7. Auf der Suche nach der >inneren F orme
Rainer Maria Rilke
Die im G efolge der naturalistischen Neuordnung der G attungshierarchie erfolgte
und durch die verstärkte internationale Rezeptivität der jüngeren Autorengeneration
noch drangvoll forcierte Durchsetzung des Prosagedichts im deutschen Sprachraum
bewirkte nicht nur eine bedeutsame Verschiebung des literarischen Formenspektrums, sondern sorgte auch dafür, daß die ohnehin sehr lebhaft geführte Debatte um
aktuelle E ntwicklungstendenzen der Literatur zusätzliche Nahrung erhielt. D er
G rund, weshalb E xistenz und Akzeptanz dieses G enres so nachhaltige Auswirkungen auf den Bereich der kürzeren Prosa, vor allem aber für das Selbstverständnis der
Lyrik hatten, liegt auf der Hand: Das Prosagedicht bedeutete eine nicht zu unterschätzende K onkurrenz für die bestehenden literarischen G estaltungsmuster und
stellte darüber hinaus die E xistenzberechtigung der Versdichtung fundamental infrage. Die mit dieser Herausforderung verbundene E rschütterung des G attungssystems wirkte auf die gesamte literarische Szene des fin de siecle hochgradig verunsichernd; es kann daher kaum verwundern, wenn eine ganze Reihe von zeitgenössischen Schriftstellern intensiv nach Strategien zu suchen begann, um der unabweisbaren K rise der bisherigen Ausdrucksformen wirkungsvoll zu begegnen.
Obgleich die daraufhin entwickelten Lösungsversuche im einzelnen höchst individuell ausfielen, weisen sie doch eine gemeinsame Stoßrichtung auf. Die erstaunliche K ongruenz der unterschiedlichen Ansätze resultiert dabei aus der übereinstimmenden - von den Wortführern des Naturalismus übernommenen - E rkenntnis,
daß >äußere<, also unabhängig vom Inhalt eines Textes geltende Poetizitätskriterien
wie Reim und Metrum mehr als fragwürdig geworden seien und sich auf G rund ihres hohen Automatisierungsgrades möglicherweise endgültig überlebt hätten. So bilanziert etwa Franz Servaes 1898/99 die Veränderungen, welche die Lyrik im letzten
Jahrzehnt durchgemacht hat, wie folgt:
Die H errschaft der Strophe ist bereits gebrochen. Der Reim ist ein Kunstmittel geworden,
das man verwenden kann und auch nicht verwenden kann, unbeschadet der E hren eines
Lyrikers. Am längsten hielt der feste Rhythmus stand. Aber auch an ihm versuchte man abzubröckeln, wollte ihn mit äußerster F reiheit und mit vollen Gutdünken [...] verwenden,
wohl auch gelegentlich völlig außer Spiel setzen. (MuD-J, S. 35)'
Das Prosagedicht kann geradezu als formgewordener Beleg dieser E ntwicklung genommen
300
III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
Auch die eher auf artistische Fonnbeherrschung ausgerichteten Schriftsteller waren
sich im klaren darüber, daß eine Rückkehr zu den alten Vertextungsmustern, die ja
gerade erst einmal vor zehn Jahren gesprengt worden waren, weder möglich noch
erstrebenswert war.2 »Formale Velleitäten«3 lehnten sie ebenso ab wie sprachliche
»Zuchdosigkeit« (H-GW VIII, S. 215). Nicht die Reinstallierung überwundener Normen konnte demnach das Ziel sein, im Mittelpunkt der Anstrengungen mußte vielmehr eine Neubestimmung lyrischen Ausdrucks stehen.
Der Fokus verlagerte sich daher auf die Binnengestalt der Texte, mithin auf jene
Aspekte, deren strukturierende Wirkung sich nur auf das jeweilige einzelne sprachliche K unstwerk erstreckt und so gewissermaßen als >individuell< angesehen werden
kann. Im G efolge dieser Suche nach einerseits hinreichend flexiblen, andererseits
aber auch verbindlichen Poetizitätsmerkmalen erlebte ein Konzept eine ungeahnte
Renaissance, das zuletzt rund 100 bis 150 Jahre früher eine tragende Rolle gespielt
hatte: das der >inneren Form< nämlich. Dieser aus der antiken Naturphilosophie
stammende Begriff, der »Vorstellungen von der E ntelechie (Aristoteles), vom Logos
(Stoa) und vom E idos (Plotin)«4 aufgreift und miteinander fusioniert, war in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals auf den Bereich der Kunsttheorie übertragen5 und im Zuge der Ablösung von der Regelpoetik namentlich von Anthony
Shaftesbury (>interior form< bzw. >inward form<) und James Harris (>internal form<)
zur ästhetischen K ennformel umfunktioniert worden. In Deutschland populär wurde er dann mit Goethe, K ant, Schiller und Wilhelm von Humboldt.6 Schon der junge G oethe postulierte die E xistenz »einer Form, die sich von jener [äußeren] unterscheidet, wie der innere Sinn vom äussern, die nicht mit Händen gegriffen, sondern
werden. Servaes konstatiert denn auch, daß man »Gedic hte in Prosa« [...] bei vielen modernen L yrikern antreffen kann« (MuD-J, S. 38).
2
Insofern sind verallgemeinernde Behauptungen wie: »Das Ringen um die F orm ist ein
Grundzug der Jahrhundertwende-Dic htung«, die sich häufig in der F orschung finden, mißverständlich, wenn nicht sogar irreführend; Karl Geisendörfen Die E ntwicklung eines lyrischen Weltbildes im Phantasus von Arno H olz, S. 243.
3
Richard Dehmel an H ugo von H ofmannsthal, 3. 11. 1893; H ugo von H ofmannsthal - Richard Dehmel: B riefwec hsel 18 9 3 - 19 19 . Mit einem N ac hwort hrsg. von Martin Stern. In:
H ofmannsthal-B lätter, H eft 21/ 22, 1979, S. 3. Selbst der durchaus traditionsbewußte H ofmannsthal, der sich sehr früh von Mischgattungen wie dem Prosagedicht distanziert hatte,
sprach sich noc h 1901 nachdrücklich dafür aus, alle »äußerlichen, das L eben des Verses
unterbindenden Regeln für immer außer E xistenz zu setzen«zutsronmlkihgedcbaWVUSPKIGEB
( Η - GW VIII, S. 312) .
4
Klaus Gerth: Studien zu Gerstenbergs Poetik. E in Beitrag zur Umschichtung der ästheti-
schen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoec k & Ruprec ht 1960 (= Palaestra 231) , S. 33.
5
Daneben begegnet er - entsprechend transformiert - auch in anderen Kontexten, so etwa
in der juristischen Unterscheidung zwischen forma interna und forma externa.
6
Vgl. Reinhold Sc hwinger Innere F orm. E in Beitrag zur Definition des B egriffs auf Grund
seiner Gesc hic hte von Shaftesbury bis W. v. H umboldt. Diss. Leipzig 1934, sowie Dieter
B urdorf: Poetik der F orm. E ine B egriffs- und Problemgeschichte, S. 112 - 119 und 12 6 - 13 0 .
7. A uf der Suche nach der > innertn F orme Rainer Maria Rilk e
301
gefühlt seyn will«7. In den Jahren der literarischen Zusammenarbeit mit Schiller entwickelte er die Vorstellung von einem »Strukturprinzip«, das »im Inneren des Werks
selbst [...] angesiedelt«8 ist, dann konsequent weiter9 und machte sie zur Basis der
klassizistischen Gattungstheorie (>inneres Gesetz< ).10 B esonders auffallig ist dabei:
»Der Aufwertung der >inneren< korreliert meist die Abwertung der >äußeren F orme« 11
Durc h Wilhelm Sc herer schließlich avancierte der B egriff in den achtziger Jahren
des 19. Jahrhunderts auch zu einem L eitwort des akademischen Diskurses, 12 von wo
er wieder auf die poetologischen Debatten der Zeit zurückwirkte.
Daß der T erminus >innere Form< um 1900 eine so weite Verbreitung fand, 13 dürfte damit zusammenhängen, daß sich hier ein probates L ösungskonzept für die^apo-
8
9
10
11
13
[Louis-Sebastian Mercier-Wagner:] Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [von Heinrich Leopold Wagner]. Mit einem Anhang aus G oethes Brieftasche.
Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Peter Pfaff. Heidelberg: Lambert Schneider 1967 (= Deutsche Neudrucke. Reihe G oethezeit), S. 485. Diese
würde »alle Formen in sich begreifen«; ebd., S. 486.
Dieter Burdorf: Poetik der Form. E ine Begriffs- und Problemgeschichte, S. 120.
Vgl. Hans Jürgen Scheuer Manier und Urphänomen. Lektüren zur Relation von E rkenntnis und Darstellung in G oethes Poetologie der »geprägten Form«. (Über Italien, Römische
E legien, Venezianische E pigramme) Würzburg: K önigshausen & Neumann 1996 (= E pistemata. Reihe Literaturwissenschaft 185).
Vgl. G ottfried Willems: Das K onzept der literarischen G attung. Untersuchungen zur klassischen deutschen G attungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, S. 231-242,
sowie Sven Gesse: »G enera mixta«. Studien zur Poetik der G attungsmischung zwischen
Aufklärung und K lassik-Romantik, S. 135-151. Minor hat darauf hingeweisen, daß der Begriff >innere Form< schon in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts »mit der Literaturgattung identisch« gesetzt wurde; Jacob Minor: Die innere Form. In: E uphorion 4 (1897),
S. 206.
Dieter Burdorf: Poetik der F orm E ine Begriffs- und Problemgeschichte, S. 120.
Der Berliner G ermanist hatte den Terminus zunächst in seiner im Goethe-]ahrbuch erschienenen Untersuchung Ueber die A nordnung Goethescher Schriften (1882-84) gebraucht und widmete
dem Phänomen der >inneren Form< dann einen ganzen Abschnitt seiner Poetik ; vgl. Wilhelm Scherer Poetik, S. 150-152. Allerdings irrt sich Scherer, wenn er meint, daß Wilhelm
von Humboldt den Begriff »zuerst« verwendet und er selbst ihn als erster »auf die Dichtk unst«. übertragen habe; ebd., S. 150.
Minor stellte schon 1897 fest, daß der Terminus >innere Form< ein wegen »seiner Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit willen von den modernen Poetikern vielgebrauchter Ausdruck« sei; Jacob Minor: Die innere Form, S. 205. Simonis sieht die K onjunktur des Begriffs in der klassischen Moderne als Beleg für die »folgenreiche Pluraüsierung der Formmomente« um die Jahrhundertwende; Annette Simonis: Literarischer Asthetizismus. Theorie der arabesken und hermetischen K ommunikation der Moderne, S. 223. Wie weit dieses
K onzept um 1900 verbreitet war, mögen zwei Beispiele veranschaulichen: So fungierte der
Terminus etwa für den dem G eorge-K reis nahestehenden Übersetzer und E ditor Norbert
von Hellingrath als »eine prominente Leitvorstellung«; ebd. Und der Umstand, daß er selbst
in K urt Hillers Aufsatz Die Jüngst-Berliner (1911) noch auftaucht, belegt die erstaunliche
Wirkmächtigkeit dieses Theorems bis in den E xpressionismus hinein; vgl. MuD-E , S. 34.
302
III. Stationen der Aneignung und Aspekte der Funktion
retisch e Situation d er zeit gen össisch en Poet ik auft at : Um tran ssubjektive Gelt u n g
bean spru ch en zu kön n en , m üß ten verbin dlich e ästh etisch e Regeln gelt en , d och gen au diese Verbin d lich keit stellt sich fü r den m od ern en Sch rift st eller als u n m öglich e
Ford eru n g h eraus, weil ein e Ein h alt u n g vorgegeben er No r m e n ihn un weigerlich
zum Ep igon en stem peln un d dah er seinen Au t orst at u s in sgesam t un tergraben wü rde. Als verm ein t lich er Au sweg aus diesem Dilem m a b ot sich die - letztlich illusion är e 14 - Den kfigu r der »nngulären form alen«15 Gest alt u n g an , wie sie in d er Vorst ellu n g
einer >inneren Form< geran n . Gegen ü b er d er traditionellen >äußeren Form<, die durch
ein Bü n d el fest gelegt er Merkm ale charakterisiert ist, erwies sich die postulierte in n e re Form< gleich in d oppelt er H in sich t als überlegen : Sie versprach n ich t n u r, flexibel
un d d och allgem ein gültig zu sein , son dern schien oben drein auch n och das Prob lem
der u n au fh alt sam en Au t om at isieru n g sprach lich er Gest alt un gsm it t el aus der W elt zu
sch affen , weil ihr Gelt u n gsbereich sich n ur auf das ein zeln e Ku n st werk u n d n ich t
auf die Gesam t h eit aller literarischen H ervorbrin gu n gen erstreckt. Ku r z: In dieser
Form el artikuliert sich das ph an t asm at isch e Ideal einer en gen u n d d en n och nicht
vo n vorn h erein fest gelegt en Ein h eit von Geh alt un d Gest alt , das en dlich ein e Neu begrü n d u n g von Dich t ku n st un ter den Bed in gu n gen der Mod ern e verh ieß . 16 D e r
Um st an d , daß d er Be gr iff >innere Form< n at urph ilosoph isch e Elem en t e m it ästhetisch en am algam iert , d ü rft e dabei seine Ak2ep t an z bei vielen Sch rift st ellern d er Jah r h u n d ert wen d e en t sch eiden d erh öh t h ab en , 17 en t sprach ein e derartige Fu sion ieru n g
d och den Den km u st ern des zeitgen össisch en Mon ism u s, d er >Materie< un d >Geist<,
>Kultur< un d >Natur< n icht m eh r als von ein an d er getren n te Sein sbereich e, son dern
lediglich als un tersch iedlich e Au sp rägu n gsform en eines gem ein sam en Urprin zips zu
14
15
16
17
Burdorf hat zu Recht darauf hingewiesen, »[...] daß prinzipiellurnjed
jede formale Lösung singular
ist, da sie neben Aspekten der E rfüllung von Gattungstraditionen und anderen Normen
stets auch individuelle Umsetzungen und Realisierungen enthält. E in literarisches Werk jedoch, das nur individuelle und frei von jedem Bezug auf Formtraditionen und Sprachkonventionen wäre, ist nicht vorstellbar, da es für niemanden verständlich wäre.« Dieter Burdorf: Poetik der Form. E ine Begriffs- und Problemgeschichte, S. 506, Anm. 1.
Gottfried Willems: Das Konzept der literarischen Gattung. Untersuchungen zur klassischen
deutschen Gattungstheorie, insbesondere zur Ästhetik F. Th. Vischers, S. 688 und 702.
Wie verführerisch ein solches Konzept wirken kann, verdeutlicht der Umstand, daß auch
Teile der neueren Prosagedichtforschung das Phantasma eines beliebig variablen F orm/ Inhalt-Bezugs zum Gattungsmerkmal erklärt haben. So äußert etwa Michael Riffaterre: »I
propose that what characterizes the prose poem is a matrix with two functions instead of
one: it generates a particular formal constant, such that the constant is coextensive with the
text and inseparable from the significance. There are no margins or neutral aeras before or
after. T wo sequences derive simultaneously from the matrix; their interferences differentiate the poem from the prose, as would verse: not only is the text overdetermined, it is
conspicuously overdetermined.« Michael Riffaterre: Semiotics of Poetry, S. 117.
Daneben hat sicher auch die Verbindung antiker Denkkonzepte mit solchen des deutschen
Idealismus anziehend gewirkt, war damit doch ein kombinierter Rückgriff auf die beiden
kanonisierten Aufgipfelungem abendländischer Philosophie möglich.
7.uronmlkihfedcaSRMFA
A uf der Suche nach der > inneren F orme Rainer Maria Rilk e
303
begreifen suchte. So, wie sich die materielle Welt der modernen wissenschafdichen
Analyse überraschenderweise als Ansammlung energetischer, ja psychischer E inheiten darstellte, so schienen mit einem Mal auch die Regeln der Ästhetik auf Ontologie rückfuhrbar, was letztlich auf eine säkularisierte Wiederaufnahme der kosmologischen K unsdehre des Neuplatonismus hinauslief.
Bei aller unbekümmerten Wiederbelebung der vergessen geglaubten Konzeptmetapher >innere Form< blieb freilich die Hauptfrage unbeantwortet, wie nämlich dieses
geheimnisvolle Gestaltungsprinzip zu bestimmen sei und woran festgestellt werden
könne, ob die sichtbare >äußere< Form dessen Vorgaben entspricht.18 Ansätze, sich
der damit bezeichneten Schwierigkeit ernsthaft zu stellen, gab es kaum. Die meisten
zeitgenössischen Autoren entzogen sich einer Konkretisierung des heiklen Postulats,
indem sie auf einen anderen, nicht minder vagen Begriff zurückgriffen: den des
>Rhythmus<. Als zentrales Schlagwort, an dem sich die zeitgenössischen Hoffnungen
auf eine Neubegründung der Dichtkunst festmachten, fungierte der Terminus um
1900 als Fundamentalkategorie der Welterkenntnis und diente als Metapher für ein
universales Strukturprinzip, das in Kosmologie und Biologie ebenso zum Ausdruck
kommt wie im Bereich der Ästhetik.19 Der Rhythmusbegriff steht so in engem Zusammenhang mit dem Schlagwort >Leben<, ja er erscheint in vielerlei Hinsicht als
dessen direktes Derivat. Ihm haftet freilich ebenso wie diesem etwas latent Irrationales an, denn was Rhythmus eigentlich sei, läßt sich nach Überzeugung seiner Verfechter nicht rundheraus sagen. Im Grunde besteht genau darin aber die eigendiche
Funktion dieser K ennformel: Sie ist gerade kein Beschreibungsterminus, sondern
fungiert weit eher als eine Art Ideologem, das die E xistenz von E rfahrungsbereichen
postuliert, in denen die Geltung der Logik aufgehoben ist und auch einander ausschließende Gegensätze als vereinbar gedacht werden. So ist etwa für Carl Ludwig
Schleich »das Feld des Rhythmischen [...] ein heiliges Land, ein stiller Hort der letzten Geheimnisse«: »Ahnen wir doch alle, daß seinen dunklen Hainen die Quellen
entrauschen müssen, die allen E rscheinens, allen Bewegens, allen Lebens unermessene Ströme speisen!«20 Gedacht wird Rhythmus dabei als eine Art dynamische Gestaltungskraft mit totaler Geltungsmacht — »E s ist nichts ohne Rhythmus!«21 —, die
zeitliche Abläufe je individuell strukturiert, dabei aber doch transsubjektiv wirkt.22
18
N ach B urdorf »leidet« die »Vorstellung einer >inneren F ornv« »unter dem Grundproblem
[...], daß sie nicht anhand objektivierbarer Kriterien überprüft werden kann, da der Aspekt
der äußeren F orm als unangemessen und sekundär abgetan wird«; Dieter B urdorf: Poetik
der F orm. E ine B egriffs- und Problemgeschichte, S. 384.
19
Vgl. hierzu etwa E . Meumann: Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Rhyth-
20
Carl L udwig Schleich: Rhythmus. In: Die N eue Rundschau 19 (1908), S. 1586.
mus. In: Philosophische Studien 10 (1894), S. 1- 113 .
21
22
E bd.
Interessanterweise wird in diesem Zusammenhang das vorplatonisc he Rhythmusverständnis revitalisiert, schließlich hat, worauf B enveniste hingewiesen hat, erst Plato die B egriffe
304
III. Stationen der A neignung und A spek te der Funk tion
Bezogen auf die Literatur23 gelangt der Rhythmus-Begriff immer dann zur Anwendung, wenn auf jenes geheimnisvolle »je-ne-sais-quoi«24 abgezielt wird, das auf
wundersame Weise die mechanisch wirkende Gleichförmigkeit herkömmlicher Metrik übersteigt. So postuliert etwa Dehmel, »daß ein bestimmtes Metrum verschiedene Rhythmen zuläßt«25. Und da er davon überzeugt ist, daß die »lyrische Bewältigung sozialer Stoffe und moderner ethischer E mpfindungen [...) viel freiere, zugleich
feinere und derbere Ausdrucksmittel« erfordere, begibt er sich auf die Suche nach
»wirklich >festen< neuen rhythmischen F ormen«26. Dahinter steht letztlich der
23
24
25
26
Rhythmus und Metrum synonym verwendet; vgl. E mile Benveniste: Der Begriff des Rhythmus und sein sprachlicher Ausdruck. In:wutsrponmlkihgfedcbaSPKFEBA
Ε . B.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft [1966]. Aus dem Französischen von Wilhelm Bolle. München: List 1974 (= List Taschenbücher der Wissenschaft 1428), S. 363-373. Während vor Plato »Rhythmus als vorübergehende Gestalt und veränderliche Form, als besondere Anordnung des Fließenden«
verstanden wurde, wird er seitdem »lediglich als abstraktes, numerisches Schema, als auf die
Sprache projizierte Form gedacht«; Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus. Tübingen: Niemeyer
1999 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 59), S. 17.
Zeitgleich zur allgemeinen Konjunktur des Begriffs setzte auch in der Literatur- und
Sprachwissenschaft eine intensive Beschäftigung mit dem Phänomen >Rhythmus< ein; vgl.
etwa Ludwig Frankel: Die freie Rhythmik in der neuhochdeutschen Lyrik vor, bei und nach
K lopstock. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 6 (1892), S. 817-829, Rudolf Hildebrand: Rhythmische Bewegung in der Prosa. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht
7 (1893), S. 641-647, und E duard Sievers: Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen Sprechverses [1893]. In: E . S.: Rhythmisch-melodische Studien, Vorträge und Aufsätze. Heidelberg Winter 1912 (= Germanische Bibliothek II/5), S. 91-107. Generell läßt
sich sagen: »Der Ausdruck »freie Rhythmen< als technischer Terminus [...] läßt sich kaum
vor 1890 finden und ist wohl erst [...] durch Minor verbreitet worden.« L.[eif] L.[udwig| Albertsen: Die freien Rhythmen, S. 68. E ine entscheidende Rolle spielte in diesem Zusammenhang Jacob Minors Untersuchung N euhochdeutsche Metrik . E in Handbuch (1893, 21902).
In den darauffolgenden Jahren erlebten rhythmische Analysen dichterischer Texte und
theoretische Studien zum >Wesen< des Rhythmus eine Hochkonjunktur. (Vgl. neben den
Schriften von Sievers vor allem die Arbeiten von Franz Saran.) Bei allen Bemühungen um
wissenschaftliche E xaktheit bleiben diese Untersuchungen freilich hochgradig spekulativ,
wird in ihnen doch »der Begriff Rhythmus [...] in mehr suggestivem als deskriptivem Sinne
verwendet«; L.[eif] L[udwig] Albertsen: Die freien Rhythmen, S. 60.
E bd., S. 59. Zur Herkunft dieses Terminus vgl. E rich Köhler: »je ne sais quoi«. E in Kapitel
aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In: Ε . K .: E sprit und arkadische Freiheit.
Aufsätze aus der Welt der Romania. Frankfurt a.M.: Athenäum 1966, S. 230-286.
Richard Dehmel an Alfred Mombert, 25.10.1894; Richard Dehmel: Ausgewählte Briefe aus
den Jahren 1883 bis 1902, S. 183. Die »platonische Reduzierung des Rhythmus auf das
Metrum« soll damit überwunden werden; Hans Lösener: Der Rhythmus in der Rede. Linguistische und literaturwissenschaftliche Aspekte des Sprachrhythmus, S. 17. Theoretisch
ernstzunehmende Versuche, >Metrum< und >Rhythmus< zu entkoppeln, hat die Sprachwissenschaft allerdings erst in jüngerer Zeit entwickelt; vgl. hierzu die einschlägigen Arbeiten
von Henri Meschonnic.
K laus Bohnen: Determinationslösung als Ansatzpunkt moderner Literatur. E in unveröf-
7.yusronmlkihfedcaVSRMLFA
A uf der Suche nach der > inneren Forme Rainer Maria Rilk e
305
Wunsch, literarische G estaltungsmittel zu entwickeln, die nicht mit >äußeren<, vom
ästhetischen Objekt ablösbaren und damit formelhaften Merkmalen operieren, sondern größtmögliche individuelle Flexibilität gewährleisten ohne den E indruck von
Formlosigkeit zu hinterlassen.27 Dehmel (wie die meisten seiner K ollegen auch)
setzte dabei unbedenklich >Poetisierung< mit Lyrisierung und Lyrisierung wiederum
mit >Rhythmisierung< gleich.
Im Zuge dieser folgenschweren Umdeutung im Zeichen der >inneren Form< kam
es in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu einer ungeahnten Reauratisierung
der Lyrik, die erneut als Inbegriff des Dichterischen verstanden wurde.28 D er vergleichsweise kleine Abnehmerkreis lyrischer Produkte trug ein übriges dazu bei, die
G attung wieder distinktionsfähig und damit für die Schriftsteller interessant zu machen. Infolgedessen geriet freilich die Prosa unversehens in eine defensive Position - eine E ntwicklung, von der natürlich auch das Prosagedicht unmittelbar betroffen war. Mit einem Mal wurde die zunächst auf dieses G enre projizierte Verheißungserwartung, endlich eine spezifisch moderne Ausprägungsform von >Dichtung<
gefunden zu haben, welche die veralteten Prämissen der triadischen G attungslehre
hinter sich läßt, überschattet von der Furcht, genau diese Attacke auf die Fundamente des literarischen Systems könnte das E nde der >Poesie< insgesamt einleiten.
D er erst vor kurzem stattgehabte Vormarsch der kurzen Prosa erschien in den Augen vieler nun nachgerade als Schreckensvision, deren Bedrohungspotential nur
durch die Reetablierung lyrischer Standards zu bannen war. So erklärt sich im übrigen auch, weshalb die zeitgenössischen Positionsbestimmungen im Hinblick auf G estalt und Aufgaben der Lyrik zwar durchweg in Auseinandersetzung mit dem Prosagedicht stattfanden, faktisch aber meist abgrenzenden Charakter besaßen.
27
28
fentlichter Brief Richard Dehmels und sein ästhetischer Problemzusammenhang. In: Text
& Kontext 5 (1977), Heft 2, S. 91.
Das Wahrnehmungsstereotyp, wonach »der deutsche Naturalismus grundsätzlich zur F ormlosigkeit« tendiere, resultiert aus dessen ästhetischem Programm; Hermann Bahr Selbstbildnis. Berlin: S. Fischer 1923, S. 223. Heinrich und Julius Hart etwa erklärten den »Naturalismus im höchsten Sinne des Wortes« als »Gegensatz zum Formalismus«; Heinrich Hart/
Julius Hart: Für und wider Zola. In: H. H./ J. H.: Kritische Waffengänge. 2. Heft. Leipzig:
Otto Wigand 1882, S. 54. E ine derartige Zuschreibung resultiert aus der Kombination eines
auf Realitätspräsentation zielenden Gestaltungsimpetus (der von den Gegnern natürlich als
Stoffverfallenheit gedeutet werden konnte) mit der Wiederbelebung geniepoetischer Konzepte. Die damit verbundene forcierte Selbstdarstellungsrhetorik der Naturalisten weckte
bei vielen Zeitgenossen Zweifel an deren Zielen. So äußert Dehmel zu Pfingsten 1893 in
einem Brief an Henri Albert die Befürchtung, daß »in E ntwicklungszeiten [...] gar zu leicht
das Gestaltlose sich für Ursprünglichkeit und freies Wachstum ausgibt«; Henri Albert - Richard Dehmel. Briefwechsel 1893-1898, S. 6 2
Vgl. Kapitel III/ 6. So konstatiert etwa Bierbaum in seinem Aufsatz V om modern L yrischen
(1896): »E s mehren sich die Anzeichen dafür, daß man in Deutschland wieder Geschmack
an Lyrik gewinnt.« Otto Julius Bierbaum: Liliencron, S. 189. Der Autor geht sogar soweit,
die Lyrik als »Feiertagskunst« zu charakterisieren; ebd., S. 191.
306
III. Stationen tier A neignung und A spek te der F unk tion
Dies trifft nicht zuletzt auf Rainer Maria Rilkes (1875-1926) am 5. März 1898 in
Prag gehaltenen Vortrag Moderne L yrik zu, der unstreitig bedeutendsten poetologischen Stellungnahme aus der Frühphase seines Schaffens. Darin äußert er sich skeptisch bis ablehnend zu der von so vielen seiner Zeitgenossen gepflegten Gattung des
»Gedichts in Prosa« und grenzt die Lyrik von der E rzählprosa nachdrücklich ab.
Zwar seien grundsätzlich »alle Künste Idiome der Schönheitssprache«, doch die
»feinsinnigsten G efühlsoffenbarungen« kämen eben »am klarsten in derjenigen
Kunst« zum Ausdruck, »welche im G efühle selbst ihren Stoff findet«: »in der Lyrik«
(R-SW V, S. 365). Deren Überlegenheit aber resultiert bei Rilke nicht nur aus ihrer - gewissermaßen naturgegeben - engen Bindung an das Subjekt, sondern hat seiner Ansicht nach auch historische Gründe. So habe sich in fast allen Bereichen der
Literatur die Kunst »an die Tagesmode« (R-SW V, S. 364) ausgeliefert:
Das Drama und der Roman sind immer noc h H örige der Menge und müssen wie der H ofnarr erraten, welc her Witz am besten passen mag für die nächste L aune Ihrer Majestät, der
Gesellsc haft. Selbst die aufrichtigsten N ovellen können ihre Absic ht nur in vorsichtigen
Verkleidungen einfuhren, denn sie hängen von dem Lächeln des Publikums ab. (R-SW V,
S. 396)
Der Versdichtung dagegen sei das Publikum seit geraumer Zeit mit »anhaltender
und langwieriger Teilnahmslosigkeit« (R-SW V, S. 364) begegnet, wobei der dadurch
bedingte geringe buchhändlerische Absatz diese G attung kommerziell nach und
nach wertlos habe werden lassen.29 Just dieser geringe kulturelle Nutzungsgrad nun
aber habe »den Sinn der reinen Kunst in der Lyrik erhalten, der in den anderen
K unstgebieten so dunkel und zweifelhaft geworden ist«; denn:
N ur eine Kunst, von welc her die Menge nicht mehr weiß, konnte ganz wahr und tief werden und bleiben, und statt der Sensationen eines späten Tages die helle H oheit des nächsten Morgens verkündigen; denn sie mußte nicht den Gelüsten von H inz und Kunz, sondern der dunklen Sehnsucht ganz Weniger Antwort geben. (R-SW V, S. 396)
Deshalb manifestiere sich gegenwärtig in der Lyrik, »mehr als in anderen Künsten,
die reine Kunst-Absicht [...] hinter dem K unst-Vorwand«, was dazu führe, daß sich
an dieser G attung »die tiefsten und heimlichsten Hoffnungen unserer Zeit belauschen« (R-SW V, S. 366) ließen.
Rilke erklärt hier - ganz im Sinne der modernen, ökonomischen Regeln entgegengesetzten Produktionslogik kultureller G üter, wie sie Bourdieu beschrieben hat30 —
29
Rilke begreift Publikumsnähe allerdings als historisch wandelbare Größe und ηιείηζ daß
die L yrik erst in jüngerer Zeit den Charakter einer »immer mehr vergessenen N ebenkunst«
(R-SW V, S. 396) angenommen habe und auf diese Weise zu einem wertvollen Ausdruc ksmedium geworden sei: »Sie war das freilich nicht immer. Sie hatte auch Tage, da sie selbstvergessen nach Gunst und Güte des Publikums sich bemühte, die kleinen H offnungen des
E intags verherrlic hte und, unterdrückt, im Dienste vergänglicher Pflic hten sich ersc höpfte,
kurz: populär war, oder modem oder tendenziös.« (R-SW V, S. 395)
30
Das literarische F eld in der Moderne weist danach eine »chiastische Struktur« auf, die sich
7. A uf der Suche nach der > inneren F orme Rainer Maria Rilk e
307
Publikumsferne als exklusives Distinktionskriterium >wahrer< Literatur. Gerade ihre
scheinbare Abgeschiedenheit vom Markt — d.h. ihre Zirkulation in einem schmalen,
weitgehend geschlossenen Kreis von Rezipienten (die in vielen F ällen selber als Produzenten auftreten) — sichert der Lyrik jenen Zuwachs an symbolischem Kapital, der
sie den übrigen literarischen Ausdruc ksformen, die sich dem Geschmack einer breiten L eserschaft anpassen müssen, überlegen macht. Damit stellt die noch vor wenigen Jahren als epigonal gescholtene Versdichtung 31 die Prosa als Vertextungsmodus
erneut in den Schatten und profiliert sich radikaler denn je als exklusive Sprac hform.
Wie der T ext Moderne L yrik eindrücklich belegt, wird vor allem sie von den innovativen Autoren um 1900 als Inbegriff des »Wesens der Kunst« (R-SW V, S. 364) verstanden.
Der Inhalt von Rilkes Vortrag ist offensichtlich entscheidend durch das E rscheinen eines Artikels im Berliner
Börsen-Courier
beeinflußt worden. Dessen Verfasser,
Paul Vic tor, hatte am 30. Januar 1898 - in weitgehender Übereinstimmung mit Max
H albes Thesen zur »Prosalyrik« - die Ansicht geäußert, »das Streben, mit Verachtung von Reim und dem bisher üblichen Rythmus tiefinnerste Gedanken in freiem
und formbreitem F luß einfach hinausströmen zu lassen«, sei »das zukunftsstarke
N eue [...], das der Lyrik sich eröffnet« (R-SW VI, S. 1156) , und seine Kollegen dazu
ermuntert, sich derartigen E xperimenten in der Übergangszone von Vers und Prosa
gegenüber aufgeschlossen zu zeigen. Wie ein Brief an Wilhelm Scholz vom 31. Januar zeigt, lehnte Rilke derartige E ntgrenzungsbestrebungen kategorisch ab:
Ich widerspreche dieser Meinung ganz und gar und kann mich nicht dazu entschließen das
G edicht in Prosa, das ich stets lyrische Skizze oder Novelette nenne anzuerkennen. [...]
Meine Meinung ist, es sei mit Anderem der höchste Maßstab eines G edichtes, daß seine
Form eine unantastbare Notwendigkeit, eine feine Glätte und Schönheit besitze, welche
eben der Prosa in so hohem G rade fehlt. Ich fühle es tieffreudig, daß wir thatsächlich neben den altgewohnten Mitteln des Reimes und des Hebung-Senkung-Taktes einen neuen
von diesem unabhängigen mehr musikalischen Rythmus finden, der in dem G lanz unserer
Vocale oder der breiten Pracht unserer Dyphtonge seine Mittel erkennt, aber ich betone daß
31
daran erkennen läßt, daß »neben der Hierarchie, die dem kommerziellen G ewinn entspricht
[...], eine Hierarchie des Prestiges existiert«, die genau invers zu ersterer aufgebaut ist; Pierre
Bourdieu: D ie Regeln der K unst. G enese und Struktur des literarischen Feldes, S. 189. Infolgedessen sei »E nde des 19. Jahrhunderts die Rangfolge der G attungen (und Autoren),
die sich aus den spezifischen Urteilskriterien der literarischen peer group ergibt, derjenigen
nahezu entgegengesetzt [...], die sich aus dem kommerziellen E rfolg ableitet«; ebd., S. 187.
Zu konstatieren sei also die »antagonistische K oexistenz zweier Produktions- und Zirkulationsweisen, die entgegengesetzten Logiken gehorchen«: »An dem einen Pol finden wir die
anti->ökonomische< Ökonomie der reinen K unst«, die sich »an der Akkumulation symbolischen K apitals« orientiert; »am anderen Pol herrscht die >ökonomische< Logik der literarisch-künsderischen Industrien«; ebd., S. 228f.
Rilke weist in seinem Vortrag selbst auf die »starke Abnützung« hin, »welche alles lyrische
Material [...], insbesondere durch die [...] herzlosen Formalisten, [...] hat erdulden müssen«
(R-SW V, S. 379).
308
III. Stationen der Aneignung und Aspekte der Funktion
eben dieser neue Reichthum nur neben den anderen altehrwürdigen Mitteln ^braucht, nicht mit Verschmähung derselben als alkinseligmachendes Dogma herrschen dürfe.zyxwvutsrqponmlkjihgfedcbaZWVUTS
(R-SWVI,S. 1156)
Rilke nutzte deshalb die Gelegenheit, vor dem Deutschen Dilettantenverein in Prag öffentlich über zeitgenössische Literatur sprechen zu können, dazu, um seine Bedenken gegen die Form des Prosagedichts zu artikulieren. Sein Haupteinwand richtet
sich dabei interessanterweise weniger gegen die Gattung als solche, sondern vielmehr gegen ihren unreflektierten Gebrauch. Die allenthalben sichtbare Konjunktur
des Gedichts in Prosa deutet nach Rilkes Meinung darauf hin, daß sich viele Nachahmer und Epigonen dieses Textmodells bemächtigt hätten. Überhaupt verleite der
Mangel an klaren generischen Merkmalen und die nahezu beliebige Flexibilität gestaltungssschwache Möchtegernschriftsteller nur allzu leicht dazu, ihr mangelndes
dichterisches Talent zu kaschieren. Der zur Debatte stehende Gestaltungsmodus sei
denn auch
[...] eine große Bequemlichkeit für jene, welche weder Gedichte noch Prosa zustande bringen, die unglaubliche Verschwommenheit ihrer Pubertätsprosa mit der Bezeichnung >Gedichte< zu adeln. Das sind diejenigen, die, um ihrer unreinen Reime willen aus dem Paradies
kleiner Winkelblättchen vertrieben, zur Überzeugung kommen, daß die Prosa doch >das
Leichtere< sei. Das ist ein sündhafter Irrtum. [...] - Eine gute Prosa [...] ist nicht unbewußtes
Gestehen, sondern bewußtes hartes Ringen mit Stoff und Form, ernste Männerarbeit.
Daher habe ich oft arges Mißtrauen gegen die Verfasser von >Gedichten in Prosa<. [...]
Wenn die sogenannte Form >Gedichte in Prosa« vollends ein ganzes Buch von 200-300 Sei32
ten beherrscht, liegt der Gedanke nahe, daß nur einige darunter Gedichte sein können,
32
Einen Autor nimmt Rilke indes von seinem Verdikt aus: »Nur bei Altenberg kann man dieselbe Form ein buchlang, vielleicht auch 2weibücherlang ertragen. Sein Stoffkreis ist verhältnismäßig eng, und jeder seiner leisen Beichten ist eben diese Form ganz natürlich.« (RSW V, S. 390f.) Daß Altenberg eine nicht unbedeutende Rolle für den jungen Prager Autor
spielte, zeigt schon der Umstand, daß Rilke ihm in seinem Lyrikband Advent (1896) das Gedicht »An manchem Tag ist meine Seele still ...« (später: Seelenstilli) widmete (vgl. R-SW III,
S. 437). »Nachklänge von Rilkes Beschäftigung mit und Bewunderung für Altenberg lassen
sich« darüber hinaus »vor allem im Gedicht Die Aschanti feststellen, das Rilke kurz nach der
Jahrhundertwende anläßlich eines Besuchs des Aschanti-Clans in Paris verfaßte.« Andrew
Barker/Leo Lensing: Peter Altenberg: Rezept die Welt zu sehen, S. 75; vgl. R-SW V, S. 391.
Und wenn es in dem Aufsatz Ein Prager Künstler (1900) heißt: »Aus allen Wandlungen und
Wirrnissen und Übergängen soll die Kunst den >Extract der Dinge<, welche ihre Seele ist,
retten; sie soll jedes einzelne Ding isolieren aus dem zufälligen Nebeneinander heraus, um
es in die größeren Zusammenhänge einzuschalten, längst welcher die [...] wirklichen Ereignisse sich vollziehen.« (R-SW V, S. 474), dann bezieht sich Rilke hier mit großer Wahrscheinlichkeit auf Altenbergs Text Selbstbiographie - die Bearbeitung eines Briefes von Altenberg an Magdalaine Calemard du Genestone - , der in einer ersten Fassung in Nr. 7 des
Jahrgangs 1899 der Wiener Rundschau erschienen war; vgl. Peter Wagner: Peter Altenbergs
Prosadichtung. Untersuchungen zur Thematik und Struktur des Frühwerks, S. 16. Die Zeitgenossen erkannten übrigens mehrfach Parallelen zwischen Rilkes früher Prosa und Altenberg. So schreibt etwa Milos Marten angesichts Rilkes Ende November 1901 erschienenem
Erzählband Die Letzten. »Peter Altenberg. H.[err] Rilke teilt mit ihm seine künstlerischen Fä-
7. yutsrponmlkihfedcaSRMLIGFEA
A uf der Suche nach der > inneren Forme Rainer Maria Rilk e
309
andere aber gezwungen waren, sich eben nach dem Willen des Verfassers zu verkleiden.
D enn dieses G ewand kann nur ganz bestimmten G efühlsstoffen unwillkürlich gewesen
sein, und ein B and davon ist eine ebensolche Vergewaltigung des intimen E mpfindens wie
ein B and von Sonetten. (R-SW V, S. 391)
Zugleich aber erkennt Rilke - dies untersc heidet ihn markant von Autoren wie George, die nac h wie vor auf >äußere< Poetizitätsmerkmale setzten - die E rrungensc haften der neueren L iteraturentwic klung ausdrücklich an:
[...] es sei denn ein für allemal gesagt, daß das Wesen des G edichtes keineswegs mit dem
Reim und dem Rhythmus steht und fällt; denn wo es sich darum handelt, letzte E mpfindungen in der unwillkürlichsten, also individuellsten F orm austönen zu lassen, ist neben
anderen auch eine F orm möglich, welche der Prosa ziemlich ähnelt. [...] Seit man es aufgegeben hat, den Wert und die E igenart lyrischer G eständnisse durch die kleidsamen, uniformen T rachten des Sonetts, der Stanze u. a. zu beeinträchtigen, schreibt eben jeder seine
ganz persönlichen Verse [...], und diejenigen Arten derselben, welche die Zeilen füllen statt
3 - 5 cm vom Rande zu enden, anders zu nennen, dazu liegt doch nicht der geringste G rund
vor. E s kann in der einen G estalt wie in der anderen sich etwas darstellen, wastro
trot2 allem
und allem kein G edicht ist, und das reinreimigste Sonett ist noch lange nicht die G ewähr
G edicht zu sein, wie die randvollste Seite niemals eine G efahr bedeutet dafür. (R-SW V,
S. 388-390).
Rilke zählt deshalb auch T exte in P rosaform zur L yrik, sofern sie »ein unbewußtes
T önen«, einen »Rhythmus« ( R-SW V, S. 389) haben. 33 Wenn diese Voraussetzung
gegeben ist, dann ist für ihn auch das entsc heidende Poetizitätskriterium erfüllt, das
es erlaubt, ein >Gedicht< von einem >Nichtgedicht< zu unterscheiden. Mit H ilfe des
»Rhythmus«, der - anders als bei Sc hlaf - nic ht in der N atur, sondern im Subjekt, in
der »ganzen Persönlic hkeit« (ebd.) des Verfassers verankert wird, 34 gelingt es also,
die ins Wanken geratene Grenzlinie zwisc hen >Poesie< und Prosa wieder neu zu ziehen. Die Moderne zeic hnet sich demnac h durc h eine E ntkoppelung vo n Sc hriftbild
higkeiten, erinnert an ihn mit dem ganzen Charakter seiner Novellen [...]. In H.[errn) Altenberg fand er die Analogie seiner E igenheiten, Neigungen und Vorhaben, eine vollendetere,
fertige und in der künstlerischen Individualität ausgeprägten Analogie, der er sich einfach
anschließen mußte, danach erst konnte er seine weiteren, neuen Möglichkeiten verwirklichen.« Rainer Maria Rilke: B riefe an Axel Juncker. Hrsg. von Renate Scharfenberg. Frankfurt a.M.: Insel 1979, S. 321f. Marten zeigt sich insbesondere davon überzeugt, daß die erste G eschichte des B andes, Im Gespräch, »ganz unter dem E influß H. Altenbergs steht«;
ebd., S. 322.
33
So lobt er etwa Ludwig Jacobowskis »B erliner Idyll« A nne-Marie (1896) trotz seiner »Prosafassung« als »volltöniges Liebeslied« (R-SW V, S. 306), und den T ext A n Frau Gertrud aus
Hermann Hesses B uch E ine Stunde hinter Mitternacht (1899) bezeichnet er in einem B rief
vom 7. August 1899 an G eorg Heinrich Meyer als »Prosa-G edicht« (R-SW VI, S. 1375).
34
D ies kann man, wenn man will, als ästhetische G emeinsamkeit mit dem französischen Symbolismus werten; vgl. hierzu den insgesamt eher schwachen Aufsatz von D ieter Saalmann:
Symbolistische E chos in R.M. Rilkes E ssay Moderne L yrik . In: Neophilologus 59 (1975),
S. 277-286.
310
III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
und Textstatus aus, wobei das Postulat einer - freilich nur auf dem Wege der E infühlung zugänglichen und damit intersubjektiv nicht überprüfbaren - >inneren< Gestaltungsgröße fortan die Aufgabe übernimmt, die dichotomische Verfaßtheit des
Literatursystems aufrechtzuerhalten. E in Gattungsname wie >Gedicht in Prosa< erweist sich denn auch nur deshalb als »eine durchaus falsche und irreführende Bezeichnung« (ebd.), weil er die beiden getrennten Ausdruckssphären in unzulässiger
Weise miteinander vermischt. Letztlich aber ist es eben der »Rhythmus«, der bewirkt, daß ein >Gedicht< (gleichgültig, ob in Vers oder Prosa) »eine höhere gebundene F orm« darstellt »als jede noch so poetische Prosa« (ebd.). Auc h wenn Rilke hier
genau wie viele seiner Schriftstellerkollegen mit einem waghalsigen gedanklichen
Konstrukt operiert, spricht daraus doch sein Bemühen um eine »metaphysische Begründung der Dichtung abseits ihrer sprachlichen F orm«35 . Nicht zufällig blieb denn
auch das Prosagedicht über lange Jahre seines Sc haffens eine Art Probierstein. Obgleich er das T extmodell nie wirklich intensiv nutzte, griff er doch in Abständen
immer wieder darauf zurück und vergewisserte sich, daß auch in Prosagestalt Dichtkunst im emphatischen Sinn des Wortes möglich war.
Das erste Mal bediente er sich dieses Genres 1896, als er zum Zweck der Veröffentlichung ein Versgedicht ganz und ein weiteres zumindest teilweise in Prosa
transformierte. 36 Das Besondere an Rilkes Umschriften — ein Verfahren, das ja
schon in der Konstitutionsphase des poeme en prose erprobt wurde (Baudelaire)
35
36
Cornelia Ortlieb: Poetische Prosa. Beiträge zur modernen Poetik von Charles Baudelaire
bis G eorg Trakl, S. 215. Weshalb Ortlieb dies freilich einen »späten Versuch« nennt, obwohl die Sprachgestalt bis zur Moderne immer zur metaphysischen Begründung von Dichtung herangezogen wurde, bleibt unklar; ebd.
Beide Texte erschienen interessanterweise in Periodika, die der aus dem Umkreis des Naturalismus hervorgegangene Wilhelm Arent betreute: dem Jahrgang 1896 der »Monatshefte
für Produktion und K ritik« Die Musen und dem Deutschen Muscn-A lmanachßir das Jahr 1897.
Die Tatsache, daß dieser selbst schon früh Prosagedichte verfaßt hat (vgl. Kapitel III/8),
ließ den Bearbeiter von Rilkes Sämtlichen Werk en sogar die Vermutung aussprechen, daß die
drucktechnische »E inrichtung« von Rilkes Texten »auf den Herausgeber Wilhelm Arent«
(R-SW IV, S. 1011) zurückzufuhren sein könnte. D afür gibt es freilich keinerlei Anhaltspunkte. E s erscheint umgekehrt eher wahrscheinlich, daß Rilke seine Prosagedichte gerade
deshalb in von Arent geleiteten Publikationsorganen abdrucken ließ, weil er dessen ästhetische Präferenzen kannte und seinen Texten auf diese Weise günstige Rezeptionsbedingungen verschaffen wollte. Die E inschätzung von Arents literarischen Hervorbringungen im
Vortrag Moderne L yrik ist denn auch trotz der scharfen Kritik an der Vielschreiberei und
den Selbstdarstellungsallüren dieses Autors im Kern durchaus positiv, heißt es dort doch:
»wer G eduld hat, könnte aus Arents 42 Büchern vielleicht ein kleines Bändchen K unst zusammenstreichen, das für ihn Zeugnis gäbe« (R-SW V, S. 382). Zum Autorprofil Arents
vgl. K laus-Michael Bogdal: »Der echte K ünstler verblutet an seiner Individualität.« K onstruktion von Autorschaft um 1900 am Beispiel Wilhelm Arents. In: Bettina G ruber/G erhard Plumpe (Hrsg.): Romantik und Ästhetizismus. Festschrift für Paul G erhard Klussmann. Würzburg: K önigshausen & Neumann 1999, S. 175-197.
7.utsronmlkihfedcaSRPNMGFEA
A uf der Suche nach der > inneren Forme Rainer Maria Rilk e
311
und zuweilen auch sonst in der deutschsprachigen G attungsgeschichte begegnet
(Dauthendey) - ist, daß der Wortlaut der Vorlage nahezu unverändert bleibt. Im Fall
des unter dem Titel Phantane. Geächt in Prosa publizierten Textes ersetzt der Autor
im zugrunde liegenden Versgedicht37 immerhin das eine oder andere Lexem (»blöd«
durch »matt«, »Trauer« durch »Sorge«, »fest« durch »bang«, »dieselben« durch »diese«, »todestraurig« durch »todesdurstig«) und stellt auch einmal zwei Wörter um. Die
E ingriffe dienen augenscheinlich dazu, den Ausdruck zu präzisieren und die ursprünglich vorhandenen »(unregelmäßigen) Blankverse« (R-SW IV, S. 1011) zum
Verschwinden zu bringen. Der typographischen Präsentationsweise des Prosagedichts geht aber nicht eigentlich eine >Prosaisierung< der Sprache voraus. Zwar werden typisch lyrische E lisionen rückgängig gemacht (»Auswandererschiff« statt »Auswandrerschiff«, »zusammengedrängt« statt »zusammgedrängt«), und zumindest an
zwei Stellen sorgt der korrigierende E ingriff für größeren Detailrealismus (»Öl-Lampe« statt »Lampe«) oder verstärkt den E indruck sprachlicher Nüchternheit (»gierig«
statt »begehrlich«), doch gibt es parallel dazu auch Veränderungen, die den >poetischen< Charakter des Textes wieder betonen: Das sachliche Wort »Falten« wird
durch den ungewöhnlichen und konnotationsreichen Ausdruck »Runen« ersetzt, die
ohnehin schon gewählte Adjektivmetapher »tränenschweren« durch die Verwandlung in »tränentrunkenen« noch zusätzlich lyrisiert. Vollends aber der Austausch der
Bezeichnung »gleichgültige« durch die elidierte Wortform »stumpfsinn'ge« zeigt, daß
Rilke bei seiner Umarbeitung — anders als Baudelaire — nicht auf eine Brechung lyrischer Ausdruckskonventionen abzielte. Statt dessen paßte er seinen Text lediglich
den unterschiedlichen Sprechweisen von >gebundener< und >ungebundener< Rede an,
wobei der >poetische< Charakter des Wortsubstrats unter allen Umständen erhalten
bleiben sollte.
Noch deutlicher wird dieses Bemühen bei der Transformation des im Herbst
1895 entstandenen Versgedichtes E ine N acht.38 Während sich die äußerlich sichtbare
Gestalt des Textes markant wandelt — Rilke läßt den ersten und den letzten der insgesamt fünf Abschnitte nun in Prosaform, also ohne Zeilenbrechung drucken —,
bleibt seine Lexik völlig unangetastet. Nur die Interpunktion weist einige kleinere
Veränderungen auf; außerdem werden die einzelnen Segmente numeriert. Der Autor
schafft damit einen - nun deutlich als solchen erkennbaren - narrativen Rahmen für
den im Volksliedtton gehaltenen (II: unregelmäßige, meist dreihebige Trochäen; III:
vierhebige Jamben; IV: vierhebige Trochäen) lyrischen Mittelteil: Während dieser
Rahmen die gegenwärtige Situation der männlichen Hauptfigur (Schlaflosigkeit aus
37
E s ist datiert auf den 19. Juli 1894 und wird in R - SW III, S. 497f., präsentiert; die zum Vergleich herangezogene Prosafassung findet sich in R - SW IV, S. 473f.
38
Die Reinsc hrift trägt das Datum des 3. N ovember 1895; sie ist teilweise abgedruckt in RSW III, S. 803. das schließlich veröffentlic hte Prosagedicht findet sich in R - SW III, S. 4 3 8 440.
312
III. Stationen (k r A neignung und A spek te der F unk tion
Reue) vor Augen fuhrt, beleuchten die Verse die Vorgesc hic hte und gestalten zugleich die imaginativen Bewußtseinsinhalte (Schwängerung eines jungen Mädchens
und erzwungene Abtreibung des so gezeugten Kindes) des Protagonisten. 39
B esonders auffällig ist, daß Rilke sämtliche lyrischen Gestaltungseigenheiten der
Vorlage auch in der E ndfassung beibehält. So bleibt in den beiden Prosaabschnitten
nicht nur der B lankvers erhalten, auch die Reime werden nicht eliminiert (E ndreime
mutieren also zu Binnenreimen). Allerdings verändert sich die Wirkung der eingesetzten Stilmittel: Die fünfhebigen Jamben - das Metrum des >klassischen< deutschen
Dramas - verflüc htigen sich beim fortlaufenden Lesen zu einer nur leicht rhythmisiert wirkenden Prosasprache, die sich von der Diktion mancher zeitgleich entstandenen E rzählungen Arthur Schnitzlers kaum unterscheidet, und die Reimworte fallen, sobald sie ihre exponierte Stellung am Zeilenende einbüßen und in einen größeren N arrationskontext gerückt werden, fast gar nicht mehr auf. Möglich war ein
solch gleitender Übergang zwischen Vers und Prosa freilich nur, weil Rilke bereits in
der E rstversion beträchtliche Mühe darauf verwendet hat, die Sprachgestalt des T extes einem alltagsnahen Parlando, wie er es etwa von L iliencron kannte, 40 anzunähern. So fällt in den später als Prosa gedruckten Absc hnitten das Strophenende
nicht mit einem regulären Zeilenschluß zusammen, und in den Verszeilen dieser
39
40
Das Modell, Verslyrik mit poetisierter Prosa zu mischen und sie so wirkungsvoll zu interpungieren, hat Rilke übrigens auch in der Gebelt (1899) betitelten ersten Fassung des
»Buchs vom mönchischen Leben«, dem Anfangsteil des Stunden-Buchs, zur Anwendung gebracht.
Der junge Rilke bewunderte Liliencron, wie die Pigf/rcrf-Rezension (1897) zeigt, als »großen
Mensch und [...] großen Dichter« (R-SW V, S. 318) gleichermaßen. Welch große »Verehrung« (R-SW III, S. 554) er ihm in den späten neunziger Jahren entgegenbrachte, zeigen
nicht nur die zahlreichen an das Vorbild gerichteten G edichte (vgl. R-SW III, S. 430f., 551554, 597, 603-606, 621, 776-778), sondern auch die diversen Widmungsverse - »Wie man
den Staub wischt mit dem Federwedel ...« (Dezember 1896), »Ich würde gem mit meinem
Bilde gehn ...« (1898) - und Briefgedichten - »Für Ihre Zeilen Dank von ganzem Herzen ...«
(8. Dezember 1896), »Ich wollte eigentlich aus Frühlingserden ...« (26. März 1898), »Wie
früher unter den Pinien ...« (26. Juli 1898), A n Detlev von L iliencron ?ym } . Juni 1904 - , die der
Prager Autor verfaßte. Außerdem entstanden unter dem unmittelbaren E indruck von Liliencrons Büchern die »Ballade« Der Sähnversuch (wohl 1895) sowie die einleitenden Stanzen
zu dem Band Traumgek rönt (1897) »Mein Herr Verleger machte auch Prospekte ...« (R-SW
III, S. 443) und die Stanzengedichte »So reit ich immer weiter durch G estufe ...« (R-SW V,
S. 549-551) bzw. »Ich trage in mir tausend wilde Fragen ...« (R-SW III, S. 565). Daß Rilke
am 13. Januar in Prag einen Vortrag zugunsten Liliencrons hielt und bei dieser G elegenheit
auch G edichte von ihm vorlas, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Später erinnert
er sich: »Liliencrons Namen war mir sehr wunderbar in jenen Jahren«; Rilke an Alfred
Schaer, 26.2.1924; Rainer Maria Rilke: Briefe aus Muzot 1921 bis 1926. Hrsg. von Ruth
Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1935, S. 245. Deshalb ist von Wiese durchaus
zuzustimmen, wenn er feststellt: »Liliencron blieb das literarische Vorbild für so verschiedenartige Dichter wie T imm K röger, Falke, Bierbaum, aber auch noch für Dehmel und den
jungen Rilke.« Benno von Wiese: Detlev von Liliencron, S. 158.
7. A uf der Suche nach der inneren Forme Rainer Maria Rilk e
313
Passagen kommt fast durchgehend E njambement zum E insatz, dessen verbindender
E ffekt noch durch den Verzicht auf die Versmajuskel gesteigert wird.
Im G runde konstruiert der Autor in den Rahmensegmenten von E ine N acht eine
literarische K ippfigur - ein sprachliches Gebilde, das sowohl in Vers- als auch in
Prosagestalt präsentiert werden kann und je nach Druckbild unterschiedliche Aspekte seiner Textualität in den Vordergrund treten läßt. Auch die den eigentlichen
Textkern völlig intakt lassende Umschrift von Phantasie. Gedicht in Prosa deutet auf
ein solches Modell hin. In beiden Fällen schimmern gewissermaßen die lyrischen
E lemente durch die Prosatypographie hindurch.41 Offenbar experimentiert Rilke
hier mit der Gattung Prosagedicht in der Absicht, die Leistungsfähigkeit der literarischen Ausdrucksregister zu erproben.
Ganz ähnlich verfuhr er dann knapp zehn Jahre später bei drei 1904 entstandenen Texten, die antike Motive aufgreifen: Hetären-Gräber, Orpheus. E urydik e. Hermes
und Geburt der V enus. Der Hauptunterschied besteht — abgesehen von der literarischen Qualität42 — freilich darin, daß hier nicht einfach Versgedichte vorlagen, die
dann für die Drucklegung in Prosa umgearbeitet wurden, sondern daß Rilke bereits
von vornherein die Prosaform wählte. Allerdings sind die Texte zusätzlich durch
Querstriche interpungiert, welche die ihnen zugrundeliegende Versgliederung erkennbar werden lassen. Der Autor entscheidet sich zwar von der Präsentationsweise
her >äußerlich< für die Prosagestalt, zeichnet ihr aber durch diakritische Signale eine
>innere< G liederung ein. Diese in der damaligen Zeit absolut ungewöhnliche Darbietungsform, die Verfahrenstechniken der Prosaübersetzung von Versdichtungen
bzw. der Wiedergabe von Zeilengrenzen in philologisch ausgerichteten Werkeditio41
Auch die Mittelachsengliederung der Weißen Fürstin (1898) und der durchgehende Satz des
Buchs der Bilder (1902) in Versalien - drucktechnische E igenheiten, die bei der Wiederveröffentlichung beider Werke jeweils wegfielen - zeigen, wie bewußt Rilke mit optischen Signalen umging. Die Zentrierung des Textbildes verweist stärker noch als auf Dehmels Praxis
auf Holz' Phantasus, der gerade erst erschienen war, und die durchgehende Verwendung
von Versalien »wirkt gleichsam als Gegenstück zu den Drucken Stefan George's« (R-SW
III, S. 808). Beide Male eignete sich Rilke Verfahrensweisen von Autorenkollegen an, die er
scharf kritisiert hatte. So tat er Holz' »neue Lyrik-Versuche« als »Gedichthomunculi mit
Riesenköpfen und Rubinnabeln« ab (R-SW IV, S. 1157), und in Georges lyrischem Pathos
erkannte er nur »rein formelle Glaubensmeinungen [...], welche die Verse mit kalter und
fast armer Klarheit erfüllen« (R-SW VI, S. 378). (Vgl. in diesem Zusammengang auch das
am 29. November 1897 entstandene Gedicht A n Stephan Georg sowie den Aufsatz von E udo C. Mason: Rilke und Stefan George. In: Gestaltung / Umgestaltung. Festschrift zum 75.
Geburtstag von H.A. Korff. Hrsg. von Joachim Müller. Leipzig: Koehler & Amelang 1957,
S. 249-278.) Dies hielt ihn aber offensichtlich nicht davon ab, deren innovatorische Leistungen im Selbstversuch auszuloten.
Bei ihnen handelt es sich wohl um die ästhetisch anspruchsvollsten deutschen Prosagedichte aus dem untersuchten Zeitraum. Aus Gründen der Darstellungsökonomie muß eine eingehende Werkanalyse, die der Komplexität dieser Texte zumindest annähernd gerecht würde, hier leider unterbleiben.
III. Stationen der A neignung und A spek te der Funk tion
314
nen übernimmt und für die literarische G estaltung von T exten fruchtbar macht,
sucht also die beiden basalen, miteinander konkurrierenden Ausdrucksmodi auf
noch grundlegendere Art als bisher zu fusionieren.
D adurch, daß Rilke seine »D rei G edichte in Prosa«43 später in den B and Neue Gedichte (1907) aufnahm und sie dort als Verslyrik abdrucken ließ, ergibt sich ein weite-
res Mal die Möglichkeit des direkten F assungsvergleichs. 44 D och wie schon bei Phan-
tasie und Die Nacht differieren auch bei Hetären-Gräber, Orpheus. E uiydik e. Hernes und
Geburt der V enus Vers- und Prosaversion kaum: »Nur im Falle von
Hetären-Gräber
wurde ein Adjektiv um eine Silbe verkürzt, um den Vers dem K ontext der fünfhebigen J amben (B lankverse) anzupassen«45 : die B ezeichnung »zierliches« wird dabei zu
»zieres« (R-SW I, S. 541) verkürzt. D ie damit zutage tretende Identität der T extgestalt diesseits der T ypographie verweist überdeutlich auf Rilkes Ideal einer »höheren
gebundenen F orm« (R-SW V , S. 389). E s handelt sich bei Hetären-Gräber,
E uiydik e.
Orpheus.
Hermes und Geburt der V enus nämlich nicht mehr um nachträgliche Um-
schriften, sondern um raffiniert konstruierte G ebilde, welche die Möglichkeit zur
T ransformation gewissermaßen schon in sich tragen. Aktualisiert werden kann dieses Potential durch den Akt der Publikation, wobei die jeweilige drucktechnische
Präsentation die T exte dann entweder einem Ausdrucksmodus zuweist oder aber
selbst diese Vereindeutigung suspendiert, wenn nämlich Prosaform und Versgliederung überblendet werden.
Im Fall von Hetären-Gräber, Orpheus. E uiydik e. Hermes und Geburt der V enus erlebte
das Lesepublikum letztlich nur zwei distinkte Aggregatzustände: 1905 erschienen die
T exte in Prosagestalt, 1907 dann konnten sie als Versgedicht rezipiert werden. Vermutlich durch einen Irrtum des Setzers nämlich unterblieb in der Z eitschriftenveröffentlichung der Abdruck der die Zeilengrenzen markierenden Q uerstriche. Rilke
selbst scheint dieses Versehen kaum etwas ausgemacht zu haben; umgekehrt freilich
reagierten Autorenkollegen durchaus irritiert auf die Prosapublikation. So richtete
etwa Hofmannsthal auf einer D ankeskarte einiger Wiener Schriftsteller, in dem diese
ihre B ewunderung über die »wundervollen G edichte« aussprachen, in einer Zusatzbemerkung die F rage an Rilke: »Aber warum setzen sie die Verse als Prosa?« D er
Angesprochene erwiderte darauf: »D ie Schreibweise war mir irgendwie natürlich;
nur, daß in meiner Niederschrift Striche / sind, die die Verse bezeichnen; im D ruck
43
44
45
Mit dieser Überschrift erschienen die Texte 1905 im 16. Jahrgang der Neuen Rundschau.
Ausgerechnet der Verfasser des bislang einzigen - arg wortspielerisch verfahrenden - Beitrags zu Orpheus. E uiydik e. Hermes, in dem Überlegungen zum Verhältnis von >Poesie< und
Prosa angestellt werden, scheint nicht zu wissen, daß der von ihm gedeutete Text auch in
Prosaform erschienen ist; vgl. Thomas Schestag: versi-. In: Gedichte von Rainer Maria Rilke. Hrsg. von Wolfram Groddeck. Stuttgart: Reclam 1999 (= Reclams Universal-Bibliothek
17510; Literaturstudium: Interpretationen), S. 74-86.
Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende, S. 23.
7.zvutsronmlkihfedcbaWTSRMGFDA
A uf der Suche nach der > inneren Forme Rainer Maria Rilk e
3 15
sind sie fortgefallen und ihre F rage hat Recht.«46 Diese Antwort, die Rilkes offensichtliches Bemühen zeigt, dem Gegenüber aus H öflichkeit heraus zu signalisieren,
daß er dessen Bedenken ernstnehme, darf jedoch nicht einfach umstandslos als Zustimmung zu H ofmannsthals ästhetischer Position gewertet werden. Die Sc hlußfolgerung, daß »Rilke die Schreibweise des Prosadruckes als falsch oder zumindest
gleichgültig«47 angesehen habe, läßt sich denn auch bei H eranziehung weiterer
Selbstzeugnisse klar widerlegen. Wie ein Brief an seinen Verleger Samuel F ischer
und dessen F rau vom 21. N ovember 1904 belegt, war nicht nur die P rosaform die
intendierte Textgestalt, der Autor war sich zudem über den außerordentlichen ästhetischen Wert seiner Prosagedichte völlig im klaren: »Diese drei >Gedichte in Prosa<
sind das Beste, Reifste, Weiteste, was ich habe, und gehören zu dem wenigen E igenen. das vor meinem Urteil besteht«48. Daß Rilke seine Texte später nur noch als
Versgedichte präsentierte, hängt demgegenüber vor allem mit seinem angestrengten
Bemühen zusammen, die eigene literarische Produktion konsequent als Prozeß teleologischer Werkentwicklung erscheinen zu lassen49 und sein CE uvre im Sinn >klassischer< Gattungskategorien zu modellieren. 50
46
47
48
Hugo von Hofmannsthal - Rainer Maria Rilke: Briefwechsel 1899-1925. Hrsg. von Rudolf
Hirsch und Ingeborg Schnack. Frankfurt a.M.: Insel 1978, S. 44.
Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende, S. 24.
Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1902 bis 1906. Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und
Carl Sieber. Leipzig: Insel 1929, S. 230.
49
Dies bezieht sich vor allem auf sein Frühwerk, von dem er sich später mehrfach sehr nachdrücklich distanzierte. So rechnete er seine >Juvenilia< in einem Brief an Fritz Adolf Hünich
vom 19. Februar 1919 zu den literarischen »Belanglosigkeiten«, denen er nur »innere Ablehnung und Ableugnung« entgegenbringe; Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1914 bis
1921. Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1937, S. 235. Am 24.12.
1921 dann bekräftigte er seine negative E inschätzung in einem Schreiben an den selben
Adressaten: »War doch das Alles ein für alle Mal verloren geblieben; es kann nur dazu beitragen, das E igentliche zu trüben, und bezeichnet einen falschen Ausgangspunkt der in den
reinen Werkraum aufsteigenden K urve.« Zitiert nach: R-SWI V, S. 1061 f. E mst Zinn spricht
denn auch zutreffend von der »eignen Ächtung des Frühwerks« (R-SW IV, S. 1059). Abgesehen von negativ getönten verbalen Stellungnahmen kommt diese vor allem darin zum
Ausdruck, daß der Autor außer den Geschichten vom lieben Gott und der E rzählung Die Turnstunde aus seiner ersten Schaffensperiode nichts in die Gesammelten Werk e (1927) aufnahm.
E rste Anzeichen dafür gibt es bereits im Frühwerk. So hat etwa Zinn darauf hingewiesen,
daß der junge Autor »noch ganz im Sinne der Literatur- und Bildungstradition seines Jahrhunderts [...] das herkömmliche G rundschema der klassischen Dicht-G attungen sowohl als
Lyriker wie als E rzähler und Dramatiker sorgfältig zu erfüllen bestrebt war« (R-SW IV,
S. 1067). D en Werküberblick beispielsweise, den er für das »Jahrbuch neuer deutscher lyrischer Wortkunst« A valun (1901) entwarf, gliederte er der konventionellen G attungstrias
entsprechend in die Rubriken »G edichte«, »Novellen« und »D ramen« (R-SW VI, S. 1212).
Nach 1902 hat er dann »weder [...] eigentlich novellistische Arbeiten von der Art der frühen
E rzählungen und Skizzen, noch szenische von der Art der Prosadramen [...] [mehr] verfaßt«
(R-SW IV, S. 1058).
316
III. Stationen der A neignung und A spek te der Funk tion
Die Tatsache, daß Rilke auf eine Umformung seiner T exte verzichtet und sie
gleichwohl einmal in Vers- und einmal in Prosaform drucken läßt, zeigt, daß er nicht
darauf abzielt, mit ihrer Struktur zu spielen, sondern statt dessen die Auswirkungen
>äußerlich< hinzutretender Präsentationsweisen auf die künsderische Aussage studieren will. Was der Autor anstellt, sind mithin E xperimente mit der poetischen Leistung literarischer Gebilde, wobei er augenscheinlich darauf vertraut, daß der dichterische Charakter seiner H ervorbringungen auf Grund ihrer >inneren< F ormgebung
ohnehin gesichert ist. Dadurch etwa, daß nur der Vers den Betonungsrhythmus der
einzelnen Silben semantisiert und so gegebenenfalls ein metrisches Muster entstehen
läßt — im Gegensatz dazu ist »in der Prosa [...] der Satz das bestimmende Ordnungsprinzip der syntagmatischen E bene, welches keine regelmäßige Abfolge von H ebungen und Senkungen zum tragen kommen läßt«51 - , können bestimmte T extbestandteile gezielt exponiert werden. F aktisch liefert die »Interpretation der Versfassungen
dieser Texte« indes keine anderen E insichten als diejenige »der in Prosa-Schreibweise gehaltenen« Versionen: »E s ist allenfalls festzustellen, daß der Vers schon im
Satz der Prosa Gegebenes noch zusätzlich hervorhebt.«52
E s war wohl die E insicht in die - zumindest bei gleichzeitigem Vorhandensein
einer Vielzahl weiterer textstrukturierender Stilmittel — letztlich sehr begrenzte Umakzentuierungswirkung der Typographie, die dazu führte, daß Rilke die Verfahrensweise der alternativen Publikation von Vers- und Prosafassungen nur in einigen wenigen F ällen anwandte. 53 Auc h hat sich sein Verständnis der Ausdruc ksform Prosa-
51
52
53
Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende, S. 23.
E bd. Nienhaus veranschaulicht das am Beispiel des Syntagmas »[...] / Sie war in sich. Und
ihr G estorbensein / erfüllte sie wie Fülle. / [...]« (R-SW I, S. 544) aus Orpheus. E uiydik e. Hermes. »D er Vers ergibt keine Veränderung des Wortsinns, jedoch werden Prädikat und Vergleich des über zwei Zeilen reichenden Satzes durch Reduktion der Zahl der Hebungen gegenüber ihrer Stellung im durch nichts besonders gekennzeichneten Satz der Prosa deutlich
als der zentrale Vers der Strophe herausgestellt. Auch das Wort >Fülle< wird dadurch, daß es
nicht nur letztes Wort des Satzes, sondern auch des Verses ist, zusätzlich betont. Das Überraschende der Verbindung des >Gestorbenseins< mit einer gerade daraus resultierenden >Fülle<, die Negation der Leere des Todes (und damit das Sinnlose der Handlung des Orpheus)
kommen auf diese Weise noch eindeutiger zum Ausdruck.« E bd., S. 24.
Immerhin erprobte er das Modell auf der E bene der handschriftlichen Arbeit am Text auch
noch nach 1905. So enthält das unveröffentlichte, Marie von T hum und Taxis gewidmete
Prosastück Judith's Rück k ehr (vgl. R-SW II, S. 38) vom Juli 1911, das aus »E ntwürfen eines
Balletts für Nijinsky« (R-SW II, S. 755) hervorging, erneut Striche, welche >interne< Versgrenzen bezeichnen. Von diesem Text existieren des weiteren eine Fassung in anderer Zeilenbrechung mit Langversen (vgl. R-SW VI, S. 1231) und eine reine Prosafassung im Rahmen eines Ballettentwurfs (vgl. R-SW VI, S. 1029f.). Daß Rilke das kombinierte Publizieren
von Vers- und Prosatexten ablehnte, geht aus einer Sammelrezension zeitgenössischer Lyrik hervor, die im Frühjahr 1896 in der Zeitschrift Jung-Deutscbland und]ung-E lsaß erschien.
In der Besprechung des Bandes Träume des L ebens. Gedichte und Sk i^en (1896) seines österreichischen Landsmanns Franz Josef Zlatnik heißt es nämlich: »D as Anfügen von Prosa-
317
7. A uf der Suche nach der fintieren Forme Rainer Maria Rilk e
gedieht allem Anschein nach im Verlauf der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts signifikant gewandelt. Aus dem Jahr 1907 datieren jedenfalls zwei - durch den Titel
»Gedichte in Prosa« auf dem Umschlag, in dem sie aufbewahrt wurden, der Gattung
eindeutig zugewiesene — Texte, 54 die sich von den früheren Versuchen des Autors in
diesem Genre deutlich unterscheiden: Weder Der L cwenk äfig
Fischhändlers
noch Die A uslage
des
verfugen über eine interne Versstruktur, die es ermöglichen würde, sie
in ein Gedic ht mit Zeilenbrechung zu verwandeln. Wenn Rilke beide dennoch ausdrücklich als »Gedichte in Prosa« bezeichnet, dann muß sein Blick auf das Gattungsmodell insgesamt Veränderungen erfahren haben. 55 Den entscheidenden Anhaltspunkt, wer diese Neubestimmung mutmaßlich angestoßen hat und welcher Art der
E influß war, der sie auslöste, gibt ein Detail: Der Schlußsatz von Der L öwenk äfig
ent-
hält nämlich einen unübersehbaren intertextuellen Verweis auf Baudelaires
Pelits
poems
en prose,
rekurriert doch die F ormulierung, das »Gesicht« des beschriebenen
L öwen erscheine wie das »Zifferblatt« einer »Uhr«, an dem man die »angezeigte Stunde« (R-SW VI , S. 1136) ablesen könne, fast zitathaft auf das Prosagedicht L es Chats.
Interpretiert man die spärlichen H inweise, die sich aus den literarischen Texten
und biographischen Lebenszeugnissen gewinnen lassen, richtig, dann ist Rilke vergleichsweise spät und zudem mit großer Verzögerung »zum leidenschaftlichen Leser
Baudelaires«56 geworden. Zwar darf es als sicher gelten, daß er erste Gedichte aus
den Fleurs du mal spätestens durch die von Karl H enckell herausgegebene Antholo-
gienreihe Sonnenblumen. Blütenlese der L yrik aller V ölk er (1898) kennengelernt hat.
Jedoch verrät die einzige beiläufige E rwähnung Baudelaires in Rilkes Vortrag Moderne L yrik
aus dem März 1898 kein Bewußtsein von dessen bahnbrechender Bedeutung für die europäische Moderne. Vielmehr legt die langatmige Polemik gegen alle Rilke damals bekannten
»Verfasser von >Gedichten in Prosa«< nahe, daß Baudelaires Leistungen auf diesem Gebiet
54
55
56
skizzen bei G edichtbüchern halte ich nicht für gut; in diesem Falle wird man aufmerksam,
wie der Autor auch in den Versen oft nichts als gereimte Prosa giebt. Übrigens sind die
Novelletten herzlich unbedeutend.« (R-SW V, S. 304)
Bei den übrigen sechs erhaltenen K urzprosatexten, welche die Herausgeber der Sämtlichen
Werk e unter dem Titel »G edichte in Prosa und Verwandtes aus den Jahren 1906 bis 1914«
als »D ritte Abteilung« des sechsten Bandes abdrucken, gibt es keinerlei Anhaltspunkte, daß
sie als »Prosagedichte« (R-SW VI, S. 1516) intendiert waren.
Dagegen spricht auch nicht, daß Rilke bei A uslag des Fischhändlers den E ntwurf, den er in
ein Notizbuch eintrug, mit der Bemerkung: »um es einmal zu machen« versah; Rainer Maria
Rilke: »Aus Taschen-Büchern und Merk-Blättern - in zufälliger Folge - 1925«. Wiesbaden:
Insel 1950 (= Aus Rainer Maria Rilkes Nachlaß. Zweite Folge), S. 44. Selbst der Umstand,
daß der Autor den Prosatext viele Jahre später in seine »Aus Taschen-Büchern und MerkBlättern - in zufälliger Folge - 1925«.überschriebene Reinschrift von G edichten aufnahm,
deutet nicht zwangsläufig auf eine geplante Versumschrift hin, sondern kann ebenso gut als
Indiz für den gelungenen >poetischen< Charakter der Prosafassung verstanden werden.
Anthony Stephens: Rilke als Leser Baudelaires. Malte L aurids Brigg und die Petits poemes en
prose. In: Rilke und die Weltliteratur. Hrsg. von Manfred E ngel und Dieter Lamping. Zürich: Artemis & Winkler 1999, S. 90.
318
III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
ihm noch unbekannt waren. Die summarische, recht sarkastische Charakteristik der Lyrik
Stefan G eorges in Rilkes Vortrag läßt ebenfalls dessen seit 1891 erschienene Übersetzungen aus den F k urs du mal außer Betracht.57
E s muß daher davon ausgegangen werden, daß Rilke erst »im H erbst 1902« während
seines Paris-Aufenthalts anfing, sich »ernsthaft mit T exten Baudelaires zu befassen«58. Zu dieser Zeit nahm er wohl auch das von Baudelaire >erfiindene< ursprüngliche Modell des poeme en prose erstmals bewußt wahr. (Parallel dazu kam er auch
mit den Prosagedichten des norwegischen Schriftstellers Sigbjörn Obstfelder in Berührung. 59 ) Alles, was er zuvor kennengelernt hatte, waren an das deutsche Literatursystem angepaßte Ausprägungen des Genres (Liliencron, Bierbaum, Dauthendey,
Altenberg, Schlaf, Julius H art, Cäsar F laischlen, Alfred Guth), die er zudem mit typisch deutschen Bewertungsschemata rezipierte. Die interkulturelle Konkurrenz nun
erschloß Rilke offensic hdic h einen anderen Zugang zu der zuvor eher fremden Welt
dieses Gattungsmusters. Und so wurde Baudelaire nicht nur zu einem »Schutzheiligen«60 für ihn, die Petits poemes en prose avancierten sogar zu seinem »Lieblingsband«61.
Allerdings offenbart die admirative H altung, mit der Rilke das für ihn »schönste Gedicht« darin, A une heure du matin, paraphrasiert, daß er den T ext als persönliches Bekenntnis, ja sogar als eine Art »Gebet Baudelaires«62 mißverstanden hat. 63 In Wirk-
57
58
E bd.
*
>
E bd. Darauf deutet u.a. der signifikante Tempusgebrauch im Brief an Lou Andreas-Salome
vom 18. Juli 1903 hin, wo es über Baudelaire heißt: »Wie war er mir fem in allem, meiner
Fremdesten einer; oft kann ich ihn kaum verstehen«; Rainer Maria Rilke/Lou Andreas Salome: Briefwechsel. Hrsg. von E mst Pfeiffer. Frankfurt a.M.: Insel 1975, S. 66. D ie vorausgehende intensive Lektüre von Baudelaires Schriften wird durch einen Brief an Arthur
Holitscher vom 17. Oktober 1902 belegt: »Ich lese viel in der Nationalbibliothek. G effroy,
Baudelaire, Flaubert, die Goncourts.« Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1902 bis
1906, S. 53. Unmittelbaren Niederschlag fanden diese Leseeindrücke dann im E nde 1902
entstehenden ersten Teil von Rilkes Röä!r«-Monographie, der erste positive Äußerungen
über Baudelaire enthält.
59
E r lernte sie in dem E nde 1904 erschienenen Band Pilgerfahrten. A us dem N achlaß des Dichters
kennen, den er am 13. November in dem österreichischen Blatt Die Zeit rezensierte. Unter
den sehr verschiedenen Texten dieser Publikation lobte er dabei die »G edichte in Prosa« als
den »bedeutendsten Teil der Sammlung«, gewinne man bei der Lektüre doch den E indruck,
»daß da eine K unst ihre süßeste Reife erreicht hat«: »Wie in einer reifen Frucht eines ganzen Jahres Leben versammelt ist, so ist hier ein Leben eingegangen in jedes Wort.« (R-SW
V, S. 658). Vgl. hierzu Werner K ohlschmidt Rilke und Obstfelder. In: Die Wissenschaft
von deutscher Sprache und Dichtung. Methoden, Probleme, Aufgaben. Festschrift für
Friedrich Maurer zum 65. G eburtstag am 5. Januar 1963. Hrsg. von Siegfried G utenbrunner und F. M. Stuttgart: K lett 1963, S. 458-477. Von prägendem E influß für Rilkes E ntwicklung — vergleichbar etwa dem Baudelaires - waren die Prosagedichte Obstfelders indes
nicht.
60
Anthony Stephens: Rilke als Leser Baudelaires, S. 90.
Rilke an Lou Andreas Salome, 18.7.1903; Rainer Maria Rilke/Lou Andreas Salome: Briefwechsel, S. 65.
61
7. A uf der Suche nach der »inneren F orme Rainer Maria Rilk e
3 19
lichkeit nämlic h gestaltet A une heure du matin mit satirischer Geste den Rollenentwurf einer obsolet gewordenen Sc hriftstellerexistenz; das Prosagedic ht ruft zu diesem Z wec k gezielt romantisc he Dic htungstopoi auf, die dann aber durc h sc harfe
Kontraste läc herlic h gemac ht und infrage gestellt werden. Rilke dagegen übersieht
die ironisc hen Qualitäten der Vorlage und blendet konsequent all jene Momente aus,
die seine existentiell-identifikatorisc he L esart stören könnten. 64 B audelaire wird ihm
so nac hgerade zum Schicksalsgenossen und seelischen B eistand:
[...] manchmal tief in der Nacht, wenn ich seine Worte nachsprach wie ein K ind, da war er
mein Nächster und wohnte neben mir und stand bleich hinter der dünnen Wand und hörte
meiner Stimme zu, die fiel. Was für eine seltsame G emeinsamkeit war da zwischen uns, ein
T heilen von allem, dieselbe Armuth und vielleicht dieselbe Angst. 65
Sein vermeindic hes Streben nach Wahrhaftigkeit läßt ihn schließlich sogar als Gründervater einer Ästhetik des sac hlic hen Sagens< ersc heinen, nach der Rilke selbst
strebt. 66 So heißt es etwa in einem B rief an Clara Rilke vo m 19. Oktober 19 0 7 über
Baudelaires Skandalgedic ht L d Charogne· .
Ich mußte daran denken, daß ohne dieses G edicht die ganze E ntwicklung zum sachlichen
Sagen [...] nicht hätte anheben können; erst mußte er da sein in seiner Unerbittlichkeit. E rst
mußte das künsderische Anschauen sich so weit überwunden haben, auch im Schrecklichen
und scheinbar nur Widerwärtigen das Seiende zu sehen, das, mit allem anderen Seienden,
gilt. Sowenig eine Auswahl zugelassen ist, ebensowenig ist eine Abwendung von irgendeiner E xistenz dem Schaffenden erlaubt: ein einziges Ablehnen irgendwann drängt ihn aus
dem Zustande der G nade, macht ihn ganz und gar sündig.67
Die sc honungslose, bis an die Grenze des E rträglic hen gehende Wahrnehmung der
Wirklichkeit, wie sie in den F leurs du mal und den Petits poemes en prose gleichermaßen
62
63
64
65
67
E bd., S. 65 und 66.
In vergleichbarer Funktion begegnet der T ext dann auch im 18. Abschnitt des Malte L aurids
Bringe.
Stephens konstatiert zu Recht einen höchst »selektiven Umgang« mit Baudelaires T ext; Anthony Stephens: Rilke als Leser Baudelaires, S. 92.
Rainer Maria Rilke/Lou Andreas Salome: B riefwechsel, S. 66. In ähnlichen Worten hatte
Rilke übrigens die B edeutung Baudelaires für Rodin umschrieben: »Hier war [...] ein
Mensch, einer von den Leidenden hatte seine Stimme erhoben und hielt sie hoch über die
Häupter der anderen empor, wie um sie zu retten vor einem Untergang [...]; er fühlte in
B audelaire einen, der ihm vorangegangen war« (R-SW V, S. 152f.).
Müller meint absurderweise sogar eine »in wesentlichen Punkten übereinstimmende theoretische Position des mitderen Rilke und Baudelaires« ausmachen zu können; Wolfgang G .
Müller: D er Weg vom Symbolismus zum deutschen und anglo-amerikanischen D inggedicht des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. D ie B eziehung zwischen Rilke und B audelaire als Paradigma. In: Neophilologus 58 (1974), S. 162.
Rainer Maria Rilke: B riefe aus den Jahren 1906 bis 1907. Hrsg. von Ruth Sieber-Rilke und
Carl Sieber. Leipzig: Insel 1930, S. 393. Vgl. in diesem Z usammenhang auch das Baudelaire
überschriebene G edicht (R-SW II, S. 246), das Rilke am 14. April 1921 Anita Forrer gewidmet hat.
III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
320
zum Ausdruck kommt, wird zum darstellerischen Vorbild für Rilkes eigene literarische Produktion. Unter solchen Auspizien nun kann selbst die >nüchterne< Prosa
- wieder - zum geeigneten G estaltungsmedium avancieren. Die Loslösung von der
Versstruktur in den Prosagedichten Der L öwenk äfig und in Die A uslage des F ischhändlers
ist formgewordener Beleg dieser E ntwicklung: »The prose-poem offered Rilke the
kind of open but concentrated form of expression that could meet his demand for
the immediate linguistic presentation of the mode and meaning in artistic perception.«68. G emessen allerdings an der Schmucklosigkeit der K urzprosa Liliencrons oder
Altenbergs bleibt die Sprachgebung, was Syntax, Bildlichkeit und Lautstruktur angeht, >poetisch< - der Autor verzichtet lediglich auf die zuvor für unerläßlich erachtete Rhythmisierung seiner Texte.
E inen analogen Prozeß machte auch seine narrative Prosa durch. So legte Rilke
mit der Weise von L iebe und Tod des Cornets Christoph Rilk e (drei Fassungen: 1899,1904
und 1906) einen stark rhythmisierten Text vor, der nicht nur die zeitgenössischen
Möglichkeiten der Textsegmentierung so nutzt, daß die Prosa zuweilen versartig erscheint, sondern der sich auf dem Höhepunkt der Handlung schließlich sogar des
Reims als Mittel zur Intensivierung des Ausdrucks bedient.69 Das Bestreben, narrative Formen wie E rzählung und Roman in Anlehnung an lyrische G estaltungsgepflogenheiten durch eine kleinteilige Untergliederung und eine ausgeprägte Verwendung
von rhetorisch-phonetischen Schmuckformen zu >poetisieren<, entsprang dabei dem
weitverbreiteten Wunsch, auch gestaltarmen, >äußerlich< konturlos wirkenden G enres K ohärenz zu verleihen. So hatte sich etwa Dehmel nachdrücklich dafür ausgesprochen, bei der literarischen G estaltung das Hauptaugenmerk generell — das bedeutet: in allen G attungen - auf »das Melodische und Rhythmische [...], sowie das
G leichnis, das E mpfindungsbild, also Alles, was >innere< Form gibt, was in mitschwingende Bewegtheit versetzt«70, zu richten. E s müsse ein »innerlich gebundener
Stil« gefunden werden, der beispielsweise bei einem Prosatext »die äußerliche Ungebundenheit als von innen aus notwendige Form (Rhythmus) erscheinen«71 lasse.
68
T e d Gundel: Rilke' s P rose- P oetry as »Sac hlic hes Sagen«, S. 102.
69
I n B riefen an seine spätere F rau Clara We s t h o ff ( 18. N o ve m be r 19 0 0 ) und an F ranz X a ve r
Ka ppus (4. N o ve m be r 19 0 4 ) bezeic hnet Rilke dentomeC
Comet denn auc h als »Dic htung«, seinem
Verleg er Ax el J unc ker kündigt er ihn a m 23. April 19 0 3 als »längeres, selbständiges Ge dic ht« an, und a m 2. F ebruar 19 0 7 spric ht er gegenüber Gudrun vo n Uexküll von de m
»kleinen Krä nz c he n dieses Gedic htes«. Inga Jung hanns bekennt er sc hließlic h a m 23. März
19 18 : »Viele Seiten darin sind wie Gedic hte. « Z itiert nac h: Rainer Maria Rilke: Die Weise
vo n L iebe und T o d des C o m e t s Christoph Rilke. T ex t-F assungen und Dokum ente. B earbeitet und hrsg. vo n Wa lter Simon. F rankfurt a.M.: Suhrkamp 19 7 4 ( = suhrkamp tasc henbuc h 190) , S. 77, 78, 9 6 und 144.
70
Ric hard Dehm el an Gusta v F alke, 17 . 1. 18 9 2 ; Ric hard Dehmel: Ausg ewählte B riefe aus den
J a hre n 18 8 3 bis 19 0 2 , S. 81.
71
Ric hard D ehm el an Gusta v F alke, 19 . 4 . 18 9 4 ; ebd., S. 159.
7. A uf der Suche nach der inneren Forme Rainer Maria Rilk e
321
Als bestätigende und zugleich zukunftsweisende E inlösung seiner Vision begriff
Dehmel neben A lso sprach Zarathuastra vor allem die Chansons de Bilitis (1894) von
Pierre L ouys. Das Werk hatte ihn so nachhaltig beeindruckt, daß er 1896 insgesamt
21 Absc hnitte davon übersetzte. 72 Doc h damit nicht genug: In der den Abdruc k begleitenden Besprechung forderte er seine Schriftstellerkollegen explizit auf, sich bei
der Gestaltung narrativer T exte fortan am Beispiel der Chansons de Bilitis zu orientieren und künftig grundsätzlich »die psychologische E rzählung auf den unmittelbarsten, knappsten Ausdruc k eines persönlichen Weltbildes hin, d.h. in lyrischer Art zu
komponieren«73 . Damit war der Weg für eine konsequente Lyrisierung der Prosa
vorgezeichnet, die neben dem Prosagedicht nun auch die umfangreicheren Genres
in >ungebundener< Rede erfaßte.
Die Weise von hiebe und Tod des Cornets Christoph Rilk e kann als mehr oder weniger
direkte Umsetzung des von Dehmel skizzierten Programms verstanden werden. 74
N un wendet der Autor die in Phantasie und E ine N acht auf kleinem Raum erprobten
Gestaltungsmittel bei einem vergleichsweise umfangreichen literarischen Gebilde an
und reiht sich damit in die nie abgerissene, weit zurückreichende T radition umfangsungebundender >poetischer Prosa< ein. 75 Die »Versnähe«76 des Cornet hat freilich einige Zeitgenossen und im Ansc hluß daran auch den einen oder anderen Wissenschaftler dazu verleitet, das Werk ungerechtfertigterweise als »Zyklus von Prosagedichten«77 zu betrachten. E ine derartige Zuschreibung veranschaulicht noch ein72
73
74
75
76
77
Vollständig ins Deutsche übertragen wurde es allerdings erst vier Jahre später; vgl. Die Lieder der Bilitis. Nach der aus dem G riechischen besorgten Übersetzung verdeutscht von
Franz Wagenhofen. Budapest: G. G rimm 1900. Dehmels eigene, sich vom Original teilweise recht weit entfernende G esamtübersetzung erschien sogar erst postum; vgl. Richard
Dehmel: Lieder der Bilitis. Freie Nachdichtung nach Pierre Louys. Berlin: E uphorion Verlag 1923. Siehe hierzu Karl Oetter: Richard Dehmel als Ubersetzer romanischer Dichtungen. Würzburg: Triltsch 1936.
Richard Dehmel: [Rez.:] Pierre Louys: Les chansons de Bilitis traduites du grec pour la
premiere fois (Paris: L'Art Independant 1895). In: Die G esellschaft 12 (1896), S. 454. An
Henri Albert schreibt Dehmel am 13. November 1895: »Vor allem ist mit diesem Buche
ein großer Schritt vorwärts gethan auf dem Wege der Composition!« Richard Dehmel Henri Albert. Briefwechsel 1893-1898, S. 200.
G egenüber Andre G ide hebt Rilke noch am 18. Februar 1914 den »rythme tout interieur«
des Comet hervor; Rainer Maria Rilke - Andre G ide: Briefwechsel 1909-1926. E ingeleitet
und mit Anmerkungen versehen von Renee Lang. (Deutsche Übertragung von Wolfgang
A. Peters.) Stuttgart Deutsche Verlags-Anstalt / Wiesbaden: Insel 1957, S. 26. Auch ist
daran zu erinnern, daß Rilke in seinem Lyrikband A dvent (1898) Dehmel ein G edicht (»Und
reden sie Dir jetzt von Schande ...«) gewidmet hatte.
Andre Levinson spricht denn auch zutreffend von »prose lyrique«, Hans-Wilhelm Hagen
von »lyrischer Prosa« und Marie von T hum und Taxis-Hohenlohe von »prose rythmee«; zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Comets Christoph Rilke.
Text-Fassungen und Dokumente, S. 216, 260 und 267
Stefan Nienhaus: Das Prosagedicht im Wien der Jahrhundertwende, S. 23
Ulrich Fülleborn: Die Weise von Liebe und Tod des Comets Christoph Rilke. In: Lexikon
III. Stationen der A neignung und A spek te der Funk tion
322
mal in wünschenswerter Deutlichkeit, daß die Gattung Prosagedicht in der öffentlichen Wahrnehmung um und nach 1900 weithin als moderne Spielart >poetischer
Prosa< begriffen worden ist - eine Sichtweise, die durch die Bemühungen um eine
>innere Form< noch verstärkt wurde - und daß dieses Deutungsmuster schließlich direkt in die akademische F orschung E ingang gefunden hat.
Rilke, der vor seinem Rodin-E rlebnis (1902) und vor der Begegnung mit Baudelaires Petits poemes en prose noch ganz der zeittypischen Prosa-Konzeption verhaftet
war, löste sich nach und nach von deren Prämissen und entwickelte ein neues Verständnis jenes Ausdrucksmodus. Sein Abrücken vom Gestaltungsprinzip der Rhythmisierung hatte zur F olge, daß er den Cornet schon bald als mißglücktes Werk einstufte. Arthur H olitschers Kritik an der Sprachgebung des Textes beispielsweise:
Aber Ihre Prosa müßten Sie, denke ich, energischer pflegen. Gewiß haben Sie eine große
Anzal [sie] von Prosablättern vor sich, die Sie immer und immer wieder revidiren, allein ists vielleicht nur der Stoff, der Sie in dem Cornetenbüchlein dazu verleitet hat? - es besteht eine allzustarke Versinfusion in Ihrer Prosa und sie schadet ihr sehr, schadet der
Stimmung, weil sie sie abbiegt.
78
stimmte Rilke in seinem Antwortbrief vom 20. Juni 1907 ausdrücklich zu: »Mit der
>versinfizierten< Prosa des Cornet hatten Sie so recht. Sie ist von 1898, müssen Sie
bedenken. Die, an der ich jetzt arbeite, sieht sehr anders aus.«79 In späteren Jahren
dann werden die diesbezüglichen Distanzierungsgesten nachgerade zu einer Standardformel in den Briefen. 80
Der H inweis auf die »sehr andere« Art des Umgangs mit narrativer Prosa bezieht
sich natürlich auf die Die A ufzeichnungen
78
79
80
des Malte L aurids Brigge (1910), in denen - par-
der Weltliteratur. Bd. 2: Hauptwerke der Weltliteratur. Hrsg. von Gero von Wilpert. Stuttgart: Kröner 1968, S. 1147. Schon E llen Key hat den Cornet als »prosadikt« verstanden, und
für Julius Bab war er ein »erweitertes lyrisches Gedicht«; zitiert nach: Rainer Maria Rilke:
Die Weise von Liebe und Tod des Comets Christoph Rilke. Text-Fassungen und Dokumente, S. 177.
Zitiert nach: ebd., S. 95.
Zitiert nach: ebd., S. 97. Auch gegenüber seinem französischen Übersetzer spricht Rilke
von einer ihm »ganz neuen Prosa«; Maurice Betz: Rilke in Frankreich. E rinnerungen, Briefe, Dokumente. Wien/Leipzig/Zürich: Herbert Reichner Verlag 1938, S. 113.
Gegenüber Hermann Pongs bekennt Rilke am 21. Oktober 1924: »[...] außerdem war ich,
wie die meisten vom Gedicht zuerst Vergewaltigten, unfähig, eine auch nur erträgliche Prosa zuschreiben. Beweis dafür: daß ich mich gehen lassen konnte, im Comet diese beiden,
weit getrennten Formungen durcheinanderzumengen, eine Geschmacklosigkeit, die mir jene kleine Improvisation [...] durch die Jahre hin unausstehlich machte, bis ich ihr schließlich
wieder die Naivität ihrer jugendlichen Allüre zugute gab.« Ganz ähnlich äußert er am 4.
November 1925 gegenüber Paule Levy ernste Zweifel daran, »ob so ein Ineinander, ein solches Gemeng von Prosa mit Gedichtanläufen überhaupt irgendwo zulässig sei«. Und G.
Holz erinnert sich, Rilke habe einmal zu ihm gesagt: »Die Weise von Liebe und Tod ist
nicht gut, es ist zuviel Prosa und Poesie gemischt. Das darf nicht sein, das finde ich schrecklich.« Siehe ebd., S. 160, 162 und 265.
7. A uf der Suche nach der > inneren Forme Rainer Maria
Rilk e
323
allel zu den »Gedichten in Prosa« - der E influß Baudelaires seinen deutlichen Niederschlag fand. Auch hier bestimmt die neuentwickelte Poetik des >sachlichen Sagens< den Text, 81 was dazu führt, daß sich der Malte inhaltlich, stilistisch und formal
stark vom Cornet unterscheidet. Zu erkennen ist dies zunächst an der thematischen
Öffnung für »das Alltägliche: das Häßliche, das Krankhafte, das Triviale«82, die allererst eine Darstellung moderner Großstadterfahrung möglich macht. In gewisser Weise läßt sich sogar behaupten: »le Paris de Malte, c'est [...] le Paris de Baudelaire«83:
Rilke »trouvait prefiguree chez le poete frangais une experience de la grande ville qui
lui annon<;ait la sienne«84. »Rilkes eigentlicher Gewinn als Leser der Petits poimes
prose« aber »ist erzähltechnischer
Art«85:
en
In sprachlicher H insicht hat der nüchterne
und nicht selten sogar sarkastische Duktus der Petits poemes en prose ihm den Weg gewiesen, moderne Alltagswirklichkeit literarisch umzusetzen, »ohne erneut in den
rhetorischen Überschwang« des Cornet oder »des Buchs von der A rmut und vom Tode zu
verfallen«86 , und strukturell hat »das Moment des Diskontinuierlichen, der Mangel
an jeglicher übergreifenden Architektonik in den Prosagedichten Baudelaires« entscheidend dazu beigetragen, daß Rilke sich einer narrativen Konstruktion anvertraute, in dem der »ständigen Wandlungsfähigkeit der E rzählhaltungen«87 zentrale Bedeutung zukommt. 88 Greifbarer Beleg für die nachhaltige Prägewirkung des franzö-
81
82
83
84
85
86
87
88
Vgl. etwa Anette Schwarz: The Colors of Prose: Rilke's Program of »Sachliches Sagen«. In:
The G ermanic Review 71 (1996), S. 195-210. Jackson bemerkt zu Recht, daß Rilke in
Baudelaire »un des grands modeles« »d'une poetique objective« gesehen habe; John E . Jackson: Rilke et Baudelaire. In: Stanford French Review 3 (1979). S. 340.
Roger Bauer: R.M. Rilke und das »Poeme en prose« Baudelaire'scher Prägung, S. 167.
John E . Jackson: Rilke et Baudelaire, S. 328.
E bd., S. 334. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Adrian Stevens: Das maltesche Paris in
seiner ganzen Vollzähligkeit: Rilke, Cezanne und Baudelaire. In: E tudes germaniques 53
(1998), S. 365-397.
Anthony Stephens: Rilke als Leser Baudelaires, S. 94.
E bd., S. 96. Bauer verkennt den E ntwicklungsaspekt in Rilkes Prosawerk, wenn er auf
G rund stilistischer Indizien pauschal konstatiert, der Malte weise eine »sich der gebundenen
Rede annähernde Prosa« auf; Roger Bauer R.M. Rilke und das »Poeme en prose« Baudelaire'scher Prägung, S. 175. Wie sehr der Autor tatsächlich darum bemüht war, eine narrative,
>romanhafte< Prosa zu schreiben, zeigt etwa die Aufnahme des Liedes »Du, der ichs nicht
sage ...« (vgl. R-SW VI, S. 936), deren Kontrastwirkung ganz jener der traditionellen Verseinlage entspricht. Daß Rilkes Prosadiktion — auch die seiner Briefe — insgesamt gesehen
sich gleichwohl sehr stark von der Alltagssprache entfernt, steht natürlich außerfrage.
Anthony Stephens: Rilke als Leser Baudelaires, S. 101.
Die Disparatheit und relative Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Textteile gestattet freilich noch nicht, sie für autonom zu erklären — »each of the book's seventy-one short entries
is an entity« - , um sie dann der Gattung Prosagedicht zuschlagen - »externally, the journal
entries of the N otebook s do have the characteristics of prose poems« - und um die A ufzeichnungen schließlich zur »collection of prose poems« erklären zu können; Frederick J. Bethke:
Rilke's Mailt L aurids Brigge as Prose Poetry, S. 74, 75 und 82. Diesem Muster folgend behauptet etwa Kohlschmidt: »In der Tat sind [...] viele, durch den Druck als isolierte Bilder
III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
324
sischen Kollegen 89 sind jedenfalls die E rwähnung seines Gedic hts L a Charogne
und
das Zitat des letzten Absc hnitt von Ä une heure du matin (R-SW VI, S. 757). In gewisser Weise läßt sich also sagen, daß der Impuls, der von der emphatischen E ntdekkung Baudelaires und der Begegnung mit dem T extmodell der Pedis poemes
en prose
ausging, nur gleichsam nebenher auch zur Produktion eigener Prosagedichte führte
- der Grund dafür liegt in der prinzipiellen T rennung von Vers und Prosa bei Rilke,
die schon im Aufsatz Moderne L yrik
zum Ausdruc k kommt - , hauptsächlich aber in
die narrative Prosa des Malte abgeleitet wurde.
In seinen späteren L ebensjahren dann hat der Autor keine eigene > poetische P rosa< mehr geschrieben; freilich hat er mit Maurice de Guerins L e Centaurr90
einen ent-
sprechenden T ext ins Deutsche übersetzt, der vielfach als Prosagedicht rezipiert worden ist: 91 Auc h hat er selbst noch weitere vier Prosagedichte verfaßt - nun in französischer Sprache —, die aber zu Lebzeiten unveröffentlic ht blieben. Als er sie am
gekennzeichnete Abschnitte im Matte nichts anderes als in sich geschlossene >Digte i Prosa<.« Werner K ohlschmidt: Rilke und Obstfelder, S. 476. Ahnlich meint Fülleborn: »D ie
Prosagedichte fügen sich nach denselben G esetzen aneinander, die auch in Rilkes Lyrikzyklen nachweisbar sind.« Ulrich Fülleborn: Form und Sinn der A uflehnungen des Malte L aurids Bringe. Rilkes Prosabuch und der moderne Roman, S. 156. Vgl. auch U. F.: Bemerkungen zum Thema Prosalyrik und Roman, sowie U. F.: Werther- H yperion — Malte L aurids Brigge. Prosalyrik und Roman. Prompt nimmt er denn auch sieben Segmente des Romans in
seine Prosagedichtanthologie auf; vgl. Deutsche Prosagedichte vom 18. Jahrhundert bis zur
letzten Jahrhundertwende, S. 185-190. Wie Austermühl gezeigt hat, werden aber - selbst
wenn zwischen einem Prosagedicht und dem Segment eines größeren narrativen G ebildes
»in sprachorganisatorischer Hinsicht« kein Unterschied besteht, »Romanpassagen durchaus
nicht in der gleichen Weise verstanden« wie autonome Textentitäten, weil der Leser erstere
nicht »als in sich geschlossene sprachliche G ebilde« rezipiert, sondern »vielmehr als funktionale E lemente des komplexen Romankontextes wahrnehmen und sie nach Maßgabe dieses K ontextes zu verstehen versuchen« wird; E lke Austermühl: Poetische Sprache und lyrisches Verstehen. Studien zum Begriff der Lyrik, S. 186 und 188. Selbst wenn man also die
von Betz berichtete mündliche Äußerung des Autors über den Malte aus dem Jahr 1926:
»Viele Seiten schrieb ich auf gut Glück. Manche waren Briefe, andere Notizen, Bruchstücke
aus einem Tagebuch, G edichte in Prosa« als authentisch betrachtet, haben die vormaligen
Prosagedichte durch die E inschmelzung in das Romanganze ihre G enrezugehörigkeit unweigerlich eingebüßt; Maurice Betz: Rilke in Frankreich. E rinnerungen, Briefe, Dokumente,
S. 113. Beispiele für die — am Modell der Verseinlage orientierte — Praxis, Prosagedichte unter E rhalt ihrer distinkten Textmerkmale in einen Romankontext zu integrieren, sind denn
auch überaus selten. E ine der wenigen Ausnahmen findet sich bei Marcel Proust; vgl. Ilse
Nolting-Hauff: Prousts A la recherche du temps perdu und die Tradition des Prosagedichts. In:
Poetica 1 (1967), S. 67—84. Im deutschsprachigen Raum begegnet diese Verfahrensweise etwa in Friedrich G lausers Roman Matto regiert (1936).
89
Vgl. hierzu auch L. [= Charlotte) de Sugar: Baudelaire et R.M. Rilke. E tude d'influence et
d'affinites spirituelles. Paris: Nouvelles E ditions Latines 1954.
90
Vgl. Maurice de G uerin: D er K entauer. Übertragen durch Rainer Maria Rilke. Leipzig: Insel
1919.
91
Vgl. etwa die beiden Untersuchungen aus dem Jahr 1932: Bernard d'Harcourt: E n marge
7. A uf der Suche nach der > innertn Forme Rauer Maria Rilk e
325
10. Dezember 1925 an Monique Briod sandte, sprach er von einem »Petit carnet
avec quatre proses« (R-SW II, S. 801). Rilkes Wortwahl ist insofern aufschlußreich,
als dadurch zwar der Gattungsstatus der Texte paratextuell vereindeutigt, zugleich
jedoch der Terminus poeme en prose auffällig vermieden wird. Dies läßt sich als Indiz dafür werten, daß sich der Stellenwert des Genres im Literatursystem in der Zwischenzeit ein weiteres Mal verändert hat: Zum Zeitpunkt der E ntstehung der Texte
hatte das einstmals strahlkräftige Gattungsmodell längst seine ursprüngliche Innovationskraft verloren. Nicht nur Rilke, auch viele seiner Autorenkollegen gingen deshalb dazu über, alternative Bezeichnungen für ihre Kurzprosatexte zu wählen. Häufig griffen sie zu betont neutralen, ja redundanten Termini. Die Benennung >Prosa<
erfreute sich dabei besonderer Beliebtheit, weil sie den Ausdrucksmodus selbst zum
Gattungsnamen erhob und so der für das Prosagedicht charakteristischen Fixierung
auf die Dichotomie von Vers und Prosa aus dem Wege zu gehen versuchte.
Zu den bezeichnenden Ironien der Gattungsgeschichte gehört es, daß Rilke trotz
seiner wenigen publizierten Prosagedichte und trotz seiner spannungsvollen Auseinandersetzung mit dem Gegensatz von >gebundener< und >ungebundener< Rede international als renommierter Vertreter dieser Textform angesehen wurde. Verantwortlich dafür war die ungeheure Popularität des Cornet, die seit der 1912 erfolgten Neuausgabe des Textes als Bd. 1 der wohlfeilen Reihe »Insel-Bücherei« bis in die jüngste
Zeit anhielt: 1935 lag er bereits »in einer Auflage von einer halben Million vor«, 1950
erschien »das 840. Tausend«, und 1969 wurde dann »das 1077. Tausend«92 gedruckt.
Die Weise von L iebe und Tod des Cornets Christoph Rilk e ist also nicht nur »Rilkes meistgelesenes Buch«93, sondern in der Wahrnehmung vieler eben auch »the world's most
successful prose poem«94. Wahrend der Autor im Hinblick auf dieses Gattungsmodell mehrfach interkulturelle Anregungen von ausländischen Kollegen bezog (Baudelaire, Obstfelder), schleuste er im Gegenzug — und zwar durch die zahlreichen, von
ihm zwar ungern gesehenen, letzdich aber doch tolerierten Ubersetzungen des Cornet9'5 — Gestaltungsmuster >poetischer Prosa< in den außerdeutschen Sprachraum.
Wie sich an seinem Beispiel des weiteren deutlich zeigt, führt selbst die direkte Konfrontation mit dem poeme en prose — so nachhaltige Auswirkungen sie im einzelnen
du Romantisme. Maurice de Guerin et le poeme en prose, und E lie Decahors: L e Centaurt
et ha Bacchante. Les poemes en prose de Maurice de Guerin et leurs sources antiques.
92
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95
Zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Text-Fassungen und Dokumente, S. 283, 349 und 382.
Albert Soergel/ Curt H ohoff: Dichtung und Dichter der Zeit, S. 363.
Α study of genre in nineteenth-century european liteJohn Ivan Simon: The prose poem.zyxvutsrqponmlkihgfedcbaWTSRMLJGFDCA
rature, S. 592.
»J'ai eu dans la main des versions russes, polonaises, tcheques, danoises, anglaises, hongroises, espagnoles, fran^aises et italiennes«, schreibt er am 23. Januar 1923 an Aurelia Gallarati Scotti; zitiert nach: Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und T od des Cornets
Christoph Rilke. Text-F assungen und Dokumente, S. 416.
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III. Stationen der A neignung und A spek te der F unk tion
auch haben mag - nicht zur Herausbildung analoger Textstrukturen in Texten deutscher Schriftsteller. Sobald die jeweilige nationale G attungsgeschichte einmal in
G ang gekommen ist, verläuft der weitere E ntwicklungsprozeß weitgehend autonom.
E r verändert sich zwar durch fremdkulturelle Impulse, gehorcht aber im wesentlichen den Funktionsregeln des eigenen Literatursystems.