20 Region
Samstag, 22. Februar 2020
21
Hans Hübscher
am Theodoliten.
BILD H. HÜBSCHER, 1938
Schaffhausen
als Zentrum der
Polarforschung
Mehrere Schaffhauser, allen voran Eugen C. Wegmann
und Heinrich Bütler, nahmen zwischen 1932 und
1958 an dänischen Expeditionen zur geologischen
Erforschung Grönlands teil. Die frühere Kantonsschullehrerin Susi Demmerle hat die umfangreichen
Unterlagen im Archiv der Naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen gesichtet, ergänzt und in einer
Broschüre zusammengefasst.
Andreas Schiendorfer
«Unter dem Einfluss der einsamen, monotonen und endlos erscheinenden Polarnacht wird man gereizt, übertrieben hässig, und man beginnt seine alltägliche Umgebung zu hassen und vielleicht auch zu
fürchten. Die Auswirkungen sind grotesk,
fast unglaublich, aber zum Glück meist nur
tragikomisch.» Hier wird der grönländische Überwinterungskoller beschrieben,
doch nicht in einer wissenschaftlichen Abhandlung, abgefasst zu Hause in der warmen Stube, sondern von Emil Witzig (1921–
2019) im November 1949 in seinem Grönlandtagebuch. Vier Monate zuvor waren
die Expeditionsteilnehmer auf Ella Ø –
zwei Grad nördlicher als das Nordkap in
Norwegen gelegen – gelandet und konnten
dank gutem Wetter bereits erste spannende Forschungsresultate erzielen.
Doch der Tagebucheintrag ist noch lange
nicht fertig, nein, er geht jetzt erst richtig
los: «Auf einer langen Schlittenreise kamen
wir an einer von zwei Männern bewohnten Jagdstation vorbei. Als wir eintrafen,
wohnte der eine im Zelt neben der Hütte,
während der andere diese nicht zu verlassen wagte. Beide sassen oder lagen mit geladenen Gewehren unter dem Arm herum,
jeder überzeugt, der andere wolle ihn erschiessen. Die Todfeindschaft hatte mit
einer Diskussion über den letztjährigen
Erdbeerpreis in Kopenhagen begonnen.»
Die letztlich friedlich endende Erdbeerpreisdiskussion liest sich, dank Witzigs Eingreifen, witzig, doch es hätte anders ausgehen können, und von ähnlichen Winterdepressionen berichten die meisten Grönlandreisenden. Aber es gab, wiederum zitieren wir den gleichen Schaffhauser, auch
dies: «Ich trat vor das Haus und sah einen
meiner skilaufenden Kameraden vom nahen Hügel heruntersausen. ‘Die Sonne
kommt, die Sonne kommt!’, rief er. Und
wirklich, in einigen Augenblicken erstrahlte
der schneebedeckte Hügel hinter ihm im
reinsten Sonnenglanz. Näher und näher
kam das Licht, und eh wir’s richtig fassen
konnten, standen wir alle, zum ersten Mal
nach vier Monaten, in der Sonne. Wir tanzten, sangen, schossen, stürmten ins Haus
und zerschlugen alle elektrischen Birnen,
vernichteten und verbrannten alles, was
uns an die trübe Zeit in der Finsternis erinnerte. Zwei Stunden später war es wieder
dunkel, und wir zündeten Kerzen an!»
Faszination hoher Norden
«In der Kantonsschule waren Heinrich
Bütler (1893–1983) und Hans Früh (1918–
1969) meine Geologielehrer, und da der
Winter meine Lieblingsjahreszeit ist und
ich den Schnee und die weissen Berge und
Ebenen liebe, war es kein Wunder, dass ich
ihren Erzählungen aus Ostgrönland mit
grösster Aufmerksamkeit folgte», sagt Susi
Demmerle. Mit Ausnahme von Eugen C.
Wegmann (1896–1982) hat sie fast alle relevanten Schaffhauser Grönlandforscher
noch persönlich gekannt, Hans Hübscher
(1915–2000) beispielsweise war ihr Lehrerkollege. Zu erwähnen sind, um die Aufzählung zu vervollständigen, auch René Mas-
son (1911–2001) und Peter Bachmann
(1914–2003) sowie Erwin von Mandach
(1896–1955). Letzterer war zwar nie in
Grönland, doch hat er zu Hause grönländisches Greifvögel-Gewölle untersucht und
dieses eindeutig den Halsbandlemmingen
zuordnen können. Vom Neuhauser Othmar Schaffner hingegen, 1950 als Fotograf
in Grönland, scheinen sich die Spuren verloren zu haben.
Auch Susi Demmerle hat es in jungen
Jahren als Wissenschaftlerin in den hohen
Norden gezogen. «Nein, nicht nach Grönland, sondern nach Finnland», meint sie
lachend. «1966 beteiligte ich mich in Helsinki neun Monate lang an einem wissenschaftlichen Forschungsprojekt über
Gewässerverschmutzung.»
Erst viel später begab sie sich, animiert
durch viele Gespräche mit Hans Hübscher
und Emil Witzig, auf eine private Spurensuche nach Ostgrönland. «1999 und 2007
besuchte ich, vom norwegischen Spitzbergen aus, Grönland. Leider konnten wir mit
unseren Expeditionsschiffen nicht bis zum
Kong Oscar Fjord, in dessen Umgebung die
Schaffhauser gewirkt hatten, vordringen.
Eine riesige Treibeisfläche hat die Einfahrt
versperrt. 2019 ist mir dies zusammen mit
Emil Witzigs Sohn Paul und dessen Frau
Susi gelungen. Ein unvergessliches Erlebnis – und gleichzeitig auch bedrückend.
Wir haben die Auswirkungen der Klimaerwärmung hautnah miterlebt. In ein paar
Jahren landen vielleicht Kreuzfahrtschiffe
dort, wohin man früher nur unter riesigen
Strapazen gelangte.»
Erste Forschungsreisen 1908
Die ersten Schweizer Grönlandforscher
waren – 25 Jahre vor den Schaffhausern –
1908/1909 der Botaniker Martin Rikli, der
Hydrobiologe Hans Bachmann, der Geologe Albert Heim und der Geophysiker Alfred de Quervin. Diesem gelang 1912 die
erste mittelgrönländische West-Ost-Durchquerung von Ilulissat bis zum Fjord Sermilik und damit auf einer wesentlich längeren
Strecke als Fridtjof Nansen 1888 in Südgrönland. Alfred de Quervin ist bis zum 19. April
eine Ausstellung im Landesmuseum Zürich
gewidmet (vgl. SN vom 8. Februar 2020).
«Schweizer haben vor allem mitgemacht,
mit anderen, um etwas hineinzutragen
zum grossen Sammelergebnis der Polarforschung», hat sein Sohn Marcel de Quervin
1993 zusammenfassend über die Schweizer
Beiträge zur Polarforschung festgehalten.
Tatsächlich haben die Schaffhauser ab
den Dreissigerjahren nie an einer schweizerischen Expedition teilgenommen, sondern samt und sonders an dänischen unter
der Leitung von Lauge Koch (1892–1964).
Dieser wiederum hatte noch Knud Rasmussen als Geologe und Kartograf auf dessen zweiter Thule-Expedition begleitet
und danach von 1926 bis 1958 selbst internationale Expeditionen geleitet, an denen
rund 100 Forscher aus der Schweiz (sieben
Prozent) teilnahmen. Sie fanden zunächst
in Nordgrönland, dann vor allem in
Nordost- respektive Ostgrönland statt.
Dies dürfte nicht zuletzt nationalistische
Gründe gehabt haben. Allein schon der
Die Forschungsstation Ella Ø in den späten 1950er-Jahren. Im Hintergrund der
Hausberg Bastionen, 1200 m hoch.
BILD H. BÜTLER
Name Kong Oscar Fjord deutet die komplexen Verhältnisse an, denn König Oscar war
von 1844 bis 1859 König von Schweden und
Norwegen. 1930 begannen norwegische Fischer, Ostgrönland zu besetzen, um die
Ansprüche ihres Landes auf dieses Gebiet
zu untermauern. Es drohte eine Teilung
der Insel, doch wurde Ostgrönland 1933 in
Den Haag Dänemark zugesprochen. Zweifellos war es aber politisch ratsam, die Erforschung dieser Region fortzusetzen.
«Die Schweizer konnten im Gegensatz zu
den Dänen bergsteigen und Ski fahren, und
sie waren anders als die skandinavischen
Nachbarn und auch die Deutschen politisch
opportun», bringt es Susi Demmerle auf den
Punkt. Und was war der Reiz für die Schweizer? «Natürlich die Faszination an der Polargegend und am wissenschaftlichen Niemandsland. Aber es spielte auch eine Portion Pragmatismus mit: Als Geologe war es
damals nicht einfach, eine Stelle zu finden.
Und schliesslich ging es um Vertrauen. Es
handelte sich um eine Seilschaft von Männern, die sich kannten und aufeinander verlassen konnten. Wegmann war der Erste.
«Die Todfeindschaft hatte mit
einer Diskussion
über den
letztjährigen
Erdbeerpreis
in Kopenhagen
begonnen.»
Emil Witzig
über den grönländischen
Überwinterungskoller
Und er lud seinen älteren Freund Heinrich
Bütler zum Mitmachen ein und dieser wiederum andere Schaffhauser. Wenn dieses
bedingungslose Vertrauen nicht mehr da
war, dann musste man aufhören.»
Wegmann, der Pionier
Im Haus zur Hagar, im Kolonialwarengeschäft E. Wegmann-Jezler, erblickte der
erste Schaffhauser Grönlandforscher am
18. April 1896 das Licht der Welt. Von 1924
bis 1931 wirkte er an Universitäten in Norwegen, Finnland und Schweden, bereiste
als Forscher weite Teile Finnlands, organisierte Kongresse. Mit dreissig Jahren war er
in Skandinavien wohlbekannt, doch wann
und wie er Lauge Koch kennenlernte, weiss
man nicht. Im Sommer 1932 schiffte er sich
zur Überwinterung nach Ostgrönland ein,
wo er in Ella Ø als erster Schweizer überhaupt überwinterte. Damit begann eine
siebenjährige Tätigkeit im Dienst der dänischen Grönlandforschung, ehe er als Nachfolger seines Doktorvaters Emile Argand
von 1941 bis 1964 den Lehrstuhl für Geologie in Neuenburg bekleidete. In Ostgrön-
Das dänische Versorgungsschiff «Gustav Holm» an der Treibeiskante. An Bord ein Norseman Wasserflugzeug, das zur Aufklärung im
Treibeis und für kurze Versorgungsflüge im Forschungsgebiet verwendet wurde.
BILD H.BÜTLER, UM 1950
land war Wegmann vor allem auf die Rolle
der Kristalline in der kaledonischen Gebirgsbildung spezialisiert, womit wir uns
in Zeiten vor rund 400 Millionen Jahren
bewegen. Von ihm liegen rund 150 Veröffentlichungen vor, darunter ein gutes Dutzend in den Mitteilungen der Naturforschenden Gesellschaft Schaffhausen, dessen Vorstands- und Ehrenmitglied er war.
«Es ist kaum zu fassen, wie Eugen Wegmann seine Lehrtätigkeit am Geologischen
Institut, seine Vortragstätigkeit im In- und
Ausland, seine Forschertätigkeit, die Pflege
der Korrespondenz und menschlichen
Beziehungen mit einem riesigen Bekanntenkreis bewältigen konnte», lesen wir am
22. Januar 1982 in Wegmanns Nachruf in
den «Schaffhauser Nachrichten», verfasst
von H. H. – vom 19 Jahre jüngeren Grönlandforscher Hans Hübscher. «Daneben
fand er noch Zeit, sich mit Kynologie (Hundekunde), mit Oenologie (Weinbaukunde),
mit Musik und skandinavischer Geschichte
zu beschäftigen.»
Dokumentation statt Wertung
Begeistert von seiner Grönlandreise motivierte Wegmann seinen um vier Jahre älteren Freund Heinrich Bütler aus Stein am
Rhein, ebenfalls mitzumachen. Dieser
wurde im Frühjahr 1933 mit den Untersuchungen des Devon – 380 Millionen Jahre
v.u.Z. – beauftragt. «Bütler war der Kristallisationspunkt für viele junge Schweizer
Geologen, die den Mut hatten, in diese unwirtliche Gegend zu ziehen und geologische Erkenntnisse zu sammeln», erzählt
Susi Demmerle. «Er wurde Kochs Stellvertreter und hat während vielen Jahren bei
den Expeditionen die Hauptarbeit geleistet. Seine umfangreiche und detaillierte
Dokumentation über die Geologie Grönlands liegt im Archiv der Naturforschenden Gesellschaft. Seine Kurzberichte über
die Forschungsaufenthalte sind allerdings
– im Vergleich etwa zu Witzigs Tagebüchern – trocken und sachlich gehalten. Und
weil wie üblich der Expeditionsleiter die
Lorbeeren des ganzen Teams erntete, wird
Bütlers Bedeutung für die Polarforschung
wohl etwas unterschätzt.»
Es sei allerdings nicht ihr Ziel gewesen,
die Leistung der Schaffhauser Forscher
einer Würdigung zu unterziehen, sondern
Literaturhinweis
Susi Demmerle.
Schaffhauser in
Grönland. 1932–1958.
Hrsg. Naturforschende
Gesellschaft Schaffhausen, 2. erweiterte
Auflage 2018, als
PDF zu finden unter
www.ngsh.ch
das vorhandene Material zu ordnen und
nach Möglichkeit zu ergänzen. «Bei meinen beiden Vorträgen zu diesem Thema
besonders gefreut hat mich die Anteilnahme der Nachkommen der Grönlandforscher», erklärt Demmerle. «So hat mir beispielsweise die Tochter von Peter Bachmann zwei Tagebücher ihres Vaters und
Fotos von seiner Überwinterung gebracht.»
Doch auch ohne aktuelle wissenschaftliche Würdigung ihrer Arbeit kann man –
aufgrund verschiedener Auszeichnungen
und Mitgliedschaften in exklusiven naturwissenschaftlichen Gesellschaften – feststellen, dass Wegmann und Bütler zu ihrer
Zeit hochgeachtet waren. Bemerkenswert
ist auch eine internationale Grönlandtagung, die im April 1939 von der Naturforschenden Gesellschaft und ihrem Präsidenten Forstmeister Arthur Uehlinger organisiert wurde. Von überallher sind die
Forscher angereist und haben einander
ihre Erkenntnisse präsentiert. Schaffhausen war drauf und dran, ein Zentrum der
Grönlandforschung zu werden. Doch dann
kam der Zweite Weltkrieg.
Verpflegungsration für zwei Personen für eine Woche.
Emil Witzig und ein grönländischer Schlittenführer auf der grossen
Frühlings-Schlittenreise.
BILD H. BÜTLER
BILD E. WITZIG, 1950
Trockenen Fusses von Norwegen nach Grönland
Bei einem Streifzug durch die
geologische Vergangenheit
Grönlands stösst man auf das
älteste Lebewesen der Welt
und überquert, mit Schaffhauser Hilfe, den Äquator.
Zwei Dänen, zwei Grönländer und zwei
Schweizer, darunter der Schaffhauser
Geologe Emil Witzig, überwintern
1949/50 auf Ella Ø in Ostgrönland – und
befinden sich plötzlich auf einer 360
Millionen Jahre dauernden Zeitreise.
Witzig findet fossile Pflanzen und den
Fussabdruck eines Reptils, die später in
die Karbonzeit datiert werden – und offensichtlich in einem tropisch-subtropischen Klima anzusiedeln sind.
Bereits 1915 weist Alfred Wegener
darauf hin, dass die heutigen Kontinente Teil eines grossen Urkontinents
Pangäa gewesen sind, doch erst ab
den Sechzigerjahren beginnt man sich
Forschungsresultat um Forschungsresultat dem heutigen Wissensstand anzunähern.
«Der Untergrund Grönlands ist
durch das vor zweieinhalb Milliarden
Jahren entstandene Grundgebirge
eines Urkontinents Arctica geprägt.
Dessen Spuren findet man auch in
Nordamerika, Schottland und Sibirien», erklärt der Geologe Iwan Stössel, stellvertretender Amtsleiter beim
Interkantonalen Labor. «Besonders erwähnenswert ist der Isua Greenstone
Belt bei Nuuk in Südwestgrönland. In
diesem noch älteren Gesteinskörper
hat man 2016 die ältesten bekannten
Fossilien der Erde gefunden: 3,7 Milliarden Jahre alte Stromatolithe.»
Die weitere Entwicklung liest sich wie
ein in der Vergangenheit spielender Sci-
ence-Fiction-Roman. Es bildet sich der
Riesenkontinent Rodinia, der vor rund
600 Millionen Jahren wieder zerfällt.
Zwischen Baltica (Nordosteuropa) und
Laurentia (Nordamerika inkl. Grönland) öffnet sich ein Ozean, der sich 200
Millionen Jahre später wieder schliesst:
Bei der Kollision dreier Kontinente entsteht das kaledonische Gebirge, dessen
Spuren wir in Irland, Schottland, Norwegen und Ostgrönland finden. Man
kann trockenen Fusses von Norwegen
nach Grönland gehen – und befindet
sich südlich des Äquators!
Bald danach – was sind schon 20 Millionen Jahre, damals – bilden sich zwischen Grönland und Skandinavien erneut Grabenbrüche und Dehnungstektonik. Der rötliche Erosionsschutt
des kaledonischen Gebirges lagert sich
in der Devonzeit – vor 380 Millionen
Jahren – in ausgedehnten Sedimentbe-
cken ab, die man unter dem Namen
Old Red Sandstone kennt. «Diese Sedimente, deren Aufbau und Gliederung,
sind unter anderem Untersuchungsgegenstand von Heinrich Bütler und
später Emil Witzig gewesen», weiss
Iwan Stössel.
Erst in der Karbonzeit – 360 bis 300
Millionen Jahre v. u. Z. – überquert
Grönland auf seinem Weg nach Norden den Äquator. Entsteht zunächst
zwischen Grönland und Norwegen ein
flaches Meer, so verändert sich das
Erdbild vor 160 Millionen Jahren noch
einmal grundlegend: Es bildet sich
der Atlantik als tiefer Ozean, der bei
seiner Ausbreitung nach Norden zunächst zwischen dem Nordosten Kanadas und Grönland vorstösst und
später mit einem zweiten Ast auch
zwischen Grönland und Schottland/
Skandinavien. (schi)
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