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Jesus berührt das Unreine

Contrary to Jewish and Christian voices that Jesus did not practice the entire Torah (incl. purity regulations), this paper describes Jesus’ attitude to the purity regulations as consistently Jewish and partly at distance to the Pharisaic and later rabbinic practice. Jesus’ physical contact to unclean people is a key to his understanding of a positively contagious holiness, which makes impurity pure – in contrast to the practice (common in the history of religion) to protect the holy against the risk of contamination by the unclean and unholy. These two contrasting concepts are being pursued from the An- cient Orient to the Old Testament, to early Judaism and the first church generations.

Jesus berührt das Unreine Zum spezifischen Heilswirken des Juden Jesus1 1. Disput um Händewaschen und Reinheit der Speisen (Mk 7 par Mt 15) Hat sich Jesus zeitlebens an die ganze Torah – also auch an die Reinheitsbestimmungen – gehalten? Dies wird häufig bestritten, sowohl von jüdischer als auch von christlicher Seite. Als Beispiel sei der jüdisch-amerikanische Talmudwissenschaftler Jacob Neusner genannt. Sein Buch «Ein Rabbi spricht mit Jesus», das übrigens von Papst Benedikt XVI. als äusserst hilfreich für den jüdisch-christlichen Dialog gelobt worden ist,2 trägt den Untertitel «Ein jüdisch-christlicher Dialog» und enthält ein bezeichnendes Bekenntnis Neusners, dass er als Pharisäer an diesem Punkt Jesus nicht folgen könne. Das Händewaschen vor dem Essen sei bereits in Leviticus vorgeschrieben, was von keiner jüdischen Partei bestritten werde. Jesus und die Pharisäer redeten aneinander vorbei, weil «sanctification» das Thema der Pharisäer sei, Jesus hingegen «salvation» thematisiere.3 Ein gegenteiliges Urteil findet sich z.B. bei Daniel Boyarin, der in Berkeley einen Lehrstuhl für Talmudwissenschaft innehat und sich selber zum orthodoxen Flügel des Judentums zählt. In seinem provokativen Buch «The Jewish Gospels: The Story of the Jewish Christ» (2012) überrascht er mit der Aussage, dass «Mark is best read as a Jewish text, even in its most radical Christological moments.»4 1 2 3 4 Eine erste Fassung des vorliegenden Beitrags wurde im April 2013 am XXI Colloquium Biblicum der Evang.-theol. Fakultät der Karls-Universität Prag vorgetragen. Ich danke allen Beteiligten für Ihre konstruktive Kritik. J. Ratzinger: Jesus von Nazareth, Erster Teil, Freiburg 2007, 99 u.ö. J. Neusner: A Rabbi Talks with Jesus. An intermillennial interfaith exchange, New York 1993, 103-115, bes. 105 und 115 (vgl. deutsch: Ein Rabbi spricht mit Jesus. Ein jüdischchristlicher Dialog, Freiburg 32011, 121-133). Es scheint, dass Neusner Jesus gleichwohl einen Platz im Haus Israels zuweist – wenn auch nicht in der Tradition der Torah, so doch wenigstens in der Linie der Propheten. – Vgl. bereits J. Neusner: The Idea of Purity in Ancient Judaism, Leiden 1973, 61f. D. Boyarin: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012, 127. – Vgl. jedoch den ‹Verriss› des Buches durch den christlichen Judaisten Peter Schäfer (http://www. newrepublic.com/article/103373/books-and-arts/magazine/jewish-gospels-christ-boyarin). ThZ 3/70 (2014) S. 231–253 314 Edgar Kellenberger So findet Boyarin beim Evangelisten Markus eine kompetente Darstellung von Jesu Torah-Treue in der Thematik von Rein und Unrein, auch wenn die Leser von Mk diese Praxis nicht mehr teilten.5 Dabei sei nicht nur an die genauen technischen Angaben über das Händewaschen (Mk 7,2-5) zu denken. Auf den historischen Jesus zurückzuführen sei auch der besonders umstrittene Vers 15: «Nichts, was von aussen in den Menschen hineingeht, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist es, was den Menschen unrein macht.» Laut Boyarin redet Jesus hier als ein konservativer galiläischer Jude und übt berechtigte Kritik an den Jerusalemer Pharisäern, welche ihre modernen Ausweitungen der Torah auch den Galiläern aufdrängen wollen.6 Dass koschere Speisen unter Umständen den Essenden verunreinigen könnten, und dieser zuvor seine Hände waschen müsse, steht so nicht im Alten Testament,7 sondern ist eine pharisäische Innovation. Denn im AT geschieht Verunreinigung jeweils durch aussergewöhnliche Ausflüsse aus dem menschlichen Körper, z.B. durch Menstruationsblut, Samenflüssigkeit oder schuppenartige Hautkrankheiten.8 Der markinische Jesus hält sich also streng an die Torah. Ja, er vertieft deren Intention, wie es die ganze Polemik in Mk 7 zeigt: Jesus nimmt das Elterngebot ernst, wenn er hinter der frommen Qorban-Opfergabe an den Tempel eine mangelnde Unterstützung der Eltern sieht und diesen Missbrauch der Torah 5 6 7 8 Boyarin: Jewish Gospels (Anm. 4), 102-128 (Kapitel «Jesus kept kosher»). Er stützt sich u.a. auf die Forschungen Yair Furstenbergs vom Talmud-Department der Hebrew University Jerusalem (Y. Furstenberg: Defilement Penetrating the Body. A New Understanding of Contamination in Mark 7.15 [NTS 54] 2008, 176-200). Boyarin bezieht daher die Formulierung οἱ γὰρ Φαρισαῖοι καὶ πάντες οἱ Ἰουδαῖοι in Mk 7,3 auf die Judäer. So weist z.B. P. Fiedler: Das Matthäusevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 1), Stuttgart 2006, 278 hin auf bBer 52b, wonach das Händewaschen vor dem Brot-Essen keine Vorschrift der Torah ist. Hingegen gelten alltägliche Körperausscheidungen (z.B. Schweiss, Urin und Kot) im rabbinischen Verständnis nicht als kultisch verunreinigend. In Dt 23,14f. gelten unvergrabene Fäkalien als rb'D" tw:r>[,, was kein kultischer Ausdruck ist (nur noch belegt in Dt 24,1 als Grund dafür, warum ein Mann sich von seiner Ehefrau scheiden darf). – Wenn also der Mani-Codex die schändliche Unreinheit der Fäkalien und Fürze als polemisches Argument gegen die jüdischen Reinheitsgesetze verwendet, zeigt sich darin sein Unverständnis gegenüber dem Judentum (Text und Übersetzung in L. Koenen & C. Römer: Der Kölner Mani-Codex [Papyrologica Coloniensia 14], Opladen 1988, 56f.). Ich danke Wolf Oerter (Prag) für diesen Quellen-Hinweis. Jesus berührt das Unreine 315 als Heuchelei mit Verweis auf Jes 29,13 brandmarkt. Ebenso vertieft Jesus das Verständnis der Verunreinigung, die aus dem Menschen herauskommt, indem er es durch den ausführlichen Lasterkatalog in den Versen 21-23 im ethischen Sinne erweitert. Soweit die eindrückliche Sicht von Boyarin, der die strikt orthodoxe Haltung des Juden Jesus lobt. Wenn er voraussetzt, dass Jesus nicht gegen die KaschrutGesetze von Lev 11 polemisiert, sondern ausschliesslich gegen pharisäische Innovationen, so ist zunächst ein Schönheitsfehler in Boyarins Argumentation anzumerken: Seine strikte Trennung zwischen dem System der Verunreinigung durch Körperausflüsse einerseits und dem System der koscheren Speisen andrerseits findet keine Entsprechung in der Terminologie des Alten Testaments. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, erachtet Boyarin die alttestamentlichen Begriffe rwhj «rein» und amj «unrein» als für die Qualifizierung von Speisen unpassend und wählt stattdessen die Termini rtWm «erlaubt» und rwsa «verboten», welche zwar in der Mischna geläufig sind, wogegen das AT unterschiedslos an allen Orten stets rwhj und amj verwendet.9 Boyarin weist selber in einer Fussnote auf diese Misslichkeit hin und nennt sie eine terminologische Falle (terminological glitch).10 Entgegen Boyarin ist diese aber nicht auf das Alte Testament beschränkt, sondern gilt ebenso für Qumran, und auch noch die Mischna kann einmal Schwein und Kamel als hamj hmhb bezeichnen (mUqsin 3,3). Zweitens ist kritisch anzumerken, dass das Alte Testament negative moralische Verhaltensweisen wie Hochmut, Habgier, Missgunst usw. (Mk 7,21-23 par) nicht als verunreinigend bezeichnet. Verunreinigend sind ausschliesslich die handfesten Tabubrüche Fremdgötterei, Mord und Unzucht.11 Jesu umfas- 9 10 11 rtWm ist weder im Alten Testament noch in Qumran belegt, noch sind rwsa und rXk in diesen Schriften jemals ein kultisch-ritueller Terminus. Boyarin: Jewish Gospels (Anm. 4), 181 Anm. 9. Dazu vgl. T. Frymer-Kensky: Pollution, Purification and Purgation in Biblical Israel, in: C. Meyers (Hg.): The Word of the Lord Shall Go Forth, FS D.N. Freedman, Winona Lake 1983, 399-414. – Zu einer teilweisen ethischen Ausweitung in Qumran vgl. J. Klawans: Impurity and Sin in Ancient Judaism, Oxford 2000, 75-85 und neustens G. Holtz: Purity Conceptions in the Dead Sea Scrolls: ‹Ritual-Physical› and ‹Moral› Purity in a Diachronic Perspective, in: C. Frevel & C. Nihan (Hg.): Purity and the Forming of Religious Traditions in the Ancient Mediterranean World and Ancient Judaism (Dynamics in the history of religions 3), Leiden 2013, 519-536. – Zur Problematik einer Systematisierung der Einschätzung von Unreinheit vgl. T. Kazen: Dirt and Disgust. Body and Morality in Biblical Purity Law, in: B.J. Schwarz e.a.: Perspectives on Purity and Purification in the Bibel (NTS 474), 316 Edgar Kellenberger sender Katalog von feineren Lastern als Quelle von Verunreinigung ist also seinerseits eine innovative Erweiterung (und Vertiefung) der Bestimmungen im Alten Testament – zudem auch eine Erweiterung angesichts des rabbinischen Schrifttums. 2. Unreinheit durch Kontakt mit Leichen Im Weitern bezeichnet das Alte Testament nicht nur körperliche Ausflüsse, sondern auch den Kontakt mit Leichen und tierischem Aas als Quelle von Verunreinigung. Unmissverständlich sind die Bestimmungen in Num 19: Wer einen Toten berührt oder auch nur schon den Raum eines Toten betritt, wird für sieben Tage unrein und muss zwingend Reinigungsrituale absolvieren. Und auch alles, was der Unreine berührt, wird für einen Tag unrein. Zudem wird im Raum eines Toten jedes offene Gefäss ohne Deckel unrein. Ich frage: Welches Verhalten Jesu lassen die Evangelien erkennen? In der Erzählung von der Erweckung der Tochter des Jairus betritt Jesus, zusammen mit drei seiner Jünger, den Raum der Zwölfjährigen. Er berührt die Tochter, indem er ihre Hand ergreift, und heisst sie aufstehen. Zuvor hat Jesus die Tochter als schlafend und nicht tot bezeichnet (Mk 5,39 par).12 Im Falle, dass die Tochter nie richtig tot war, wäre es verständlich, dass die Evangelien nichts von einer Verunreinigung und einem darauf notwendigen Reinigungsritual erwähnen.13 Dieselbe Nichterwähnung finden wir bei der Auferweckung des Lazarus; allerdings wird hier nicht deutlich, wie nahe Jesus der Grabhöhle kommt (Joh 11,38-44).14 Deutlicher sind die Details bei der Auferweckung des jungen Mannes in Nain (Lk 7,11-15): Jesus berührt demonstrativ die Bahre, so dass der Leichenzug anhält.15 Jesus heisst den Jüngling aufstehen, worauf der Tote (ὁ νεκρóς!) 12 13 14 15 London 2008, 43-64 und T.M. Lemos: Where There Is Dirt, Is There System? Revisiting Biblical Purity Constructions, JSOT 37,3 (2013) 265-294. τὸ παιδίον οὐκ ἀπέθανεν ἀλλὰ καθεύδει (Mk 5,39). Vers 41: καὶ κρατήσας τῆς χειρὸς τοῦ παιδίου λέγει αὐτῇ· ταλιθὰ κοῦμ, ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον· τὸ κοράσιον, σοὶ λέγω, ἔγειρε. Dieselbe Argumentation gilt vielleicht ebenfalls für Apg 20,10-11 bei der Auferweckung des Eutychos, wo Paulus nach (!) intensivem Körperkontakt (vgl. I Kön 17,21; II Kön 4,31) sagt: «Lasst das Geschrei; seine Seele ist in ihm!» mOhal 17,1 verlangt in einem ähnlichen Fall eine Distanz von mindestens hundert Ellen. Vers 14: καὶ προσελθὼν ἥψατο τῆς σοροῦ, οἱ δὲ βαστάζοντες ἔστησαν. Jesus berührt das Unreine 317 sich aufrichtet und zu reden beginnt. Wer eine Totenbahre berührt, verunreinigt sich, zumindest gemäss der Tosefta: Er wird als jysmh («der Erschütternde») bezeichnet, was zu siebentägiger Unreinheit führt – wie wenn man einen Toten berührt oder sich mit ihm im gleichen Raum aufhält (tOhalot 1,1). Warum erwähnen die Evangelien nie etwas von den Implikationen, welche diese heikeln Situationen im Blick auf die Befolgung der Reinheitsbestimmungen haben? Steckt dahinter etwa ein Desinteresse der Evangelisten – oder gar ein Desinteresse von Jesus? Bevor ich eine Antwort wage, seien zunächst die Untersuchungs-Basis verbreitert und andere Situationen aufgeführt, wo ebenfalls die Reinheitsbestimmungen des Alten Testaments betroffen sind. 3. Körperkontakte bei Hauterkrankungen (t[rc bzw. λέπρα) und Menstruierenden Laut den ausführlichen Bestimmungen in Lev 13-14 soll der Aussätzige wegen seiner Unreinheit isoliert leben, so lange er die Krankheit hat; er soll zerrissene Kleider tragen und rufen «unrein, unrein» (13,45f.).16 Die lukanische Erzählung von den zehn Aussätzigen ausserhalb des Dorfes (Lk 17,12) passt zu diesen Bestimmungen. Jesus jedoch scheint sich um diese Schutzbestimmungen nicht zu kümmern; er berührt sogar einen λεπρóς und spricht: «ich will, sei gereinigt!» (Mk 1,41 par).17 Anschliessend schickt Jesus ihn zwar Torah-konform (Lev 14,20) zum Priester, aber erklärt ihn schon zuvor für rein, obwohl dies laut den Bestimmungen in Lev 13f. die alleinige Aufgabe des Priesters wäre. Auffälligerweise geben also die Evangelien ein Wissen um die Reinheitsbestimmungen zu erkennen, schildern aber andrerseits einen Jesus, der diese Bestimmungen teilweise unterläuft. Ähnliches zeigt sich in der Erzählung von der blutflüssigen Frau, welche Jesu Gewand berührt (Mk 5,25ff. par.). Die an jahrelanger Unreinheit Leidende ist sich ihrer ungehörigen Tat bewusst, denn sie begeht sie heimlich und reagiert mit Furcht und Zittern, als sie ertappt wird.18 Menstruationsblut macht 16 17 18 Die verunreinigende Wirkung auf andere Menschen erwähnen z.B. auch 4Q274; 11Q19 46,16-18; mZabim 5 (gilt ebenso für Menstruierende und andere Arten von Körperausfluss). καὶ σπλαγχνισθεὶς (var. ὀργισθεὶς) ἐκτείνας τὴν χεῖρα αὐτοῦ ἥψατο καὶ λέγει αὐτῷ· θέλω, καθαρίσθητι. – Zu Jesu häufigen Berührungen und deren jüdischem Hintergrund vgl. T. Kazen: Jesus and Purity Halakha. Was Jesus Indifferent to Impurity? (CB.NT 38), Uppsala 2002, 104-106 und 134. Im Unterschied zur blutflüssigen Frau wenden sich die Kranken in Mk 6,56 mit der aus- 318 Edgar Kellenberger für sieben Tage unrein; chronischer Blutfluss (Lev 15,25) führt zu chronischer Unreinheit. Zudem übertragen körperliche Berührungen die Unreinheit auf Gegenstände und andere Personen, wie wir aus Lev 15 erfahren. Jesus hätte also Grund genug, um der Frau Vorwürfe zu machen, dass sie ihn verunreinigte. Stattdessen sagt er: «Dein Glaube hat dich gerettet. Gehe hin im Frieden und sei geheilt von deiner Plage!» Wiederum sehen wir, wie die Evangelien die Heilung so erzählen, dass ein Hörer in Israel unwillkürlich an die Verletzung von Reinheitsbestimmungen denken muss und sich wundern wird, dass Jesus diese zu ignorieren scheint. Dass dahinter etwas Grundsätzliches liegt, zeigt sich an einem programmatischen Dictum Jesu, das in der Q-Tradition überliefert ist – also in einer Traditionsschicht, die dem jüdischen Denken sehr nahe steht. Jesus lässt dem Täufer Johannes, der im Gefängnis nach dem kommenden Messias frägt, ausrichten: «... λεπροὶ καθαρίζονται... und selig, wer sich nicht an mir ärgert!» (Mt 11,5 par.). Dieselbe Verbindung von Aussatz und Reinigung findet sich auch in anderen Überlieferungsschichten, nämlich in Mk 1,41 sowie im Sondergut Lk 17,17. Jesu bewusster Umgang mit der Reinigung ist offensichtlich den neutestamentlichen Tradenten wichtig. Doch wie fasst Jesus das Wesen der Reinheit auf, und wie geschieht laut ihm das Reinwerden? 4. Jesu «offensiv ansteckende Reinheit» Eine Antwort auf diese Fragen verdankt sich einer glücklichen Formulierung von Klaus Berger,19 dessen These kürzlich vom skandinavischen Neutestamentler Tom Holmén weiter ausgebaut worden ist:20 Jesus setzt die ansteckende Kraft der Reinheit voraus; darum kann er unreine Menschen berühren oder von ihnen berührt werden. Dank der offensiven Kraft der Reinheit kann Jesus sie heilen bzw. rein machen. Diese These lässt die Aktivitäten Jesu in deutlicherem Licht erscheinen: a. Die Opposition zu den Pharisäern wird verständlich, welche umge- 19 20 drücklichen Bitte an Jesus, seinen Gewandsaum berühren zu dürfen. K. Berger: Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer, NT 30 (1988) 231-262 (240 u.ö.); vgl. auch J.D.G. Dunn: Jesus and Purity. An Ongoing Debate, NTS 48 (2002) 449-467 (461). T. Holmén: Jesus and the Purity Paradigm, in ders.: Handbook for the Study of the Historical Jesus, vol. III, Leiden 2011, 2709-2744; zusammenfassend: «Purity simply conquers impurity; it behaves contagiously, in the way impurity used to do.» (2723). Jesus berührt das Unreine 319 kehrt die ansteckende Kraft der Unreinheit voraussetzen und darum das Heilige mit Hilfe einer Separierung vor dieser Ansteckungsgefahr zu schützen trachten. b. So finde ich eine Antwort auf die bisher offen gebliebene Frage, weshalb die Evangelien nie negative Folgen von Jesu Körperkontakt mit unreinen Menschen erwähnen. Die Erklärung liegt m.E. in der offensiven Kraft der Reinheit über die Unreinheit. Über den Umgang mit Aussätzigen und Menstruierenden hinaus möchte Holmén noch weitere Aktivitäten Jesu als siegreiche Reinigung verstehen, so z.B. die Auferweckung von Toten, die ja als unrein galten. Auch Blinde und Lahme werden in manchen jüdischen Quellen als unrein eingestuft. Im Weitern denkt Holmén an Jesu demonstratives Essen mit Aussenseitern, die sich nicht an die pharisäischen Reinheitsregeln hielten. Und er erklärt mit seiner Hypothese auch Jesu Haltung in Mk 7,15 – also die Unmöglichkeit einer Verunreinigung von ausserhalb des Menschen – mit der überlegenen Kraft der Reinheit gegen die Gefahr der Verunreinigung.21.22 Es ist zu fragen, ob diese Vorstellung einer «ansteckenden Reinheit» einen «radical change» bedeutet, also die revolutionäre Umkehrung einer traditionellen gegenteiligen Vorstellung, dass Un-Reinheit ansteckend sei. So sieht es zumindest Holmén; allerdings muss er dafür einen hohen Preis bezahlen, indem er Jesus von den Aussagen des Alten Testaments loslöst. Doch ist im Alten Testament wirklich ausschliesslich die Unreinheit ansteckend, oder gilt auch das Umgekehrte? Dieser Frage ist im Folgenden nachzugehen. 5. Zwei Wurzeln im Alten Testament: ansteckende Unreinheit bzw. Heiligkeit Einerseits macht Holmén mit Recht aufmerksam auf Stellen, wo Unreinheit als 21 22 Holmén: Purity Paradigm (Anm. 20), 2729: «Ritual (im)purity does not cease to exist but – seen strictly from Jesus’ perspective – simply can no longer do any harm, i.e. defile.» Eliška Haselková (Prag), die an einer Dissertation zu Rein und Unrein im Neuen Testament arbeitet, brachte am Colloquium drei weitere Beispiele: In Mt 23,17-19 argumentiert Jesus, dass der Tempel das Gold heilige, ebenso der Altar das Opfer. Und in Mt 21,14 heilt er im Tempel Blinde und Lahme; «instead of guarding the Temple from defilement by lame and blind, Jesus’ action propels and progresses holiness and purity.» Und zum Zerreissen des Tempelvorhangs anlässlich von Jesu Tod: «The holiness of the sanctuary has exploded, granting now access to all.» – Zudem machte Klaas Spronk (Amsterdam) auf die Gestalt des Simson aufmerksam, der einerseits betont in die Rettungsgeschichte Israels integriert ist (Ri 13,5; 14,4) und andrerseits häufig den Reinheitsbestimmungen zuwiderhandelt. 320 Edgar Kellenberger die offenbar stärkere Macht ansteckend auf Reinheit wirkt. Klassisch formuliert dies die Priester-Torah in Hag 2,11-13: Heiliges Fleisch kann profane Speisen durch Berührung über Kleider nicht heilig machen; wird jedoch jemand durch Kontakt mit einer Leiche unrein und berührt dann Speisen, macht er diese unrein. Von daher wird verständlich, dass die Priester – und ganz besonders der Hohepriester – das Heilige vor Verunreinigung schützen müssen, z.B. indem sie Kontakt mit Toten vermeiden (Lev 21). Meines Erachtes gewichtet Holmén hingegen zu wenig, dass im AT andrereits auch das Heilige23 eine ansteckende Wirkung auf Unreines haben kann. Menahem Haran redete schon 1965 von einer «contagious holiness» im Zusammenhang mit der Bundeslade.24 Und Jacob Milgrom geht in seinem monumentalen Leviticus-Kommentar sorgfältig weiteren Stellen nach, vor allem der geprägten Formulierung «wer daran rührt, wird heilig bezw. wird unrein.»25 Nach Milgrom bedeuten die hier stets begegnenden qal-Formen vD:q.yI und am'j.yI «er wird heilig / unrein», und nicht «er begibt sich – aktiv – in einen heiligen / unreinen Zustand», was einem Hitpaʿel entspräche, das aber hier nie belegt ist.26 In zahlreichen Belegen kann am'j.yI zudem auch aus inhaltlichen Gründen keine aktive Beteiligung des Betroffenen meinen, z.B. wenn jemandem nicht bewusst ist, dass er etwas Unreines berührte (Lev 5,3). Eine ansteckende Kraft hat vor allem die Heiligkeit des Altars.27 Durch die siebentägige Entsühnung wird er hochheilig; wer/was ihn berührt, wird heilig (Ex 29,37). Dies hat Auswirkungen auf diejenigen Opfer, an denen die Priester 23 24 25 26 27 Dass im Alten Testament eine analoge Aussage über die Reinheit fehlt, mag damit zusammenhängen, dass hier JHWH stets Xwdq und nie rwhj ist. – J. Milgrom: Rationale for Cultic Law. The Case of Impurity, Semeia 45 (1989) 103-109 (106) bezeichnet amj / Xwdq als «semantic opposites.» Und noch Paulus verwendet in I Kor 7,14 den Gegensatz ἀκάθαρτος versus ἅγιος (ebenso die jeweiligen Substantive in I Thess 4,7 und Röm 6,19). Hingegen ist der Gegensatz καθαρ- / ἀκαθαρ- im Neuen Testament nie belegt (καθαρ- / κοιν- nur in Apg 10,15 und 11,9). M. Haran: The Priestly Image of the Tabernacle, HUCA 36 (1965) 191-226, 216f. J. Milgrom: Leviticus 1-16 (Anchor Bible), New York 1991, 443-456 (Exkurs: «Sancta Contagion»). Milgrom meint allerdings, dass zur Zeit von P nur noch Gegenstände und nicht mehr Personen durch Berührung heilig würden. So hingegen die Wiedergabe mit vdqty in den Targumim. Dieses Verständnis wird zum Teil noch heute auch für die hebräische qal-Form vD:q.yI vertreten, z.B. durch B.A. Levine: Leviticus/Wayyiqra (The JPS Torah Commentary), Philadelphia 1989, 37: «he must be in a holy state» (zu Lev 6,11; ebenso Holmén: Purity Paradigma [Anm. 20], 2721). Vgl. auch Mt 23,19; mZeb 9,1.7; mMen 12,1. Jesus berührt das Unreine 321 einen Essens-Anteil haben: Wer mit den Feueropfern in Berührung kommt, wird heilig (Lev 6,11). Auch wer/was mit den Fleischteilen des Sünd-Opfers in Berührung kommt, wird heilig (Lev 6,20). Über den Altar hinaus werden auch weitere Gegenstände heilig, wenn sie mit dem heiligen Salböl gesalbt worden sind, nämlich: das Zelt der Begegnung, die Lade des Zeugnisses, das ganze Mobiliar, der Brandopfer- und der Räucheraltar; sie alle geben durch Berührung die Heiligkeit weiter (Ex 30,29). Ebenso werden die Priester mit diesem Öl gesalbt, damit sie ihren Priesterdienst überhaupt ausüben können (!hk pi). In den bisher genannten Belegen erscheint die Heiligkeit auf den inneren Kreis der Priesterschaft eingeschränkt. Im Tempelentwurf Ezechiels wird zumindest theoretisch eine Ansteckung der Laien ins Auge gefasst, aber diese soll durch besondere Vorsichtsmassnahmen vermieden werden: Bevor die Priester in den äusseren Tempelvorhof gehen, müssen sie die Kleider wechseln, um nicht mit ihren bisherigen Kleidern Heiligkeit auf das Volk zu übertragen (Ez 44,19: Xdq pi). Dem gleichen Zweck dient die Vorsichtsmassnahme, im inneren Tempelvorhof – also in genügender Distanz zum Volk – die Schuldopfer zu kochen und die Speiseopfer zu backen (Ez 46,20). Es fragt sich, ob nicht zumindest an einer Stelle die Ansteckbarkeit des Heiligen auch Laien erreicht.28 Die Hörner des Altars haben eine besondere sühnende Kraft, weswegen ich ihre Asylfunktion für den Totschläger, der die Hörner des Altars ergreift, ebenfalls in diesen Zusammenhang stellen möchte.29 Aus dem Alten Orient ist mir nur ein Text bekannt, welcher die reinigende Kraft der Berührung mit dem Heiligen bezeugt, allerdings aus einem anderen Kontext, doch geht es hier ebenfalls um Laien. In der mesopotamischen Omina-Sammlung «Šumma ālu» heisst es: «Wenn ein Mann zum Tempel seines Gottes aufbricht, berührt er den Riegel und wird rein» sowie «er berührt den Hund der (Heilgöttin) Gula und er ist rein.»30 28 29 30 M. Wojciechowski: The Touching of the Leper (Mark 1,40-45) as a Historical and Symbolical Act of Jesus, BZ 33 (1989) 114-119 (118) macht auf andere Stellen aufmerksam: prophetische Berufungen durch Berührung des Mundes (Jes 6,5-7; Jer 1,9; Dan 10,16.18); weitere Beauftragungen (I Sam 10,26; Dan 8,18; 10,10); die Totengebeine Elisas auferwecken einen Toten (II Kön 13,21). Allerdings vermutet Milgrom: Leviticus (Anm. 25), 456, dass die Institution des AltarAsyls nur bis zur Zeit Davids bestanden habe; schon Salomo habe stattdessen Asylstädte bestimmt. Siehe W. Sallaberger: Körperliche Reinheit und soziale Grenzen in Mesopotamien, in: P. 322 Edgar Kellenberger Aus all den genannten Belegen ergeben sich mir zwei gegensätzliche Traditionsströme: a. Einerseits finden wir ansteckende Unreinheit, wie sie religionsgeschichtlich und auch in der rabbinischen Anschauung geläufig ist. b. Andrerseits ist die positive Ansteckungskraft des Heiligen im Alten Testament ebenfalls belegt, und gerade sie findet sich mit besonderem Gewicht bei Jesus wieder. Allerdings fehlt bei Jesus die religionsgeschichtlich geläufige Vorstellung, dass die Berührung des Heiligen durch Laien auch eine Todesgefahr darstellt.31 Stattdessen bringt der Kontakt mit Jesus eine heilende Wirkung. Jesus und die Pharisäer berufen sich also auf je verschiedene Traditionsströme. Derjenige von Jesus hat zwei unterschiedliche Arme: einmal die Nähe zu den Propheten-Erzählungen über Elia und Elisa, dann aber vor allem die Nähe zum priesterlichen Verständnis der Heiligkeit und deren Auswirkungen. Diese Nähe zum Priesterlichen ist insofern erstaunlich, als gerade die Pharisäer priesterliche Reinheitsbestimmungen sogar für Laien verbindlich machen wollten. Eindrückliche Zeugnisse dafür sind die zahlreichen archäologischen Belege von Reinigungsbädern (twawqm) und von Steingefässen, welche – im Gegensatz zur Keramik – die Unreinheit nicht weiterleiten. Hinter der pharisäischen Favorisierung von Reinheitsfragen steckt vermutlich der Wille zur Stärkung von Israels Identität angesichts der römischen Fremdbestimmung in jener Zeit. Im Gegensatz dazu praktiziert Jesus nicht die Separierung der Unreinheit, sondern überwindet diese durch seine sieghafte Kraft der Reinheit. 6. Kontinuität in der frühen Kirche Im Folgenden soll die Linie Jesu bis in die frühe, noch jüdisch geprägte Kirche ausgezogen werden. Eine Skizze muss genügen. Der Auftrag, Tote zu auferwecken und Aussätzige rein zu machen, ergeht in Mt 10,8 auch an die Jünger. Reinigende Wirkung hat zudem das Blut Christi (I Joh 1,7; Hebr 9,13f.22) und auch sein Wort (Joh 15,3; durch das Bad im 31 Burschel & C. Marx (Hg.): Reinheit (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Anthropologie 12), Wien 2011, 17-45 (30). Siehe z.B. die Berührung der Lade in II Sam 6,6f.; in Num 1,51 ist bereits das Näherkommen für einen Nichtpriester tödlich. Jesus berührt das Unreine 323 Wasser Eph 5,26). Besonders eindrücklich ist, wie Paulus Jesu ansteckende Reinheit praktisch umsetzt für aktuelle Probleme in seinen Gemeinden. a. Mischehen-Problematik: Wegen des christlichen Ehepartners ist auch das ungläubige Ehe-Teil geheiligt; denn sonst wären die Kinder ja unrein, aber in Wirklichkeit sind sie heilig (I Kor 7,14). b. Analog sieht Paulus auch die Beziehung der Christusgläubigen zum ablehnenden Israel: «Ist die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist auch der ganze Teig heilig; und wenn die Wurzel heilig ist, sind auch die Zweige heilig» (Röm 11,16; vgl. Num 15,18-21). Am meisten Diskussionen löste die Reinheits-Thematik bei Fragen des Essens aus. Erfahrungsgemäss erfolgen Definitionen der eigenen Identität häufig im Kontext des Essens. So ist es kein Zufall, dass im Zürich und Basel des 16. Jahrhunderts die Reformation durch ein provokatives Wurst- bzw. SpanferkelEssen während der Fastenzeit ausgelöst wurde; ein weiteres Beispiel sind die bis heute laufenden Diskussionen um die interkonfessionelle Eucharistiefeier. Im Neuen Testament spielt die Thematik eine vielfältige Rolle: a. Paulus weiss sich «im Herrn Jesus gewiss, dass nichts an sich unrein ist, sondern nur für den, der es für unrein hält.» «Alles ist zwar rein, aber schlecht ist es für jemanden, der mit Anstoss (d.h. gegen sein Gewissen) isst» (Röm 14,14-23). Im Blick auf «Frieden und gegenseitige Erbauung», und um «nicht wegen einer Speise das Werk Gottes zu zerstören», soll darum dem Bruder kein Anstoss gegeben werden. Aus schlechtem Gewissen zu essen hiesse, sich selber zu verurteilen, anstatt aus der Überzeugung des Glaubens zu handeln. «Was nicht aus Glauben geschieht, ist Sünde.»32 b. Die jüdischen Speisebestimmungen spielen zudem eine drastische Rolle in der Vision des Petrus vor dessen Begegnung mit Cornelius (Act 10,11ff.). Aus dem offenen Himmel kommt ein Tuch herab mit allerlei Getier, das Petrus gemäss der himmlischen Stimme schlachten und essen soll. Weil darunter auch Kriechtiere sind, die nach Lev 11 verboten sind, verweigert sich Petrus. Darauf hört er die Stimme: «Was Gott für 32 Zu dieser Problematik vgl. noch Lk 10,7 (Aussendung der 72 Jünger): «In diesem Haus aber bleibt, und esst und trinkt, was sie haben... Geht nicht aus einem Haus in ein anderes.» Ähnlich I Kor 10,27 im Kontext des Götzenopferfleisches. 324 Edgar Kellenberger c. rein erklärt hat, das nenne du nicht unrein!»,33 und «alles» verschwindet wiederum im Himmel. Die Vision ist sozusagen ein Gleichnis für die spätere Einladung zu Cornelius; es geht also um Menschen und nicht um Speisen. Nach der darauf folgenden Ausschüttung des heiligen Geistes, der Taufe der Unbeschnittenen und der Tischgemeinschaft mit ihnen konzentriert sich interessanterweise die Kritik der Jerusalemer ausschliesslich darauf, dass Petrus mit den Unbeschnittenen gegessen habe (11,3), womit natürlich wieder die Reinheitsgebote anhand der Speisen angesprochen sind. Am Apostelkonzil gemäss Apg 15 verlangen Pharisäer, die zum christlichen Glauben gekommen sind, die Beschneidung aller. Doch nach einem «heftigen Streit» sagt Petrus, dass Gott keinen Unterschied mache, «denn er hat ihre Herzen durch den Glauben gereinigt (!).»34 Und der Herrenbruder Jakobus begnügt sich mit dem Rat zur «Fernhaltung vor den Verunreinigungen durch Götzen, Unzucht, Ersticktes und Blut»;35 dies entspricht einigermassen den Aussagen im Alten Testament (verunreinigend wirken Fremdgötterei, Blutvergiessen und Unzucht). 7. Diskontinuität: ekklesiologische Separierung Zur pharisäischen Separierung von aller Unreinheit finden sich allerdings zuweilen analoge Aussagen ebenfalls in neutestamentlichen Schriften, ohne dass ihnen dort Widerstand entgegengebracht würde. Bereits Paulus ruft in I Kor 5 auf, sich vom Sauerteig zu «reinigen» und ein neuer, ungesäuerter Teig zu sein.36 Im Rückgriff auf die Passah-Bestimmungen in Ex 12 ist der Sauerteig bei Paulus stets negativ konnotiert – anders als in Jesu Gleichnis vom Sauerteig, der in positivem Sinn alles durchsäuert.37 Jedoch 33 34 35 36 37 ἃ ὁ θεὸς ἐκαθάρισεν, σὺ μὴ κοίνου (Apg 10,15; 11,9). Das Vokabular ist dasselbe wie u.a. in Mk 7 par. 15,9: καὶ οὐθὲν διέκρινεν μεταξὺ ἡμῶν τε καὶ αὐτῶν τῇ πίστει καθαρίσας τὰς καρδίας αὐτῶν. 15,20: ἀλλὰ ἐπιστεῖλαι αὐτοῖς τοῦ ἀπέχεσθαι τῶν ἀλισγημάτων τῶν εἰδώλων καὶ τῆς πορνείας καὶ τοῦ πνικτοῦ καὶ τοῦ αἵματος. I Kor 5,7: ἐκκαθάρατε τὴν παλαιὰν ζύμην, ἵνα ἦτε νέον φύραμα, καθώς ἐστε ἄζυμοι. – Vgl. auch II Tim 2,21 (ebenfalls ἐκκαθαίρειν). Doch siehe auch Jesu Warnung vor dem Sauerteig der Pharisäer, der Sadduzäer und des Jesus berührt das Unreine 325 Paulus warnt vor der Durchsäuerung (I Kor 5,6; Gal 5,9). Er warnt vor dem Sauerteig der «Schlechtigkeit und Bosheit» und erinnert an das geopferte Passahlamm Christus. Noch grundsätzlicher ist der (vermutlich deuteropaulinische) Abschnitt II Kor 6,14-7,1: Hier wird – unter Berufung auf Jes 52,11 – dazu aufgerufen, jegliche Berührung mit dem Unreinen zu vermeiden und sich von den Ungläubigen zu trennen.38 Ebenfalls separierend wirken in den Pastoralbriefen polemische Äusserungen gegen heterodoxe Christen, vor allem Beschnittene,39 welche die Abstinenz von gewissen Speisen propagieren (I Tim 4,3). Ob es hier um jüdische Speisegebote oder um gnostisierende Askese – oder um beides – geht, wird leider nicht recht deutlich. Wenn die Gegenargumentation in I Tim 4 die gute Schöpfung Gottes betont, so spricht dies eher für antignostische Polemik: «Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, wenn es mit Danksagung empfangen wird. Ja, es ist geheiligt durch Gottes Wort und durch Gebet.» Nicht nur die Irrlehrer haben einen jüdischen Hintergrund.40 Auch der Autor der Pastoralbriefe argumentiert so gewandt mit der Septuaginta, dass man ihn selber samt einem namhaften Teil seiner Gemeinden im hellenistischen Judentum verankert sehen darf.41 Wir erhalten also hier Einblick in einen heftigen innerjüdischen Konflikt, der sich allerdings deutlich unterscheidet von der Konstellation in der vorangegangenen Generation des Paulus. Grundsätzlich argumentiert der Titus-Brief mit der Parole «Den Reinen ist alles rein» (vgl. Mk 7,19; Lk 11,41; Röm 14,20). Die Polemik richtet sich hier gegen Christen, die «sich an Anordnungen von Menschen halten.»42 Ob diese 38 39 40 41 42 Herodes (Mk 8,15 mit Varianten bei Mt und Lk). II Kor 6,17: διὸ ἐξέλθατε ἐκ μέσου αὐτῶν καὶ ἀφορίσθητε, λέγει κύριος, καὶ ἀκαθάρτου μὴ ἅπτεσθε. Schlussfolgerung in 7,1: καθαρίσωμεν ἑαυτοὺς ἀπὸ παντὸς μολυσμοῦ σαρκὸς καὶ πνεύματος, ἐπιτελοῦντες ἁγιωσύνην ἐν φόβῳ θεοῦ. – Doch vgl. auch die paulinischen Warnungen in I Kor 5,9-13 und 6,9-10. Tit 1,10: μάλιστα οἱ ἐκ τῆς περιτομῆς. Laut I Tim 1,7 «wollen sie νομοδιδάσκαλοι sein.» Tit 3,9 redet von «Zänkereien und Streitigkeiten um die Gesetzesauslegung (ἔρεις καὶ μάχας νομικὰς).» H. Stettler: Die Christologie der Pastoralbriefe (WUNT II/195), Tübingen 1998, 309-314 listet die zahlreichen Belege dafür auf. Tit 1,14: μὴ προσέχοντες Ἰουδαϊκοῖς μύθοις καὶ ἐντολαῖς ἀνθρώπων ἀποστρεφομένων τὴν ἀλήθειαν. 326 Edgar Kellenberger Anordnungen (ἐντολαί) mit jüdischen Reinheitsgeboten zu tun haben,43 bleibt unsicher; jedenfalls geht die Argumentation des Titus-Briefs eher in eine moralische Richtung: «Den Reinen ist alles rein. Den Befleckten und Ungläubigen ist nichts rein; im Gegenteil, ihr Verstand wie auch ihr Gewissen sind befleckt.»44 Den Pastoralbriefen ist ein «reines Gewissen» bzw. ein «reines Herz» ein wichtiges Anliegen.45 «Reinheit» wird hier allerdings nicht nur moralisch verstanden, sondern gründet in einer Christologie, die besonders deutlich im Titusbrief formuliert ist: Christus «hat sich selbst für uns dahingegeben, damit er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und sich selbst ein Eigentumsvolk reinigte (!), das eifrig nach guten Werken strebt» (Tit 2,14).46 Reinheit kommt demnach direkt aus Christi Kreuzestod und nicht aus der Befolgung der Torah-Bestimmungen. Reinheit führt zu guten Werken und bedarf keiner Speisebestimmungen.47 Die Polemik der Pastoralbriefe zeigt so eine deutliche Distanzierung sowohl vom gnostisierenden wie vom pharisäischen Judentum. Die Pastoralbriefe sind aus missionarischen Zwecken an einem moralisch makellosen Image der Christen interessiert: Aussenstehende sollen nichts Schlechtes über sie reden können (Tit 2,8 u.ö.). Damit gerät diese nachpaulinische Generation in eine Diskontinuität zu Jesus: Zu seinen Lebzeiten ging Jesus gerade zu den Unreinen und Aussenseitern und steckte sie mit seiner Reinheit an. Dabei nahm er in Kauf, dass seine Zeitgenossen Schlechtes über ihn redeten, was schliesslich zur Kreuzigung führte. 8. Anfragen an die aktuelle kirchliche Situation Das heutige kirchliche Bewusstsein erscheint stärker von den Idealen der Pastoralbriefe geprägt als von den Aussagen in den synoptischen Evangelien. Das bedeutet nicht nur eine Distanzierung von Jesu vorösterlichem Wirken, son- 43 44 45 46 47 Vgl. die Polemik gegen die «Überlieferung der Ältesten bzw. der Menschen» (παράδοσις τῶν πρεσβυτέρων bzw. τῶν ἀνθρώπων) in Mk 7 par und Kol 2,8. Tit 1,15: πάντα καθαρὰ τοῖς καθαροῖς· τοῖς δὲ μεμιαμμένοις καὶ ἀπίστοις οὐδὲν καθαρόν, ἀλλὰ μεμίανται αὐτῶν καὶ ὁ νοῦς καὶ ἡ συνείδησις. Mit καρδία I Tim1,5 und II Tim 2,22; mit συνείδησις I Tim 3,9 und II Tim 1,3. Stettler: Christologie (Anm. 41), 259-262 bringt eine sorgfältige Exegese unter Beachtung der zahlreichen Anspielungen auf LXX-Verse. Vgl. die Exegese von Tit 1,15 bei L. Oberlinner: Die Pastoralbriefe (HThKNT XI/2:1-3), Freiburg 1994-1996, 44-48. Jesus berührt das Unreine 327 dern ebenfalls von gewichtigen frühchristlichen christologischen Aussagen im paradoxen Kontext von (Rein und) Unrein. Sobald dieser Kontext aus dem Bewusstsein der Ausleger schwindet, wird die Kreuzesbotschaft, wie sie von Paulus sowie vom Hebräerbrief bezeugt ist, deutlich entschärft. Paulus sieht in Gal 3,13 die Kreuzigung Jesu Christi in der Linie todeswürdiger Verbrechen, die gemäss dem Zitat aus Dt 21,22f. mit Pfählung (bzw. Zurschaustellung des Hingerichteten) zu bestrafen sind. Ein solcher Verbrecher gilt als verflucht: «verflucht ist jeder, der am Holze hängt» (ἐπικατάρατος, LXX κεκατηραμένος, MT ~yhiloa/ tl;l.qi). Er ist noch am selben Tag zu begraben, damit er den Erdboden nicht verunreinige (amj pi, LXX μιαίνειν). Mit diesem Zitat begründet Paulus, dass Christus «zum Fluch48 wurde». Dies geschah, «damit (ἵνα!) der Segen Abrahams in Christus Jesus zu den Nationen komme, damit wir die Verheissung des Geistes durch den Glauben empfingen» (3,14). Eine analoge und ebenso kühne christologische Ziel-Aussage findet sich in II Kor 5,22: «Den, der Sünde nicht kannte, hat (Gott) für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm.» Auch der Hebräerbrief begründet seine Christologie mit alttestamentlichen Vorstellungen, insbesondere aus Lev 16 (Versöhnungstag): «Jesus hat, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen (ἵνα ἁγιάσῃ), ausserhalb des Tors gelitten» (Hebr 13,12). Dahinter steht das sühnende Tieropfer durch den Hohepriester in Lev 16,27, wobei die körperlichen Opfertierreste «ausserhalb des Lagers» (ἔξω τῆς παρεμβολῆς, so LXX und Hebr 13,11.13) vernichtet wurden. Das Selbstopfer des Hohenpriesters Christus ist zu verstehen von diesem Opfer des Versöhnungstages her, wobei der Hebräerbrief das damalige israelitische Lager als das zeitgenössische Jerusalem («ausserhalb des Tores») sieht.49 Dass Jesus als ein von der Gottesgemeinde Ausgestossener sterben musste, ist Zeichen seiner Schmach und Schande.50 48 49 50 κατάρα; vgl. dasselbe Wort in Dt 23,6 LXX (Gott verwandelte Bileams Verfluchungen zum Segen für Israel). H.-F. Weiss: Der Brief an die Hebräer (KEK 13), Göttingen 1991, 732: Jesus befähigt an diesem «Ort der kultischen Unreinheit» das Volk «zu kultischer Reinheit – und damit zum ‹Hinzutreten zum Thron Gottes› (4,16).» «Der Ort der Profanität also – paradoxerweise in einem Brief, der den Kultus zur Grundlage seiner Argumentation macht! – ist der Ort der ‹Heiligung›.» J. Jeremias, zitiert in E. Grässer: An die Hebräer (EKK XVII/3), Zürich/Neukirchen 1997, 384. – Verschiedentlich wird erwogen, ob es die Wertung von Jesu Kreuzestod als Fluch 328 Edgar Kellenberger Auf dieser christologischen Grundlage erwächst in Hebr 13 die darauf unmittelbar folgende Paränese: «Lasst uns also vor das Lager hinausziehen zu ihm und seine Schmach tragen.»51 In der Nachfolge Christi sollen die Glaubenden die gesicherte Welt des Lagers verlassen52 und die unvermeidliche Schmach tragen, die auch Christus in seiner Kreuzigung erlebte (vgl. 11,26: ὀνειδισμὸν τοῦ Χριστοῦ; ähnlich 10,33).53 Erich Grässer bezeichnet diese Verse als kompositionellen Höhepunkt des ganzen Hebräerbriefs. «Ehe er seinen Sermon mit einem Segenswunsch abschliesst (13,20), wird in abgekürzter Form noch einmal die ganze Hohepriestertheologie geboten, und zwar so, dass die Konsequenzen für die Gemeinde besonders akzentuiert werden.»54 Abstract Entgegen jüdischen und christlichen Stimmen, wonach Jesus nicht die ganze Torah (incl. Reinheitsbestimmungen) praktiziert habe, soll hier Jesu Haltung zu den Reinheitsbestimmungen als konsequent jüdisch und in teilweiser Distanz zur pharisäischen und späteren rabbinischen Praxis stehend herausgestellt werden. Dass Jesus Körperkontakt zu unreinen Menschen pflegte, ist ein Schlüssel zu seinem Verständnis einer positiv ansteckenden Heiligkeit, welche Unreinheit rein macht – im Unterschied zur religionsgeschichtlich geläufigeren Praxis, das Heilige vor der Gefahr der Verunreinigung zu schützen. Die beiden gegensätzlichen Konzepte werden vom Alten Orient über das Alte Testament bis zum frühen Judentum sowie in die ersten kirchlichen Generationen verfolgt. Contrary to Jewish and Christian voices that Jesus did not practice the entire Torah (incl. purity regulations), this paper describes Jesus’ attitude to the purity regulations as consistently Jewish and partly at distance to the Pharisaic and later rabbinic practice. Jesus’ physical contact to unclean people is a key to his understanding of a positively contagious holiness, which makes impurity pure – in contrast to the practice (common in the history of religion) to protect the holy against the risk of contamination by the 51 52 53 54 schon vorpaulinisch gab und sie als frühjüdische Polemik gegen Jesu Heilsbedeutung zu verstehen sei; vgl. z.B. J. Becker: Der Brief an die Galater (NTD 8/1), Göttingen 1998, 51f. (mit Hinweisen auf Qumran, Didache und Justin). Hebr 13,13: τοίνυν ἐξερχώμεθα πρὸς αὐτὸν ἔξω τῆς παρεμβολῆς τὸν ὀνειδισμὸν αὐτοῦ φέροντες. Zum Exodus-Motiv vgl. Hebr 3,16; 4,1; 11,15f. Vgl. auch die christologische Aussage in 12,2: ὃς ἀντὶ τῆς προκειμένης αὐτῷ χαρᾶς ὑπέμεινεν σταυρὸν αἰσχύνης (!) καταφρονήσας ἐν δεξιᾷ τε τοῦ θρόνου τοῦ θεοῦ κεκάθικεν. – Hingegen fehlt in den Pastoralbriefen bezeichnenderweise der Wortstamm αἰσχύν-, und ὀνειδισμός begegnet nur negativ als etwas zu Vermeidendes (I Tim 3,7). Grässer: Hebräer (Anm. 50), 399. Jesus berührt das Unreine 329 unclean and unholy. These two contrasting concepts are being pursued from the Ancient Orient to the Old Testament, to early Judaism and the first church generations. Edgar Kellenberger, Oberwil