt ausklammern wie die im Lauf der angewendeten Verfahren da und dort unternommenen Nachhilfen. Aber das Paradoxon will, dass wir so beim Gegenteil der Schreibweise landen, beim Chaos…!“11 Boulez erkannte, dass die serielle Denkweise, wenn sie konsequent zu Ende gedacht wird, in einer musikalischen Sackgasse endet. Eine Neuorientierung ist daher zwingend. Die Stücke werden, sehr streng formuliert, „recycelt“. So passiert beim „Klavierzyklus“ „notation(s)“. Dieses Klavierwerk organisierte Boulez komplett neu und fertigte daraus ein 11 Boulez, Pierre: „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des Tauben?, In: Pierre Boulez – Leitlinien, Kassel, Bärenreiter, 2000, S. 297 Orchesterwerk. Diese Bearbeitung für Orchester erhält nun eine völlig andere Bedeutung und hat mit dem Original kaum hörbare Merkmale mehr.12 Praktisch alle seine „Jugendwerke“ durch laufen diesen Prozess der Erneuerung oder sie werden gänzlich verworfen. Diese reflektierte „work in progress“ Arbeitsweise hält bis dato an. Das Œuvre von Boulez ist dadurch eher schlank, was einige Kritiker dazu veranlagt, diese „work in progress“ Denkweise gegen ihn zu verwenden. Eine grosse Konstante im ganzen Schaffen und Denken von Boulez ist, bis heute, die Analyse. Bevor Boulez ein Werk dirigiert, analysiert er es. Bevor Boulez über ein Werk schreibt, analysiert er es. Bevor Boulez etwas komponiert oder bearbeitet, werden alte Sachverhalte analysiert, um neue Analysen herzustellen. Es scheint, als ob Boulez jeden Satz, den er sagt, schreibt oder komponiert, durchdacht und durch analysiert ist. Boulez braucht dieses Gefühl der völligen „Durchleuchtung“. Ohne diese Gewissheit würde er sich verloren, dilettantisch und nicht kompetent fühlen. Durch die Analyse kann er alte Kompositionsweisen widerrufen und neue kreieren. Er leitet her und strickt weiter. Die „Besessenheit“ nach der analytischen Struktur widerspiegelt sich in fast allen Schriften von Boulez. Das musikalische Gehör ist dabei schon längst überfordert und kann, die im musikalischen Text konstruierten Abläufe, nicht mehr nachvollziehen. Diese Schreibweise erläutert Boulez in mehreren Texten unter anderem im Essay „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des Tauben?“. Durch die formale Analyse des Kammerkonzerts von Berg, möchte Boulez beweisen, dass viele Komponisten, eine in Zahlen konzipierte Form anstrebten (in diesem Fall die Zahl Drei oder ein Vielfaches davon), die aber durch das Gehör nicht mehr wahrzunehmen ist. Durch musikalische Gesten, wird das Gehör doch noch in konventionelle Formen geführt. Wenn diese Gesten wegfallen, kann man nur noch durch „den Blick des Tauben“ die Struktur erkennen. Dadurch, dass die serielle Musik solche Gesten verabscheute und auf rein mathematischen Gegebenheiten beruhte, führte diese Kompositionsweise, wie oben im Zitat erwähnt, ins unweigerliche Chaos. Boulez komponierte nicht nur analytisch, er dirigierte auch so. Seine eigenwillige Dirigierart war sehr konkret und liess wenig Platz für agogischen Spielraum. „Zugegeben, manche seiner Interpretationen, etwa des „Rings“ oder der Orchesterstücke von Varèse, wirken im Vergleich zu jenen anderen Dirigenten so, als habe jemand peinlich aufgeräumt“13 Wenn man sich mit Boulez beschäftigt, fragt man sich irgendwann unweigerlich, wo die Musik bleibt. Soll Musik des 20./21. Jahrhunderts ihr Fundament in analytischer Mathematik haben? Eine Antwort auf diese offene Frage kann man eventuell im sehr angriffigen Essay („Boulez – ein Schicksal?“) von Claus-Steffen Mahnkopf nach lesen. „Bei Boulez fehlt diese Dimension des 12 Ich verweise hier auf folgendes Essay: Ofenbauer, Christian: „Vom Faltenlegen – Versuch einer Lektüre von Pierre Boulez „notation(s) I(1), In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 55-75 13 Zuber, Barbara: „Komponieren – Analysieren – Dirigieren – Ein Gespräch mit Pierre Boulez“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 32 Verführtwerdens. Schicksal, Liebe, Scheitern, Ohnmacht, Tod, Tragik – das sind Kategorien, die es bei Boulez nicht gibt; ihr Gemeinsames, das Nicht-Wollen, wird nicht zugelassen. Dort jedoch erst, in der hingebungsvollen Aufgabe subjektivistischer Rationalität, zeigt sich, wieweit ein „Künstler“ der Kunst fähig (und eben nicht: mächtig) ist. Kunst ist die Manifestation der Methexis am absoluten Gegenteil des Willens, an der zwanglosen Synthesis des Mimetischen – jenseits von Macht und Kalkulation.“14 Boulez ist also eine imposante und pompöse Gallionsfigur, die ein Schiff zu einem richtigen Kriegsschiff macht. Sie ist aber kein charismatischer Kapitän aus Fleisch und Blut. 2.4 Boulez heute Keine Frage Boulez Musik und seine Tätigkeiten als Dirigent und als Förderer der zeitgenössischen Musik sind unumstritten. Er lenkte und dirigierte die Geschehnisse des späten 20. und noch frühen 21. Jahrhundert. Wer die Zustimmung Boulez für seine Werke gewinnen kann, bringt es heute weit in der zeitgenössischen Musik. Die Person und seine Werke sind unantastbar und haben eine zentrale und berechtigte Stellung in der Musikgeschichte. Es wird interessant sein, wenn die Gallionsfigur eines Tages vom Schiff genommen und in ein Museum gestellt wird. Was passiert dann? 3 Beziehung von Cage und Boulez John Cage und Pierre Boulez begegneten sich erstmals in Paris ende der 40er Jahre und hatten zwischen 1949 und 1962 regen Briefkontakt. Die Beziehung war am Anfang geprägt von gegenseitiger Bewunderung, die aber mit der Zeit durch ihre unterschiedlichen Einstellungen in gegenseitige Kritik umkippte. 3.1 Der Briefwechsel Der Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage ist eine wahre Fundgrube für Antworten sowie Fragen. Warum schrieb ein so „Karriere besessener“ Emporkömmling mit einem meditierenden Freigeist? Die 48 Briefe und Dokumente aus den Jahren 1949-1962 beschreiben und illustrieren, wie kein anderer Briefwechsel, den regen Austausch zweier Komponisten auf ihrem Weg zu einer neuen Kompositionsweise, die konträrer nicht sein könnten. Sie beschreiben auch einen charakterlichen Veränderungsprozess zweier Komponisten. Boulez, der in den Anfängen sehr angetan von Cages Werken für präpariertes Klavier und den Werken für elektronische Klangerzeugung war, tauschte sich intensiv über Kompositionsideen und –weisen aus. Er war sichtlich erquickt über Cages Kompositionen. Die klanglichen Möglichkeiten und die Art sie zu 14 Mahnkopf, Claus Steffen: „Boulez – ein Schicksal?“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 24 notieren, erstaunte Boulez zusehends. Cages Tabellen brachten Boulez auf neue Ideen. Diese führten Boulez aber zusehends in eine konträre Kompositionsrichtung. Das Reich der Zahlen wurde Boulez kompositorisches Zuhause. Und dieses Zuhause wurde durch sein Umfeld immer pompöser. Boulez wurde zum Steckenpferd der avantgardistischen Musik. Dies liess er auch Cage spüren. „Natürlich sind wir in dieser Hinsicht stets verschiedener Meinung – ich akzeptiere den Zufall als Bestandteil eines gebauten Werks nicht – und ich glaube nicht, dass ich ihn je akzeptieren werde. Ich erweitere die Möglichkeiten von Musik, ob streng oder frei (Zwang oder nicht). Aber rein zufällig, schon der Gedanke daran kann ich nicht ertragen!“15 Nach diesen Äusserungen Boulez ebbte der Briefwechsel ab. Die nachfolgenden Briefe waren von belanglosem Inhalt. Grosse Verwunderung bewirkte danach John Cages Aktion während eines Darmstadt-Aufenthaltes, mit der er auf Boulez kategorische Verdammung des Sünden(zu)falls auf seine zen-buddhistische Weise antwortete: „John Cage sass während Pausen und Veranstaltungen vor der Türe, an einem Holztisch, und setzte Töne auf seine Weise – völlig geheimnislos, mit Hilfe von Münzwürfen und „I Ging“-Tabellen. Drinnen sprachen die Serialisten und stellten neue Kompositionen vor. Als der Zufallsmethodiker dann befand, es sei genug mit Münzwürfen und „I Ging“-Orakel, ging auch er daran, eines seiner auf diese Weise komponierten Stücke vorzustellen – mit dem Lächeln der Edamerkatze aus Alice im Wunderland. Und die junge europäische Avantgarde hörte. Und hörte. Und traute ihren Ohren nicht. Aber am Ende war es nicht abzustreiten: Die aussermusikalische Zufallskomposition ähnelte in verblüffender Weise mancher differenziert und komplex strukturierten seriellen Werk der jungen europäischen Avantgarde.“16 3.2 Cage über Boulez Aber auch Cage bewunderte Boulez am Anfang ihrer Bekanntschaft und beschreibt Boulez Lächeln und seine Energie als faszinierend und inspirierend. Als sie sich aber in New York wieder sahen und zusammen unterwegs waren, lernte Cage eine ihm weniger sympathische Seite von Boulez kennen. John Cage war zu dieser Zeit arm und wollte seine Armut kultivieren, Boulez dagegen interessierte dies nicht. „Was er wollte, waren Pracht und Glanz.“17 Alles musste ästhetisch genau stimmen. So fand es Boulez zum Beispiel extrem unelegant, als ihnen einmal unterwegs beim Autofahren das Benzin ausging. Cage hatte dabei wohl eher auf die Motorengeräusche geachtet als auf den Benzinstand, während Boulez sich sehr darüber aufregte. Auch als sie in einem Restaurant einmal nicht äusserst freundlich bedient wurden, bestand Boulez darauf, das Restaurant zu verlassen, was 15 Boulez, Pierre; Cage, John: „Correspondance et documents, réunis, présentés et annotés par Jean-Jacques Nattiez, en collaboration avec Françoise Davoine, Hans Oesch et Robert Piencikowski“, Basel, Paul Sacher Stiftung, 1990, S. 220 16 Nattiez, Jean-Jacques (hrsg.): „Dear Pierre – Cher John“, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 1997, S. 30 17 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 148 Cage wiederum als arrogant empfand. Boulez Einstellung zu Musik fasst Cage folgendermassen zusammen: „Pierre geht es in der Musik um Ideen. Sein Standpunkt ist ein literarischer. Er redet sogar von Parenthesen. Nichts von alledem hat mit Klang zu tun. Pierre hat die Haltung eines Experten. Aus so einer Einstellung heraus kann man sich nur mit der Vergangenheit befassen. Man kann kein Experte für das Unbekannte sein. Sein Werk ist nur verständlich, wenn man das Vergangen mitberücksichtigt.“18 Obwohl Boulez begeistert war von Mallarmés „Livre“ das nach Cages Meinung bis ins Detail das Werk einer Zufallsoperation war, lehnte er Cages Zufallskompositionen vehement ab.19 4 Schlusswort Wir befassten uns mit zwei Komponisten die beide die avantgardistische Musik des 20. Jahrhundert massgebend prägten. Zwei Komponisten, mit völlig unterschiedlichen Lebenseinstellungen und einer komplett anderer Herangehensweise, wenn's ums Komponieren geht. Zufall versus ausgeklügelte Denkarbeit - der bescheidene Entdecker steht dem arroganten König gegenüber. Beide suchten nach dem Neuen und beide haben viele Erneuerungen in die avantgardistische Musik hineingebracht. Cage ist seit 20 Jahren tot und noch lange nicht vergessen und Boulez wird dieses Jahr 89. Umbestritten bleibt, dass sie zwei Persönlichkeiten waren oder immer noch sind und sehr wahrscheinlich ist es, dass ihre geführten Diskussionen über Musik weiter debattiert werden. 5 Literaturverzeichnis Literatur: ∑ Cage, John: Ein autobiografisches Statement, New York 1989 in: Katalog Wien Modern 2004, hrsg, Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2004 ∑ Cage, John: Silence. Übers. Von Ernst Jandl, Luchterhand Literaturverlag, Verlagsgruppe Random House GmbH, München, 1995 ∑ Boulez, Pierre: „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des Tauben?, In: Pierre Boulez – Leitlinien, Kassel, Bärenreiter, 2000 ∑ Boulez, Pierre; Cage, John: „Correspondance et documents, réunis, présentés et annotés par Jean-Jacques Nattiez, en collaboration avec Françoise Davoine, Hans Oesch et Robert Piencikowski“, Basel, Paul Sacher Stiftung, 1990 ∑ Hohmeyer, Jürgen; Schmidt, Felix: „SPRENGT DIE OPERNHÄUSER IN DIE LUFT! SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez, 18 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 149 19 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 148-149 Spiegel Nr. 40, 1967 ∑ Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geitisgen Fragen unserer Zeit, DuMont Buchverlag, Köln, 1989 ∑ Mahnkopf, Claus Steffen: „Boulez – ein Schicksal?“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995 ∑ Nattiez, Jean-Jacques (hrsg.): „Dear Pierre – Cher John“, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 1997 ∑ Ofenbauer, Christian: „Vom Faltenlegen – Versuch einer Lektüre von Pierre Boulez „notation(s) I(1), In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995 ∑ Zeller, Hans Rudolf: „Von einer (zeitweiligen) Korrespondenz – Zum Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995 ∑ Zuber, Barbara: „Komponieren – Analysieren – Dirigieren – Ein Gespräch mit Pierre Boulez“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 32