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Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, Berlin 2016

2016, Das Argument

Soziologie 899 Simulationen gegeben werden; sie können auch ihre Arbeitsergebnisse, Fragen und Diskussionsbeiträge den Lehrenden und den anderen Lernenden präsentieren. Sie können Nachfragen an externe Fachexpertinnen und -experten richten. Und mit den mobilen Endgeräten können sie in ihrem jeweiligen Praxisfeld direkt auf Lernmaterialien zugreifen und mit Ausbildern und anderen Auszubildenden kooperieren. Die »Mediennutzung [bietet] die Möglichkeit, eine völlig neue Form des arbeitsplatzorientierten Lernens für Auszubildende zu etablieren […]. Ausbildende können den Auszubildenden Zusatzinfos zur Verfügung stellen und einen Mix aus Selbst- und Gruppenlernen einführen. Zudem fördert der mobile Einsatz die Lernortkooperation von Schule und Betrieb, weil in beiden Bereichen dieselben Lernwerkzeuge genutzt werden können.« (161f) Die Kriterien für die Qualität der Integration der digitalen sozialen Medien müssen allerdings noch konkret entwickelt werden. Gerhard Zimmer (Berlin) Soziologie Nachtwey, Oliver, Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Suhrkamp, Berlin 2016 (264 S., br., 18 €) Mit Ausnahme der FAZ sind sich die Feuilletons einig: Hier hat jemand klug und verständlich den gesellschaftlichen Wandel auf den Begriff gebracht, ihn überzeugend mit den wachsenden Ungleichheiten erklärt und seine Herausforderung durch neue Formen sozialer Konlikte in den Blick genommen. Irritierend viel Lob für ein Buch, das sich nicht scheut, von sozialen Klassen zu sprechen oder den zuletzt so vielfach engagierten Bürgerinnen und Bürgern »kompromisslose Selbstbehauptung« (215) attestiert. Lob von der falschen Seite? – Nein, wäre es doch wünschenswert, dass die neuen Ungleichheiten in der politischen Öffentlichkeit »adäquat verhandelt« (12) werden, wie auch Verf. es möchte. Und doch ist die Studie seltsam gefällig. Als Popularisierung zeitdiagnostischer Debatten der kritischen Soziologie gelungen – aber darüber hinaus mit disparaten theoretischen Bezügen belastet. Kernaussage ist, dass wir im Zustand »regressiver Modernisierung« leben, in der sich materielle Ungleichheit und Entdiskriminierung durchdringen. Es ist also nicht einfach alles im ›Abstieg‹ begriffen, auch wenn das die dominante gesellschaftliche Wahrnehmung ist – und der Titel des Buches insofern in die Irre führt. Aus der widersprüchlichen Verschränkung von Aufstieg und Abstieg, Fortschritt und Rückschritt, so Verf., resultieren politisch richtungsoffene Akte des Aufbegehrens, die sich um den Anspruch auf Demokratie drehen. Vorbereitet wird die Diagnose durch die ›linke Standarderzählung‹ über Nachkriegsfordismus, Krise und Neoliberalismus. Demnach konnte zwischen den 1950er und 70er Jahren der Markt über statussichernde Lohnarbeit (das sog. Normalarbeitsverhältnis) und die Durchsetzung von politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bürgerrechten sozialstaatlich eingebettet und Armut marginalisiert werden. Das hatte jedoch die Erosion lebensweltlicher Klassenerfahrungen zum Preis, denn die neu geschaffenen und erkämpften kollektiven Rechte wurden i.d.R. individuell in Anspruch genommen. Zudem verlor mit der Zunahme staatlicher Interventionen der demokratische Prozess an Lebendigkeit. ›Querliegende‹ Formen von Diskriminierung etwa spielten für die Ausgestaltung gesellschaftlicher Institutionen keine Rolle: »Während die soziale Moderne die mit vertikalen Ungleichheiten (zwischen den Klassen) einhergehenden Konlikte und Risiken abmilderte, reproduzierte sie neue Ungleichheiten auf der horizontalen Ebene – vor allem zu Lasten von Frauen und Migranten.« (40) DAS ARGUMENT 319/2016 © 900 Besprechungen Das Arrangement der sozialen Moderne geriet in den 1970er Jahren in die Krise. Um weiterhin Wachstum zu generieren, wurde der Markt mehr und mehr gesellschaftlich entbettet und die Ökonomie inanzialisiert, sodass auch Unternehmen in neuer Form gesteuert wurden und Lohnarbeit ihre Rolle als der ›große Integrator‹ (Robert Castel) verlor. Geholfen hat es nicht, geriet doch 2007 mit dem Platzen der Finanzblase die Strategie zur Krisenlösung selbst in die Krise, gefolgt von Bankenrettung, Staatsschuldenkrise und Austeritätspolitik. Nach mehr als 30 Jahren Dauerkrise – das ist der Einsatz des Buches – sollten wir Abschied vom »Sehnsuchtsobjekt« Aufstieg nehmen, statt die soziale Moderne zu idealisieren und ihre Ambivalenzen auszublenden. Zwar komme es in der regressiven Moderne zu dramatischen Rückschritten, aber fortschrittliche Entwicklungen blieben deshalb nicht aus. Diese Argumentation ist u.a. vom Forschungsprogramm der dritten Generation der Frankfurter Schule angeregt (Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, hgg. v. A. Honneth, Frankfurt/M 2002). Verf. lässt jedoch offen, ob und wie sich die dort vorgetragene Abkehr von den Kategorien Krise und Widerspruch mit den »neuen Klassenstrukturierungen« (174) verträgt. Das Konzept der regressiven Modernisierung illustriert Verf. anhand verschiedener gesellschaftlicher Felder: So gehe der Abbau sozialer Sicherungen mit dem Abbau bürokratischer Entfremdung einher, die Deregulierung der Lohnarbeit mit der gestiegenen Arbeitsmarktteilnahme von Frauen, die Privatisierung öffentlicher Dienste machte unkontrollierten Organisationsroutinen ein Ende, Demokratieverluste würden begleitet von erweiterten Partizipationsmöglichkeiten, und die Refeudalisierung der Sozialstruktur gehe zusammen mit umfassenden Bildungschancen. Verf. zeigt, wie die Fortschritte klassenspeziisch dosiert werden und die soziale Polarisierung zunimmt. Während es für einige Wohlhabende weiter nach oben geht, erfahren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, v.a. jüngere, einen Abstieg. Und selbst die obere Mitte ist, wenn auch nicht real betroffen, so doch von Sorge umgetrieben: »Die Gewinner des Umbruchs der Arbeitsgesellschaft müssen also ebenfalls mit größeren Unsicherheiten leben.« (152) Die anschließende Darstellung von neuen sozialen Konlikten unterscheidet verschiedene Spielarten des »Aufbegehrens«: neue Konlikte um Arbeit (nicht zuletzt in den Sektoren sozialer Dienstleistungen), Mieterproteste und städtische soziale Bewegungen, der »demokratische Populismus« (209) der Occupy-Bewegung und andere Platzbesetzungen, Bürgerproteste gegen Großprojekte und schließlich rechtes Wutbürgertum. Sie alle haben ein gemeinsames Motiv, nämlich blockierte Aufstiegserwartungen und Angst vor dem Abstieg, gekoppelt mit enttäuschten Erwartungen an ›die‹ Politik, die doch für ›uns‹ da sein sollte, sich aber wie auf Autopilot verhält. Die Empörten, aber auch die ernsthaft Engagierten verlieren jedoch häuig auf die eine oder andere Weise selbst die Fähigkeit zur regulierten Austragung des politischen Streits, reproduzieren Ausschlüsse, übernehmen die »Erwartungshaltung des marktbürgerlichen Konsumenten« (215) oder verteidigen stumpf Etabliertenvorrechte. Damit nicht die autoritäre Lösung der sozialen Konlikte die Oberhand gewinnt, müsse – auch das ein Allgemeinplatz – die »Krise der linken Imaginationen« (232) überwunden werden. Das Buch rekapituliert den Stand der kritischen (industrie-)soziologischen Debatte. Eher beiläuig nimmt es Bezug auf die Evergreens der dort geführten Auseinandersetzungen: Ob Marx oder Weber der bessere Klassentheoretiker ist; ob der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht; ob die Mittelschicht tatsächlich schrumpft; ob Digitalisierung zu Arbeitsplatzverlust führt. – Die Ausführungen bleiben, allein schon wegen der Kürze, überwiegend referierend. Gerade im Fall der klassentheoretischen Debatte macht sich DAS ARGUMENT 319/2016 © Soziale Bewegungen und Politik 901 der fehlende Materialbezug bemerkbar, sodass die Darstellung blutleer bleibt und außer dem Bekenntnis zu Occupy und gewerkschaftlicher Erneuerung keine Impulse für praktische Kritik gesetzt werden. Das Buch ist nützlich, weil es einen Überblick schafft. – Die Perspektive des Überblickenden mit Zeitgeistformel suggeriert aber auch mehr Einigkeit im Forschungsbetrieb als tatsächlich vorhanden. Bezüglich des Titels bleibt es jedoch widersprüchlich – es ist ja, wie Verf. selbst beschreibt, eine von Auf- und Abstiegen, Fort- und Rückschritten bestimmte Gesellschaft, die das Aufbegehren veranlasst. Inkonsistent ist das Buch zudem an den theoretischen Gelenkstellen: Verf. orientiert sich an der moralphilosophischen Richtung der Kritischen Theorie (v.a. A.Honneth) und kauft sich damit auch deren normative Erklärung des sozialen Wandels ein. Zugleich aber sei die von normativen Ansprüchen (auf Anerkennung, Autonomie etc.) geleitete ›Künstlerkritik‹ eine »Quelle für die neoliberale Komplizenschaft« (83), wenn sie nicht mit einer ungleichheitsorientierten Sozialkritik einhergehe. Auch die Klassenauseinandersetzungen, denen Verf. ja einige Bedeutung einräumt, haben in der marxistischen Theorie einen nicht-normativen Ursprung und verlangen insofern eine genauere Vermittlung mit den Kategorien, auf die das Buch selbst immer wieder Bezug nimmt. Peter Bescherer (Tübingen) Soziale Bewegungen und Politik Balibar, Étienne, Europa: Krise und Ende?, aus d. Franz. v. Frieder Otto Wolf, Westfälisches Dampfboot, Münster 2016 (271 S., kart., 24,90 €) Balibar beschäftigt sich mit den Krisendynamiken in der EU seit 2010 und dem Zusammenwirken verschiedener ungleichzeitiger Widersprüche. Er sieht die EU in vierfacher Hinsicht in der Krise: Ihre Institutionen seien nicht regierbar (177); es gebe eine Re-Proletarisierung der europäischen Bevölkerungen; damit einher gingen vertiefte Ungleichheiten zwischen den einzelnen Regionen (178) und eine fehlende Vermittlung der politischen Prozesse in die einzelnen Staaten und Bevölkerungen (179). In einem Artikel vom August 2015 zur nach Europa drängenden Migration aus Syrien sieht Balibar nicht die Gelüchteten in der Krise, sondern die Regulation der Migration und das europäische Grenzregime (253). Die Systeme der »Kontrolle und Aufnahme« von Migrantinnen und Migranten hielten der Dynamik nicht stand - Europa aber reagierte mit Gewalt und Stacheldraht. Es sei nur mehr »eine Koalition von Egoismen, welche miteinander darum wetteifern, wer in Sachen Xenophobie die Krone davonträgt« (118). Als Waffen liefernder und an Interventionen beteiligter Akteur sei Europa einer der Urheber der »Katastrophen […], zu denen der allgemein gewordene Terrorismus (einschließlich des Staatsterrorismus) und die völlig ungeregelte, wilde Globalisierung im Raum um das gesamte Mittelmeer geführt haben«. Damit habe sich die Bedeutung der Begriffe Grenze, Migration, Territorium und Bevölkerung verändert: Europa selbst sei »eine komplexe Grenze«, die mobil nach außen wie nach innen gerichtet sei und sich ständig verschiebe (120). Nicht mehr Absicherung der Warenströme und Kontrolle von Staatsbürgern sei der Sinn von Grenzen, sondern die Regulierung von Bevölkerungen. Balibar selbst hat in der damaligen Situation vorgeschlagen, den humanitären Notstand auszurufen und so die Mitgliedstaaten in der EU zur Hilfe zu zwingen. Im Blick auf die herrschende Austeritätspolitik heißt es, Syrizas Handeln 2015 sei ermutigend und deprimierend zugleich gewesen. Alternativen seien aufgezeigt, aber deren mögliche Umsetzung sogleich von der Euro-Gruppe verhindert worden. ÜberDAS ARGUMENT 319/2016 ©