John Cage / Pierre Boulez
Eine Arbeit im Fach:
Musikästhetik
verfasst von Dominik Hüppin und Andreas Schelker
eingereicht bei Tihomir Popovic,
Januar 2014
Inhaltsverzeichnis
1 John Cage ........................................................................................................................................2
1.1 Auf der Suche nach dem „Neuen“........................................................................................2
1.2 Klänge, Ruhe und spiritueller Zufall ....................................................................................4
1.3 Vom Komponisten zum Klangorganisator............................................................................5
2 Pierre Boulez: Gefühlskalte Gallionsfigur der Avantgarde oder ein intellektueller, genialer
Musikallrounder.................................................................................................................................6
2.1 Von den Jugendjahren zum „Shootingstar“ der avantgardistischen Musik .......................6
2.2 Der absolutistische Rebell.....................................................................................................7
2.3 Die Gallionsfigur altert – „Work in progress“ als Lebensphilosophie oder Denk- und
Arbeitsweise................................................................................................................................8
2.4 Boulez heute........................................................................................................................10
3 Beziehung von Cage und Boulez..................................................................................................10
3.1 Der Briefwechsel.................................................................................................................10
3.2 Cage über Boulez................................................................................................................11
4 Schlusswort....................................................................................................................................12
5 Literaturverzeichnis......................................................................................................................12
1 John Cage
1.1
Auf der Suche nach dem „Neuen“
John Cage wurde 1912 in Kalifornien geboren wo er auch den grössten Teil seiner Kindheit
verbrachte. Sein Vater war Erfinder und seine Mutter arbeitete als Redakteurin bei der Los Angeles
Time. Von seinen Eltern hat niemand das College gemacht und doch arbeiteten sie in Jobs wo man
normalerweise studiert hat. Als Erfinder vermochte es sein Vater Lösungen für Probleme zu finden.
„Wenn einer behaupte, „das geht nicht“, zeige einem das, was zu tun sei.“ 1 Dieses Statement von
seinem Vater prägte auch John Cage der ebenfalls nie das College abschloss.
„Ich war schockiert, im College einhundert meiner Mitstudenten in der Bibliothek ein und dasselbe
Buch lesen zu sehen. Anstatt es ihnen gleichzutun, ging ich ins Magazin und las das erste Buch, das
von einem Autor, dessen Name mit «Z» begann, geschrieben war. Ich bekam die beste Note im
1 John Cage, Ein autobiografisches Statement
Kurs. Das brachte mich zu der Überzeugung, dass die Institution nicht sinnvoll orientiert sei. Also
ging ich.“ 2
John Cage flog nach Paris und befasste sich intensiv mit Architektur. Bald merkte er aber, dass ihn
Musik und Kunst noch mehr interessierte. Er flog nach Mallorca und begann zu komponieren. Seine
Kompositionen waren streng nach einer mathematischen Methode, die er aber selber nicht mehr
weiss. Ihm erschienen die Kompositionen nicht nach Musik und er liess in Mallorca zurück.
1931 kehrte er nach Kalifornien zurück und begann Texte zu vertonen. Zu dieser Zeit lernte er auch
Arnold Schönberg kennen und bat ihn, ihn zu unterrichten. Schönberg zögerte, unterrichtetet ihn
dann aber umsonst, weil er merkte, dass es Cage ernst war. Nach zwei Jahren Unterricht wollte
Schönberg ihn aber nicht weiter unterrichten und meinte, er werde es nie lernen, Musik zu
schreiben. „Warum nicht?“ „Sie werden an eine Wand stoßen und nicht durch sie hindurchgehen
können.“ „Dann werde ich mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand anrennen.“3
Als Grund für die Unfähigkeit Musik zu schreiben nannte Schönberg Cages Unverständnis für
Harmonien. Daraufhin begann Cage Perkussionsmusik zu schreiben. Die Kompositionen bestanden
aus kurzen Motiven. Die grossen Teile einer Komposition hatten die gleiche Struktur wie die
kleinen Motive. Cage sah darin seine Antwort auf Schönbergs strukturale Harmonie. Schönberg
interessierte sich nicht wesentlich dafür und lehnte Aufführungseinladungen ab. Zu dieser Zeit
arbeitete Cage oft mit modernen Tänzer zusammen und vertonte abstrakte Filme. Er lebte mit seiner
Frau in Santa Monica, wo sie das Buchbinden erlernten und mit den Angestellten in einem grossen
Haus lebten. Am Abend spielten sie jeweils Cages Perkussionsmusik.
1938 siedelte Cage nach Seattle über und arbeitete an der Cornish School als Pianist und
Korrepetitor für Tanzklassen. Auch gründete er dort ein Schlagzeugensemble.
Die akademische Idee, dass die Absicht der Musik Kommunikation sei, konnte Cage nicht teilen, da
die Hörer seine Musik auch nicht zu verstehen schienen. Die Idee brachte ihn sogar ziemlich
durcheinander, so dass er beschloss, das Komponieren aufzugeben, falls er keinen anderen Grund
dafür fände. Sein Interesse an anderen Kulturen liess in aber weiter hoffen und bei einer indischen
Sängerin und Tabla-Spielerin fand er eine Antwort.
„Der Zweck der Musik ist es, das Bewusstsein zu ernüchtern und zu beruhigen, um es dadurch für
göttliche Einflüsse empfänglich zu machen. Ich fand auch in den Schriften von Ananda K.
Coomaraswamy, dass die Aufgabe des Künstlers darin liege, die Natur in ihren Verfahrensweisen
nachzuahmen. Ich wurde weniger verstört und fing wieder an zu arbeiten.“4
2 John Cage, Ein autobiografisches Statement
3 John Cage, Ein autobiografisches Statement
4 John Cage, Ein autobiografisches Statement
Für eine Tänzerin konnte Cage Musik zu einem Tanz in afrikanischem Stil schreiben. Da es aber an
dem Aufführungsort keinen Platz für Instrumente hatte und er mit dem dort stehenden Flügel mit
herkömmlicher Spielweise keine afrikanische Musik hinkriegte, entschied er sich das Klavier zu
präparieren und es entstand daraus ein kleines „Perkussionsorchester“. John Cage gilt als Erfinder
des präparierten Klaviers.
1951 komponierte John Cage das erste auf Basis des Zufallsverfahren gegründete Stück.
1952 komponierte - oder vielleicht besser gesagt - gestaltete er das erste Happening. Eine
Kombination aus Tanz, Lesungen, Musik und bildender Kunst.
Ab den 50er Jahren war sein Leben geprägt durch Abwechslung von Rückzug (Pilze sammeln auf
dem Land), Tourneen durch Europa und die Staaten, und Kooperationen mit diversen Künstler
verschiedener Richtungen (Musik, bildende Kunst, Tanz, Film).
John Cage war anfangs seiner Arbeit sehr umstritten, schaffte es aber durch seine extremen
musikästhetischen Ansichten und Experimente, einer der einflussreichsten Komponisten der
Avantgarde zu werden.
1.2
Klänge, Ruhe und spiritueller Zufall
John Cage war stets auf der Suche nach etwas Neuem. Wie sein Vater als Erfinder nach Lösungen
suchte für das „Unmögliche“ so suchte Cage nach Lösungen für noch nie dagewesene Musik. Zu
einer späteren Serie von seinen Werken (Two, One, Five, Seven...) sagte er folgendes:
„In jedem dieser Werke ziele ich auf etwas, das ich noch nicht gefunden habe. Meine
Lieblingsmusik ist die, die ich noch nicht gehört habe. Ich höre die Musik nicht, die ich schreibe.
Ich schreibe, um die Musik zu hören, die ich noch nicht gehört habe.
Wir leben in einer Zeit, in der sich für viele Menschen das Bewusstsein von dem, was für sie Musik
ist oder sein könnte, geändert hat. Etwas, das nicht wie ein Mensch spricht oder redet, das nicht
seine Definition im Lexikon oder seine Theorie in den Schulen kennt, etwas, das sich nur durch das
Faktum seiner Schwingungen ausdrückt. Menschen, die auf den schieren Schwingungsvorgang
Acht haben, nicht in Bezug zu einer fixierten idealen Aufführung, sondern jedes Mal gespannt
darauf, wie es sich diesmal ereignet, nicht notwendigerweise zweimal in der gleichen Weise. Eine
Musik, die den Hörer zu dem Augenblick trägt, wo er ist.“5
Der Moment war für Cage sehr wichtig und seine meisten Kompositionen beinhalten mehr Freiheit
für den Interpreten als gewohnt. John Cage hörte in allem Musik, sei es ein Automotor, die Natur
oder auch nur sein eigener Atem. „Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um
5 Cage, John: ein autobiografisches Statement
sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente.“6 Die Verknüpfung zur
traditionellen Musik sah er einzig noch in dem „Formprinzip“.
Eines seiner berühmtesten Werke heisst 4'33' und besteht aus Ruhe in drei Akten. Auch in diesem
Stück lässt er dem Interpreten viel Freiheit, indem er die Dauer und die Wahl der (nicht) benutzten
Instrumente nicht vorschreibt. 4'33'' ist lediglich die Dauer der Uraufführung und hat sich deshalb
als Name durchgesetzt. Um die Dauer der drei Akte festzulegen benutzte Cage das I Ging. I Ging ist
eine chinesische Orakelsammlung. Durch ein Zufallsereignis wie z.B. Münzwurf, werden dabei
bestimmte Handlungsmöglichkeiten oder Orakeltexte ermittelt.
Auch in der Ruhe ist Musik, denn es gibt keine absolute Ruhe. Für diese Erkenntnis zog sich Cage
in einen schalldichten Raum zurück und nahm seinen Atem und das fliessen des Blutes in seinen
Adern als Musik wahr.
1.3
Vom Komponisten zum Klangorganisator
Mit seinen klangvollen Kompositionen stiess Cage auch immer wieder auf Widerstand und in die
Diskussion, ob denn dies noch Musik sei. Selbstbewusst und mit einem freidenkerischen Geist sagt
er:
„Sollte das Wort Musik heilig sein und den Instrumenten des 18. und 19. Jahrhunderts vorbehalten,
können wir dafür ein sinnvolleres setzen: Klangorganisation“7 Sich selber bezeichnete er anstelle
vom Komponisten, als „Klangorganisator“.
Mit diesem Statement nimmt er vielen Gegnern den Wind aus den Segeln. Viele meinen darüber
Bescheid zu wissen, was Musik ist und bezweifelten Cage als Komponisten (z.B. Arnold
Schönberg), niemand kann aber sagen, dass er nicht ein cleverer „Klangorganisator“ ist.
Die Zukunft der Musik und der Komponisten sieht Cage folgendermassen:
„Während in der Vergangenheit eine Auseinandersetzung zwischen Dissonanz und Konsonanz im
Gange war, wird es in naher Zukunft die zwischen dem Geräusch und den sogenannten
musikalischen Klängen sein. Die gegenwärtigen Methoden, Musik zu schreiben, allen voran
diejenigen, welche mit der Harmonik und ihrer Beziehung zu besonderen Stufen im Klangfeld
arbeiten, werden für den Komponisten unzulänglich sein, der dem gesamten Klangfeld gegenüber
steht.“8
John Cage starb im August 1992, drei Tage vor seinem 80. Geburtstag in seiner Wohnung in New
York an einem Schlaganfall.
6 Texte zur Musikästhetik, Reclam
7 Texte zur Musikästhetik, Reclam, S. 307
8 Texte zur Musikästhetik, Reclam, S. 308
2 Pierre Boulez: Gefühlskalte Gallionsfigur der Avantgarde oder
ein intellektueller, genialer Musikallrounder
„Zum Teufel nein! Es gilt beherzt gegen die Behauptung
zu Felde zu ziehen, dass die „intellektuelle“ Reflexion für
die „Inspiration“ schädlich sei – das Wort „Inspiration“ in
seinem blitzumzuckten, orakelhaften Sinn gebraucht!“
Pierre Boulez
Betrachten wir die europäische Musik und das musikalische Umfeld der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts, kommen wir um Pierre Boulez nicht herum. Er entfachte das glimmende Feuer, das
die zweite Wiener Schule um Schönberg erzeugte, zu einem lodernden Flächenbrand. Die
Musikwelt wurde in helle Aufregung versetzt. Musikästhetiker, Komponisten und Rezipienten
erstarrten oder besser gesagt, warteten mit „Argusohren“ auf die Fortsetzung des musikalischen
Erbes Schönbergs und Weberns. Dieses Erbe trat der Besagte selbstbewusst und radikal an.
2.1
Von den Jugendjahren zum „Shootingstar“ der avantgardistischen Musik
Pierre Boulez wurde am 26. März 1925 in Montbrison im französischen Département Loire
geboren. Wäre es nach seinem Vater gegangen, wäre er Ingenieur geworden. Es sprach auch einiges
dafür, dass der Mittelstands-Junge aus der französischen Provinz in die Fussstapfen seines
Erzeugers treten würde, der als Techniker in der Stahlbranche arbeitete. Er war gut in der Schule,
mathematisch so begabt, dass er vom katholischen Collège in Saint-Etienne weiter nach Lyon auf
ein naturwissenschaftliches Spezial-Seminar geschickt wurde. Womöglich wäre er sogar in dieser
Linie geblieben, wenn es ihn nicht nach Paris gezogen hätte. Mit 18 Jahren nabelte er sich von
zuhause ab, ging in die französische Hauptstadt und änderte grundlegend seine Zukunftspläne.
Im Oktober 1944 schrieb er sich am Konservatorium in der Klasse für Harmonielehre von Olivier
Messiaen ein. Aus dem Hobby - seit dem siebten Lebensjahr hatte er Klavierunterricht bekommen
und war ausserdem im Schulchor aktiv gewesen - wurde eine Leidenschaft. Durch Messiaen lernte
er die Klangwelt von Strawinsky, Bartók und der alten und neuen Wiener Schule kennen. Durch ihn
verstand er auch, wie wichtig es ist, nicht über Musik, sondern in Musik zu denken. Als erste
Talentprobe sendete der französische Rundfunk seine "Trois Psalmodies" (1945) für Klavier, noch
zaghafte Schülerarbeiten im Stil des Lehrers mit einem Hang zu Schönbergscher Abstraktion. Doch
bald schon sollte sich der „Élève“ als eigenständiger Komponist bewähren. Ein kurzer Unterricht
bei René Leibowitz brachte ihm die Dodekaphonie nahe, atonale, serielle und elektroakustische
Experimente folgten. 1951 beschäftigte er sich in der „Groupe de Recherches Musicales“ von Pierre
Schaeffer mit der Musique concrète und besuchte 1952 erstmals die Internationalen Ferienkurse für
Neue Musik in Darmstadt. Dort wirkte er 1955 bis 1967 als Dozent und als Dirigent des
Darmstädter Kammerensembles. Seine erste Anstellung als Leiter der „Compagnie RenaudBarrault“ brachte ihn mit der Bühnenmusik zusammen, 1954 gründete er eine Konzertreihe für neue
Musik, die „Domaine Musical“. Im Jahr darauf gelang ihm mit "Le marteau sans maître" der
internationale Durchbruch als Komponist.
2.2
Der absolutistische Rebell
Neben Karlheinz Stockhausen und Luigi Nono gehört Pierre Boulez seit Mitte der 1950er Jahre zu
den herausragenden Vertretern der musikalischen Avantgarde, speziell der seriellen Musik. In seinen
Kompositionen verbindet Boulez Rationaliät und Logik mit den poetischen Traditionen der
französischen Musik, insbesondere des Impressionismus.
Seine erste Schaffensphase ist von einer äusserst kritischen Einstellung zum eigenen Werk wie zu
den Kompositionen anderer geprägt. So störte er mehrmals mit Gleichgesinnten Aufführungen
konservativerer Kollegen und zog zahlreiche Frühwerke wieder zurück9. Das selbstbewusste,
intellektuelle und kalte Auftreten Boulez beeindruckte und schüchterte zugleich ein. Zudem waren
die 50er Jahre der richtige Zeitpunkt für solche radikalen Vorstösse. Der zweite Weltkrieg war
überwunden und die Komponisten der Avantgarde versuchten die „Altlasten“ endgültig
loszuwerden. Der Bruch mit der „alten Generation und alten Regeln“ musste zwangsläufig
stattfinden. Boulez nahm zu dieser Zeit dermassen viel Platz ein, dass viele Komponisten sich nicht
mehr trauten, nicht seriell zu komponieren.
Der Personenkult um Nono, Stockhausen und Boulez nahm zuweilen sektenmässige Züge an.
Dieser Zustand machte den jungen Boulez noch selbstsicherer, verlieh ihm eine gewisse Macht und
veranlasste ihn zu spitzigen Äusserungen. In dieser Rolle gefiel sich Boulez zusehends. Bei einem
Interview mit den Spiegelredaktoren Felix Schmidt und Jürgen Hohmeyer anlässlich der Bayreuther
Festspiele – wo er Wagners „Parsifal“ dirigierte - antwortete Boulez auf die Frage, ob die modernen
Opern des gefeierten Hans Werner Henze substanziell wichtig sind, folgendermassen: „Henzes
Produkte sind wahrhaftig keine modernen Opern. Ich denke da immer an einen lackierten Friseur,
der einem ganz oberflächlichen Modernismus huldigt. Henzes "Prinz von Homburg" zum Beispiel
ist ein unglücklicher Aufguss von Verdis "Don Carlos" - von seinen andern Opern ganz zu
schweigen. Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist machen, er glaubt, dass er immer König
ist.“10 Weiter wurde er gefragt, was ihn ausser Parsifal noch interessieren würde. Er antwortete mit
9 Andere Stücke hat er mehrmals überarbeitet und erweitert; er betrachtet sie nicht als abgeschlossene Werke, sondern
eher als Forschungsprojekte.
10 „SPRENGT DIE OPERNHÄUSER IN DIE LUFT! SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und
Dirigenten Pierre Boulez, Spiegel Nr. 40, 1967
folgenden schnippischen Worten. „Sehr wenig, ein paar weitere Wagner-Opern, Mozart, Mussorgski
und Debussy. Dann ist schon Schluss. Wenn mir jemand anbieten würde, ich solle Verdis "Macht
des Schicksals" dirigieren, ginge ich lieber spazieren.“ Diese und unzählige weitere
musikästhetische Äusserungen, zementierten Boulez Platz als Gallionsfigur der zeitgenössischen
Musik. Diese „jugendliche“ Arroganz und seine intellektuelle Art Musik zu komponieren und zu
analysieren, liessen Boulez in den Mitte 50er Jahren zu dieser Figur werden. Er war zu diesem
Zeitpunkt das musikalische Epizentrum und omnipräsent (Referent bei den Darmstädter
Ferienkursen, Dozent an der Musikakademie in Basel (1960-63) und 1963 an der Harvard
University in Cambridge (Massachusetts), gefeierter Dirigent, um nur einige Stationen zu nennen).
Komponisten, die einen anderen Weg des Komponierens bevorzugten, wurden vom Boulezschen
Dunstkreis an den Rand der Peripherie gedrängt und dort verschmäht oder belächelt.
2.3
Die Gallionsfigur altert – „Work in progress“ als Lebensphilosophie oder Denk- und
Arbeitsweise.
Mit zunehmendem Alter wird aus dem radikal, seriell-analytisch denkenden Komponisten ein
reflektierender, relativierender aber immer noch stark analytischer Musikallrounder. Boulez
überarbeitet und revidiert seine Werke regelmässig und passt sie so den momentanen musikalischen
Strömungen an. Es gibt nur wenige Werke in seinem Œuvre die nicht revidiert wurden. Sogar ganze
Kompositionsweisen wurden von Boulez wiederrufen. „Die „serielle“ Entwicklung der fünfziger
Jahre beruhte im Wesentlichen auf der Utopie, dass die Schreibweise das Phänomen hervorbringe;
die Strenge des technischen Apparats sollte unausgesprochen die ästhetische Gültigkeit garantieren.
Man verspürt eine gewisse Faszination angesichts dieses Versuchs, Sprache zu entpersönlichen,
innerhalb eines deterministischen Kontextes eine Anzahl von Funktionen spielen zu lassen und die
Rolle des Komponisten auf das Verzeichnen der Resultate, auf ein Funktionsprotokoll zu
beschränken: Die Schreibweise ist nicht mehr Vermittler des Handelns, sondern dessen Motor.
Wollte man dieses Vorgehen zum Äussersten treiben, müsste man die Anfangs-Entscheidungen
ebenso strikt ausklammern wie die im Lauf der angewendeten Verfahren da und dort
unternommenen Nachhilfen. Aber das Paradoxon will, dass wir so beim Gegenteil der Schreibweise
landen, beim Chaos…!“11 Boulez erkannte, dass die serielle Denkweise, wenn sie konsequent zu
Ende gedacht wird, in einer musikalischen Sackgasse endet. Eine Neuorientierung ist daher
zwingend. Die Stücke werden, sehr streng formuliert, „recycelt“. So passiert beim „Klavierzyklus“
„notation(s)“. Dieses Klavierwerk organisierte Boulez komplett neu und fertigte daraus ein
11 Boulez, Pierre: „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des Tauben?, In: Pierre Boulez – Leitlinien, Kassel,
Bärenreiter, 2000, S. 297
Orchesterwerk. Diese Bearbeitung für Orchester erhält nun eine völlig andere Bedeutung und hat
mit dem Original kaum hörbare Merkmale mehr.12 Praktisch alle seine „Jugendwerke“ durch laufen
diesen Prozess der Erneuerung oder sie werden gänzlich verworfen. Diese reflektierte „work in
progress“ Arbeitsweise hält bis dato an. Das Œuvre von Boulez ist dadurch eher schlank, was einige
Kritiker dazu veranlagt, diese „work in progress“ Denkweise gegen ihn zu verwenden.
Eine grosse Konstante im ganzen Schaffen und Denken von Boulez ist, bis heute, die Analyse.
Bevor Boulez ein Werk dirigiert, analysiert er es. Bevor Boulez über ein Werk schreibt, analysiert er
es. Bevor Boulez etwas komponiert oder bearbeitet, werden alte Sachverhalte analysiert, um neue
Analysen herzustellen. Es scheint, als ob Boulez jeden Satz, den er sagt, schreibt oder komponiert,
durchdacht und durch analysiert ist. Boulez braucht dieses Gefühl der völligen „Durchleuchtung“.
Ohne diese Gewissheit würde er sich verloren, dilettantisch und nicht kompetent fühlen. Durch die
Analyse kann er alte Kompositionsweisen widerrufen und neue kreieren. Er leitet her und strickt
weiter. Die „Besessenheit“ nach der analytischen Struktur widerspiegelt sich in fast allen Schriften
von Boulez. Das musikalische Gehör ist dabei schon längst überfordert und kann, die im
musikalischen Text konstruierten Abläufe, nicht mehr nachvollziehen. Diese Schreibweise erläutert
Boulez in mehreren Texten unter anderem im Essay „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des
Tauben?“. Durch die formale Analyse des Kammerkonzerts von Berg, möchte Boulez beweisen,
dass viele Komponisten, eine in Zahlen konzipierte Form anstrebten (in diesem Fall die Zahl Drei
oder ein Vielfaches davon), die aber durch das Gehör nicht mehr wahrzunehmen ist. Durch
musikalische Gesten, wird das Gehör doch noch in konventionelle Formen geführt. Wenn diese
Gesten wegfallen, kann man nur noch durch „den Blick des Tauben“ die Struktur erkennen.
Dadurch, dass die serielle Musik solche Gesten verabscheute und auf rein mathematischen
Gegebenheiten beruhte, führte diese Kompositionsweise, wie oben im Zitat erwähnt, ins
unweigerliche Chaos.
Boulez komponierte nicht nur analytisch, er dirigierte auch so. Seine eigenwillige Dirigierart war
sehr konkret und liess wenig Platz für agogischen Spielraum. „Zugegeben, manche seiner
Interpretationen, etwa des „Rings“ oder der Orchesterstücke von Varèse, wirken im Vergleich zu
jenen anderen Dirigenten so, als habe jemand peinlich aufgeräumt“13
Wenn man sich mit Boulez beschäftigt, fragt man sich irgendwann unweigerlich, wo die Musik
bleibt. Soll Musik des 20./21. Jahrhunderts ihr Fundament in analytischer Mathematik haben? Eine
Antwort auf diese offene Frage kann man eventuell im sehr angriffigen Essay („Boulez – ein
Schicksal?“) von Claus-Steffen Mahnkopf nach lesen. „Bei Boulez fehlt diese Dimension des
12 Ich verweise hier auf folgendes Essay: Ofenbauer, Christian: „Vom Faltenlegen – Versuch einer Lektüre von Pierre
Boulez „notation(s) I(1), In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 55-75
13 Zuber, Barbara: „Komponieren – Analysieren – Dirigieren – Ein Gespräch mit Pierre Boulez“, In: Musik-Konzepte
89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995, S. 32
Verführtwerdens. Schicksal, Liebe, Scheitern, Ohnmacht, Tod, Tragik – das sind Kategorien, die es
bei Boulez nicht gibt; ihr Gemeinsames, das Nicht-Wollen, wird nicht zugelassen. Dort jedoch erst,
in der hingebungsvollen Aufgabe subjektivistischer Rationalität, zeigt sich, wieweit ein „Künstler“
der Kunst fähig (und eben nicht: mächtig) ist. Kunst ist die Manifestation der Methexis am
absoluten Gegenteil des Willens, an der zwanglosen Synthesis des Mimetischen – jenseits von
Macht und Kalkulation.“14 Boulez ist also eine imposante und pompöse Gallionsfigur, die ein Schiff
zu einem richtigen Kriegsschiff macht. Sie ist aber kein charismatischer Kapitän aus Fleisch und
Blut.
2.4
Boulez heute
Keine Frage Boulez Musik und seine Tätigkeiten als Dirigent und als Förderer der zeitgenössischen
Musik sind unumstritten. Er lenkte und dirigierte die Geschehnisse des späten 20. und noch frühen
21. Jahrhundert. Wer die Zustimmung Boulez für seine Werke gewinnen kann, bringt es heute weit
in der zeitgenössischen Musik. Die Person und seine Werke sind unantastbar und haben eine
zentrale und berechtigte Stellung in der Musikgeschichte. Es wird interessant sein, wenn die
Gallionsfigur eines Tages vom Schiff genommen und in ein Museum gestellt wird. Was passiert
dann?
3 Beziehung von Cage und Boulez
John Cage und Pierre Boulez begegneten sich erstmals in Paris ende der 40er Jahre und hatten
zwischen 1949 und 1962 regen Briefkontakt. Die Beziehung war am Anfang geprägt von
gegenseitiger Bewunderung, die aber mit der Zeit durch ihre unterschiedlichen Einstellungen in
gegenseitige Kritik umkippte.
3.1
Der Briefwechsel
Der Briefwechsel zwischen Pierre Boulez und John Cage ist eine wahre Fundgrube für Antworten
sowie Fragen. Warum schrieb ein so „Karriere besessener“ Emporkömmling mit einem
meditierenden Freigeist? Die 48 Briefe und Dokumente aus den Jahren 1949-1962 beschreiben und
illustrieren, wie kein anderer Briefwechsel, den regen Austausch zweier Komponisten auf ihrem
Weg zu einer neuen Kompositionsweise, die konträrer nicht sein könnten. Sie beschreiben auch
einen charakterlichen Veränderungsprozess zweier Komponisten. Boulez, der in den Anfängen sehr
angetan von Cages Werken für präpariertes Klavier und den Werken für elektronische
Klangerzeugung war, tauschte sich intensiv über Kompositionsideen und –weisen aus. Er war
sichtlich erquickt über Cages Kompositionen. Die klanglichen Möglichkeiten und die Art sie zu
14 Mahnkopf, Claus Steffen: „Boulez – ein Schicksal?“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition
text + kritik, 1995, S. 24
notieren, erstaunte Boulez zusehends.
Cages Tabellen brachten Boulez auf neue Ideen. Diese führten Boulez aber zusehends in eine
konträre Kompositionsrichtung. Das Reich der Zahlen wurde Boulez kompositorisches Zuhause.
Und dieses Zuhause wurde durch sein Umfeld immer pompöser. Boulez wurde zum Steckenpferd
der avantgardistischen Musik. Dies liess er auch Cage spüren. „Natürlich sind wir in dieser Hinsicht
stets verschiedener Meinung – ich akzeptiere den Zufall als Bestandteil eines gebauten Werks nicht
– und ich glaube nicht, dass ich ihn je akzeptieren werde. Ich erweitere die Möglichkeiten von
Musik, ob streng oder frei (Zwang oder nicht). Aber rein zufällig, schon der Gedanke daran kann
ich nicht ertragen!“15 Nach diesen Äusserungen Boulez ebbte der Briefwechsel ab. Die
nachfolgenden Briefe waren von belanglosem Inhalt.
Grosse Verwunderung bewirkte danach John Cages Aktion während eines Darmstadt-Aufenthaltes,
mit der er auf Boulez kategorische Verdammung des Sünden(zu)falls auf seine zen-buddhistische
Weise antwortete: „John Cage sass während Pausen und Veranstaltungen vor der Türe, an einem
Holztisch, und setzte Töne auf seine Weise – völlig geheimnislos, mit Hilfe von Münzwürfen und „I
Ging“-Tabellen. Drinnen sprachen die Serialisten und stellten neue Kompositionen vor. Als der
Zufallsmethodiker dann befand, es sei genug mit Münzwürfen und „I Ging“-Orakel, ging auch er
daran, eines seiner auf diese Weise komponierten Stücke vorzustellen – mit dem Lächeln der
Edamerkatze aus Alice im Wunderland. Und die junge europäische Avantgarde hörte. Und hörte.
Und traute ihren Ohren nicht. Aber am Ende war es nicht abzustreiten: Die aussermusikalische
Zufallskomposition ähnelte in verblüffender Weise mancher differenziert und komplex
strukturierten seriellen Werk der jungen europäischen Avantgarde.“16
3.2
Cage über Boulez
Aber auch Cage bewunderte Boulez am Anfang ihrer Bekanntschaft und beschreibt Boulez Lächeln
und seine Energie als faszinierend und inspirierend. Als sie sich aber in New York wieder sahen und
zusammen unterwegs waren, lernte Cage eine ihm weniger sympathische Seite von Boulez kennen.
John Cage war zu dieser Zeit arm und wollte seine Armut kultivieren, Boulez dagegen interessierte
dies nicht. „Was er wollte, waren Pracht und Glanz.“17 Alles musste ästhetisch genau stimmen. So
fand es Boulez zum Beispiel extrem unelegant, als ihnen einmal unterwegs beim Autofahren das
Benzin ausging. Cage hatte dabei wohl eher auf die Motorengeräusche geachtet als auf den
Benzinstand, während Boulez sich sehr darüber aufregte. Auch als sie in einem Restaurant einmal
nicht äusserst freundlich bedient wurden, bestand Boulez darauf, das Restaurant zu verlassen, was
15 Boulez, Pierre; Cage, John: „Correspondance et documents, réunis, présentés et annotés par Jean-Jacques Nattiez, en
collaboration avec Françoise Davoine, Hans Oesch et Robert Piencikowski“, Basel, Paul Sacher Stiftung, 1990, S.
220
16 Nattiez, Jean-Jacques (hrsg.): „Dear Pierre – Cher John“, Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 1997, S. 30
17 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 148
Cage wiederum als arrogant empfand. Boulez Einstellung zu Musik fasst Cage folgendermassen
zusammen:
„Pierre geht es in der Musik um Ideen. Sein Standpunkt ist ein literarischer. Er redet sogar von
Parenthesen. Nichts von alledem hat mit Klang zu tun. Pierre hat die Haltung eines Experten. Aus
so einer Einstellung heraus kann man sich nur mit der Vergangenheit befassen. Man kann kein
Experte für das Unbekannte sein. Sein Werk ist nur verständlich, wenn man das Vergangen
mitberücksichtigt.“18
Obwohl Boulez begeistert war von Mallarmés „Livre“ das nach Cages Meinung bis ins Detail das
Werk einer Zufallsoperation war, lehnte er Cages Zufallskompositionen vehement ab.19
4 Schlusswort
Wir befassten uns mit zwei Komponisten die beide die avantgardistische Musik des 20. Jahrhundert
massgebend prägten. Zwei Komponisten, mit völlig unterschiedlichen Lebenseinstellungen und
einer komplett anderer Herangehensweise, wenn's ums Komponieren geht. Zufall versus
ausgeklügelte Denkarbeit - der bescheidene Entdecker steht dem arroganten König gegenüber.
Beide suchten nach dem Neuen und beide haben viele Erneuerungen in die avantgardistische Musik
hineingebracht. Cage ist seit 20 Jahren tot und noch lange nicht vergessen und Boulez wird dieses
Jahr 89. Umbestritten bleibt, dass sie zwei Persönlichkeiten waren oder immer noch sind und sehr
wahrscheinlich ist es, dass ihre geführten Diskussionen über Musik weiter debattiert werden.
5 Literaturverzeichnis
Literatur:
∑
Cage, John: Ein autobiografisches Statement, New York 1989 in: Katalog Wien Modern
2004, hrsg, Berno Odo Polzer und Thomas Schäfer, Saarbrücken: Pfau 2004
∑
Cage, John: Silence. Übers. Von Ernst Jandl, Luchterhand Literaturverlag, Verlagsgruppe
Random House GmbH, München, 1995
∑
Boulez, Pierre: „Die Schreibweise des Musikers: Der Blick des Tauben?, In: Pierre Boulez
– Leitlinien, Kassel, Bärenreiter, 2000
∑
Boulez, Pierre; Cage, John: „Correspondance et documents, réunis, présentés et annotés
par Jean-Jacques Nattiez, en collaboration avec Françoise Davoine, Hans Oesch et Robert
Piencikowski“, Basel, Paul Sacher Stiftung, 1990
∑
Hohmeyer, Jürgen; Schmidt, Felix: „SPRENGT DIE OPERNHÄUSER IN DIE LUFT!
SPIEGEL-Gespräch mit dem französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez,
18 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 149
19 Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch..., S. 148-149
Spiegel Nr. 40, 1967
∑
Kostelanetz, Richard: John Cage im Gespräch zu Musik, Kunst und geitisgen Fragen
unserer Zeit, DuMont Buchverlag, Köln, 1989
∑
Mahnkopf, Claus Steffen: „Boulez – ein Schicksal?“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre
Boulez, München, edition text + kritik, 1995
∑
Nattiez, Jean-Jacques (hrsg.): „Dear Pierre – Cher John“, Hamburg, Europäische
Verlagsanstalt, 1997
∑
Ofenbauer, Christian: „Vom Faltenlegen – Versuch einer Lektüre von Pierre Boulez
„notation(s) I(1), In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik,
1995
∑
Zeller, Hans Rudolf: „Von einer (zeitweiligen) Korrespondenz – Zum Briefwechsel
zwischen Pierre Boulez und John Cage“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez,
München, edition text + kritik, 1995
∑
Zuber, Barbara: „Komponieren – Analysieren – Dirigieren – Ein Gespräch mit Pierre
Boulez“, In: Musik-Konzepte 89/90 – Pierre Boulez, München, edition text + kritik, 1995,
S. 32