SWP-Studie
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale
Politik und Sicherheit
Uwe Halbach
Ungelöste
Regionalkonflikte
im Südkaukasus
S8
März 2010
Berlin
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ISSN 1611-6372
Inhalt
5
Problemstellung und Empfehlungen
8
Der regionale Kontext: Die südkaukasische
Konfliktlandschaft
10
11
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15
18
22
23
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27
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33
33
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ungelöster Sezessionskonflikte
Die Sezessionskonflikte Georgiens
Südossetien – Rückfall in Krieg im kleinsten De-factoStaat
Abchasien – gescheiterte Konfliktprävention
Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt im
postsowjetischen Raum
Externe Akteure und regionale
Umfeldbedingungen
Militarisierung
Die Rolle Russlands
Die Türkei als regional- und friedenspolitischer
Akteur
Herausforderungen für europäische Außenund Sicherheitspolitik
Hindernisse für »harte« und »weiche«
Konfliktbearbeitung
Psychologische Fallen und Barrieren für
Konflikttransformation
35
Ausblick
36
Abkürzungen
Dr. Uwe Halbach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der
Forschungsgruppe Russland / GUS
Problemstellung und Empfehlungen
Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
Ungelöste Sezessionskonflikte im Südkaukasus, einer
neuen Nachbarschaftsregion der EU, blockieren seit
zwei Jahrzehnten intraregionale Beziehungen und
beeinträchtigen politische Entwicklungen in den drei
Staaten der Region. Der russisch-georgische Waffengang vom August 2008 rückte die Auseinandersetzungen um Abchasien, Südossetien und Berg-Karabach als
sicherheitspolitische Herausforderung in den Blick
Europas und der internationalen Gemeinschaft. Die
EU hat sich nach diesem »Fünftagekrieg« stärker als
zuvor in der Region positioniert. Im August und September 2008 vermittelte sie Waffenstillstandsvereinbarungen; danach entsandte sie eine zivile Beobachtungsmission nach Georgien, um den Waffenstillstand
zu sichern (EU Monitoring Mission, EUMM), und setzte
eine Fact-Finding-Mission ein, um die Kriegsursachen
zu ermitteln. Externe Akteure kommen an Konfliktbearbeitung im Südkaukasus nicht mehr vorbei, auch
wenn sie ihre Schwerpunkte auf andere Politikfelder
wie die Förderung demokratischer Entwicklung oder
energiewirtschaftliche Kooperation setzen. Die schwelenden Konflikte beeinflussen alle Politikfelder.
Grundlegende Dokumente der EU zur Nachbarschaftspolitik im Südkaukasus, zum Schwarzmeerraum oder
zur Östlichen Partnerschaft gehen allerdings über
die bloße Erwähnung dieses Kernproblems oft nicht
hinaus.
Die EU war und ist in den südkaukasischen Brennpunkten unterschiedlich intensiv engagiert – vor
dem Einschnitt vom August 2008 am stärksten in Südossetien, am wenigsten bei der Regelung des Karabachkonflikts, der als historischer Schlüsselkonflikt der
Region gilt. Als im Frühjahr und Sommer 2008 die
Spannungen im Umfeld der Sezessionskonflikte Georgiens eskalierten, versuchten europäische und internationale Akteure zu verhindern, dass diese wie Anfang der 1990er Jahre in eine Kriegsphase mündeten.
Doch in der Georgienkrise kamen diese Initiativen zu
spät. Vor der Zäsur vom August 2008 ließen sich die
friedenspolitischen Bemühungen im Südkaukasus
als working around conflict bezeichnen: Es ging um Vertrauensbildung, Vermittlung wirtschaftlicher und
zivilgesellschaftlicher Kontakte zwischen den Kontrahenten und Wiederaufbauprojekte in kriegsgeschädigten Gebieten. Diese Arbeit erforderte viel Geduld
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Problemstellung und Empfehlungen
und sollte zivilgesellschaftliche Organisationen in
die angestrebte Konflikttransformation einbeziehen.
Die Bedingungen dafür waren allerdings denkbar
ungünstig. Gleichzeitig nämlich wuchs die Frustration der sezessionsgeschädigten Staaten über den
»eingefrorenen« Status der ungelösten Sezessionskonflikte. Georgien und Aserbaidschan rüsteten rasant
auf, Russland mischte sich direkt in die innerstaatlichen Konflikte Georgiens ein und die zwischenstaatliche Konfrontation zwischen Russland und Georgien
nahm spätestens seit 2006 besorgniserregende Ausmaße an. Nach dem Krieg verlegte sich die EU mit
ihrer zivilen Beobachtungsmission in Georgien auf ein
working on conflict, das sie zuvor eher vermieden hatte,
um Russland nicht zu verärgern. Doch der Stabilisierungsauftrag dieser Mission steht auf tönernen Füßen,
da der freie Zugang internationaler Beobachter nach
Abchasien und Südossetien blockiert wird. Internationale Missionen mit Beobachtungszugang zu beiden
Regionen, nämlich die der OSZE und der Vereinten
Nationen, mussten 2009 auf Betreiben Russlands das
Feld räumen.
Der Südkaukasus liegt an einer Schnittstelle ostpolitischer EU-Projekte wie der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), der Black Sea Synergy-Initiative von
2007 und der im Juni 2009 beschlossenen Initiative
der Östlichen Partnerschaft (Eastern Partnership, EaP).
Durch die Georgienkrise rückte der postsowjetische
Teil des Schwarzmeerraums als Zone ungelöster
Regionalkonflikte in die sicherheitspolitische Wahrnehmung Europas. Der Blick ging über den Kaukasus
hinaus auf andere Gebiete gemeinsamer Nachbarschaft zwischen der EU und Russland. War das militärische Vorgehen gegen Georgien ein Sonderfall, ausgelöst von einer georgischen Offensive gegen die südossetische Hauptstadt Zchinwali und bestimmt von
der Position, die Russland seit langem beim Peacekeeping in der Region einnahm? Oder handelte es sich
um russische Machtprojektion in einer »Zone privilegierten Einflusses«, die Russland nach dem Krieg nun
erst recht beanspruchte? Zudem hatte die georgische
Regierung gegenüber abtrünnigen Landesteilen eine
Politik betrieben, die militärische Drohungen und Instrumente einschloss. Angesichts dieser Entwicklungen
stellte sich die Frage, wie viel friedenspolitischen Einfluss europäische Akteure auf die Streitparteien im
Südkaukasus überhaupt hatten ausüben können.
Nach dem Einschnitt vom August 2008 ist die
Situation im Südkaukasus teils von Stagnation, teils
von neuer Dynamik geprägt. Stagnation herrscht vor
allem in der Beziehung zwischen Georgien und seinen
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abtrünnigen Landesteilen sowie im Verhältnis zwischen Russland und Georgien. Dynamik zeigt sich in
einer neuen, nie gekannten Häufigkeit von armenischaserbaidschanischen Präsidententreffen und Verhandlungen im Karabachkonflikt sowie einem türkischarmenischen Annäherungsprozess, der vorläufig aber
noch von diesem blockiert wird. Die Probleme in den
bilateralen Beziehungen zwischen Georgien und Russland zeigen hohen Vermittlungsbedarf. Die EU kann
eine vermittelnde Rolle hier eher spielen als andere
Akteure wie USA oder Nato. Dabei wirft die Georgienkrise für Berlin und Brüssel auch die Frage auf, wie
künftig mit Russland umgegangen werden soll. Russland fordert eine multipolare Weltordnung mit multilateralen Mechanismen und reklamiert darin eine
Stellung auf Augenhöhe mit westlichen Mächten. Mit
der diplomatischen Anerkennung Abchasiens und
Südossetiens hat es aber in der Georgienkrise eher ein
Beispiel für unilaterales Handeln gesetzt. Russland
beansprucht, als Vertragspartner für eine neue Sicherheitsordnung zwischen Vancouver und Wladiwostok
zu fungieren. Mit der Verletzung der Waffenstillstandsvereinbarungen zur Beendigung des »Fünftagekriegs« in Georgien vom August 2008 beweist es allerdings nicht gerade Vertragstreue.
Die Trennung Abchasiens und Südossetiens von Georgien ist nach dem Krieg so verfestigt wie nie zuvor.
Gleichwohl wird Europa die Nichtanerkennungspolitik gegenüber den beiden Entitäten fortsetzen. Es sollte dabei aber über statusneutrale Kontakte zu ihnen
(zumindest zu Abchasien) nachdenken, um sie nicht
international isoliert zu lassen. Zudem sollte die EU
den türkisch-armenischen Annäherungsprozess nachdrücklich unterstützen. Er könnte im derzeit noch
nicht absehbaren Erfolgsfall ein neues diplomatisches
Umfeld und Vorbild für den Südkaukasus bieten.
Karte
Die Kaukasus-Region
© Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn, und von Herrn Dipl.-Ing. Joachim R.H. Zwick, Gießen.
Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft
Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft
Der Südkaukasus hat wie keine andere Region im
postsowjetischen Raum unter ungelösten Sezessionskonflikten zu leiden. Dabei bildet er flächenmäßig
und mit einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal
16 Millionen nur einen kleinen Abschnitt dieses Raumes, ist aber am stärksten politisch fragmentiert. Die
Region umfasst drei international anerkannte unabhängige Staaten, nämlich Georgien (4,7 Millionen
Einwohner), Armenien (3 Millionen) und Aserbaidschan (8 Millionen). Dazu kommen mit Abchasien,
Südossetien und Berg-Karabach drei nicht oder nur
teilweise anerkannte Sezessionsgebilde, die mit einer
Gesamtbevölkerung von weniger als einer halben
Million winzige politische Entitäten darstellen. 1 Dennoch ist ihr umstrittener Status eine hohe Barriere
für intraregionale Beziehungen im Kaukasus und im
Schwarzmeerraum. Welche Störwirkung die ungelösten Sezessionskonflikte entfalten können, zeigt der
Einfluss des Karabachkonflikts auf den diplomatischen Prozess türkisch-armenischer Annäherung, der
einen der tiefsten und ältesten Gräben zwischen zwei
Staaten und Völkern im Umfeld Europas überwinden
könnte. Die Karabachkontroverse macht aus dem bilateralen Prozess zwischen Ankara und Jerewan eine verwickelte trilaterale Angelegenheit. Aserbaidschan befürchtet, dass die 1993 geschlossene türkisch-armenische Grenze geöffnet werden könnte, ohne dass vorher
die armenischen Truppen begonnen haben, von aserbaidschanischem Territorium abzuziehen.
Im Südkaukasus ballen sich Konflikte aus der Erbschaft sowjetischer Nationalitätenpolitik. In dem
komplizierten kaukasischen Ethnogramm hatte diese
Politik brisante Muster »nationaler Staatlichkeit« und
innersowjetischer Grenzziehung geschaffen. Beim Zerfall des sowjetischen Ordnungssystems gerieten autonome Republiken und autonome Gebiete mit ihren
»Elternstaaten«, also ihren ehemaligen Unionsrepubliken, über Kreuz: Abchasien und Südossetien mit
Georgien, Berg-Karabach mit Aserbaidschan. Dazu
kamen im Nordkaukasus der Konflikt zwischen Tsche-
1 Abchasien hat gut 200 000 (1989: 525 000), Südossetien
hatte vor dem Augustkrieg 2008 rund 70 000 Einwohner,
danach kaum noch die Hälfte (1989: 99 000); in BergKarabach leben etwa 145 000 Menschen (1989: 200 000).
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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tschenien und Russland und diverse Streitigkeiten
unter Volksgruppen um Territorien.
Seit Frühjahr 2008 eskalierten die Spannungen zwischen Georgien und seinen abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien. Gegenseitige Provokationen
und gewaltsame Zwischenfälle häuften sich. All dies
fand in einem Umfeld konfrontativer Beziehungen
zwischen Georgien und Russland statt. OSZE, EU, USA,
Deutschland und andere Akteure starteten Initiativen
zur Prävention und konzentrierten sich überwiegend
auf Abchasien. Der befürchtete größere Waffengang
mit Beteiligung russischer Streitkräfte spielte sich
dann aber zunächst in Südossetien ab, dem kleineren
Sezessionsgebilde. Mit dem Krieg wurden Kaukasuskonflikt und Georgienkrise zu Synonymen. Erst allmählich
öffnete sich der Blick auf den benachbarten Karabachkonflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan, in
den die Georgienkrise neue Impulse brachte. Es gilt
also, das Gesamtbild ungelöster Regionalkonflikte im
Auge zu behalten.
Zu den Sezessionskonflikten kommen latente
Bruchstellen hinzu, etwa die mangelnde Integration
bestimmter Regionen und Minderheitenenklaven in
den georgischen Staat. So hatte sich zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts das Pankisi-Tal im Grenzgebiet
zu Tschetschenien der Kontrolle durch die georgische
Zentralregierung entzogen und war zum Rückzugsraum für tschetschenische Untergrundkämpfer avanciert. Kompakte Minderheitenenklaven wie das armenische Siedlungsgebiet von Javacheti sind nach wie
vor nicht ausreichend in den georgischen Wirtschafts-,
Verkehrs- und Informationsraum integriert und bilden Zonen potentieller Sezession. Zudem ist die südkaukasische Konfliktlandschaft über mehrere Schnittstellen mit Krisenzonen des Nordkaukasus verbunden,
innerhalb der Russischen Föderation das Paradebeispiel für fragile Staatlichkeit. Russland hat nach dem
Augustkrieg 2008 zwar praktisch ein Protektorat über
die beiden von Georgien abtrünnigen Regionen übernommen und behauptet nun, Abchasien und Südossetien Sicherheit zu garantieren. In Wirklichkeit aber ist
es mit der Gewährleistung von Sicherheit in seiner
kaukasischen Peripherie überfordert. 2
2 Vgl. Nordkaukasus – Russlands Inneres Ausland?, 18.12.2009
Der regionale Kontext: Die südkaukasische Konfliktlandschaft
Vor dem Einschnitt vom August 2008 wurden die
seit nahezu zwei Jahrzehnten ungelösten Sezessionskonflikte als »eingefroren« bezeichnet, weil sich in
grundlegenden Regelungs- und Statusfragen die Positionen der Streitparteien kaum verändert hatten und
internationale Vermittlungsbemühungen keinen politischen Durchbruch erzielen konnten. Diesen Bemühungen wurde bis dahin allerdings bescheinigt, den
Rückfall in die volle militärische Konfliktaustragung
erfolgreich verhindert zu haben. In den Verhandlungen kollidierte das Prinzip territorialer Integrität international anerkannter Staaten mit dem des nationalen
Selbstbestimmungsrechts, auf das sich die separatistischen Parteien berufen. Die De-jure-Staaten Georgien
und Aserbaidschan erklärten sich bereit, den umstrittenen Gebieten größtmögliche Autonomie zu gewähren, 3 bestehen aber darauf, dass diese zu georgischem
bzw. aserbaidschanischem Staatsterritorium gehören.
Entgegen einer gängigen georgischen Darstellung
ist es im größeren Teil Abchasiens und Südossetiens
(mit Ausnahme der georgisch besiedelten Gebietsteile)
nicht nur eine kleine, in Tiflis als kriminell abgestempelte separatistische Machtelite, die für die Trennung
von Georgien votiert. Nach den Kämpfen von 1991 bis
1994 sprach sich die Mehrheit der lokalen Bevölkerung dafür aus. 4 Die heutigen Bevölkerungsverhältnisse Abchasiens sind freilich auch Ergebnis der Vertreibung von rund 250 000 ethnischen Georgiern, die
vor den Kämpfen dort die größte Bevölkerungsgruppe
(Russland-Analysen Nr. 194).
3 Die Bevölkerung Georgiens und Aserbaidschans war jedoch
mehrheitlich gegen diesen Sonderstatus. Bei einer Meinungsumfrage in Aserbaidschan im Sommer 2006 mit 971 Befragten (davon 86% Aseris) hielten knapp 60% die Wiedereingliederung Berg-Karabachs in den aserbaidschanischen Staat
ohne jegliche Autonomie für die beste Lösung. Nur knapp
25% befürworteten einen hohen Autonomiestatus. Vgl. Arif
Yunusov, Azerbaijan in the Early of XXI Century: Conflicts and Potential Threats, Baku 2007, S. 221. Ähnlich war die Stimmung in
Georgien. 2007 betrachteten 59% der Befragten einer Erhebung Abchasien und Südossetien als ganz gewöhnliche Regionen eines einheitlichen georgischen Staates und nur 35%
billigten ihnen Autonomie in diesem Staat zu. Vgl. International Republican Institute (IRI) u.a., Georgian National Voters
Study, September 2007, S. 50.
4 In einer Meinungsumfrage in Abchasien 2006 sahen 63,3%
der Befragten Abchasien als unabhängigen Staat, 30,4% als
Mitglied der Russischen Föderation, 3,1% als gleichberechtigten Teil einer staatlichen Union mit Georgien (Konföderation)
und 1% als föderalen Bestandteil Georgiens. Alexander
Skakov, Abkhazia: Challenges and Threats to the Republic and the
Region, Jerewan: Spectrum, 2006 (Regional Security Issues),
S. 91–105 (95).
gestellt hatten. Die Bevölkerung in Berg-Karabach ist
strikt dagegen, dass es erneut aserbaidschanischer
Staatlichkeit unterstellt wird. Auch die Rückkehr der
aus dem Gebiet vertriebenen oder geflohenen Aserbaidschaner würde an einer Mehrheit für dieses Votum nichts ändern.
Die internationale Gemeinschaft betonte die Unantastbarkeit bestehender Grenzen und die territoriale
Integrität. Gemeint waren damit die Grenzen zwischen den unabhängig gewordenen sowjetischen
Gliedstaaten, das heißt den ehemaligen Unionsrepubliken, und deren Integrität. Dass nicht auch noch
nachgeordneten nationalen Gebietskörperschaften
wie Abchasien Eigenstaatlichkeit zugestanden wurde,
hatte seinen Grund, denn schließlich hätte gerade im
Kaukasus die Formel »Ethnos = Staat« beim Zerfall der
Sowjetunion eine extrem instabile, zerklüftete Staatenlandschaft geschaffen. Gleichwohl wandte man
diese Prinzipien selektiv an, abzulesen an den Aktionsplänen, die die EU 2006 im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik formulierte. Im Aktionsplan mit dem
sezessionsgeschädigten Georgien wurde die territoriale Integrität hochgehalten, in dem mit Armenien
dagegen die nationale Selbstbestimmung. Armenien
unterstützt die Trennung Berg-Karabachs von Aserbaidschan und verzeichnet innerhalb seiner eigenen
Staatsgrenzen keinerlei Sezessionspotential. Nach den
Ereignissen vom August 2008 besteht nun ein völkerrechtlicher Gegensatz zwischen Russland und der
übrigen internationalen Gemeinschaft. Ersteres erkennt die Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit Abchasiens und Südossetiens zusammen mit bislang drei
weiteren Staaten (Nicaragua, Venezuela, Nauru) diplomatisch an, während Letztere weiterhin davon ausgeht, dass die beiden Gebiete zum Territorium Georgiens gehören.
Vor allem in einem Punkt erwies sich die Vorstellung von der »Eingefrorenheit« der Konflikte als
falsch, nämlich in der Annahme, dass sie durch die
Waffenstillstandsabkommen zwischen 1992 und 1994
gewaltfrei gemacht und »auf Eis gelegt« worden seien.
Dies galt vor dem Augustkrieg 2008 allenfalls für die
volle militärische Konfliktaustragung. In den georgischen Sezessionskonflikten wurde wiederholt bewaffnete Gewalt angewandt, teilweise – wie in Abchasien
1998 – mit der Folge erneuter Fluchtbewegungen. Im
Karabachkonflikt kam es entlang der 189 Kilometer
langen, von keiner internationalen Friedenstruppe
bewachten Waffenstillstandslinie von 1994 zu Zwischenfällen, die fortgesetzt militärische und zivile
Todesopfer forderten.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
Gemeinsamkeiten und Unterschiede
ungelöster Sezessionskonflikte
Die Unabhängigkeitserklärung Kosovos warf im politik- und völkerrechtswissenschaftlichen Diskurs die
Frage auf, was ungelöste Sezessionskonflikte gemeinsam haben und was sie unterscheidet. Sämtliche postsowjetischen Konfliktfälle sind von problematischen
Hinterlassenschaften sowjetischer Nationalitäten- und
Territorialpolitik geprägt. Diese resultieren aus dem
Aufbau der Sowjetunion als ethno-territoriale (Pseudo-)Föderation mit 15 Gliedstaaten (Unionsrepubliken)
und nachgeordneten nationalen Gebietskörperschaften (20 autonome Republiken, 16 autonome Gebiete
und Kreise), die Russland und einigen der nichtrussischen Unionsrepubliken inkorporiert waren. Obwohl
alle wichtigen Entscheidungen im sowjetischen
Machtzentrum getroffen wurden, suggerierte diese
Ordnung den »Titularnationen« in der nichtrussischen
Peripherie, sie besäßen ethnische Territorialhoheit.
Dieses wie die Puppen in der Puppe angeordnete »Matroschka-Modell« nationaler Staatlichkeit geriet beim
Zerfall der Sowjetunion aus den Fugen. Die internationale Gemeinschaft erkannte nur die staatliche Unabhängigkeit der Unionsrepubliken an, nicht die der
nachgeordneten Gebietskörperschaften. Die sowjetische Ordnung hinterließ den nun offen miteinander
kollidierenden Streitparteien zwei schwierige Erbschaften, die eine Konfliktbearbeitung beeinträchtigen: Ethnisierung von Politik und Mangel an demokratischen
Regelungsmechanismen.
Die Regionalkonflikte weisen eine Reihe von Unterschieden und Besonderheiten auf, und zwar hinsichtlich
der historischen Tragweite,
des Ausmaßes der kulturellen und ethnischen
Differenz,
der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung in
den Konfliktzonen,
des Ausmaßes von Gewalt, mit dem sie in den
Kriegsphasen ausgetragen wurden,
der internationalen Umgebung der Konflikte.
So ist zum Beispiel die Bevölkerungskomposition
in den umstrittenen Territorien vor Ausbruch gewaltsamer Sezessionskonflikte ein relevantes Unterscheidungsmerkmal. In Abchasien bildete die namengebende Volksgruppe vor der Kriegsphase 1992 nur eine
Minderheit, nämlich 17,8% der lokalen Bevölkerung.
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In Berg-Karabach dagegen, das zu Aserbaidschan gehört, stellten Armenier eine klare Bevölkerungsmehrheit, bevor Feindseligkeiten ausbrachen und die aserbaidschanische Bevölkerungsgruppe aus dem Gebiet
floh. Ein weiteres Beispiel sind divergierende Ziele, die
von den separatistischen Parteien verfolgt werden:
einerseits Eigenstaatlichkeit, andererseits der Anschluss an einen anderen Staat wie im Falle Südossetiens. Die Einwirkung externer Akteure ist ebenfalls
unterschiedlich, vor allem der Grad der Einmischung
durch Russland, der in den georgischen Sezessionskonflikten höher ist als in den Auseinandersetzungen
um Berg-Karabach.
Zwar sind alle Sezessionsgebilde Kleinstaaten, doch
ihre demographischen und ökonomischen Parameter
sind ungleich. Abchasien hat über 200 000 Einwohner
und besitzt wegen seiner Lage am Schwarzen Meer
hohes touristisches Potential und strategische Bedeutung. Südossetien dagegen hatte vor dem neuerlichen
Krieg 70 000 Einwohner, danach kaum mehr die
Hälfte und verfügt nur über minimale Wirtschaftsressourcen. Zu nennen sind ferner verschiedene Grade
innerer Stabilität. 5 Darüber hinaus weicht die jeweilige Politik der sezessionsgeschädigten »Elternstaaten«
gegenüber Russland voneinander ab, die in Georgien
konfrontativer ist als in Aserbaidschan.
Festzuhalten ist weiterhin, dass zivilgesellschaftliche Kräfte mehr oder weniger weitreichend in Prozesse der Vertrauensbildung zwischen den Streitparteien einbezogen werden. Dies beeinflusst auch die
Chancen externer Akteure, sich dort einzuschalten.
Konfliktbearbeitung auf zivilgesellschaftlicher Ebene
beinhaltet den schwierigen, oft riskanten Einsatz für
Kompromissbereitschaft, die Auseinandersetzung mit
Konfliktwahrnehmungen in der eigenen Gesellschaft
und den Versuch, sich in die Wahrnehmungen und
Sicherheitsbedürfnisse des Gegners zu versetzen. 6
5 Zum Vergleich der südkaukasischen De-facto-Staaten siehe
Pål Kolstø/Helge Blakkisrud, »Living with Non-recognition:
State-and Nationbuilding in South Caucasian Quasi-States«,
in: Europe-Asia Studies, 60 (Mai 2008) 3, S. 483–509.
6 Walter Kaufmann, »Der weite Weg zur ›Zivilgesellschaft‹«,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (23.3.2009) 13, S. 12–18, hier
besonders S. 17f; Susan Stewart, »The Role of International
and Local NGOs in the Transformation of the Georgian-
Die Sezessionskonflikte Georgiens
Georgien war von der oben geschilderten MatroschkaStruktur besonders betroffen, denn es besaß drei
»Unterpuppen«, nämlich die Autonomen Republiken
Abchasien und Adscharien und das Südossetische Autonome Gebiet. Gut ein Viertel des georgischen Territoriums entfiel auf nationale Autonomien, mehr als in
jedem anderen nichtrussischen Gliedstaat der UdSSR.
Wie kein anderer nachsowjetischer Staat hatte Georgien von Beginn seiner Unabhängigkeit an Schwierigkeiten, seine territoriale Integrität zu wahren. Geor-
giens Sezessionskonflikte 9 reichen in sowjetische und
zum Teil in vorsowjetische Zeit zurück und wurden in
der Reformperiode von Perestrojka und Glasnost in den
späten 1980er Jahren neu geschürt. Die georgische
Nationalbewegung versäumte es, die Minderheiten des
Landes und seine nationalen Gebietskörperschaften
für die Unabhängigkeit Georgiens zu gewinnen. Stattdessen verprellte sie sie mit Parolen wie »Georgien den
Georgiern« und verstärkte damit Sezessionsbestrebungen in Abchasien und Südossetien, in denen die georgische Seite wiederum »einen aus Moskau gesteuerten
Anschlag auf die georgische Integrität« sah. 10
Zunächst bestand der Schlagabtausch zwischen der
georgischen Nationalbewegung und den separatistischen Kräften in verfassungs- und kulturpolitischen
Aktionen, nationalistischen Demonstrationen und gewaltsamen Zusammenstößen. In Südossetien ging diese Eskalation im Januar 1991 in kriegerische Gewalt
über, in Abchasien im August 1992, beide Male mit
dem Einmarsch georgischer paramilitärischer Verbände in die umstrittenen Gebiete. Bewaffnete Kräfte aus
Russland und dem Nordkaukasus unterstützten die
separatistischen Parteien. Mit der Erfahrung gegenseitiger Gewalt, der Tausende Menschen zum Opfer fielen und die Flüchtlingsströme von Hunderttausenden
auslöste, überschatteten diese Sezessionskriege die
nachsowjetische Entwicklung und erschwerten friedliche Konfliktregelung und Aussöhnung. Überwiegend
von Russland vermittelte Waffenstillstandsabkommen
beendeten die kriegerischen Konfliktphasen im Juni
1992 (Südossetien) und Mai 1994 (Abchasien). Die Abkommen enthielten Vereinbarungen über ein Peacekeeping in beiden Konfliktzonen, in dem russische
Truppen eine dominierende Rolle spielten. Russlands
Engagement wurde international zunächst positiv
gewertet, auch weil kein anderer Akteur bereit war,
hier sicherheitspolitisch einzustehen. 11 Mit der Verschlechterung der russisch-georgischen Beziehungen
wurde aber immer deutlicher, dass diese Rolle auch
Abkhazian Conflict«, in: The Global Review of Ethnopolitics,
(März–Juni 2004) 3–4, S. 3–22.
7 Die Art und Weise, in der die Ko-Vorsitzenden der Minsker
Gruppe die Konfliktregelung monopolisierten, erschien mitunter bizarr. So wurde ein Vorschlag zur Konfliktlösung 2009
zunächst so geheim gehalten, dass man nicht einmal dem
Sondergesandten der EU für den Südkaukasus Einblick in die
schriftliche Fassung gewährte. Siehe Amanda Akçakoca u.a.,
After Georgia: Conflict Resolution in the EU’s Eastern Neighbourhood,
Brüssel: European Policy Centre, April 2009 (EPC Issue Paper
Nr. 57), S. 24.
8 Kaufmann, »Der weite Weg zur ›Zivilgesellschaft‹« [wie
Fn. 6], S. 17.
9 Zum Südossetienkonflikt vgl. Marietta S. König, »Der ungelöste Streit um Südossetien«, in: Marie-Carin von Gumppenberg/Udo Steinbach (Hg.), Der Kaukasus. Geschichte – Kultur –
Politik, 2., neubearbeitete Auflage, München: C. H. Beck, 2010,
S. 125–136; zum Abchasienkonflikt Ulrike Gruska, »Abchasien – Kämpfe um den schönsten Teil der Schwarzmeerküste«, ebd., S. 103–113.
10 Jürgen Gerber, Georgien. Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft seit 1956, Baden-Baden 1997, S. 15.
11 Vgl. John Mackinlay/Evgenii Sharov, »Russian Peacekeeping Operations in Georgia«, in: John Mackinlay/Peter Cross
(Hg.), Regional Peacekeepers. The Paradox of Russian Peacekeeping,
New York: United Nations University Press, 2003, S. 63–110.
Zivilgesellschaftliche Initiativen spielen im Südkaukasus unterschiedliche Rollen. In der Karabachfrage
beschränken sich Mediation und Konfliktbearbeitung
auf die Ebene internationaler Diplomatie (Track 1),
auf Gesprächsrunden im Rahmen der Minsker OSZEGruppe und auf armenisch-aserbaidschanische Präsidentengipfel. Diese hohe Diplomatie ist von Abgeschlossenheit gegenüber der Öffentlichkeit geprägt 7
und hat wiederholt den Fehler gemacht, einen bevorstehenden Durchbruch in den Verhandlungen anzukündigen, der später dementiert werden musste. In
den georgischen Sezessionskonflikten war vor dem
Augustkrieg 2008 durchaus ein Engagement auf zivilgesellschaftlicher Ebene (Track 2) zu verzeichnen. Vor
allem in Abchasien hatte sich ein entsprechendes
Milieu herausgebildet. Seine Protagonisten unterstützten zwar die Unabhängigkeit, wollten sie aber demokratisch ausgestaltet sehen und bekundeten Interesse
an Kontakten zur Europäischen Union. Bemerkenswert an diesen Initiativen in Abchasien war, dass sie
ihre Arbeit zu Menschenrechten, Medienfreiheit und
anderen Themen »zehn Jahre lang ohne jede finanzielle Unterstützung von außen und unter extremen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen entwickelten«. 8
Die Sezessionskonflikte Georgiens
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
etwas mit russischer Machtpolitik im Südkaukasus zu
tun hatte. Die Georgier betrachteten die russischen
Friedenstruppen in Abchasien und Südossetien als
Schutzmacht für Georgiens separatistische Gegner.
Russland mischte sich immer stärker in die ungelösten Sezessionskonflikte ein. Von Äquidistanz eines
neutralen Schlichters gegenüber den Streitparteien
konnte kaum noch die Rede sein. Den augenfälligsten
Ausdruck erhielt dieser bias in der Politik der »passportisatsija«: Seit der Novellierung seines Staatsbürgerschaftsgesetzes 2002 gewährte Russland den Einwohnern Abchasiens und Südossetiens massenhaft
seine Staatsbürgerschaft, was in Georgien als »schleichende Annexion« dieser Territorien gewertet wurde.
Die Verfasser des EU-Berichts zum Augustkrieg von
2008, erstellt unter Leitung der Schweizer Diplomatin
Heidi Tagliavini und veröffentlicht im September
2009, widmen dieser Maßnahme breiten Raum und
bewerten sie als völkerrechtlich fragwürdig. 12
Die genannten Sezessionskonflikte fielen zu Beginn
der staatlichen Unabhängigkeit mit politischen Turbulenzen und Machtkämpfen in »Kerngeorgien« zusammen, die aus dem Land ein Beispiel für fragile
Staatlichkeit unter nachsowjetischen Bedingungen
machten. Zwar gelang während der Präsidentschaft
Eduard Schewardnadses seit 1995 eine Stabilisierung
im Vergleich zum unruhigen Eintritt in die Unabhängigkeit, doch die Grundprobleme fragiler Staatlichkeit wurden nicht überwunden. Gegen sie trat
nach der »Rosenrevolution« vom November 2003 eine
sehr junge, erstmals wirklich nachsowjetische Machtelite an. Sie gab drei weitreichende Versprechen, zwischen denen später Zielkonflikte auftauchen sollten:
Demokratisierung, Stärkung von Staatlichkeit und
Wiederherstellung der territorialen Integrität Georgiens. Tatsächlich konnten einige staatliche Funktionen wieder in Gang gesetzt werden, die in der späten
Schewardnadse-Ära weitgehend zum Erliegen gekommen waren, so etwa durch eine Haushaltskonsolidierung und eine Polizeireform. Als fatal jedoch sollte
sich das Versprechen rascher Reintegration abtrünniger Landesteile entpuppen, das der neue Präsident
Michail Saakaschwili feierlich am Grabe des bedeutendsten georgischen Königs abgegeben hatte. Schon
kurz nach seinem Amtsantritt im Januar 2004 konnte
Saakaschwili auf diesem Handlungsfeld einen Erfolg
vorweisen. Im Mai 2004 wurde die autonome Republik
12 Independent International Fact-Finding Mission on the
Conflict in Georgia, Report, 2009, Bd. 1, S. 19; Bd. 2, S. 147–
178, <http://91.121.127.28/ceiig/Report.html>.
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Adscharien wieder der Kontrolle der Zentralregierung
unterstellt. Der Streit Georgiens mit dieser Region am
Schwarzen Meer, die sich unter der patrimonialen
Herrschaft ihres Landesfürsten Aslan Abaschidse von
Tiflis fiskalisch abgesondert hatte, war mit den realen
Sezessionskonflikten um Abchasien und Südossetien
allerdings nicht zu vergleichen. Es fehlte die ethnische
Differenz, die zwischen Georgiern einerseits und Abchasen und Osseten andererseits besteht, es fehlte die
gegenseitige Gewalterfahrung aus den Sezessionskriegen und es fehlte eine Unabhängigkeitserklärung,
denn Adscharien hatte die Abspaltung von Georgien
nie vollzogen. Die georgische Regierung saß dem Irrtum auf, den adscharischen Erfolgsfall auf diese Konflikte zu übertragen. Daraus gingen seit Sommer 2004
Entwicklungen hervor, die zu wachsender Konfrontation mit Russland führten und die Vorgeschichte zum
Augustkrieg 2008 bildeten. 13
Südossetien – Rückfall in Krieg im kleinsten
De-facto-Staat
Im russisch-georgischen »Fünftagekrieg« vom August
2008 konzentrierten sich die Kämpfe und die darauf
folgenden Fluchtbewegungen vor allem auf Südossetien und die ihm vorgelagerte Pufferzone um die Stadt
Gori. Russland wurde nicht vorrangig deshalb kritisiert, weil es auf eine georgische Offensive gegen die
südossetische Hauptstadt Zchinwali militärisch reagierte. Aus dem EU-Bericht über die Kriegsursachen
geht hervor, dass der größere Waffengang von der georgischen Offensive ausgelöst wurde und diese nicht
als notwendige und legitime Gegenwehr gegen eine
angeblich zuvor erfolgte Invasion russischer Truppen
gelten kann. 14 Die Verfasser des Berichts machen aber
auch klar, dass an dem längeren »countdown to war«
alle Streitparteien einschließlich Russlands beteiligt
waren.
Die Kritik an Russland entzündete sich am Übergang der Militäraktion »Erzwingung des Friedens« in
Südossetien in eine Operation zur Bestrafung und
Teilung Georgiens, die mit der diplomatischen Anerkennung Abchasiens und Südossetiens am 26. Au13 Uwe Halbach, »Der ›Countdown to war‹ in historischer
Perspektive. Konfrontation zwischen Russland und Georgien
2004–2008«, in: Russland-Analysen, 192 (20.11.2009), S. 13–16.
14 Independent International Fact-Finding Mission, Report
[wie Fn. 12], Bd. 1, S. 25; vgl. Wolfgang Richter, »Militärische
Anfangsoperationen während des Georgienkriegs im August
2008«, in: Russland-Analysen, 193 (4.12.2009), S. 26–31.
Die Sezessionskonflikte Georgiens
gust 2008 politisch besiegelt wurde. Der Wille, Georgien zu züchtigen, war in Russland seit langem gereift
und vor allem von der westorientierten Außen- und
Sicherheitspolitik der georgischen Regierung motiviert.
Der Krieg katapultierte Südossetien, mit 3885 Quadratkilometern Fläche und damals etwa 70 000 Einwohnern mit Abstand kleinstes unter den postsowjetischen Sezessionsgebilden, in die Schlagzeilen der
Weltpresse und provozierte Schlagworte wie »neuer
Kalter Krieg« und »Wende in der Weltpolitik«. 15 Dass
gerade Südossetien für den Rückfall eines ungelösten
Sezessionskonflikts in offenen Krieg steht, ist insofern
bemerkenswert, als der Streit um dieses Territorium
lange Zeit als derjenige Regionalkonflikt im Südkaukasus galt, der sich noch am ehesten würde lösen
lassen. Bis Sommer 2004 bestanden Verkehrsverbindungen zwischen Zchinwali und Tiflis. In der Konfliktzone und den ihr vorgelagerten Gebieten in »Kerngeorgien« führten lokale Märkte Georgier und Osseten
zusammen. Zwar bestand der wirtschaftliche Austausch vorwiegend aus Schmuggel und Schwarzmarktgeschäften, an denen sich Osseten, Georgier
und russische Friedenstruppen beteiligten, sorgte aber
für gewaltfreie Kontakte. Südossetien hatte sich im
September 1990 für souverän erklärt und dies mit
einem Unabhängigkeitsreferendum im November
2006 untermauert. Obwohl also offen abtrünnig,
stand das Gebiet auf vielfältige Weise mit »Kerngeorgien« über leicht passierbares Flachland in Verbindung, während es von Nordossetien und Russland
durch Hochgebirge getrennt und von dort nur durch
ein Nadelöhr, den inzwischen weltbekannten RokiTunnel, zu erreichen ist. Mit Georgien gemeinsam
hatte Südossetien auch die besonders in seinen südlichen Bezirken vor dem Krieg vorherrschende georgisch-ossetische Streusiedlung. Es hätte zu einem
Musterfall für Konfliktlösung werden können. Stattdessen avancierte es zum abschreckenden Beispiel für
verpasste Gelegenheiten zur Konfliktregelung und für
den Rückfall in militärische Gewalt. 16
15 Zur Wahrnehmung des Krieges siehe Hans-Henning
Schröder (Hg.), Die Kaukasus-Krise. Internationale Perzeptionen
und Konsequenzen für deutsche und europäische Politik, Berlin:
Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2008 (SWPStudie 25/2008); dazu zuletzt Ronald D. Asmus, A Little War
That Shook the World. Georgia, Russia and the Future of the West,
New York 2010.
16 Otto Luchterhandt, »Gescheiterte Gemeinschaft. Zur
Geschichte Georgiens und Südossetiens«, in: Osteuropa,
58 (November 2008) 11, S. 97–110.
Der Streit um Südossetien war historisch weniger
belastet als die Kontroversen um Abchasien und BergKarabach. Zwar gehen auch hier die Ursachen bis in
vorsowjetische Zeit zurück, 17 aber dennoch war Südossetien weniger als die beiden anderen Regionen prädestiniert, beim Zerfall der Sowjetunion zum Gegenstand eines Sezessionskonflikts zu werden. Während
abchasische und armenische Aktivisten schon in sowjetischer Zeit Beschwerden gegen die übergeordnete
Republikgewalt vortrugen, stand das Südossetische
Autonome Gebiet kaum im Widerspruch zum übrigen
Georgien. Von der ossetischen Bevölkerung Georgiens
(1989: 164 000) lebte die Mehrheit außerhalb dieses
Gebiets in verschiedenen Teilen des Landes. Es gab
zahlreiche georgisch-ossetische Mischehen sowohl in
Südossetien als auch im übrigen Georgien. In Südossetien, das im georgischen Sprachgebrauch als »Region
von Zchinwali« oder mit dem historischen Landesnamen Samachablo bezeichnet wird, lagen ossetische
und georgische Siedlungen dicht beieinander. Im
Augustkrieg 2008 aber wurde die georgische Bevölkerung in einem Akt »ethnischer Säuberung« fast vollständig vertrieben und Südossetien »entgeorgisiert«.
Der erste, im Januar 1991 begonnene Krieg in Südossetien, der rund 1000 Todesopfer forderte, wurde im
Juni 1992 beendet, indem Georgien, Russland und Vertreter Nord- und Südossetiens ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten. Auf seiner Grundlage
wurde eine 1500 Mann umfassende Gemeinsame Friedenstruppe aus georgischen, russischen und nordossetischen Kontingenten aufgestellt, um den Waffenstillstand zu überwachen, die Konfliktparteien zu trennen
und Sicherheit in der Konfliktzone zu gewährleisten.
Als Forum für Verhandlungen und Dialog wurde eine
Gemeinsame Kontrollkommission aus vier Parteien (Russland, Georgien, Süd- und Nordossetien) gebildet, in der
Arbeitsgruppen sich um sicherheitsrelevante Fragen,
Wiederaufbau und Rückkehr der Flüchtlinge kümmern sollten. Die OSZE beobachtete die Friedenssicherung in Südossetien mit einem kleinen Team und
17 So wurden 1920 ossetische Aufstände in der Republik
Georgien von Truppen der menschewistischen Regierung
niedergeworfen, was zahlreiche Todesopfer forderte. 1922
wurden die ossetischen Siedlungsgebiete aufgeteilt: Nordossetien, später Autonome Republik, gehörte fortan zur RSFSR,
das Südossetische Autonome Gebiet mit der Hauptstadt Zchinwali
zur georgischen Unionsrepublik. Aus georgischer Sicht gibt
es kein historisches Subjekt »Südossetien«, sondern die Region Samachablo als Teil des georgischen Kernlandes, in die
Osseten aus ihrer historischen Heimat im Nordkaukasus
relativ spät eingewandert sind.
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
März 2010
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
unterstützte die Verhandlungen mit EU-Hilfe. Die EU
wurde zum Hauptgeber für Rehabilitationsprojekte
in Südossetien.
Eine Offensive zur Schmuggelbekämpfung, mit der
die neue georgische Regierung im Sommer 2004 einen
Vorstoß in die Konfliktzone unternahm, rief die Gewalt aus der Kriegsphase 1991/92 in Erinnerung. Diese
Aktion unterbrach Schmuggelgeschäfte, die empfindliche Einbußen für den georgischen Staatshaushalt
verursacht hatten, und war insofern mit der von der
»Rosenrevolution« angestrebten Wiederherstellung
von Staatlichkeit in Georgien zu legitimieren. Allerdings wurde Saakaschwilis Vorgehen auch mit einem
anderen Versprechen der »Rosenrevolutionäre« in
Zusammenhang gebracht: der baldigen »Rückholung
abtrünniger Landesteile«. Mit der Operation sollte
dem »separatistischen Regime« eine wichtige Einkommensquelle entzogen und die Kontrolle georgischer
Sicherheitskräfte in Südossetien erweitert werden. Die
Offensive gipfelte in Kämpfen mit südossetischen Milizen. Schon damals, im August 2004, stand Georgien
am Rand einer militärischen Auseinandersetzung mit
russischen Streitkräften, die noch einmal unterbunden werden konnte. Der Vorstoß nach Südossetien
wurde beendet, markierte aber einen nachhaltigen
Einschnitt in die russisch-georgischen Beziehungen,
die sich unter der neuen georgischen Regierung in
den ersten Monaten nach der »Rosenrevolution« noch
positiv entwickelt hatten. Russland mischte sich danach massiv in diesen Konflikt ein. Unter allen postsowjetischen Sezessionsterritorien stand Südossetien
nun am stärksten unter russischer Kontrolle. Funktionäre aus den Sicherheitsapparaten der Russischen
Föderation wurden in die »Gewaltministerien« für
Verteidigung und für innere Angelegenheiten, in den
Nationalen Sicherheitsrat, die Grenzschutzorgane und
die Präsidialadministration der »Republik Südossetien« entsandt. Zudem war seit dieser Operation Georgiens Glaubwürdigkeit beschädigt, was Initiativen zur
Vertrauensbildung gegenüber seinen abtrünnigen
Landesteilen betraf. Gleichwohl blieb Südossetien das
vorrangige Objekt für Präsident Saakaschwilis Politik
der forcierten Reintegration. Nach der gescheiterten
Aktion vom Sommer 2004 bevorzugte man in Tiflis
nun zivile Methoden und installierte in Südossetien
einen politischen Brückenkopf mit einer »provisorischen Verwaltung« unter Dmitri Sanakojew, welche
die Verwaltungshoheit über die georgischen Siedlungen Südossetiens erhielt.
Vor dem Augustkrieg 2008 standen sich die Streitparteien mit folgenden Positionen gegenüber: GeorSWP Berlin
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gien forderte, teilweise sekundiert vom Westen, eine
Erweiterung des OSZE-Monitorings in der Konfliktzone um Zchinwali und eine gemeinsame (russischgeorgische) Kontrolle über den Roki-Tunnel. 18 Außerdem sollten nach dem Willen Georgiens die bestehenden Mechanismen für Verhandlung und Friedenssicherung durch »internationalisierte«, also weniger
russlandlastige Formate ersetzt werden. 19 Die Gegenseite bestand mit russischer Rückendeckung darauf,
dass die bestehenden Formate beibehalten wurden,
und verlangte von Georgien vor allem eine Gewaltverzichtserklärung.
Wie sehr die beiden Sezessionskonflikte Georgiens
miteinander vernetzt sind, zeigte sich, als die Spannungen in Südossetien im Juli 2008 eskalierten, nachdem zuvor Abchasien im Blickfeld der internationalen
Politik gestanden und Deutschland einen Friedensplan für diese Konfliktzone vorgestellt hatte. Die südossetische Sezessionsregierung mobilisierte ihre militärischen Kräfte und evakuierte Kinder nach Nordossetien. In Abchasien hieß es nun, im Kriegsfall wolle
man eine zweite Front gegen Georgien eröffnen. Bewaffnete Freiwillige aus dem Nordkaukasus waren seit
Wochen in die beiden Gebiete eingesickert, um Osseten und Abchasen gegen einen georgischen Angriff
beizustehen. Seit langem genährte gegenseitige Feindbilder wurden aktiviert und Horrorgeschichten über
die Gewaltbereitschaft des Gegners verbreitet, so in
Südossetien die Version, Georgien bereite biologische
und andere Maßnahmen der Ausrottung von Osseten
und Abchasen vor. 20 In dieses Bild fügte sich die Darstellung des »Völkermordes«, die nach dem georgischen Artillerieangriff auf Zchinwali vom 7./8. August
2008 in russischen Medien kolportiert wurde und das
Kernstück der russischen Kriegspropaganda bildete.
Unter allen postsowjetischen Sezessionsgebilden
weist Südossetien mit einer verschwindend kleinen
Bevölkerungszahl und minimalen Wirtschaftsressourcen das geringste Potential für Eigenstaatlichkeit auf.
Daher tritt hier die Option auf den Anschluss an einen
anderen Staat, nämlich die Aufnahme in die Russische
Föderation und die Vereinigung mit der Teilrepublik
18 Der vier Kilometer lange Tunnel verbindet Nord- mit Südossetien. Aus georgischer Sicht wurden über ihn Munition
und Waffen aus Russland nach Südossetien geschmuggelt.
19 Als Mediationsrahmen schlug Georgien anstelle des Vierparteienformats der Gemeinsamen Kontrollkommission ein
2+2+2-Format vor (Georgien und die Sanakojew-Verwaltung,
Russland und das separatistische Regime, EU und OSZE).
20 Nachrichtenagentur Ossinform, zitiert in Caucasus Press,
5.8.2008.
Die Sezessionskonflikte Georgiens
Nordossetien, am stärksten hervor. Im Augustkrieg
wurde die Region weitgehend »entgeorgisiert«. Die
mehr als 20 000 Georgier, die vor allem in der Südhälfte der Region lebten, wurden vertrieben, ihre Dörfer und Häuser zerstört. Internationale Beobachter
werteten dies als »ethnische Säuberung«. 21 Im Unterschied zu Zigtausenden Vertriebenen aus der Pufferzone im georgischen Grenzgebiet zu Südossetien, die
bis 2009 mit auswärtiger Unterstützung in ihre Heimatorte zurückkehren konnten, wird dieser Bevölkerungsteil wohl auf Dauer in Flüchtlingssiedlungen
in »Kerngeorgien« leben. Doch auch die ossetische
Bevölkerung leidet unter den bis heute nicht behobenen Schäden aus zwei Kriegen. Die nach dem Augustkrieg 2008 verstärkten Geldflüsse aus Russland für
Wiederaufbauprojekte versickerten auf dem Weg, so
dass der Unmut in Russland gegenüber den Behörden
seines Protektorats wuchs. Ende September 2009 kam
es zur ersten größeren Protestaktion der lokalen Bevölkerung, weil nichts gegen die Misere getan wurde.
Abchasien – gescheiterte Konfliktprävention
Wie im Falle Südossetiens liegen die unmittelbaren
Ursachen des Abchasienkonflikts in der Phase der
»Souveränitätsparade«, als nationale Gebietseinheiten
sich aus der zerfallenden Sowjetunion lösten. Der
Konflikt hat aber tiefere historische Wurzeln. Schon
lange vor seiner Revitalisierung in der Zeit von 1989
bis 1991 und seiner gewaltsamen Austragung 1992 bis
1994 prallten antagonistische Vorstellungen über das
Verhältnis zwischen georgischer und abchasischer
Geschichte und Staatlichkeit aufeinander. 22 Der seit
1989 eskalierende Streit ging mit der Invasion georgischer Truppen nach Abchasien im August 1992 in
einen Krieg über, der schätzungsweise 8000 Todesopfer forderte und von massiven Menschenrechtsverletzungen begleitet war. Abchasischen Hinweisen
auf ungezügelte Gewalt georgischer Kampfverbände
gegen die nichtgeorgischen Teile der Zivilbevölkerung
in Abchasien halten die Georgier die Vertreibung von
250 000 ihrer Landsleute aus der Kriegszone entgegen
21 Vgl. Independent International Fact-Finding Mission,
Report [wie Fn. 12], Bd. 1, S. 28; Bd. 2, S. 394–400; Human
Rights Watch, Up in Flames. Humanitarian Law Violations and
Civil Victims in the Conflict over South Ossetia, New York, Januar
2009, <http://www.hrw.org/en/reports/2009/01/22/flames>.
22 Zur Behandlung der »abchasischen Frage« in sowjetischer
Zeit siehe Gerber, Georgien: Nationale Opposition und kommunistische Herrschaft [wie Fn. 10], S. 121–149.
und legen Wert darauf, dass dies als »ethnische Säuberung« anerkannt und die Rückkehr der Vertriebenen
von der internationalen Politik forciert wird. Die kriegerische Konfliktphase wurde unter aktiver Vermittlung Russlands durch das Moskauer Abkommen über
Waffenstillstand und Truppentrennung vom 14. Mai 1994
beendet. In den bewaffneten Auseinandersetzungen
waren die abchasischen Milizen von Kräften aus dem
Nordkaukasus militärisch unterstützt worden. Der
Krieg hinterließ in dem zuvor als sowjetisches Touristenparadies bekannten Landstreifen am Schwarzen
Meer bis heute kaum bereinigte Ruinenlandschaften.
In keiner anderen Konfliktzone haben sich Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung so drastisch verändert. Abchasien mit seinen 8700 Quadratkilometern
(12,5% des georgischen Staatsterritoriums) hatte 1989
rund 525 000 Einwohner. 45,7% entfielen auf den georgischen Bevölkerungsteil, kaum 18% auf die namengebende Volksgruppe, der Rest auf Armenier, Russen,
pontische Griechen und andere. Nach der Flucht von
angeblich 250 000 Georgiern aus der Kriegszone und
weiterer Migration aus dem wirtschaftlich ruinierten
Gebiet hat Abchasien heute kaum mehr als 200 000
Einwohner, darunter etwa 95 000 ethnische Abchasen.
Für die georgische Seite ist die Auseinandersetzung
um Abchasien kein interethnischer und innerstaatlicher Konflikt, sondern eine Last, die Georgien von
Russland auferlegt wurde. Die abchasische Seite erzählt eine andere Geschichte. Sie sah sich mit einem
»georgischen Chauvinismus« konfrontiert, der beim
Übergang von der sowjetischen in die nachsowjetische
Periode autonome Gebietskörperschaften und Minderheiten verprellte. Nach der »Rosenrevolution« habe
die georgische Führung an diesen nationalistischen
Ausgangspunkt wieder angeknüpft, lautet der Vorwurf aus Suchumi.
In dem seit Frühjahr 2008 wieder zugespitzten Konflikt versuchte die deutsche Diplomatie mit einer Abchasien-Initiative zu vermitteln. Außenminister FrankWalter Steinmeier legte einen dreistufigen Friedensplan vor, der die Statusfrage hinter lösbar erscheinende Probleme zurückstellte. Gleichwohl lautete die Antwort aus Abchasien, der politische Status sei bereits
geklärt, nämlich mit der Unabhängigkeit von Georgien. Zwei Monate zuvor hatte Tiflis neue Angebote
an die abchasische Seite gerichtet: uneingeschränkte
Autonomie, Föderalismus, Sicherheitsgarantien und
friedliche Entwicklung im Bestand eines einheitlichen
georgischen Staates. Abchasische Vertreter sollten in
nationalen Machtorganen bis zum Posten eines Vizepräsidenten repräsentiert sein und ein Vetorecht bei
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
Verfassungsänderungen haben. Abchasische Sprache
und Kultur sollten durch Gesetze geschützt werden.
Doch die Gegenseite lehnte das großzügig wirkende
Angebot ab und verwies auf ihre längst konstituierte
Eigenstaatlichkeit und die geringe Vertrauenswürdigkeit des Gegners. 23 Was die in internationalen
Lösungsvorschlägen behandelte Frage der Rückkehr
georgischer Flüchtlinge nach Abchasien betrifft, wies
die abchasische Seite darauf hin, dass bereits zwischen
45 000 und 60 000 Georgier in ihre Heimatdörfer im
Landesteil Gali zurückgekehrt seien. Darüber hinaus
sei es für das »unabhängige Abchasien« unzumutbar,
wenn die georgische Bevölkerung abermals die Mehrheit stelle. 24 Auf den deutschen Friedensplan
erwiderte De-facto-Präsident Bagapsch, die Rückkehr
aller georgischen Flüchtlinge nach Abchasien werde
zu neuem Krieg führen. 25 Für die abchasische Seite
fallen dabei historische Traumata ins Gewicht, die das
Bild eines kleinen, ungeschützten Volks prägen. Dazu
gehören Vertreibung und Flucht Zigtausender
Abchasen beim Anschluss der Region an das Zarenreich und eine Politik der »Georgisierung« Abchasiens
zwischen 1939 und 1957.
Im Abchasienkonflikt hatte sich Russland das Monopol für Peacekeeping verschafft. Die Sicherheitszone
am Grenzfluss Inguri wurde, entsprechend dem Moskauer Waffenstillstandsvertrag vom 14. Mai 1994, von
(maximal 3000) russischen Soldaten unter GUS-Mandat überwacht. Die Operation dieser Friedenstruppen
wurde von der United Nations Observer Mission in Georgia
(UNOMIG) beobachtet, die der VN-Sicherheitsrat im
August 1993 eingerichtet hatte. 26 Diesem Format setz23 Jurij Simonjan, »Suchumi otkazalsja ot pol’nogo federalizma« [Suchumi lehnt vollständigen Föderalismus ab], in:
Nezavisimaja gazeta, 31.3.2008.
24 Premierminister Ankwab in einem Spiegel-Interview
dazu: »Das können wir aus Sicherheitsgründen nicht zulassen. Wir werden uns hier nicht eine Bevölkerungsmehrheit
schaffen, die unsere schwer errungene Republik abschaffen
will. Dann würde vom abchasischen Volk, seiner Kultur und
Sprache nicht viel übrig bleiben.« Zitiert in Spiegel Online,
1.6.2008.
25 Nikolaus von Twickel, »Steinmeier Promotes Plan for
Abkhazia«, in: The Moscow Times, 21.7.2008.
26 Die Aufgaben von UNOMIG bestanden darin, die Umsetzung des Waffenstillstands von 1994 zu verifizieren, die Operation der GUS-Friedenstruppe zu beobachten, unerlaubte
Truppen- und Waffenbewegungen zu melden, regelmäßig im
unkontrollierten Kodori-Tal zu patrouillieren, dem VN-Generalsekretär regelmäßig Bericht zu erstatten, mit beiden Konfliktparteien engen Kontakt zu halten und zu Bedingungen
beizutragen, die eine Rückkehr von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen ermöglichten.
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te die georgische Regierung die Forderung nach Internationalisierung entgegen und wünschte hier insbesondere ein stärkeres Engagement der EU. Seit Frühjahr 2008 gelangte man zwar in Europa zur Einsicht,
dass Russland kaum noch als neutraler Peacekeeper in
den Konfliktzonen Georgiens gelten konnte. Man war
aber nicht bereit, Moskau mit einer harten sicherheitspolitischen Alternative zu dem bestehenden Format
herauszufordern.
Stärker als in anderen »eingefrorenen Konflikten«
waren hier zivilgesellschaftliche Organisationen an
Konfliktbearbeitung beteiligt, traten neben den VNgeleiteten diplomatischen Bemühungen Nichtregierungsorganisationen und »grassroot«-Akteure in Erscheinung. Internationale NGOs wie International
Alert, Conciliation Resources, University of California
und Berghof Forschungszentrum für konstruktives
Konfliktmanagement in Berlin engagierten sich mit
Netzwerkbildung, Medienprojekten und einer Reihe
von Seminaren, bei denen sich teilweise hochrangige
Vertreter der Streitparteien begegneten. 27 In Abchasien bestanden im Vergleich mit anderen Konfliktzonen relativ günstige Bedingungen, die Zivilgesellschaft an der Konfliktbearbeitung zu beteiligen. Auch
in Georgien ist die Zivilgesellschaft stärker ausgeprägt
als in Nachbarländern. 28 Doch mit dem georgischen
militärischen Vorstoß in das obere Kodori-Tal erlitten
Vertrauensbildungsprozesse, die von Volksdiplomatie
unterstützt wurden, bereits im Sommer 2006 einen
Rückschlag.
Seit April 2008 eskalierten im Umfeld Abchasiens
die Spannungen zwischen Georgien und Russland.
Russland reagierte auf die einseitige Unabhängigkeitserklärung Kosovos und stieg aus einem von der GUS
1996 vereinbarten Embargo gegenüber Abchasien aus.
In einem Erlass vom 16. April 2008 befahl der russische Präsident noch engere Beziehungen zwischen
russischen Staatsbehörden und ihren Pendants in Abchasien und Südossetien. Russland hatte schon zuvor
27 Oliver Wolleh, A Difficult Encounter. The Informal GeorgianAbkhazian Dialogue Process, Berlin, September 2006 (Berghof
Report Nr. 12).
28 Ernst Piehl, Organisierte Zivilgesellschaft in Georgien, Armenien
und Aserbaidschan im Kontext der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Studie für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss, Brüssel 2008, Kapitel 2.4.: »Zivilgesellschaftliche
Ansätze in den Sezessionsgebieten«; Kaufmann, »Der weite
Weg zur ›Zivilgesellschaft‹« [wie Fn. 6], Abschnitt »Zivilgesellschaft als Konfliktlösungselement«, S. 17f. Eine sehr kritische
Einschätzung zur »Zivilgesellschaft« im Kaukasus gibt
Jonathan Wheatley, »Civil Society in the Caucasus. Myth and
Reality«, in: Caucasus Analytical Digest, (22.1.2010) 12, S. 2–7.
Die Sezessionskonflikte Georgiens
Wirtschaftsbeziehungen mit der Sezessionsrepublik
geknüpft und damit das GUS-Embargo unterlaufen,
das nur die Einfuhr lebenswichtiger Güter nach Abchasien erlaubte und für alle übrigen Wirtschaftsaktivitäten dort das Einverständnis der georgischen Regierung verlangte. Die Restriktionen wurden ohnehin
durch mannigfachen Schmuggel umgangen, der Abchasien mit dem russischen, aber auch dem türkischen Wirtschaftsraum verband und in den Russen,
Georgier, abchasische Behörden, Geheimdienste und
Friedenstruppen involviert waren. Die Eskalation setzte sich fort, als georgische Aufklärungsdrohnen über
Abchasien abgeschossen wurden. Georgien konzentrierte Truppen im Grenzgebiet zu Abchasien und
beklagte seinerseits, Russland verstärke sein Friedenstruppen-Kontingent in Abchasien mit Waffen- und
Truppengattungen, die das Waffenstillstandsabkommen nicht gestatte. Ende Mai schickte Russland
Eisenbahntruppen nach Abchasien, um beschädigte
Bahnlinien zu reparieren. Im Vorfeld des neuerlichen
Kaukasuskrieges erlangte diese »humanitäre Aktion«
militärische Bedeutung, wurden doch über diese
Bahnlinien im »Fünftagekrieg« russische Truppen
nach Westgeorgien befördert.
Vor dem Augustkrieg 2008 vertraten die Kontrahenten folgende gegensätzliche Positionen im Abchasienkonflikt: Georgien forderte erstens einen Fahrplan für
die Rückkehr georgischer Flüchtlinge in ihre Heimatorte in ganz Abchasien (und zwar in einer frühen
Phase der Verhandlungen, nicht erst an deren Ende),
zweitens die Internationalisierung der bis dato rein
russischen Peacekeeping-Operation und drittens die
Rücknahme des Präsidentenerlasses vom 16. April
2008 über die offizielle Zusammenarbeit zwischen
russischen und abchasischen Staatsorganen. Unterstützt von Russland forderte die Gegenseite erstens
den georgischen Rückzug aus dem oberen Kodori-Tal,
zweitens die bedingungslose Unterzeichnung einer
Gewaltverzichtserklärung durch Georgien sowie drittens eine nur allmähliche und begrenzte Rückkehr
der Flüchtlinge, und das allenfalls nach Wiederherstellung gegenseitigen Vertrauens, also am Ende eines
Verhandlungsprozesses. Begleitet wurden diese Kontroversen von ständigen Provokationen zwischen den
Konfliktparteien.
Anfang August 2008 verlagerte sich der »countdown to war« auf Südossetien. Da kurz zuvor der deutsche Friedensplan für Abchasien vorgestellt worden
war, erklärten georgische Kommentatoren diese Entwicklung mit dem russischen Bestreben, europäische
Friedensbemühungen im Südkaukasus zu durchkreu-
zen. 29 Ihrerseits hatte die georgische Führung Ansätze
von Vertrauensbildung mit dem Gegner in Abchasien
zunehmend untergraben. Dabei belastete vor allem
die Situation im oberen Kodori-Tal in Oberabchasien
seit Sommer 2006 die Beziehungen. Damals rückten
georgische Sicherheitskräfte in das von einem Warlord kontrollierte Gebiet ein und ließen dort fortan
eine (aus vertriebenen Georgiern bestehende) Exilregierung residieren. Seitdem waren die Verhandlungskontakte zwischen den Konfliktparteien unterbrochen. Zur wichtigsten Voraussetzung für weitere
Verhandlungen erhoben Abchasien und Russland den
Abzug georgischer Truppen aus diesem Tal. Sie interpretierten die georgische Präsenz dort als Sprungbrett
für die Rückeroberung Abchasiens. Tiflis behauptete,
im Kodori-Tal lediglich Polizeikräfte, kein Militär stationiert zu haben, und lud ausländische Reporter und
UNOMIG-Vertreter in die Region ein, um zu zeigen,
dass von Truppenmassierung nicht die Rede sein könne. 30 Allerdings wiesen georgische Politiker selbst wiederholt darauf hin, dass mit dem Vorstoß ins KodoriTal die Rückkehr nach Abchasien eingeleitet worden
sei. 31
Abchasiens Territorium entlang der Schwarzmeerküste hat für Russland größere strategische Bedeutung als das Südossetiens. Als deutliches Zeichen dafür
kann gelten, dass nach dem Krieg und der diplomatischen Anerkennung Abchasiens neue russische Militärbasen dort errichtet und zuvor geschlossene wieder
in Betrieb genommen wurden. Der russische Regierungschef Putin stellte bei einem Besuch in Suchumi
am 12. August 2009 für das kommende Jahr Investitionen von 340 Millionen Euro für ein Militärprogramm in Abchasien und für Grenzsicherung in Aussicht. Dazu kommen Gelder für Sozialleistungen und
den Aufbau der noch vom Krieg 1992/93 geschädigten
Infrastruktur. Vor August 2008 bestand die »schleichende Annexion« Abchasiens in der Durchdringung
mit russischem Kapital und mit Tourismus aus Russland, vor allem aber in der Verteilung russischer Pässe
an mehr als 90 Prozent der Einwohner Abchasiens,
von denen nur eine Minderheit ethnische Russen sind.
29 Giorgi Lomsadze, »Georgia: Tensions Flare over Breakaway
South Ossetia«, Eurasianet – Civil Society, 4.8.2008.
30 »Georgia Brings Foreign Reporters in Kodori«, Civil Georgia,
19.5.2008.
31 So Präsident Saakaschwili: »Wir Georgier sind eine sehr
geduldige Nation. Aber ich möchte, dass die Welt zur Kenntnis nimmt: Unsere Geduld ist langsam erschöpft. Wir starten
den Countdown für die Rückkehr nach Abchasien.« Zitiert in
Civil Georgia, 6.10.2007.
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
Zudem spielt der Landstreifen am Schwarzen Meer
eine exponierte wirtschaftliche und logistische Rolle
beim Aufbau einer »Olympischen Zone« für die Winterolympiade im nahen Sotschi 2014.
Gleichzeitig betont man in Abchasien die Eigenständigkeit auch gegenüber Russland. Trotz hoher
Abhängigkeit von seinem Protektor sieht sich Abchasien nicht als dessen Marionette, sondern als staatliche Entität, die eine strategische Position am Schwarzen Meer besitzt und in internationale Verbindungen
treten möchte. Im abchasischen Präsidentschaftswahlkampf im Dezember 2009 wurde geargwöhnt, Abchasien betreibe seinen »Ausverkauf an Russland«. Deshalb sollte Europa Abchasien nicht als russisches Protektorat betrachten und in internationaler Isolation
belassen, sondern statusneutrale Kontakte zu ihm
erwägen und georgische Bemühungen um zivile Beziehungen über den Grenzfluss Inguri hinweg unterstützen. Im Dezember 2009 diskutierten die Botschafter
der EU-Staaten ein Papier über Kontakte zu Abchasien
und Südossetien unter der Bedingung der Nichtanerkennung. 32 Bei künftigem EU-Engagement in Abchasien sind freilich Vorbehalte zu überwinden, die in der
dortigen Bevölkerung gegen die EU wegen ihrer Unterstützung Georgiens teilweise stark ausgeprägt sind.
Zudem gilt es, die Situation im Landesteil Gali zu beachten, aus dem Nachrichten über diskriminierende
Maßnahmen gegenüber der dortigen georgischen Bevölkerung an die Öffentlichkeit drangen. Die Rede ist
von Russifizierung der Schulen und dem Zwang, abchasische Pässe anzunehmen.
Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt
im postsowjetischen Raum
Der Konflikt um das zu Aserbaidschan gehörende,
aber überwiegend von Armeniern bewohnte autonome Gebiet Berg-Karabach bildete den ersten gravierenden »ethnischen Störfall« in der Reformperiode unter
Gorbatschow. Er warf einen Zukunftsschatten auf eine
Vielzahl ethno-territorialer Streitigkeiten, die beim
Zerfall der Sowjetunion aufkamen. Seine Akteure, vor
allem armenische Intellektuelle, machten am frühesten Gebrauch von den durch Glasnost veränderten Artikulationsmöglichkeiten für nationale Anliegen. Spä32 »Non-paper on the Parameters for EU’s Non-recognition
and Engagement Policy for Abkhazia and South Ossetia«,
zitiert in International Crisis Group (ICG), Abkhazia: Deepening
Dependence, Suchumi u.a., 26.2.2010 (ICG Europe Report Nr.
202), S. 12.
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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testens mit dem Antrag des Autonomen Gebiets BergKarabach auf Transfer von der Aserbaidschanischen
zur Armenischen Unionsrepublik im Februar 1988
wurde die Welt auf den Karabachkonflikt aufmerksam. Die als Schlüsselkonflikt im Südkaukasus behandelte Karabachfrage ist Haupthindernis für eine intraregionale Kooperation, die alle drei südkaukasischen
Staaten einbezieht. Internationale Finanzorganisationen haben die Kosten berechnet, die der Konflikt
einem durch Grenzblockaden eingeschränkten Land
wie Armenien auferlegt. Mit ökonomischen Anreizen
konnte er allerdings nicht überwunden werden. Erst
der Krieg in Georgien gab dafür neue Impulse. Er führte Armenien seine einseitige Transitabhängigkeit von
Georgien vor Augen und verstärkte den Wunsch, die
Grenze zur Türkei zu öffnen, die diese 1993 wegen des
Karabachproblems geschlossen hatte. Auf diese Weise
erhielten diplomatische Annäherungsversuche zwischen der Türkei und Armenien neuen Schub, die
schon vor dieser Krise eingeleitet worden waren.
Der Karabachkonflikt weist die stärkste zwischenstaatliche Dimension auf. Im bestehenden Verhandlungsformat unter Leitung der Minsker OSZE-Gruppe
gelten nur Armenien und Aserbaidschan als Streitparteien. Berg-Karabach selbst wurde auf Druck Aserbaidschans 1997 aus dem Format ausgeschlossen.
Dabei sind Frieden und Friedensvertrag nur möglich,
wenn alle involvierten Kontrahenten sich wechselseitig als Parteien anerkennen. Zu ihnen gehört BergKarabach genauso wie die aus ihm vertriebene aserbaidschanische Gemeinde.
Obwohl auch dieser Konflikt nicht mit einem
durchgängig problembeladenen Verhältnis und weit
in die Vergangenheit zurückreichendem Hass zwischen zwei Volksgruppen erklärt werden kann, hat
er von den hier behandelten Fällen doch den tiefsten
historischen Hintergrund. Der Karabachkrieg 1991–
1994 gilt als der dritte armenisch-aserbaidschanische
Waffengang nach 1905/06 und 1918–1920. Die Streitparteien selbst greifen mit ihren historischen Besitzansprüchen auf das umstrittene Gebiet bis ins Altertum zurück. Demnach ist Berg-Karabach oder Arzach
in der armenischen Darstellung ein »ur-armenisches«
Gebiet, von dem in der neueren Geschichte des Armeniertums Anstöße zur nationalen Einigung ausgingen. In der aserbaidschanischen Historiographie
dagegen ist die Region Teil des antiken und frühmittelalterlichen kaukasischen Albanien, das als
Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt im postsowjetischen Raum
Karte
Südkaukasus/Berg-Karabach
Quelle: Modifizierte Darstellung nach Thomas de Waal, Black Garden [wie Fn. 34], S. xii
integraler Bestandteil aserbaidschanischer Geschichte
behandelt wird. 33
Gemeinsam mit den Tschetschenienkriegen und
dem Bürgerkrieg in Tadschikistan (1992–1996) gehört
die kriegerische Phase dieses Konflikts mit schätzungsweise 30 000 Todesopfern zu den schlimmsten Gewaltereignissen nachsowjetischer Geschichte. Sie erfüllt
das Vollbild des »ethnic war« 34 mit ethnischen Säube33 Michael H. Kohrs, »Geschichte als politisches Argument.
Der ›Historikerstreit‹ um Berg-Karabach«, in: Fikret Adanir/
Bernd Bonwetsch (Hg.), Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus, Wiesbaden 2005, S. 43–63; Eva-Maria Auch, »Berg Karabach – Krieg um den ›Schwarzen Garten‹«, in: von Gumppenberg/Steinbach (Hg.), Der Kaukasus [wie Fn. 9], S. 113–124.
34 Stuart J. Kaufman, Modern Hatreds. The Symbolic Politics of
Ethnic War, Ithaca/London: Cornell University Press, 2001,
S. 49–83; zu Konflikt- und Kriegsverlauf sowie historischem
Hintergrund siehe Thomas de Waal, Black Garden. Armenia and
rungen und immensen Fluchtbewegungen. Diese
gegenseitige Gewalterfahrung hat Vergeltungs- und
Sicherheitsbedürfnisse erzeugt, die Kompromissbereitschaft verhindern. Auf armenischer wie aserbaidschanischer Seite spielt Geschichts- und Erinnerungskultur
eine bedeutende Rolle. Große Anstrengungen werden
unternommen, um die Welt über die Untaten des jeweiligen Gegners zu informieren. 35 Diese Kultivierung
Azerbaijan through Peace and War, New York/London 2003.
35 Die Armenier begehen den »Tag von Sumgait«, der an Pogrome gegen die armenische Bevölkerung in Aserbaidschan
im Februar 1988 erinnern soll. Demgegenüber gedenkt Aserbaidschan des Massakers an der aserbaidschanischen Zivilbevölkerung in der Stadt Chodschali durch armenische Truppen im Februar 1992, das auch von Human Rights Watch als
größtes Kriegsverbrechen im Karabachkonflikt gewertet wird.
Die armenische Seite hält dem wiederum einen anderen Ortsnamen entgegen: Maragha, ein von aserbaidschanischen
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Gemeinsamkeiten und Unterschiede ungelöster Sezessionskonflikte
Sicherheitsgarantien für Berg-Karabach durch
internationales Peacekeeping
Im August 2009 legten die Ko-Vorsitzenden eine
ergänzte Version des Madrider Dokuments vor. Darin
betraf ein zusätzlicher Punkt
einen Interim-Status für die »Republik Berg-Karabach«, der ihre Sicherheit und ihr Recht auf »selfgovernance« bis zur endgültigen Statusklärung
garantieren soll.
Obwohl angeblich bereits weitreichende Kompromisse zwischen den Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans erzielt wurden, bleiben vor allem zwei
Fragen weiterhin umstritten. Zum einen regt sich in
weiten Teilen der armenischen Öffentlichkeit Widerstand gegen die Rückgabe der besetzten Territorien.
Die sieben Regionen figurieren in Berg-Karabachs Verfassung als »Sicherheitszone«. Zum anderen herrscht
Uneinigkeit über ein zukünftiges Referendum zum
endgültigen Status Berg-Karabachs. Die »basic principles« stoßen zumindest bei einer Streitpartei, nämlich in Berg-Karabach selbst, weitgehend auf Ablehnung, wobei man hier besonders beklagt, dass man
seit langem nicht mehr in den Verhandlungsprozess
einbezogen war.
Mit dem Karabachproblem sind auch andere internationale und regionale Organisationen befasst (VN,
Europarat, GUS, GUAM, OIC). Die Vereinten Nationen
verabschiedeten 1993 vier Resolutionen und forderten
darin den Rückzug armenischer Truppen. Sie setzten
aber weder eine Frist noch verhängten sie Sanktionen.
Auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats stellte die Okkupation beträchtlicher Teile des
aserbaidschanischen Staatsterritoriums durch armenische Truppen fest. Die EU ist in der Karabachfrage am
wenigsten engagiert und in der Konfliktbearbeitung
offiziell nicht vertreten. Sie hat lediglich die Verpflichtung zur friedlichen Konfliktlösung in ihre mit
Armenien und Aserbaidschan 2006 vereinbarten
Aktionspläne im Rahmen der Nachbarschaftspolitik
aufgenommen. Die EU könnte sich intensiver an der
Konfliktbearbeitung beteiligen, indem sie den von
Frankreich vertretenen Ko-Vorsitz in der Minsker
Gruppe übernimmt. Allerdings wird bezweifelt, dass
Veränderungen und Erweiterungen des MediationsTruppen im April 1992 erobertes und in Brand gesetztes Dorf.
formats wesentliche Fortschritte bringen werden.
36 Siehe besonders Rexane Dehdashti, Internationale Organisationen als Vermittler in innerstaatlichen Konflikten. Die OSZE und
Der Streit um Berg-Karabach wird gern in einen
der Berg Karabach-Konflikt, Frankfurt a.M./New York: Campus
geopolitischen Kontext gestellt, in dem es vor allem
Verlag, 2000.
um die Energieressourcen der kaspischen Region und
37 1992/93 besetzten armenische Truppen folgende Territoihre kaukasischen Transportwege geht. Aserbaidschan
rien in der Umgebung Berg-Karabachs: Latschin (1835 km2),
ist das Schlüsselland für Energiepolitik im Kaukasus.
Kälbäcär (1936 km2), Cäbrayil (1059 km2), Qubadli (802 km2),
Die tägliche Ölproduktion ist hier auf knapp 900 000
Agdam (1093 km2), Füzuli (1386 km2) und Zängilan (707 km2).
der Opfer- und Feindbilder macht es den politisch
Verantwortlichen auf beiden Seiten denkbar schwer,
sich auf Kompromisse zu einigen und diese ihren Gesellschaften zu vermitteln.
Hauptmediator in diesem Konflikt ist die seit 1992
tätige Minsker Gruppe der OSZE, die in mehreren Phasen und mit wechselnden Formaten (seit 1997 mit den
Ko-Vorsitzenden Russland, Frankreich und USA) zwischen den Streitparteien vermittelte. Verhandelt wurden kontroverse »Paket-« und »Etappenlösungen«. 36 In
Aserbaidschan wuchs die Frustration über die festgefahrene Konfliktbearbeitung und die Hinnahme eines
völkerrechtswidrigen Zustands, nämlich dass armenisches Militär einen bedeutenden Teil aserbaidschanischen Staatsterritoriums besetzt hält. Aserbaidschans
territoriale Integrität, von der internationalen Gemeinschaft anerkannt, wird nicht nur durch die mit
nationaler Selbstbestimmung begründete Sezession
Berg-Karabachs verletzt, sondern auch durch die Besetzung sieben umliegender aserbaidschanischer Provinzen durch armenische Truppen. 37 Der größte Teil
der auf rund eine Million geschätzten aserbaidschanischen Flüchtlinge und Binnenvertriebenen des Karabachkrieges stammt aus diesen Provinzen. Mit gut
einem Achtel seiner Bevölkerung hat Aserbaidschan
damit weltweit einen der höchsten Anteile an Vertriebenen.
Die Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe haben verhandelbare »basic principles« herausgearbeitet und
auf einem Treffen der Konfliktparteien in Madrid im
November 2007 fixiert. Sie umfassen:
den Rückzug armenischer Truppen aus der
Umgebung Berg-Karabachs (zumindest aus fünf
der sieben Provinzen)
einen Korridor zwischen Berg-Karabach und der
Republik Armenien
die gesicherte friedliche Rückkehr der Vertriebenen
an ihre Heimatorte
internationale Wiederaufbauhilfe
ein zukünftiges Referendum über den Status BergKarabachs
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Berg-Karabach – der älteste Regionalkonflikt im postsowjetischen Raum
Barrel gestiegen (1997: 180 000). Der Erdgasexport
betrug 2009 6,5 Milliarden Kubikmeter und soll auf
9 Milliarden gesteigert werden. Im Zusammenhang
mit dem ungelösten Konflikt und seiner Verbindung
mit dem türkisch-armenischen Annäherungsprozess
(s. unten) vollziehen sich seit Ende 2009 wichtige
Änderungen in der aserbaidschaischen Außenpolitik.
Dazu gehören tiefe Irritationen im »brüderlichen«
Verhältnis Aserbaidschans zur Türkei. Auch die Beziehungen zu den USA sind abgekühlt, weil diese den
türkisch-armenischen Annäherungsprozess angeblich
ohne Rücksicht auf Aserbaidschans Position im Karabachkonflikt unterstützen, auf der Trennung dieses
Prozesses von der Karabachfrage beharren und zudem
Berg-Karabach Finanzhilfe in Höhe von 8 Millionen
US-Dollar gewähren wollen.
Die historischen Regionalmächte Türkei und Iran
sind von der Mediation im Karabachkonflikt vorläufig
ausgeschlossen. Die Türkei steht aus armenischer
Sicht Aserbaidschan, der Iran aus aserbaidschanischer
Sicht Armenien zu nahe. Wie sieht es mit der historischen Regionalmacht Russland aus? Für viele Beobachter liegt der Schlüssel zur Lösung des Problems in Moskau, weil Russland von seinem engen Verbündeten
Armenien Kompromisse erzwingen könnte. Dennoch
gab es zwischen Russland und westlichen Akteuren
über Berg-Karabach weit weniger Unstimmigkeiten als
im Falle der Sezessionskonflikte Georgiens. Russland
und die USA bevorzugen in ihrer Funktion als Ko-Vorsitzende der Minsker Gruppe eher die Kooperation.
Beim Jahreswechsel 2009/10 sprachen sich beide dafür
aus, die Diplomatie im Fall Berg-Karabach zu intensivieren und diesen vom türkisch-armenischen Dialog
zu trennen. Trotz dieses relativen Vorteils konnten
externe Akteure aber bislang keinen wirklichen
Durchbruch in der Konfliktbearbeitung erreichen.
Dies hatte vor allem zwei Gründe. Erstens hat der
Konflikt einen starken Einfluss auf die Innenpolitik in
Aserbaidschan und Armenien. 38 Es ist bezeichnend,
dass ein »window of opportunity« für Kompromisse
stets nur dann gesehen wurde, wenn in keinem der
beiden Länder Wahlen anstanden. Auch in dieser
Hinsicht brachte die Georgienkrise Bewegung in die
verfahrene Situation. Obwohl im Jahr 2008 in Aserbaidschan und in Armenien gewählt werden sollte,
wagten sich ihre Präsidenten auf die Verhandlungsbühne. Nach dem Augustkrieg trafen sie sich so oft
wie nie zuvor – allein sechs Mal von November 2008
bis November 2009, so am 18. November 2009 in
München. Zweitens ist die Konfliktbearbeitung in
diesem Fall weitgehend auf die hohe Diplomatie
beschränkt. Hinter dieser Track-1-Ebene, deren Bemühungen von den Streitparteien und ihren Bevölkerungen als diplomatisches Ritual wahrgenommen
werden, treten zivilgesellschaftliche Aktivitäten
zurück. Obwohl die Volksdiplomatie nach dem Karabachkrieg Erfolge beim Austausch von Kriegsgefangenen erzielt hatte, sind die für Frieden und Kompromiss eintretenden zivilen Kräfte auf beiden Seiten
gegenüber ihren Widersachern deutlich im Nachteil.
Sie laufen Gefahr, als innerer Feind dargestellt zu
werden, der nationale Positionen aufgeben will, und
sind dem Druck ausgesetzt, den die Regierungen
(besonders in Aserbaidschan) auf zivilgesellschaftliche
Akteure ausüben.
Nach der Zäsur vom August 2008 startete Russland
eine Friedensoffensive für Berg-Karabach, die eine Kontrastfolie zu seinem militärischen Vorgehen gegen
Georgien bot. Präsident Medwedew lud seine Amtskollegen aus Armenien und Aserbaidschan im November 2008 nach Moskau ein und konnte sie dazu bewegen, sich zu friedlicher Konfliktlösung auf der Grundlage der »basic principles« zu bekennen. Erstmals in
der Geschichte der Auseinandersetzungen unterzeichneten die Präsidenten eine gemeinsame Erklärung. So hat die Georgienkrise Bewegung in die Verhandlung des benachbarten Konflikts gebracht. Dies
kann sich aber nur unter zwei entscheidenden Voraussetzungen als nachhaltig erweisen: dass erstens
externe Akteure wie Russland, die westlichen Ko-Vorsitzenden der Minsker Gruppe und die Türkei kooperieren und nicht konkurrieren und dass zweitens alle
Streitparteien aus der Georgienkrise die Lehre ziehen,
dass die militärische Option keine Konflikte löst. Von
einem Durchbruch sind die Verhandlungen über die
Karabachfrage nach wie vor ein gutes Stück entfernt.
Vielmehr belastete diese gegen Ende des Jahres 2009
den türkisch-armenischen Annäherungsprozess, auf
den noch einzugehen sein wird.
38 Kompromissbereitschaft in diesem Konflikt kann für den
sie vertretenden Politiker vernichtende innenpolitische Folgen haben. Dies zeigte der Fall des ersten armenischen Präsidenten Ter-Petrosjan. Er musste 1998 aus dem Amt scheiden,
nachdem er das Kompromissmodell einer »Etappenlösung«
im Karabachkonflikt angestrebt hatte.
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Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen
Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen
Zu den überregionalen Aspekten des russisch-georgischen Gegensatzes, der die ungelösten Sezessionskonflikte überlagerte, gehörten Solidaritätsbeziehungen
von der Ostsee über den Schwarzmeerraum bis zum
Kaspischen Meer. Sie richteten sich gegen »neo-imperiale Ambitionen« Russlands gegenüber seinem »nahen
Ausland« und fanden ihren Niederschlag in einer
Community of Democratic Choice, die im Dezember 2005
vom ukrainischen Präsidenten Juschtschenko und
seinem georgischen Amtskollegen Saakaschwili aus
der Taufe gehoben wurde. Pate standen damals die
Außenminister der USA und Polens. Obwohl dies ein
rein virtuelles Integrationsprojekt blieb, fühlte sich
Russland vor allem von Solidaritätsbeziehungen zwischen Kiew und Tiflis provoziert und bezichtigte ukrainische Verbände zusammen mit anderen »ausländischen Söldnern«, im Augustkrieg 2008 auf georgischer
Seite gekämpft zu haben.
Auf regionaler Ebene vernetzten sich nord- und
südkaukasische Akteure: kaukasische Volksgruppen
der Russischen Föderation mit der Nationalbewegung
der ihnen ethnisch verwandten Abchasen, Nordossetien mit Südossetien, Kosakenverbände mit Kräften,
die sich gegen das prowestliche Georgien positionierten. Schon vor dem neuerlichen Kaukasuskrieg von
2008 wiesen russische und georgische Quellen darauf
hin, dass Kämpfer und Waffen aus russischen Föderationssubjekten des Nordkaukasus in die beiden georgischen Konfliktzonen einsickerten. Dies erinnerte
an ähnliche Vorgänge während der Sezessionskriege
1991–1993. 39
Auf der Ebene der weiteren Schwarzmeerregion
blockieren die ungelösten Regionalkonflikte internationale und intraregionale Beziehungen. Der (hier
nicht behandelte) Transnistrienkonflikt belastet die
Beziehungen zwischen Russland, Ukraine und Moldova, die Auseinandersetzungen um Abchasien und
Südossetien erschweren diejenigen zwischen Russland
und Georgien und das Karabachproblem beeinträchtigt diejenigen zwischen Armenien, Aserbaidschan
39 Damals hatte eine Konföderation kaukasischer Bergvölker vom
Staatsgebiet Russlands aus abchasische Kampfverbände gegen
georgische Truppen unterstützt und maßgeblich dazu beigetragen, dass diese sich gegenüber dem militärisch überlegenen Gegner behaupten konnten.
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und der Türkei. Was den Schwarzmeerraum betrifft,
setzte die EU eine aktivere Rolle in der Konfliktbearbeitung erst an die dritte Stelle der Prioritäten ihres
Projekts Black Sea Synergy – nach der Förderung von
Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit und der Sicherheit gegenüber Schmuggel und
illegaler Migration, aber noch vor der energiepolitischen Zusammenarbeit. 40 Fortschrittsberichte zu
Black Sea Synergy zeigten, dass bei der Umsetzung
andere Handlungsfelder wie Umwelt, Fischerei, Energie und Transport weit vor der Konfliktbearbeitung
rangierten. Im Kaukasus und im Schwarzmeerraum
tätige Regionalorganisationen haben kaum wirkungsvolle Beiträge zur Konfliktlösung leisten können. Dies
gilt für die 1992 gegründete Organisation für Schwarzmeerkooperation (Black Sea Economic Cooperation,
BSEC) ebenso wie für GUAM. Es misslang, die Differenzen durch Integration der Streitparteien in regionale
Kooperationsformate beizulegen. 41
Die Entwicklung hin zum Augustkrieg 2008 zeigte,
wie eng Regionalkonflikte mit geopolitischen Zusammenhängen verbunden sind. So muss die Eskalation
seit Frühjahr 2008 im Lichte der Nato-Beitrittsperspektive Georgiens und der Auseinandersetzung um einen
Membership Action Plan für Georgien (und die Ukraine)
gesehen werden. Hier verschränkten sich regionale
Streitigkeiten mit dem russischen Bestreben, eine weitere Runde der Nato-Osterweiterung abzuwehren, die
diesmal in den GUS-Raum hineingereicht hätte. Eine
wichtige Rolle spielte zudem ein anderes Ereignis, das
eine Kontroverse zwischen Russland und westlichen
Akteuren hervorrief: die Unabhängigkeitserklärung
Kosovos und ihre Anerkennung durch eine Reihe westlicher Staaten.
40 Michael Emerson, The EU’s New Black Sea Policy, Brüssel:
Center for European Policy Studies, Juli 2008 (CEPS Working
Document Nr. 297), S. 4, 7.
41 Siehe dazu Mykola Kapitonenko, »Resolving Post-Soviet
›Frozen Conflicts‹. Is Regional Integration Helpful?«, in:
Caucasian Review of International Affairs, 3 (Winter 2009) 1,
S. 37–44.
Militarisierung
Militarisierung
Im Südkaukasus war seit 2004 anschwellende Kriegsrhetorik zu vernehmen. So häuften sich in Aserbaidschan Aussagen von Politikern über die Bereitschaft
und Fähigkeit, Berg-Karabach und die umliegenden
von armenischen Truppen besetzten Provinzen zurückzuerobern. Daniel Fried, unter der Bush-Administration im State Department für Europa und Eurasien
zuständig, hielt diese Rhetorik für innenpolitisch
motiviert, wies aber auf ihre Eigendynamik hin: »Wir
erklären der aserbaidschanischen Regierung, dass
dieses Kriegsgerede einen riskanten Zyklus von Rhetorik, Gegenrhetorik und Ereignissen auslösen kann.« 42
Diese Besorgnis wiegt umso schwerer, als die militärische Option offenbar auch in breiteren Teilen der
aserbaidschanischen Bevölkerung vertreten wird. Bei
einer Umfrage votierten 2006 knapp 60% von 971
Befragten für die militärische Lösung des Karabachproblems, das ein ähnlich hoher Prozentsatz für das
dringlichste Problem des Landes hielt. 43 Aserbaidschans Klage über die fortdauernde Besetzung seiner
Westprovinzen durch armenische Truppen ist zweifellos berechtigt. Dass die aserbaidschanische Seite aber
eine militärische »Konfliktlösung« in Betracht zog,
erwies ihrem Anliegen keinen guten Dienst, denn
damit stützte sie das Argument der Gegenseite, die
Sicherheit Berg-Karabachs militärisch gewährleisten
zu müssen. Dabei wäre die Räumung der Umgebung
Berg-Karabachs durch armenische Truppen die entscheidende Station auf einem Weg zum Frieden. Auch
in Georgien spielte man auf unverantwortliche Weise
mit der militärischen Option von »Konfliktlösung« in
Hinsicht auf abtrünnige Landesteile.
Gleichzeitig schraubte sich eine Rüstungsspirale in
die Höhe. Aserbaidschan und Georgien verzeichneten
2006–2008 weltweit die höchsten Steigerungsraten für
Militärausgaben. Georgien trieb zwischen 2003 und
2008 seine Militärausgaben von 0,5 auf mehr als 8%
seines BIP hoch. Aserbaidschan blähte seinen Militärhaushalt 2008 auf 2 Milliarden US-Dollar auf, was den
Gesamthaushalt Armeniens erheblich übersteigt, und
investierte einen Teil seiner durch Ölexporte erhöhten
Staatseinnahmen in diesen Sektor. Schon 2006 hatte
EU-Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner die
Militärausgaben im Südkaukasus beklagt, wo wichtige
42 Joshua Kucera, »US Diplomat Grapples With Issues of
Closed Borders and Frozen Conflicts in Caucasus«, Eurasianet –
Civil Society, 19.6.2008.
43 Vgl. Yunusov, Azerbaijan in the Early of XXI Century [wie
Fn. 3], S. 221.
sozialökonomische Aufgaben wesentlich dringlicher
zu erledigen seien. 44 Hätte danach die EU-Nachbarschaftspolitik Obergrenzen für militärische Haushaltsausgaben in den Aktionsplänen mit den drei südkaukasischen Staaten vereinbaren sollen? Das wäre gegenüber einem Partner wie Aserbaidschan, der kaum
noch auf Finanzhilfen angewiesen ist, schwer durchzusetzen gewesen. Die Steigerung der Ausgaben wurde
mit Modernisierung und Anpassung an westliche
Militärstandards begründet, diente aber unübersehbar
auch dem Aufbau einer Drohkulisse gegenüber dem
jeweiligen Kontrahenten. Sicherheitspolitischen Aussagen und Dokumenten in Georgien war zu entnehmen, dass diese Aufrüstung nicht zuletzt dem Ziel der
Wiederherstellung territorialer Integrität galt. 45 Westliche Partner des Landes hätten früher Aufmerksamkeit für solche Tendenzen zu militärischer »Konfliktlösung« entwickeln müssen.
In Georgien stand dies in einem riskanten Kontext
mit gegenseitigen militärischen Provokationen. Abchasien und Südossetien beklagten gemeinsam mit
Russland die Aufrüstung Georgiens durch Israel,
Tschechien, die Ukraine, Bulgarien und andere Staaten und die Unterstützung seiner Streitkräftemodernisierung durch die USA. Umgekehrt beschwerte sich
Georgien über wiederholte Verletzungen seines Luftraums durch russische Militärflugzeuge seit 2001 46
und eine von den Waffenstillstandsabkommen nicht
gedeckte militärische Unterstützung seiner Gegner
durch Russland. Vor allem seit Frühjahr 2008 beschuldigten sich Georgien und Russland gegenseitig, ihr
Militär in und um Abchasien und Südossetien zu verstärken. So wuchs lange vor dem Krieg die Besorgnis
vor einem größeren Waffengang – allerdings weniger
aus der Erwartung, dass eine Streitpartei ernsthaft
44 Caucaz Europenews, 1.9.2006, <www.caucaz.com>.
45 Dazu Jacob W. Kipp, »The Russia-Georgia Conflict: Analyzed by the Center of Analysis of Strategies and Technologies
in Moscow, Part One«, in: Eurasia Daily Monitor, 7 (22.1.2010)
15.
46 Im März 2001 bombardierten zwei nicht identifizierte
Kampfflugzeuge das abchasische Kodori-Tal. Im August 2002
bezichtigte Georgien Russland, das Pankisi-Tal an der Grenze
zu Tschetschenien mit Bomben angegriffen zu haben. Im
März 2007 bombardierten Mi-24-Kampfhubschrauber Gebiete
in Oberabchasien, die zu der Zeit unter georgischer Kontrolle
standen. Im selben Jahr wurde das Dorf Tsitebulani nahe der
administrativen Grenze Georgiens zu Südossetien aus der
Luft attackiert. Erstmals gab Russland eine Verletzung des
georgischen Luftraums im Juni 2008 zu, als russische Kampfflugzeuge Südossetien überflogen – angeblich um georgische
Angriffsabsichten abzuschrecken.
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Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen
Krieg führen wollte, als mit der Aussicht, unbedachte
Provokationen könnten eine Eskalation auslösen, die
über die Absichten des Provokateurs hinausging. 47
Auch Zeitdruck wurde als Risikofaktor identifiziert.
Die rasche Aufrüstung Aserbaidschans schien sich aus
energiewirtschaftlicher Sicht anzubieten 48 und Georgien wollte seine Sezessionskonflikte vor einem NatoBeitritt lösen. Die Kosovo-Frage brachte 2008 die sezessionsgeschädigten Staaten in Bedrängnis, während sie
die Sezessionsgebilde in ihrer Abtrünnigkeit vom ehemaligen »Elternstaat« bestärkte. Eile hatte sich Präsident Saakaschwili schon bei seinem Amtsantritt im
Januar 2004 auferlegt, als er schwor, die Einheit des
Landes zügig wiederherzustellen. Dabei traten Zügigkeit und Friedlichkeit auf diesem Handlungsfeld in
ein Spannungsverhältnis. Die in Georgien und außerhalb des Landes gesetzten Zeitperspektiven für Konfliktlösung klafften immer weiter auseinander. 49
Der »Fünftagekrieg« bildete eine Zäsur in den beschriebenen Entwicklungen. Das nachsowjetische
Russland demonstrierte erstmals Militärgewalt außerhalb seines Staatsterritoriums, allerdings nicht auf
eine Weise, die seine Armee als moderne Streitkraft
des 21. Jahrhunderts auswies. 50 In Abchasien und
47 »… a localised provocation or an accident could cut across
the calculations of all sides.« International Crisis Group (ICG),
Georgia and Russia: Clashing over Abkhazia, Tiflis/Moskau/Brüssel,
5.6.2008 (ICG Europe Report Nr. 193), S. 8.
48 Danach geht die Aufrüstung in Aserbaidschan mit einem
»energy honeymoon« einher, der seinen Höhepunkt in naher
Zukunft erreicht haben wird. Eine Kriegsoption könnte sich
dadurch aufdrängen, dass nach dem bevorstehenden »peak«
die finanzielle Aufrüstungskapazität wieder absinkt. Dies
wird allerdings von Experten kaspischer Energiewirtschaft als
unzutreffend kritisiert, da der »peak« sich nur für die aserbaidschanische Erdölförderung abzeichnet, nicht jedoch für
die noch ausbaufähige Gasförderung.
49 Bruno Coppieters, The EU and Georgia: Time Perspectives in
Conflict Resolution, Paris: European Union Institute for Security
Studies, Dezember 2007 (Occasional Papers Nr. 70); International Crisis Group (ICG), Georgia’s South Ossetia Conflict. Make
Haste Slowly, Tiflis/Brüssel, 7.6.2007 (ICG Europe Report
Nr. 183).
50 Anfangs feierte es sein militärisches Vorgehen gegen
Georgien noch als seinen »ersten erfolgreichen Blitzkrieg«
und legte Wert darauf, dass es hier eine mit US-Hilfe modernisierte Armee innerhalb weniger Tage ausschalten konnte.
Bald jedoch wurden Mängel in der militärischen Durchführung der Operation »Erzwingung des Friedens« analysiert
und ein erheblicher Reformbedarf der russischen Streitkräfte
festgestellt. Vgl. Margarete Klein, Militärische Implikationen des
Georgienkrieges. Zustand und Reformbedarf der russischen Streitkräfte, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Oktober 2008
(SWP-Aktuell 74/2008).
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Südossetien baute es nach dem Krieg seine militärische Position aus und verletzte damit die unter Leitung Präsident Sarkozys im August und September
2008 ausgehandelten Waffenstillstandsvereinbarungen. Von einem Rückzug auf die Vorkriegsstellungen
konnte keine Rede sein. Russland begründete seine
Bündnisverträge mit Abchasien und Südossetien mit
den von ihm selbst geschaffenen »neuen Verhältnissen«, mit der »staatlichen Unabhängigkeit« der beiden
Regionen und ihrer außen-und sicherheitspolitischen
Souveränität.
In Georgien machte man sich derweil an den Wiederaufbau der im Augustkrieg zerstörten Streitkräfte.
Washington unterstützte dies mit einem Trainingsprogramm. 51 Gegenüber einer Wiederbewaffnung
Georgiens üben die USA unter der Obama-Administration indes deutliche Zurückhaltung. 52 Die mit der
Überwachung der Waffenstillstandsabkommen in
Georgien beauftragte EUMM schloss mit der georgischen Regierung zwei Memoranda of Mutual Understanding, die Tiflis Meldepflicht über Truppenbewegungen
von Militär und Polizei in den Grenzgebieten zu Abchasien und Südossetien auferlegen. Gleichwohl
behauptet Russland, seine beiden Protektorate auch
künftig gegen »georgische Aggression« schützen zu
müssen, und erweitert seine Militärpräsenz vor allem
in Abchasien. 2010 will es dafür 465 Millionen USDollar investieren, was den gesamten georgischen
Militärhaushalt (435 Millionen US-Dollar) und die USMilitärhilfe für Georgien seit 2002 übertrifft. 53
Knapp ein Jahr nach dem Augustkrieg wurde im
Sommer 2009 wieder von der Gefahr militärischer
Auseinandersetzungen gesprochen. 54 Das Gipfeltreffen zwischen den Präsidenten Obama und Medwedew
in Moskau vom 6. Juli 2009 dämpfte zwar das erneute
Kriegsgerede und auch die EUMM berichtete, die
Situation entlang der administrativen Grenzen Georgiens zu Abchasien und Südossetien sei wesentlich
ruhiger als in der Presse dargestellt. Doch im August
2009 verlagerten sich die militärischen Drohungen
51 Giorgi Lomsadze, »Georgia: Pentagon to Start Military
Training Program«, Eurasianet – Eurasia Insight, 30.3.2009.
52 US-Waffenverkäufe an Georgien, die 2008 mit 72,3 Millionen US-Dollar ihren Höhepunkt erreichten, fielen 2009 auf
null. Vgl. Ellen Barry, »South Ossetians Warn Against Rearming Georgia«, in: New York Times, 4.2.2010, <http://www.nytim
es.com/2010/02/05/world/europe/05russia.html?ref=europe>.
53 ICG, Abkhazia: Deepening Dependence [wie Fn. 32], S. 3.
54 Michael Schwirtz, »Russia Begins War Games in Georgia«,
in: New York Times, 29.6.2009; International Crisis Group (ICG),
Georgia and Russia: Still Insecure and Dangerous, Tiflis/Brüssel,
22.6.2009 (Europe Briefing Nr. 53).
Die Rolle Russlands
vom Land zur See. 2009 brachte die georgische Küstenwache 20 Schiffe auf, die Güter nach Abchasien transportierten. Als sie im August einen türkischen Frachter mit Brennstoff für Abchasien stoppte, drohte die
abchasische Seite, georgische Schiffe zu beschießen,
um »Piraterie« in »abchasischen Küstengewässern« zu
unterbinden. Russland gab daraufhin seinem Inlandsgeheimdienst FSB Anweisung, mit seinen Küstenbooten Abchasien beizustehen. Solche Zwischenfälle wiesen auf Sicherheitsdefizite im Schwarzen Meer hin
und erinnerten daran, dass die russische Schwarzmeerflotte im »Fünftagekrieg« georgische Küstenboote
im Hafen Poti versenkt hatte. Damit hatte ein Anrainerstaat des Schwarzen Meeres, Russland, das Territorium eines anderen Anrainers, der Ukraine, als Ausgangspunkt für Angriffe auf einen dritten Anrainer,
Georgien, benutzt. Bereitet sich die russische Schwarzmeerflotte also wirklich darauf vor, im Jahr 2017 vertragsgemäß Sewastopol zu räumen, ihren Hafen auf
der Halbinsel Krim? Russische Militärführer haben
wiederholt durchblicken lassen, sie dächten nicht daran, sich an diese Vereinbarung zu halten. Im Februar
2010 kündigte Russland an, die Flotte mit neuen
Kriegsschiffen und U-Booten zu verstärken. 55 Angesichts massiver Präsenz der russischen Schwarzmeerflotte an der georgischen Küste im August 2008 rief
Anfang 2010 der geplante Verkauf französischer Mistral-Schiffe an Russland tiefe Irritation in Georgien,
den baltischen Republiken und Washington hervor. In
Russland wurde der Erwerb dieses modernen Hubschrauberträgers mit den Worten kommentiert, dass
mit dieser Waffe der kurze Georgienkrieg noch viel
schneller hätte entschieden werden können. 56 Im
russisch-georgischen Verhältnis halten gegenseitige
Vorwürfe an, weiterhin Kriegsabsichten zu hegen. In
Georgien zeigte sich dies, als am 13. März 2010 ein
fiktiver Fernsehbericht über eine erneute russische
Invasion in der Bevölkerung der Hauptstadt Tiflis
panische Reaktionen auslöste und Telefonverbindungen lahmlegte. Präsident Saakaschwili distanzierte
sich zwar von dem unverantwortlichen Beitrag des
privaten, aber regierungsnahen Senders, fügte aber
hinzu, die Fiktion sei doch sehr nahe an der Realität. 57
Der russische Nato-Botschafter Rogosin interpretierte
55 »New Warships, Subs to Join Russia’s Black Sea Fleet«, BBC
Monitoring Worldwide – Former Soviet Union Political File, 5.2.2010.
56 Gerhard Gnauck, »Damit hätten wir Georgien in 40 Minuten besiegt«, in: Die Welt, 26.2.2010.
57 Molly Corso, »Fake TV Report about Russian Invasion
Makes Truth Stranger than Fiction«, Eurasianet – Eurasia
Insight, 15.3.2010.
diesen Vorfall als Hinweis darauf, dass Georgien erneut Krieg vorbereite. 58
Im Karabachkonflikt trat die militärische Rhetorik
unter dem Eindruck des Georgienkrieges zunächst
zurück. Im aserbaidschanischen Präsidentschaftswahlkampf im Oktober 2008 spielte sie kaum eine Rolle. 59
Die Präsidenten Aserbaidschans und Armeniens unterzeichneten im November 2008 in Moskau eine gemeinsame Erklärung, in der es hieß, man wolle den
Konflikt friedlich regeln. Aserbaidschan kündigte für
2009 zunächst an, den Militärhaushalt zu senken, entschied sich aber später für das Gegenteil. Baku reagierte gereizt auf die Aussicht, dass die 1993 wegen des
Karabachproblems von der Türkei geschlossene Grenze zu Armenien wieder geöffnet werden könnte, noch
bevor das armenische Militär aus der Umgebung BergKarabachs abzuziehen begonnen hat. Im November
2009 drohte Präsident Alijew kurz vor einem Treffen
mit seinem armenischen Amtskollegen in München
erneut mit militärischer »Konfliktlösung«, wenn nicht
bald ein Durchbruch in der Karabachfrage und beim
Abzug armenischer Truppen erzielt würde. 60
Die Rolle Russlands
Russische Politiker kritisierten vor dem Augustkrieg
2008 die westliche, vor allem amerikanische Unterstützung Georgiens und drohten dem Land ernsthafte
Konsequenzen und den endgültigen Verlust seiner
abtrünnigen Landesteile an, sollte es der Nato beitreten. Dabei unterstellten russische Kommentatoren
eine Komplizenschaft zwischen Washington und Tiflis
hinsichtlich einer georgischen Reconquista-Politik
gegenüber den Sezessionsgebilden. Dagegen wurde in
der diplomatischen Gemeinde der georgischen Hauptstadt darauf hingewiesen, Washington habe einige
Male, so in der Südossetienkrise von 2004, die georgische Seite eher zur Zurückhaltung ermahnt. Auf georgische Forderungen nach einer Internationalisierung
der Peacekeeping-Formate für Abchasien und Südossetien reagierte die russische Regierung erbost. Internationale Aktivitäten in den Regionalkonflikten des
58 »Russian NATO Envoy Accuses Georgian President of
Planning New War«, BBC Monitoring Global Newsline – Former
Soviet Union Political File, 14.3.2010.
59 Aser Babajew, »Weiterungen des Georgienkriegs. Bewegung im Konflikt um Bergkarabach«, in: Osteuropa, 58 (2008)
11, S. 55–63.
60 »Alijew droht Armenien«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
23.11.2009, S. 6.
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen
GUS-Raums wurden in Teilen der politischen Öffentlichkeit Russlands als Angriff auf die russische Stellung in diesem Raum gewertet.
Militärmanöver im Juli 2008 vermittelten den Eindruck eines »Stellvertreterkrieges« zwischen Russland
und den USA im Kaukasus. In der Südhälfte der Region beteiligten sich 1000 US-Soldaten an der Übung
»Immediate Response 2008« der georgischen Streitkräfte, in der georgische Soldaten für den Einsatz in
Afghanistan trainiert wurden. Gleichzeitig übten im
Nordkaukasus 8000 russische Soldaten in einem Manöver Terrorismusbekämpfung und die Unterstützung
russischer Friedenstruppen in Abchasien. Nach Abschluss des Manövers wurde ein Teil der Soldaten
nicht in ihre Kasernen zurückbeordert, sondern in
Kampfbereitschaft an der Grenze zu Georgien gehalten.
Die Auseinandersetzung mit Russland bildet ein
Hauptproblem für jeden externen Akteur in den ungelösten Regionalkonflikten. Dies galt besonders für die
Sezessionskonflikte Georgiens, in die Russland weit
über die Rolle eines neutralen, Äquidistanz gegenüber
den Streitparteien wahrenden Schlichters hinaus
involviert war. Seine »Friedenspolitik« wurde in Georgien als »not peacekeeping, but keeping in pieces«
kommentiert. Diese Formel fand ihren Ausdruck in
der diplomatischen Anerkennung Abchasiens und
Südossetiens durch den Kreml am 26. August 2008.
Externe Konfliktbearbeitung im postsowjetischen
Raum steht vor dem Dilemma, dass dort nichts ohne
Russland geht, schon gar nichts in Konfrontation mit
Russland, aber bislang auch kaum etwas in Kooperation mit Russland. Besonders gegenüber Georgien
spielte Russland eine hybride Rolle zwischen Mediator
und Streitpartei. Die von Georgien gewünschte Funktion der EU als Peacekeeper an Russlands Statt war für
die Russen eine Provokation. Aus russischer Sicht ist es
zwar nicht ausgeschlossen, mit anderen Akteuren zu
kooperieren, wenn es um die Regelung von Sezessionskonflikten im Raum der ehemaligen Sowjetunion
geht. Die Modalitäten einer solchen Zusammenarbeit
dürfen die Schlüsselrolle Russlands auf diesem Handlungsfeld allerdings nicht in Frage stellen.
Fordert Russland damit Europa auf, eine Art Monroe-Doktrin für seine Nachbarschaft zu akzeptieren?
Geht es um geopolitische Einflusszonen im Sinne des
19. Jahrhunderts oder um Bereiche legitimer außenpolitischer Interessen Russlands? 61 Ein unüberseh61 Vgl. Dmitri Trenin, »Russia’s Spheres of Interest, not
Influence«, in: The Washington Quarterly, 32 (Oktober 2009) 4,
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
März 2010
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bares Motiv für die russische Politik gegenüber den
Sezessionskonflikten Georgiens bestand darin, Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik dieses »nahen Auslands« zu nehmen und dessen Souveränität in
diesem Handlungsbereich einzuschränken. Die NatoBeitrittsperspektive des Landes und die Auseinandersetzung um einen Membership Action Plan an Georgien (und die Ukraine) trugen wesentlich dazu bei,
dass sich die Entwicklung im Frühjahr 2008 zuspitzte.
Regionale Konfliktentwicklungen, Geopolitik und die
russische Abwehr einer weiteren Nato-Osterweiterung
bildeten hier ein dichtes Geflecht.
Seit 2004 war eine Entkrampfung der russischgeorgischen Beziehungen praktisch nur noch auf
Feldern möglich, die nichts mit den Sezessionskonflikten zu tun hatten. Doch solch neutraler Raum im
bilateralen Verhältnis schrumpfte, erklärte Präsident
Saakaschwili doch die Reintegration abtrünniger
Landesteile noch innerhalb seiner Amtszeit zu seinem
politischen Hauptanliegen, während Russland seine
Unterstützung für die herausgeforderten separatistischen Regierungen verstärkte.
Russland stellte seine Georgienpolitik in engen
Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung
Kosovos vom Februar 2008 und dessen diplomatischer
Anerkennung durch westliche Staaten. Als Reaktion
darauf forderte der russische Präsident mit seinem
Erlass vom 16. April 2008 den offiziellen Schulterschluss russischer Regierungsstellen mit den zuvor
bereits unterstützten Sezessionsregierungen in Abchasien und Südossetien. Schon bevor es die beiden Entitäten diplomatisch anerkannte, rückte Russland also
von seinem formalen Bekenntnis zur Souveränität
und territorialen Integrität Georgiens ab. Im Januar
2006 hatte Präsident Putin Kosovo zum Präzedenzfall
erklärt. Er forderte allgemeingültige Prinzipien für
die Regelung von Sezessionskonflikten und warnte:
»Wenn Leute glauben, man könne Kosovo volle Unabhängigkeit gewähren, warum wird diese dann Abchasien und Südossetien verwehrt?« 62 Allerdings wandte
der Kreml die »Kosovo-Präzedenzformel« selektiv an,
nämlich hauptsächlich gegenüber Georgien und weniger gegenüber Aserbaidschan und dessen Karabachproblem. Die russische Führung war nun bemüht, die
für die Unabhängigkeit Kosovos vorgebrachten Beweggründe auf Abchasien und Südossetien zu übertragen.
S. 3–22; European Stability Initiative (ESI), Privileged Interest?
The Russian Debate on the South Caucasus, Berlin/Brüssel/Istanbul,
Dezember 2009.
62 Zitiert bei Akçakoca u.a., After Georgia [wie Fn. 7], S. 26.
Die Türkei als regional- und friedenspolitischer Akteur
Das betraf erstens das Mehrheitsvotum in der jeweiligen lokalen Bevölkerung für die Trennung vom
»Elternstaat« und zweitens das »Genozid«-Argument.
Russische, nordkaukasische und südossetische Abgeordnete machten Georgien nun für einen »Völkermord« an Osseten im Jahre 1920 und in den kriegerischen Auseinandersetzungen 1991/92 verantwortlich.
In diese Argumentations- und Propagandalinie fügte
sich die russische Darstellung im Augustkrieg 2008
ein, die den georgischen Artillerieangriff auf Zchinwali als erneuten georgischen »Genozid« am ossetischen
Volk präsentierte und die Zahl der zivilen Todesopfer
mit 2000 anfangs maßlos übertrieb. 63
Allerdings hatten vor dem Krieg die meisten Experten fälschlich prognostiziert, der Kreml werde sich
damit begnügen, die Integration Kosovos in internationale Strukturen zu behindern. Die russische Führung
werde zwar auf die Risiken des Präzedenzfalls hinweisen und die Unterstützung der Sezessionsregierungen
gegen Georgien deutlich verstärken, aber nicht die
beiden De-facto-Staaten unter Berufung auf Kosovo
diplomatisch anerkennen. Schließlich hatte Putin
noch in seiner Amtszeit als Präsident gesagt, man
werde den Fehler westlicher Staaten hinsichtlich der
Legalisierung von Sezession nicht wiederholen. Nach
dem Krieg wich Moskau von dieser Linie ab. Am
26. August 2008 erkannte es die beiden Territorien als
unabhängige Staaten an. Dies wie auch den Krieg
begründete Präsident Medwedew mit dem Satz: »Wir
haben getan, was andere im Kosovo getan haben.« 64
Nur eine traditionelle russische Institution weigerte
sich vorläufig noch, diese Teilung Georgiens mitzutragen. Die Leitung der Russisch-Orthodoxen Kirche
beschied die Bitte der orthodoxen Kirchen in Abchasien und Südossetien, ihre Trennung von Georgien
anzuerkennen, mit den Worten: »Wir bestätigen die
Integrität des kanonischen Territoriums der Georgischen Orthodoxen Kirche und meinen, dass die politischen Spaltungen und die Veränderung von Staatsgrenzen nicht zur Veränderung der kirchlichen Grenzen führen sollten.« 65
63 Zu dieser »Genozid«-Anschuldigung siehe International
Independent Fact-Finding Mission, Report [wie Fn. 12], Bd. 1,
S. 18, 22; Bd. 2, S. 421–428.
64 Interview mit Präsident Medwedew in der BBC, Präsident
Russlands – Offizielles Webportal (russisch), 26.8.2008,
<http://www.kremlin.ru/text/appears/2008/08/205775.shtml>.
65 Zitiert bei Pavel Korobov, »Sergej Bagapš prišel za blagosloveniem« [Sergej Bagapsch kam, um sich segnen zu lassen],
in: Kommersant, 19.2.2010.
Die russische Politik gegenüber den hier behandelten Sezessionskonflikten hatte sich allerdings schon
lange vor der Kosovofrage herausgebildet. Als diese
virulent wurde, stand Russland in seiner »Friedenspolitik« längst an der Seite der Sezessionsparteien von
Transnistrien bis Südossetien. Nach dem Krieg gegen
Georgien betonte Russland nun gegenüber den beiden
anderen sezessionsgeschädigten Staaten Aserbaidschan und Moldova, seine diplomatische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens sei keineswegs als
Modellfall für andere schwelende Sezessionskonflikte
im GUS-Raum zu verstehen. So verstrickte sich der
Kreml mit seiner Politik gegenüber dem Separatismus
in krasse Widersprüche, warf aber seinerseits dem
Westen vor, auf diesem Feld mit zweierlei Maß zu
messen. Russland muss außerdem sein eigenes Separatismusproblem im Auge behalten, das zwar in Tschetschenien mit äußerstem Gewalteinsatz niedergeschlagen, aber im Nordkaukasus noch nicht restlos bewältigt wurde.
Im Karabachkonflikt nimmt Russland trotz enger
sicherheitspolitischer Beziehungen zu Armenien eine
weniger parteiische Haltung ein und kooperiert mit
den beiden anderen Ko-Vorsitzenden in der Minsker
Gruppe, den USA und Frankreich. Nach seinem militärischen Vorgehen gegen Georgien war Russland
sichtlich bemüht, eine aktive Friedensdiplomatie zu
demonstrieren. Doch auch auf diesem Handlungsfeld
beansprucht Moskau Vorrang vor anderen Akteuren.
Die Türkei als regional- und
friedenspolitischer Akteur
Die Regionalmacht Türkei bringt sich verstärkt mit
friedenspolitischen Initiativen im kaukasischen Konfliktraum ins Spiel. Eine im August 2008 von Ankara
vorgeschlagene Plattform für Stabilität und Zusammenarbeit im Kaukasus ist bislang zwar kaum konkretisiert
worden und erinnert an kaukasische Stabilitätspakte,
die von Politikern und Think Tanks in der Türkei und
der EU bereits 1999 und 2000 konzipiert wurden und
dann in der Schublade verschwanden. Die Aufmerksamkeit für Regionalkonflikte im Kaukasus und im
Schwarzmeerraum ist seit 2008 jedoch deutlich gestiegen. Die Türkei ist prädestiniert dafür, in diesem
Kontext eine bedeutende Rolle zu spielen. Wie kein
anderer Staat außerhalb des GUS-Raums ist sie von
regionalen Auseinandersetzungen aus sowjetischer
Erbschaft betroffen: sei es weil turksprachige Völker
wie Aserbaidschaner zu den Streitparteien gehören,
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Externe Akteure und regionale Umfeldbedingungen
sei es weil große und politisch organisierte Diasporagemeinden konfliktbeteiligter Volksgruppen in der
Türkei existieren. Die Türkei ist zum Beispiel ein
Hauptansprechpartner für Abchasien, leben auf ihrem
Territorium doch mehr als doppelt so viele Abchasen
wie in ihrem ethnischen Mutterland. Bevor die GUS
1996 eine Blockade gegen Abchasien verhängte, hatte
es vielfältige Handelsbeziehungen zwischen der türkischen und der abchasischen Schwarzmeerküste gegeben. 66
Mit einem Konzept, das die regionale Dimension
türkischer Außenpolitik betont und die Handschrift
von Außenminister Davutoğlu trägt, bemühte sich die
Türkei in den letzten Jahren um gute Nachbarschaft
und Konfliktlösung in ihrer Umgebung. Ihre Regierung unternahm einige mutige Schritte innen- und
außenpolitischer Öffnung, 67 die allerdings auch Rückschläge wie das Verbot der Kurdischen Demokratischen Partei erlitt. Das Land wird nicht nur zur Energiehandelsdrehscheibe zwischen Europa und dem
kaukasisch-kaspischen Raum, sondern auch zu einem
Kooperationspartner für Konfliktbearbeitung in der
Region. In ihrem Fortschrittsbericht zur Türkei 2009
lobt die Europäische Kommission Ankaras Engagement im Rahmen von Black Sea Synergy und im Südkaukasus sowie die »bedeutsamen diplomatischen
Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zu Armenien«. 68 Einerseits werden die regionalpolitischen Initiativen Ankaras als Gegengewicht zur
türkischen EU-Perspektive gesehen, andererseits als
wichtiger Teil dieser Perspektive, empfiehlt sich die
66 Igor Torbakov, »Turkey: Ankara Probing for Stronger
Ties to Renegade Georgian Region of Abkhazia«, Eurasianet –
Eurasia Insight, 8.10.2009. Zur Rolle der abchasischen Diaspora
in der türkischen Politik siehe besonders Gareth Winrow,
Turkey, Russia and the Caucasus: Common and Diverging Interests,
London: Chatham House, November 2009 (Chatham House
Briefing Paper), S. 7; zur türkischen Sicht auf Abchasien und
seine Stellung im Schwarzmeerraum siehe vor allem Burcu
Gültekin Punsmann/Argun Başkan/Kemal Tarba, Abkhazia for
the Integration of the Black Sea, Ankara: The Economic Policy
Research Foundation of Turkey (TEPAV)/Center for Middle
Eastern Strategic Studies (ORSAM), Dezember 2009, <www.
orsam.org.tr/en/enUploads/Article/Files/20091216_sayi9_eng
_ic_webs.pdf>.
67 Heinz Kramer, Mutige Öffnung in der türkischen Innen- und
Außenpolitik, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, September 2009 (SWP-Aktuell 54/2009).
68 Zitiert bei Emrullah Uslu, »E.U. Comments on Ankara’s
Policy in the South Caucasus«, in: Eurasia Daily Monitor,
6 (22.10.2009) 194.
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März 2010
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Türkei hier doch als Mittler zwischen dem EU-Raum
und benachbarten Regionen. 69
Besonders dem diplomatischen Dialog mit Armenien gebührt Aufmerksamkeit, weil er in dem – freilich noch längst nicht gesicherten – Erfolgsfall einen
der tiefsten und ältesten, noch aus der Zeit des Ersten
Weltkrieges stammenden Gräben zwischen zwei Staaten und Gesellschaften im Umfeld Europas überbrücken könnte. Gegenüber kaukasischen Streitparteien
könnte dies den Nachweis erbringen, dass selbst zementiert scheinende Feindbilder nicht ewig Bestand
haben müssen. Im Dezember 2009 unterzeichneten
zwei bisher verfeindete Teilrepubliken im Nordkaukasus, Inguschien und Nordossetien, ein Dokument über
die Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen und
markierten damit eines der wenigen hoffnungsvollen
Ereignisse in der problembeladenen kaukasischen
Peripherie Russlands im ausklingenden Jahr. Ein russischer Kaukasusexperte verglich dies mit dem türkisch-armenischen Annäherungsprozess. 70
Am 10. Oktober 2009 paraphierten die Außenminister Armeniens und der Türkei in Zürich zwei Protokolle über Grenzöffnung und Aufnahme diplomatischer Beziehungen. Damit sollten erste Schritte zur
Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen
eingeleitet werden. Den Dialog hatte die Schweizer
Diplomatie 2007 mit Unterstützung aus den USA in
Gang gesetzt. Die Georgienkrise brachte 2008 neue
Impulse in diesen Prozess. Vor der Unterzeichnung
der Protokolle war es noch zu Streitigkeiten über
heikle Themen gekommen, was diese Zeremonie in
Anwesenheit internationaler Politikprominenz fast
verhindert hätte. Vor allem US-Außenministerin
Hillary Clinton und ihr russischer Amtskollege Sergej
Iwanow setzten sich dafür ein, dass die Unterzeichnung trotz der Differenzen zustande kam. Im Vorfeld
hatten türkische und armenische Regierungsvertreter
PR-Touren durch Gesellschaft und Parteienlandschaft
ihrer Länder absolviert, um Widerstandsfronten aufzuweichen. Präsident Sarkisian reiste durch die armenischen Diasporagemeinden in den USA, Frankreich
und Russland, um das dort stark ausgeprägte Misstrauen gegen eine Verständigung mit der Türkei zu
mindern. Gleichwohl bestanden laut Meinungsumfra-
69 Katinka Barysch, Can Turkey Combine EU Accession and
Regional Leadership?, London: Centre for European Reform,
Januar 2010 (Policy Brief), <www.cer.org.uk/pdf/pb_barysch
_turkey_25jan10.pdf>.
70 Sergej Markedonov, »Točka proryva na linii primirenija«
[Ein Schritt zur Aussöhnung], in: Izvestija, 21.12.2009.
Die Türkei als regional- und friedenspolitischer Akteur
gen in beiden Gesellschaften weiterhin spürbare Vorbehalte gegen die Annäherung. 71
Vor allem zwei Probleme mobilisierten Ablehnungsfronten: erstens die Koppelung der bilateralen Beziehungen an den Karabachkonflikt durch die besondere
Verbindung der Türkei zum »Bruderland« Aserbaidschan und zweitens die ins Mark türkisch-armenischer
Beziehungen treffende Behandlung der Massaker an
der armenischen Volksgruppe im Osmanischen Reich
1915. Des zweiten Problems soll sich nun eine Historikerkommission annehmen. Noch vor der hochemotionalen und hochpolitischen Genozidfrage entfaltete
beim Jahreswechsel 2009/10 der Karabachkonflikt
seine Sprengkraft, denn er macht aus der bilateralen
Beziehung ein multilaterales Problem. In Aserbaidschan regte sich vehementer Widerstand dagegen, die
türkisch-armenische Grenze zu öffnen, ohne dass vorher mit dem Abzug armenischer Truppen aus den
besetzten Provinzen in der Umgebung Berg-Karabachs
begonnen wurde. Dieser Abzug war schon 1993 Voraussetzung für die Wiederöffnung der Grenze, die die
Türkei damals aus Solidarität mit Aserbaidschan
geschlossen hatte. Baku drohte Ankara sogar, die energiewirtschaftliche Kooperation einzustellen. Die mit
»zwei Staaten, eine Nation« (iki devlet, bir millet) umschriebene Beziehung zu Aserbaidschan rangiert auch
für weite Teile der türkischen politischen Öffentlichkeit höher als die Bemühungen der türkischen Regierung um einen Ausgleich mit Armenien. 72 Unter dem
Druck Aserbaidschans, mit dem die Türkei intensive
Wirtschafts- und Energiebeziehungen unterhält, und
der Öffentlichkeit im eigenen Land machte die Führung in Ankara den armenischen Truppenabzug aus
Aserbaidschan nun zur Bedingung für die Fortsetzung
des Aussöhnungsprozesses. Damit liegt die Ratifizierung der Zürcher Protokolle durch die Parlamente in
Ankara und Jerewan vorläufig auf Eis. In der Folge
wurde 2010 die Genozidfrage wieder zum Hauptproblem in den Beziehungen zwischen der Türkei und
Armenien und denjenigen der Türkei zu Drittstaaten.
71 In einer Umfrage vom Oktober 2009 in Jerewan lehnten
52,4% der Befragten den Inhalt der zur Ratifikation anstehenden Protokolle ab. In der Türkei sprachen sich 53% gegen
den Annäherungsprozess aus. Dort war allerdings die Ablehnungsfront (zuvor 70%) deutlich geschrumpft. BBC Monitoring
Global Newsline – Former Soviet Union Political File, 20.10.2009.
72 Jaroslaw Adamowski, »Dancing with Armenia – The
Turkish View«, openDemocracy, 25.11.2009, <http://www.open
democracy.net/od-russia/jaroslaw-adamowski/dancing-witharmenia-turkish-view>.
In den kaukasischen Konfliktlandschaften erzeugt
ein Prozess wie die türkisch-armenische Annäherung
Skepsis auf verschiedenen Seiten. So schaut man auch
in Georgien mit einem gewissen Argwohn auf diese
Entwicklung, die zur Überwindung der bisherigen
Isolation Armeniens führen könnte. Die Öffnung der
360 Kilometer langen Grenze Armeniens zur Türkei
würde die Transitabhängigkeit des Landes von Georgien deutlich reduzieren, über dessen Territorium bisher 70% des armenischen Außenhandels abgewickelt
wurden. Dies hätte für Georgien nicht nur wirtschaftliche Folgen. Georgisch-armenische Beziehungen enthalten potentielle Streitpunkte, die sich mit dieser
verminderten Abhängigkeit Armeniens entzünden
könnten. 73 So wird in Tiflis befürchtet, dass sich die
Politik Jerewans gegenüber der armenischen Siedlungsenklave Javacheti in Georgien ändern könnte. In
diesem georgischen Landesteil leben überwiegend
Armenier, die bisher von ihrem ethnischen Mutterland nicht zu separatistischen Bestrebungen, sondern
eher zur Loyalität gegenüber ihrem Wohnland ermuntert wurden, vor allem wegen der genannten armenischen Transitabhängigkeit vom Nachbarland. Die
beiden größten Minderheiten Georgiens, Aserbaidschaner und Armenier, konzentrieren sich in zwei
Landesteilen, deren Integration in den georgischen
Wirtschafts-, Verkehrs- und Informationsraum bislang
nicht ausreichend gelungen ist. Um Separatismus in
diesen Enklaven langfristig zu verhindern, muss die
georgische Regierung sich um deren Integration
bemühen. Hier besteht ein wichtiger Ansatzpunkt für
Unterstützung von außen.
73 Zaal Anjaparidze, »Is Georgia-Armenia Friction a Source of
a New Conflict in the Caucasus?«, Eurasian Home – Analytical
Resource, 9.9.2009, <www.eurasianhome.org/xml/t/expert.xml
?lang=en&nic=expert&pid=2152&qmonth=0&qyear=0>.
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Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik
Herausforderungen für europäische Außen- und
Sicherheitspolitik
Der Südkaukasus als Teil einer weiteren Schwarzmeerregion liegt an einer Schnittstelle sich überlappender
ostpolitischer Projekte der EU wie der Europäischen
Nachbarschaftspolitik, der Black Sea Synergy und der
Eastern Partnership. Keine dieser Initiativen kann die
ungelösten Regionalkonflikte ignorieren, aber keine
enthält eine klare Perspektive für Konfliktbearbeitung.
Seit 2003 gelangten Sezessionskonflikte im GUS-Raum
auf die Agenda europäischer Außen- und Sicherheitspolitik. Stationen auf diesem Weg waren die Europäische Sicherheitsstrategie, mit der Europa Interesse an
»stabilen Rändern« bekundete, die Ernennung von EUSondergesandten für Moldova und für den Südkaukasus, die Einbeziehung des westlichen GUS-Raums in
die Europäische Nachbarschaftspolitik (ENP) und gesteigerte Aufmerksamkeit für die Schwarzmeerregion
nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens.
Durch die Georgienkrise von 2008 wurde eine Initiative gestärkt, die Polen und Schweden kurz zuvor
unter dem Namen Östliche Partnerschaft vorgestellt
hatten. Im Dezember 2008 wurde sie von der Kommission in einem Eastern Partnership Proposal mit
Inhalt gefüllt 74 und im Juni 2009 vom Europäischen
Rat beschlossen. Unter dem Eindruck der Georgienkrise mahnte Außenkommissarin Ferrero-Waldner
eine verstärkte EU-Ostpolitik an: Aus der Krise resultiere ein Gefühl der Dringlichkeit, die östlichen Nachbarn an die EU heranzuführen, allerdings unterhalb
der Beitrittsperspektive. 75 Um Moskau zu beruhigen,
wies Brüssel darauf hin, dass damit keine neue Trennlinie in Osteuropa gezogen und Russland nicht isoliert, sondern in einzelne Projekte der Östlichen Partnerschaft einbezogen werden solle. Doch im Umfeld
der Georgienkrise blieb es kaum aus, dass eine intensivierte EU-Politik in Regionen, die Moskau als seine
»Zone privilegierten Einflusses« beansprucht, eine
Integrationskonkurrenz in der gemeinsamen Nachbarschaft herausforderte. Die Reaktionen in Russland
auf den Ratsentschluss zu dieser Initiative fielen ent74 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung
an das Europäische Parlament und den Rat. Östliche Partnerschaft,
Brüssel, 3.12.2008, KOM (2008) 823.
75 Martin Winter, »Geld gegen Freundschaft. Außenkommissarin will Osten stärker an die EU heranführen«, in: Süddeutsche Zeitung, 16.10.2008, S. 9.
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sprechend aus. 76 Einerseits nimmt man sie in Russland als vages, unausgereiftes Projekt der EU wahr,
andererseits als geopolitische Kampfansage. 77 Als »Versuch, die EU-Einflusssphäre auszudehnen« charakterisierte der russische Außenminister Lawrow ostpolitische Initiativen der EU nach der Georgienkrise und
damit als etwas, das mit Russlands Anspruch auf seine
»Zone privilegierten Einflusses« kollidiert. 78 In der EaP
geht es um neue Vertragsformen, die über die bestehenden Partnerschafts- und Kooperationsabkommen
und die ENP-Aktionspläne hinausgehen, um vertiefte
Freihandelsräume (Deep and Comprehensive Free
Trade Areas, DCFTA) und andere Interaktionsfelder
zwischen Brüssel und sechs Staaten in der gemeinsamen Nachbarschaft mit Russland. Die ungelösten
Regionalkonflikte in diesem Kooperationsraum werden zwar thematisiert; Ansätze der EU aber, mit ihnen
umzugehen, werden kaum näher ausgeführt. 79
In den zurückliegenden sieben Jahren wurden die
Regionalkonflikte in der gemeinsamen Nachbarschaft
mit Russland zunehmend als europäische Konfliktfälle
wahrgenommen. Das war nicht immer so. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre war Europas Blick vor
76 Susan Stewart, Russland und die Östliche Partnerschaft. Harsche
Kritik, punktuelles Kooperationsinteresse, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2009 (SWP-Aktuell 21/2009). Zur
Verbindung von Georgienkrise und EaP vgl. Jean-Philippe
Tardieu, Russia and the »Eastern Partnership« after the War in
Georgia, Paris: Institut français des relations internationales
(IFRI), August 2009 (Russie.Nei.Visions Nr. 43).
77 Zur russischen Wahrnehmung der EaP siehe Alexander
Sergunin, »EU and Russia: an Eastern Partnership Muddling
on?«, openDemocracy, 28.1.2010, <http://www.opendemocracy
.net/od-russia/alexander-sergunin/eu-and-russia-eastern-part
nership-muddling-on>.
78 Zitiert bei Pertti Joenniemi, The Georgian-Russian Conflict:
A Turning Point?, Kopenhagen: Danish Institute for International Studies (DIIS), 2010 (Working Paper 2/2010), S. 21.
79 In einer umfassenden Studie zum Eastern-PartnershipKonzept werden die ungelösten Regionalkonflikte gerade
einmal in einem Satz erwähnt, während Energiekooperation,
vertiefte Freihandelsräume und neue Vertragsarrangements
ausführlich behandelt werden. Ketie Peters/Jan Rood/Grzegorz Gromadzki, The Eastern Partnership. Towards a New Era of
Cooperation between the EU and its Eastern Neighbours? Revised
Overview Paper, Den Haag: Clingendael European Studies
Programme, Dezember 2009.
Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik
allem auf die Balkankriege gerichtet. Diese drängten
die gerade erst aus der Kriegsphase herausgetretenen
Sezessionskonflikte im Südkaukasus in den Hintergrund, obwohl die Kämpfe Zigtausende Todesopfer
gefordert und mehr als ein Zehntel der Gesamtbevölkerung der Region zu Flüchtlingen oder Binnenvertriebenen gemacht hatten. Nach den vor allem von
Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen
und mit der Mediationstätigkeit von OSZE und VN
kam die Frage auf, inwieweit sich europäische Institutionen in die Konfliktbearbeitung einschalten sollten.
»Europäisierung« auf diesem Handlungsfeld meint
einen Prozess von Konfliktbearbeitung, der von europäischen Institutionen aktiviert und ermutigt wird,
wobei der friedliche Ausgang des Konflikts mit einem
gewissen Grad der Integration aller Konfliktparteien
in europäische Strukturen verbunden wird. 80 Dieser
Hebel kann allenfalls wirken, wenn man wie in der
Balkanpolitik der EU dem Partnerland eine Beitrittsperspektive eröffnet, die von dessen Verhalten abhängig gemacht wird. Das ist in der Beziehung zum Südkaukasus aber nicht der Fall. Außerdem konnte von
einer Integration aller Streitparteien in europäische
Strukturen nicht die Rede sein. De-facto-Staaten wie
Berg-Karabach lagen weitgehend außerhalb einer
»Europäisierung«.
Mit der Nachbarschaftspolitik (ENP), in deren Rahmen 2006 Aktionspläne mit Georgien, Armenien und
Aserbaidschan vereinbart wurden, verdichtete sich der
europäische Einfluss auf den Südkaukasus. Ein Umfeld
von Rechtsstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und staatsbürgerlichem Bewusstsein sollte geschaffen werden,
um die Lösung ethno-politischer und territorialer Konflikte zu erleichtern. Die Partner griffen dies auf. So
legte die georgische Regierung Nachdruck auf einen
»civic nationalism«. Georgien hat aber den Übergang
zu einem Gemeinwesen noch nicht geschafft, das
seine Bürger ungeachtet ethnischer Zugehörigkeit in
die Nation integriert. 81 Präsident Saakaschwili betrieb
bei seinem Machtantritt eine Symbolpolitik, die in
erster Linie einen unitären georgischen Staat im Sinn
hatte. So bemühte sich Georgien zu wenig darum, ein
föderales Staatswesen zu werden, das sich für
autonome Komponenten öffnet. Mit der Entwicklung
80 Vgl. Bruno Coppieters u.a., Europeanization and Conflict Resolution. Case Studies from the European Periphery, <www.belspo.be/
belspo/home/publ/pub_ostc/WM/rS10303_en.pdf>.
81 So der Befund bei Johanna Popjanevski/Niklas Nilsson,
National Minorities and the State in Georgia, Conference Report,
Washington, D.C./Uppsala, August 2006 (Central Asia-Caucasus Institute: Silk Road Studies Program).
zum »Fünftagekrieg« steht es nun paradigmatisch für
ein Scheitern des Plans, »europäische Konfliktkultur«
auf den Kaukasus zu projizieren. Gerade dasjenige
Land, das laut eigenem Bekunden den konsequenten
Weg nach Europa gehen wollte, praktizierte mit einer
Mischung aus Friedens- und Militärinitiativen, neuen
Autonomieangeboten und Säbelrasseln gegenüber
seinen abtrünnigen Landesteilen eine unausgegorene
Konfliktpolitik.
Zur Rolle internationaler Organisationen in der
Region hieß es in Georgien, die OSZE (tätig vor allem
im Karabachkonflikt und in Südossetien) und die VN
(tätig im Abchasienkonflikt) seien durch ihre interne
Struktur gehemmt, in der Russland Vetomacht besitze. Viel freier in dieser Hinsicht sei die EU, der es
bislang aber an politischer Geschlossenheit und Entschlossenheit zu einer strategischen Kaukasuspolitik
gefehlt habe. Europäische Politik war von der Abneigung geprägt, sich im postsowjetischen Raum in geopolitische Rivalität mit anderen Akteuren, vor allem
mit Russland, zu verwickeln. Auch wenn sich einzelne
europäische Staaten für verstärkte Beziehungen zum
Südkaukasus einsetzten, fehlte doch innerhalb Europas ein starker Fürsprecher für die Region, wie etwa
Frankreich für die Mittelmeerunion. Mit der Erweiterung um neue Mitgliedstaaten in Mitteleuropa änderte sich dies. So kooperierten Polen und die baltischen
Staaten eng mit Georgien und forderten, die EU möge
sich in ihrem östlichen Nachbarschaftsraum stärker in
der Konfliktbearbeitung engagieren. Zusammen mit
Schweden, Tschechien, Rumänien und der Ukraine
bildeten sie eine Staatengruppe, die sich »New Friends
of Georgia« nannte. Sie unterstützte die euro-atlantische Ausrichtung georgischer Außen- und Sicherheitspolitik und sympathisierte mit deren Hauptmotiv: der
Emanzipation von russischer Machtpolitik.
Das ökonomische Gewicht des Südkaukasus und
seine handelspolitische Bedeutung für Europa waren
im ersten nachsowjetischen Jahrzehnt noch sehr
gering, seine Funktion als potentieller Energiekorridor ausgenommen. Nach der Jahrtausendwende aber
wurde die »kaukasische Landbrücke« im europäischen
Diskurs über Diversifizierung beim Bezug von Erdöl
und Erdgas immer wichtiger. Auch in sicherheitspolitischer Hinsicht verschob sich die Wahrnehmung. So
forderte die EU in ihrer Europäischen Sicherheitsstrategie 2003 Aufmerksamkeit für »Nachbarn, die
in gewaltsame Konflikte verstrickt sind, schwache
Staaten, in denen organisierte Kriminalität gedeiht,
zerrüttete Gesellschaften oder explosionsartig wach-
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Ungelöste Regionalkonflikte im Südkaukasus
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Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik
sende Bevölkerungen in Grenzregionen Europas«. 82
Mit Ausnahme des letzten Punktes lieferte der Südkaukasus aufgrund seiner Sezessionskonflikte Anschauungsmaterial für sämtliche genannten Probleme.
Europa sah diese Streitigkeiten als Hauptursachen
für politische und sozialökonomische Missstände und
Entwicklungsbarrieren in seiner Nachbarschaft an
und votierte für friedliche Konfliktregelung und intraregionale Kooperation. Die EU entwickelte allerdings
keine Strategie für ihre direkte Beteiligung an der
Konfliktbearbeitung. Wohl unterstützte sie als Hauptgeber Rehabilitationsmaßnahmen in kriegsgeschädigten Konfliktzonen und förderte zivilgesellschaftliche
Kontakte zwischen den Streitparteien. Harten sicherheitspolitischen Themen aber wie einem europäischen
Peacekeeping als Alternative zur russischen Dominanz
in diesem Bereich wich sie aus, wohl wissend, dass sie
damit Russland provoziert hätte. »Working around conflict«, eben nicht »working on conflict« – so charakterisierte die International Crisis Group in einer Studie
von 2006 die EU-Politik auf diesem Handlungsfeld. 83
Im ENP-Aktionsplan mit dem besonders sezessionsgeschädigten Georgien genossen andere Themen Vorrang vor aktiver Konfliktbearbeitung. Dem Plan war
zu entnehmen, dass »Restgeorgien« sich zunächst reformieren und seine Attraktivität gegenüber den eigenen Bürgern steigern müsse, bevor es in der Lage sein
werde, seine abtrünnigen Landesteile auf friedliche
Weise wieder an sich zu binden. Dies widersprach
Hoffnungen, die in Georgien an die Integration in
euro-atlantische Strukturen geknüpft worden waren.
Laut georgischen Meinungsumfragen erwarteten fast
die Hälfte der Befragten davon vor allem Unterstützung bei der Wiederherstellung territorialer Integrität. 84 Die Regierung weckte in der Bevölkerung unrealistische Vorstellungen über eine baldige Reintegration der abtrünnigen Landesteile.
82 Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheitsstrategie, Brüssel, 12.12.2003, S. 7, <http://www.consilium
.europa.eu/uedocs/cmsUpload/031208ESSIIDE.pdf>.
83 International Crisis Group (ICG), Conflict Resolution in the
South Caucasus: The EU’s Role, Tiflis/Brüssel, 20.3.2006 (ICG
Europe Report Nr. 173).
84 In einer Meinungsumfrage vom Februar 2007 lauteten die
Antworten auf die Frage »Was erwarten Sie von der Nato-Mitgliedschaft?«: Sicherheitsgarantien 57%, Wiederherstellung
der territorialen Integrität 42%, Verbesserung der sozialökonomischen Situation 22%, Stärkung von Demokratie 16%.
International Republican Institute (IRI) u.a., Georgian National
Voter Study, Februar 2007, S. 81.
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Insgesamt war die EU im Südkaukasus friedenspolitisch weit weniger engagiert als auf dem Balkan. 85
Im Augustkrieg 2008 aber entwickelte sie unter französischer Ratspräsidentschaft eine bemerkenswerte
Betriebsamkeit. Erstmals war es die EU und nicht die
USA, die zum Herrn des Verfahrens bei der Vermittlung eines Waffenstillstands in einem Krieg in Europas Nachbarschaft wurde. Die Präsidenten Nicolas
Sarkozy und Dmitri Medwedew hatten am 12. August
und 8. September 2008 Waffenstillstandsvereinbarungen ausgehandelt. Danach wurde eine internationale
Mission benötigt, um ihre Umsetzung und einen Stabilisierungsprozess im Nachkriegsgeorgien zu beobachten. Die EU-Mitgliedstaaten erklärten sich bereit, zu
einer solchen Mission beizutragen. Die Geschlossenheit in dieser Frage war umso erstaunlicher, als das
Verhältnis gegenüber Georgien und Russland zuvor
Differenzen aufgeworfen hatte – zwischen EU-Mitgliedstaaten, die sich an die Seite Georgiens und
seiner euro-atlantischen Ambitionen stellten, und
solchen, die eher Äquidistanz zu den beiden Kontrahenten wahrten. Innerhalb kürzester Zeit wurde
im ESVP-Rahmen eine zivile unbewaffnete Beobachtermission aufgestellt, die seit Anfang Oktober 2008
mit einem Stab von 320 Mitarbeitern unter Leitung
des deutschen Diplomaten Hansjörg Haber den Waffenstillstand in Georgien sichern soll. 86 Nach der
militärischen Auseinandersetzung um Südossetien
werden nun in Genf international vermittelte Gespräche zwischen allen Konfliktparteien über Georgiens ungelöste Regionalkonflikte geführt und die
beiden Streitfälle, Abchasien und Südossetien, gleichzeitig und im selben Format behandelt. Die Rolle der
EU beim Konfliktmanagement wurde damit erweitert,
ihre Präsenz vor Ort durch die EUMM deutlich erhöht.
Die Union fungiert nun nicht mehr als bloßer Beobachter und Unterstützer anderer Mediatoren, wie der
OSZE im Falle Südossetiens, sondern hat als Ko-Vorsitzende der Genfer Verhandlungen und als allein verbliebener Akteur mit Beobachterauftrag mehr Verantwortung übernommen.
85 Dazu Asmus, A Little War that Shook the World [wie Fn. 15],
S. 12.
86 Uwe Halbach, »Die Europäische Beobachtungsmission in
Georgien: Friedenssicherung auf umstrittener Grundlage«,
in: Muriel Asseburg/Ronja Kempin (Hg.), Die EU als strategischer
Akteur in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik? Eine systematische
Bestandsaufnahme von ESVP-Missionen und -Operationen, Berlin:
Stiftung Wissenschaft und Politik, Dezember 2009 (SWPStudie 32/2009), S. 124–137.
Hindernisse für »harte« und »weiche« Konfliktbearbeitung
Der Einsatz der OSZE in Südossetien und der von
UNOMIG in Abchasien wurden im Sommer 2009
wegen des russischen Vetos gegen die Mandatsverlängerungen eingestellt. Daher lastet die Aufgabe der
Friedenssicherung in Georgien nun allein auf der
EUMM. Doch ihre Tätigkeit steht unter ungünstigen
Vorzeichen. Es besteht ein völkerrechtlicher Gegensatz
zwischen Russland, das Abchasien und Südossetien als
eigenständige Staatsgebilde und damit die Teilung
Georgiens anerkennt, und dem Rest der Welt (außer
Nicaragua, Venezuela und dem polynesischen Inselstaat Nauru), der weiterhin davon ausgeht, dass diese
Territorien zum international anerkannten Staatsgebiet Georgiens gehören. Die EU bezieht ihr Beobachtungsmandat auf das Gesamtterritorium Georgiens,
doch der ungehinderte Zugang zu Abchasien und Südossetien wird ihr von Russland und seinen Protégés
in Suchumi und Zchinwali nicht gewährt. Mit dieser
Einschränkung trägt die Beobachtungsmission dazu
bei, faktische, von Europa aber nicht anerkannte Grenzen zu sichern. Die Zugangssperre etwa zu Südossetien beschneidet ihre Fähigkeit, bewaffnete Zwischenfälle zu überprüfen und ihr Beobachtungsmandat zu
erfüllen.
Hindernisse für »harte« und »weiche«
Konfliktbearbeitung
Zur »härteren« Politik gehören Fragen von Peacekeeping und Stabilitätssicherung, die in Georgien nach
dem Augustkrieg 2008 vor allem die EUMM betreffen.
Sie muss mit den Beschränkungen zurechtkommen,
die ihr von Russland in Verletzung der Waffenstillstandsvereinbarungen auferlegt werden. Immerhin
reduziert die Anwesenheit der EUMM in »Kerngeorgien« – mit Büros an vier Orten und einem Hauptquartier in Tiflis – die Gefahr erneuter militärischer
Abenteuer auf georgischer Seite. Der Zugang zu den
beiden umstrittenen Territorien wird zumindest sporadisch gewährt, nämlich durch einen »Incident Prevention and Response Mechanism« (IPRM): In gemeinsamen Treffen von Sicherheitsorganen der Konfliktparteien und der EUMM werden Zwischenfälle geprüft
und erörtert. Aber auch dieser Mechanismus wurde
bereits in Frage gestellt. Russland präsentiert sich als
Garant für Sicherheit und Unabhängigkeit einer ehemaligen Kriegszone wie Südossetien, hat aber seine
eigene kaukasische Peripherie mit Teilrepubliken wie
Dagestan, Tschetschenien und Inguschien nicht
annähernd im Griff. Im Jahr 2009 musste der Nord-
kaukasus eine derart besorgniserregende Zunahme
von Terror und Gewalt verzeichnen, dass Präsident
Medwedew ihn zum größten innerrussischen
Problemfall erklärte. So bleibt die gesamte kaukasische Region eine sicherheitspolitische Herausforderung in neuer Nachbarschaft Europas.
Zur »weicheren« Politik auf diesem Handlungsfeld
gehören Fragen der Konflikttransformation. Hier war
die EU vor dem Einschnitt vom August 2008 seit längerem zumindest in der Bearbeitung der georgischen
Regionalkonflikte aktiv, nicht aber in der Karabachfrage. Sie engagierte sich in der Vertrauensbildung,
unterstützte Wirtschaftskontakte zwischen den Streitparteien (zum Beispiel den gemeinsamen, durch Zwischenfälle nicht unterbrochenen georgisch-abchasischen Betrieb des Kraftwerks am Inguri-Fluss) und
beteiligte sich am Wiederaufbau in Südossetien. Diese
Projekte kamen durch den Krieg weitgehend zum
Erliegen.
Psychologische Fallen und Barrieren für
Konflikttransformation
Konflikttransformation, die geduldige und langfristige
Arbeit zur Veränderung von Wahrnehmungen und
Verhaltensweisen der Konfliktparteien, wird von psychologischen Mechanismen behindert, die den Raum
für Kompromisse radikal einschränken. Will europäische Politik sich für die Überwindung solcher Barrieren engagieren, muss sie sich mit diesen Mechanismen näher beschäftigen: der Opferfalle, der Gewöhnungsfalle, der Geschichtsfalle und der Isolationsfalle. Haben
Konflikte Phasen gegenseitiger Gewalt durchlaufen,
kursieren oft bei allen Streitparteien Horrorgeschichten, die Hass und Angst schüren und den jeweiligen
Gegner dämonisieren. Sie führen in ein Sicherheitsdilemma, denn wenn interethnische Gewalt einmal
ausgebrochen ist, rechtfertigen sich solche Reden von
selbst, schnappt die Opferfalle zu. Wenn Menschen der
eigenen Gruppe für ein bestimmtes Ziel getötet wurden und man dieses Ziel nicht aufgeben kann, ohne
sich einzugestehen, dass die Opfer umsonst waren,
wird man sich von diesem Konflikt kaum mehr lösen
können. Annäherungen der Kontrahenten in der Karabachfrage etwa hielt Berg-Karabachs Verteidigungsminister Movses Hakobian im Mai 2009 entgegen,
armenische Truppen aus den umliegenden aserbaidschanischen Provinzen dürften keinesfalls abgezogen
werden, und bemühte dafür das Opferargument:
»Alle diese Territorien haben wir unter großen Opfern
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Herausforderungen für europäische Außen- und Sicherheitspolitik
befreit.« 87 Hier wird die völkerrechtswidrige Besetzung
von Territorien eines Nachbarstaats als Befreiung präsentiert. 88 In einem Geschichtslehrbuch für die Republik Südossetien aus dem Jahr 2000 wird die Opferdimension im kleinsten südkaukasischen Konfliktfall
zur Hauptlegitimation für Eigenstaatlichkeit erhoben:
»Der Krieg [d.h. die Kämpfe in Südossetien 1991/92)
hat Tausende unserer Bürger getötet … Und doch hatten diese Jahre besondere Bedeutung für uns, weil wir
nicht nur den Aggressor [d.h. georgische Truppen] zurückgeschlagen, sondern unseren eigenen Staat aufgebaut haben.« 89 Abchasiens De-facto-Präsident Sergej
Bagapsch beruft sich ebenfalls auf die erbrachten
Opfer, um den Anspruch auf die internationale Anerkennung der endgültigen Trennung seines Landes
von Georgien zu begründen. 90 In den georgischen
Sezessionskonflikten gab es zu Beginn der »Rosenrevolution« noch gewisse Ansätze zur gegenseitigen
Aufarbeitung von Gewalt, die aber in der nachfolgenden Entwicklung wieder verschüttet wurden.
Die Gewöhnungsfalle schnappt zu, wenn gewaltförmige Konflikte so lange dauern, dass sich Kriegsalltag,
Kriegswirtschaft und Warlord-Strukturen etablieren.
Die kriegerischen Phasen im Südkaukasus waren dafür zu kurz. Gewöhnung bezieht sich hier auf etwas
anderes, nämlich die sich verfestigende Abtrünnigkeit
der Sezessionsgebilde von ihren ehemaligen »Elternstaaten« und damit die Historisierung ihrer »Eigenstaatlichkeit«. In die Geschichtsfalle tappen die Kontrahenten mit der aus ihrer Sicht unantastbaren Überzeugung, historisch gesehen im Recht zu sein. Nationale Geschichte und insbesondere Siedlungsgeschichte wird dann wie ein Grundbuch vorgelegt, aus dem
territoriale Besitzansprüche abgeleitet werden. Beide
87 Zitiert bei Liz Fuller, »Is the Karabakh Peace Process in
Jeopardy?«, Eurasianet – Eurasia Insight, 16.5.2009.
88 In einer gemeinsamen Erklärung von Nichtregierungsorganisationen in Berg-Karabach vom Juli 2009 heißt es dazu:
»Wir sind bereit, über Frieden in der Region zu verhandeln
und uns für dieses Ziel einzusetzen, aber nicht für den Preis
eigener Sicherheit und Freiheit, für die Tausende mit ihrem
Leben bezahlt haben, und zwar nicht nur Soldaten, sondern
friedliche Zivilisten … Ihr Angedenken ist unsere Würde.«
Statement of Non-governmental Organizations of NKR,
Adopted at Extraordinary Forum of NKR NGOs, 16.7.2009.
89 Kosta G. Dzugaev (Hg.), Južnaja Osetija. 10 let Respublike
[Südossetien. Zehn Jahre Republik], Wladikawkas 2000, S. 4.
90 »Während der letzten 20 Jahre mussten wir uns dreimal
gegen Georgien verteidigen und niemand kann uns daran
hindern, Freunde zu suchen, die uns helfen, unsere Nation
zu erhalten«, rechtfertigt Bagapsch die Anlehnung Abchasiens an Russland. Zitiert in Neue Zürcher Zeitung, 9.12.2009,
S. 9.
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Seiten verbuchen das umstrittene Territorium zumeist
als ihre jeweilige »Wiege nationaler Kultur«, so etwa
im Fall Berg-Karabach. Die Fähigkeit, sich in den
Gegner zu versetzen, geht im Gezerre historischer
Argumente verloren. Abhanden kommt hier auch
das Bewusstsein für einen Grundzug kaukasischer
Geschichte: dass der größere Teil historischer Erfahrung in der Region polyethnischer Natur war. Geschichte wird zudem zum physischen Angriffsobjekt.
Ein Beispiel dafür lieferten georgische Kampfverbände
im Abchasienkrieg 1992/93, als sie abchasische Archive und Kulturdenkmäler zerstörten. 91 Wie Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zu Kampfinstrumenten gemacht werden, ist in den hier behandelten
Konfliktfällen erst ansatzweise erforscht. 92 Die Auseinandersetzung mit den genannten Mechanismen
aber ist Voraussetzung für eine Politik, mit der auswärtige Akteure dazu beitragen könnten, die Starre
in einem Fall wie Berg-Karabach zu überwinden. Dort
hat bislang keine der beiden involvierten Regierungen
ihre Gesellschaft auf Kompromisse vorbereitet. Das
wirkt sich nun auf die türkisch-armenische Annäherung aus, in der die Karabachfrage sich als Barriere
auftürmt.
Schließlich geraten die in den Konflikt verstrickten
Gesellschaften in die Isolationsfalle. Dies zeigt sich vor
allem darin, dass Informationen über Entwicklungen
jenseits der Fronten blockiert oder dem jeweiligen
Feindbild entsprechend verzerrt präsentiert werden.
Das gilt sowohl für den Abchasien- als auch für den
Karabachkonflikt. Im ersten Fall halfen zivilgesellschaftliche Kontakte vor dem Augustkrieg 2008, diese
Blockade zu durchlöchern. Im zweiten Fall dient
neuerdings eine Art »Twitter diplomacy« diesem
Zweck. In Aserbaidschan setzt sie sich allerdings staatlicher Verfolgung aus und wird auch auf armenischer
Seite nicht gerade gefördert. 93
91 Dabei wurden über 90% des Dokumentenbestands
vernichtet. Vgl. Thomas de Waal, »A Remnant of History«,
Transitions Online, 27.10.2009.
92 Dittmar Schorkowitz, Postkommunismus und verordneter
Nationalismus. Gedächtnis, Gewalt und Geschichtspolitik im nördlichen Schwarzmeergebiet, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang Verlag,
2008; Farid Shafiev, »Ethnic Myths and Perceptions as a
Hurdle to Conflict Settlement. The Armenian-Azerbaijani
Case«, in: The Caucasus & Globalization, 1 (2007) 2, S. 57–70;
Natia Gogoladze, »Historikerstreit als ideologischer Wegbereiter des Abchasienkonflikts«, Berlin, 20.8.2006, <http://edoc.
hu-berlin.de/docviews/abstract.php?lang=ger&id=28445>.
93 Onnik Krikorian, »Twitter Diplomacy. Can New Media
Help Break the Armenia-Azerbaijan Information Blockade?«,
Transitions Online, 2.2.2010.
Ausblick
Ausblick
Nach dem Einschnitt vom August 2008 prägt eine
Mischung aus Stagnation und neuer Dynamik die
kaukasische Konfliktlandschaft und ihr regionales
Umfeld. Nach dem Waffengang mit Russland, der
Flucht und Vertreibung des georgischen Bevölkerungsteils aus Südossetien, der diplomatischen
Anerkennung Abchasiens und Südossetiens durch
Moskau und der Umwandlung der beiden Territorien
in Protektorate und Militärbasen Russlands hat sich
für Georgien die von Präsident Saakaschwili 2004
gelobte rasche »Rückholung der abtrünnigen Landesteile« erledigt. Die Trennung dieser Gebiete von ihrem
ehemaligen »Elternstaat« ist verfestigt wie nie zuvor.
Georgiens westliche Partner und die internationale
Gemeinschaft bekennen sich gleichwohl weiterhin
zur territorialen Integrität des Landes. Für lange Zeit
wird der Status der beiden Territorien zwischen zwei
Formeln schweben, die gleichermaßen realitätsfern
sind: der Behauptung, sie seien integrale Bestandteile
Georgiens, und der Darstellung Moskaus, sie seien
unabhängige Staaten und nicht etwa Objekte der
Annexion durch Russland. In fiskalischer, militärischer und administrativer Hinsicht erscheinen beide
Regionen als De-facto-Föderationssubjekte Russlands,
aus georgischer Perspektive als von Russland »besetzte
Gebiete«.
Neben dem Auftrag an die EUMM, die Nachkriegssituation durch Beobachtung, Berichterstattung und
Vertrauensbildung zu stabilisieren, geht es für die EU
in Georgien um die Frage, inwieweit Abchasien und
Südossetien für europäische Politik noch erreichbar
sind. 94 Zumindest in Abchasien werden Verbindungen
zur Außenwelt über Russland hinaus nachgefragt,
wenn auch unter dem derzeit unerfüllbaren Vorbehalt
diplomatischer Anerkennung. Die EU muss Wege finden, sich dort im Rahmen ihrer Nachbarschaftspolitik
und ihrer Initiative Östliche Partnerschaft zu engagieren, ohne die Statusfrage zu berühren. 95 So sollten
zum Beispiel in europäische akademische Austausch94 Vgl. Walter Kaufmann, »A European Path for Abkhazia.
Yesterday’s Pipe Dreams?«, in: Caucasus Analytical Digest,
7 (25.6.2009), S. 2–6.
95 Thomas de Waal, »Abkhazia and South Ossetia«, in: Adam
Hug (Hg.), Spotlight on Georgia, London: Foreign Policy Center,
2009, S. 111–121.
programme nicht nur georgische, sondern auch abchasische Studenten einbezogen werden. Georgien
müsste die Erkenntnis nahegebracht werden, dass
seine Blockadepolitik gegenüber seinen abtrünnigen
Landesteilen diese in den Wirtschafts- und Sicherheitsraum Russlands gedrängt hat. Durch eine Seeblockade, die sich vor allem gegen türkisch-abchasische Verbindungen richtet, würde diese Politik mit
dem Risiko militärischer Zwischenfälle im Schwarzen
Meer fortgesetzt. Georgien sollte ein Interesse daran
entwickeln, dass Abchasien nicht allein Russland überlassen bleibt. Und dies geschieht offenbar. Die georgische Führung legte im Januar 2010 ein Strategiepapier
für den Umgang mit Abchasien und Südossetien unter
dem Titel »Engagement through Cooperation« vor, in
dem als Hauptanliegen die Überwindung solcher Isolation genannt wird. 96 Der Raum für Kooperation wird
jedoch dadurch eingeschränkt, dass die lokalen Machtorgane in den beiden Regionen übergangen werden,
obwohl das Papier auf die Verbesserung von Infrastruktur und Wiederaufbauprojekte verweist, die
ohne die lokalen Behörden kaum umzusetzen sind.
Der Appell, zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen
und die Demarkationslinien zu überwinden, richtet
sich nur vage an die »Staatsbürger Georgiens in den
besetzten Gebieten«. Zumindest wird hier die gewaltsame Rückholung der Gebiete ausgeschlossen.
Das Verhältnis zwischen Georgien und Russland
bleibt vorläufig zutiefst gestört. Beide Seiten werfen
sich weiterhin Angriffsabsichten vor. Die russische
Regierung bekundet zwar Bedauern über den Abbruch
diplomatischer Beziehungen mit Georgien, verweigert
aber den Dialog mit dessen Präsidenten Saakaschwili,
der in offiziellen Aussagen und in den Medien Russlands als Krimineller behandelt wird.
Georgien macht die Wiederaufnahme der Beziehungen davon abhängig, dass Russland seine diplomatische Anerkennung Abchasiens und Südossetiens zurückzieht. Immerhin kam Ende des Jahres 2009 etwas
Bewegung in dieses Verhältnis. Ein 2006 geschlossener
Grenzposten wurde wieder geöffnet, der Flugverkehr
96 Government of Georgia, »State Strategy on Occupied
Territories. Engagement Through Cooperation«, 3.2.2010,
<http://www.civil.ge/files/files/SMR-Strategy-en.pdf>.
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Ausblick
zwischen Tiflis und Moskau in ersten Ansätzen wieder
aufgenommen. Einer Normalisierung stehen aber
vorläufig noch Gesten der Feindseligkeit entgegen.
Dazu gehörten in Georgien die Sprengung eines sowjetischen Kriegerdenkmals in der zweitgrößten georgischen Stadt Kutaisi oder der fiktive Fernsehbericht
über eine erneute russische Militärintervention,
hinter dem Kritiker Regierungspropaganda und die
»Hand des Präsidenten« vermuteten. In dem Bericht
werden Oppositionskräfte als Kollaborateure und
Landesverräter dargestellt. Auf der Gegenseite stehen
diffuse Hinweise russischer Quellen auf angebliche
georgische Rachegelüste, die darauf ausgerichtet
seien, den Nordkaukasus zu destabilisieren. Laut
russischen Verschwörungstheorien arbeitet hierfür
der georgische Geheimdienst mit al-Qaida zusammen.
Wenn dieses prekäre zwischenstaatliche Verhältnis
normalisiert werden soll, ist die EU stärker gefordert
als andere internationale Akteure wie Nato oder USA,
die dafür aus russischer Sicht nicht in Frage kommen.
Neue Dynamik war nach dem Augustkrieg von 2008
vor allem in der intensivierten Friedensdiplomatie im
Karabachkonflikt und in den türkisch-armenischen
Beziehungen zu verzeichnen. Europa bekundet ebenso
wie die USA und auch Russland Interesse an einem
Durchbruch in beiden Prozessen, muss aber zur
Kenntnis nehmen, dass diese sich mittlerweile eher
gegenseitig blockieren. Weder ein Erfolg in den Karabach-Verhandlungen noch eine Ratifizierung der
Zürcher Protokolle vom Oktober 2009 durch die
Parlamente der Türkei und Armeniens stehen beim
Abschluss dieser Studie unmittelbar in Aussicht.
Der Krieg in Georgien hatte zur Folge, dass der zur
GUS gehörende Teil des Schwarzmeerraums als Zone
ungelöster Regionalkonflikte in die sicherheitspolitische Wahrnehmung Europas rückte. Nicht nur der
Kaukasus, auch andere Gebiete gemeinsamer Nachbarschaft zwischen der EU und Russland erschienen nun
im Blickfeld der Europäer. Wie würde Russland künftig mit Staaten im GUS-Raum umgehen, die in formalisierte Nachbarschaftsbeziehungen zur EU getreten
sind? Ein Jahr nach dem Krieg legte Präsident Medwedew der Staatsduma eine Ergänzung zum Föderalen
Gesetz über Verteidigung vor, die russische Streitkräfte
zum militärischen Eingreifen im Ausland berechtigt,
wenn dort russische Staatsbürger zu schützen und
russische Sicherheitsinteressen zu verteidigen sind.
Vor dem Hintergrund der Einmischung in die georgischen Sezessionskonflikte und der Politik der »passportisatsija« in Abchasien und Südossetien ließ dieser
Hinweis auf schutzbefohlene russische Staatsbürger
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im »nahen Ausland« aufhorchen. In der »Zone privilegierten Einflusses« gerät hier etwa die zur Ukraine
gehörende, aber weitgehend russischsprachige Halbinsel Krim in den Blick. Dasselbe gilt für Moldova mit
seinem ungelösten Transnistrienkonflikt. Die dort
2009 an die Macht gekommene Regierungskoalition
Allianz für europäische Integration forderte den Abzug
russischer Truppen aus Transnistrien, während
die separatistische Regierung Moskau um Truppenverstärkung bat. Russland vertritt die Position, dass
Transnistrien ein Sonderstatus im Bestand Moldovas
eingeräumt werden kann, wenn dieses seinerseits
außen- und sicherheitspolitische Neutralität wahrt
und nicht den georgischen Weg der Westintegration
anstrebt. Kernregion postsowjetischer Regionalkonflikte bleibt aber der Südkaukasus, der zusammen
mit der Türkei immer wichtiger wird, wenn es um
Projekte wie den von der EU geförderten Südlichen
Transitkorridor und um neue Pipelinerouten wie
Nabucco und South Stream geht. Europäische Politik
gegenüber dieser Region lässt sich kaum noch an den
ehemals als »eingefroren« missverstandenen Konflikten vorbei betreiben.
Abkürzungen
BIP
BSEC
DCFTA
EaP
ENP
ESVP
EU
EUMM Georgia
GUAM
GUS
IPRM
IRI
Nato
OIC
NGO
NKR
OSZE
RSFSR
UNOMIG
VN
Bruttoinlandsprodukt
Black Sea Economic Cooperation
Deep and Comprehensive Free Trade Areas
Eastern Partnership (Östliche Partnerschaft)
Europäische Nachbarschaftspolitik
Europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik
Europäische Union
EU Monitoring Mission in Georgien
Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldova
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten
Incident Prevention and Response Mechanism
International Republican Institute
North Atlantic Treaty Organization
Organization of Islamic Countries
Non-Governmental Organization
Nagorno-Karabakh (Berg-Karabach)
Organisation für Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa
Russische Sozialistische Föderative
Sowjetrepublik
United Nations Observer Mission in Georgia
Vereinte Nationen