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I. Die Suche nach der Schuld
1. Katharsis: Furcht und Mitleid
Die Frage nach dem Zweck und Nutzen der Dichtung spielte in diesem
Transformationsprozeß der Poetik eine entscheidende Rolle.8 Die Drohung,
aus dem platonischen Idealstaat verbannt zu werden, saß noch im Cinquecento manchem Dichter in den Knochen. In Begriffen der horazischen Dichotomie aut prodesse aut delectare denkend, stellte man das prodesse und
docere in den Vordergrund. Die Gültigkeit der Formel omne tulit punctum,
qui miscuit utile dulci war unumstritten, die Forderung, daß gute Dichtung
unbedingt idonea vitae lehren und moralisch nutzbringend sein muß, verbindlich. Somit wurde die fundamentale Überzeugung vom moralischen
Zweck und Nutzen der Dichtung auch an den Text der aristotelischen Poetik
herangetragen. Aus den Bestrebungen, diese Überzeugung bei Aristoteles im
deshalb berühmt gewordenen Katharsis-Satz (1449b 24–28) wiederzufinden,
ging schließlich, wie jedermann weiß, die für den französischen Klassizismus
verbindliche Theorie der Reinigung von Lastern und Leidenschaften durch
Furcht und Mitleid hervor.9
Diese moralisierende Umdeutung der Katharsis war weder die einzige
mögliche noch eine selbstverständliche Lösung. Im ersten Poetik-Kommentar
8
9
teraturtheoretiker der Neuzeit einschlug, konnte nicht oder nur am Rande eingegangen
werden. Versucht wird aber lediglich, entscheidende Linien einer komplexen gedanklichen und argumentativen Entwicklung im Hinblick auf die Entstehung einer bestimmten Interpretation des Oedipus Rex zu analysieren. Ich habe mir ferner erlaubt, viele
Texte ausführlich zu zitieren, da sie offensichtlich in Vergessenheit zu geraten drohen
oder ihr bis jetzt erst gar nicht entrissen wurden und darüber hinaus erfahrungsgemäß
zum Teil schwer zugänglich sind. In den (neu)lat., ital., franz., engl., dt. Zitaten wurden
jeweils die Schreibweise, Interpunktion und Akzente der Vorlage beibehalten und nur
gelegentlich schonend den heutigen Gepflogenheiten angepaßt (‘non’ für ‘nõ’ und dgl.).
Zur Frage der moralischen Rechtfertigung der Dichtung als dem fundamentalen Problem der Literaturtheorie der Renaissance s. Spingarn (1908) 3–23, 47–59, ferner Weinberg (1961) vol. 1, 250–348 sowie vol. 2, Index s. v. ‘Defence of Poetry’, ‘Instruction’,
‘Morality’, ‘Profit’, ‘Ends’. Zur Weiterführung der Diskussion im französischen Klassizismus s. Bray (1927) 63–84. Die Geschichte der querelle du théâtre zwischen den moralistischen Gegnern und den moralisierenden Verteidigern des Theaters in Frankreich
zwischen 1636 und 1760 zeichnete Barras (1973) nach; Argumente der beiden Parteien
analysierte Phillips (1980) passim.
Zur Deutung des aristotelischen Katharsis-Satzes im Cinquecento s. Spingarn (1908)
74–81; Hathaway (1962) 203–300; Kostic (1960); überaus reiches, jedoch weder systematisch geordnetes noch analytisch ausgewertetes Material bietet Weinberg (1961), s.
dort vol. 2, Index s. v. ‘Purgation’, ‘Pity and Fear’, ‘Passions’; vgl. auch Reiss (1999)
240–244.
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
17
aus dem Jahre 1548 hatte Francesco Robortello noch die Ansicht vertreten,
Aristoteles habe mit kãyarsiw toioÊtvn payhmãtvn die durch die Erregung
von Furcht und Mitleid zu erfolgende Reinigung solcher Affekte wie Furcht
und Mitleid gemeint und den Wirkungszweck der Tragödie darin gesehen,
daß die Menschen durch den Anblick der Unglücksfälle der auf der Bühne
dargestellten Figuren erstens sich daran gewöhnen zu leiden, mitzufühlen und
zu fürchten – damit sie, wenn ihnen selber ein Unglück widerfährt, weniger
leiden und fürchten müssen –, zweitens Mitleid und Furcht auf eine angemessene Art und Weise empfinden lernen und drittens sich in Erinnerung an die
von ihnen gesehenen Tragödien mit dem Gedanken trösten können, daß niemand gegen die Schläge der Fortuna gefeit ist.10
Jedoch bereits ein Jahr später schlug Bernardo Segni in seiner kommentierten Übertragung der Poetik in Lingua Fiorentina eine andere Richtung ein.
Schon die Übersetzung der Tragödiendefinition läßt erkennen, daß Segni die
Katharsis als Reinigung durch Furcht und Mitleid von den – anderen – Affekten verstanden wissen wollte:
conducendo l’espurgatione degli affetti, non per via di narratione, ma per via di misericordia, & di timore.11
10
11
Francisci Robortelli Utinensis In librum Aristotelis de arte poetica explicationes, paraphrasis in librum Horatii, qui vulgo de arte poetica ad Pisones inscribitur (Florenz 1548;
Nachdr. München 1968) 52–55, bes. 53: «Quod si quis roget, qualis sit Aristotelis sententia de tragoedia, respondeo, existimare illum eius recitatione & inspectione purgari
perturbationes has duas, commiserationem & metum. Dum enim homines intersunt recitationibus audiuntque & cernunt personas loquentes & agentes ea, quae multum accedunt ad veritatem ipsam, [1] assuescunt dolere, timere, commiserari, quo fit, ut cum aliquid ipsis humanitus acciderit, minus doleant & timeant, necesse est enim prorsus, ut
qui nunquam indoluerit ob aliquam calamitatem, vehementius postea doleat, siquid adversi praeter spem acciderit. [2] Adde quod saepe homines perperam dolent ac timent;
dum autem poetae in recitationibus suarum tragoediarum offerunt personas ac res
dignissimas commiseratione, quasque iure unusquisque, vel sapiens, extimescat; discunt
homines qualia sint ea, quae iure commiserationem cieant & luctum, quaeque metum
incutiant. [3] Postremo auditores & spectatores tragoediarum hanc capiunt utilitatem,
quae prorsus maxima est: cum enim communis sit omnium mortalium fortuna, nullusque sit, qui calamitatibus non sit subiectus, facilius ferunt homines, si quid adversi acciderit, eoque se solatio plane firmissimo sustentant, quod aliis etiam idem accidisse meminerint.» Generell zu Robortello vgl. Carlini (1967); Donadi (2001); zu dessen PoetikKommentar s. Weinberg (1952a); ders. (1961) vol. 1, bes. 399–406; Kostic (1960) 62f.;
ferner Miesen (1967) bes. 27–34, 44–54; 62–70; Stillers (1988) 107–181.
Rettorica et Poetica d’Aristotele Tradotte di Greco In Lingua Vulgare Fiorentina da
Bernardo Segni Gentil’huomo, & Accademico Fiorentino (Firenze: Apresso Lorenzo
Torrentino 11549; BSB München 4 A. gr. b. 239) 290; vgl. dazu Kostic (1960) 63; Wein-
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I. Die Suche nach der Schuld
In den Anmerkungen zur Stelle scheint zwar Segni zunächst von der von Robortello vertretenen Deutung auszugehen: indem wir uns die Mißgeschicke
berühmter Personen anschauen, lernten wir unser eigenes Unglück besser
ertragen.12 Dann aber schlägt er eine grundsätzlich andere Richtung ein: Sind
wir, die Zuschauer, jähzornig oder unbeherrscht, so reinigen wir unsere Seele
von solchen Affekten wie ira und intemperantia, wenn wir die – die auf der
Bühne dargestellten – Gefahren und die Unglücksfälle in Betracht ziehen, die
solchen Menschen zustoßen, die – wie die dargestellten tragischen Figuren –
in den Lastern versunken und von den Leidenschaften erfüllt sind:
Et in tal’ modo se noi siamo iracundi ò intemperati venghiamo à purgar’ l’animo di
tali affetti; considerando quei pericoli, & quei mali, che incontrano à chi è ne’ vitij
rinvolto, & à chi è fitto nelle perturbationi.13
Das von Segni Angedeutete konnte nur in dem Sinn verstanden werden, daß
die Tragödie nach Aristoteles in Segnis Interpretation uns vor Augen führen
soll, wie der lasterhafte und den Leidenschaften verfallene Mensch aufgrund
seiner Laster und Leidenschaften ins Unglück stürzt, was uns mit Hilfe von
Furcht und Mitleid dazu bewegt, die Seele von solchen verderblichen Lastern
und Leidenschaften zu reinigen.
Diese bahnbrechende, wenn auch kaum begründete Idee griff wiederum
ein Jahr später Maggi in seinem gemeinsam mit Lombardi verfaßten PoetikKommentar auf.14 Während Segni Robortellos Deutung nicht zurückwies,
12
13
14
berg (1961) vol. 1, 404–406, bes. 405f.; und jetzt Bionda (2001). Im übrigen fanden
Segnis Übersetzung und Kommentar bis heute wenig Beachtung.
Segni (1549) 294: «Perchè, veggendo noi simili casi avvenuti in persone eccellenti, più
agevolmente comportiamo le calamità nostre; ò vero impariamo à sopportarle.»
Segni (1549) 294.
Vincentii Madii Brixiani et Bartolomaei Lombardi Veronensis in Aristotelis Librum De
Poetica communes explanationes, Madii vero in eundem librum propriae annotationes.
Eiusdem de Ridiculis et in Horatii librum de arte Poetica interpretatio ... (Venedig 1550;
Nachdr. München 1969); generell dazu Weinberg (1961) vol. 1, 406–418; ferner Stillers
(1988) 181–221; speziell zu Maggi vgl. Toffanin (1920) 82–92; Bisanti (1991); zur Katharsis-Deutung vgl. Toffanin (1920) 89–92; Hathaway (1962) 221–224; Kostic (1960)
63f.; Miesen (1967) 55–61; Bisanti (1991) 34–45; vgl. ferner auch Ryan (1982), der die
Katharsis-Interpretation Maggis vergeblich als die einzig wahre hinzustellen versuchte.
Die Frage, wer der eigentliche pr«tow eÍretÆw der hier zu behandelnden KatharsisDeutung war, läßt sich allerdings nicht mit absoluter Sicherheit beantworten. Der erst
1550 erschienene Kommentar von Maggi und Lombardi ging zwar aus den Vorlesungen
hervor, die die beiden Gelehrten bereits 1541 in Padua an der Accademia degli Infiammati hielten und Maggi nach 1543 in Ferrara fortsetzte. Mitschriften der Vorlesungen
Maggis müssen in den 40er Jahren im Umlauf gewesen sein (dazu Weinberg, 1961, vol.
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
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sondern eher ergänzen wollte, wurde sie von Maggi als absurd verworfen und
– in der Überzeugung, daß nicht die consolatio, sondern vielmehr sittliche
Verbesserung der Menschen die moralische Aufgabe der Dichtung sei15 – im
Gefolge Segnis durch eine neue ersetzt: Weder von Furcht noch von Mitleid
solle die Seele des Zuschauers gereinigt werden, sondern vielmehr durch Mitleid und Furcht von solchen verderblichen Leidenschaften wie Ira, Avaritia,
Luxuria, die den Menschen zu Verbrechen verleiten und überhaupt Ursachen
des Übels sind. Den Platz, der in der Seele des Zuschauers durch die Entfernung der Leidenschaften frei wird, sollen dann Tugenden einnehmen:
... longe igitur melius est misericordiae & terroris interventu expurgare animum ab
Ira, qua tot neces fiunt: ab Avaritia, quae infinitorum paene malorum est causa: a
Luxuria, cuius gratia nefandissima scelera saepissime patrantur. His itaque rationibus haudquaquam dubito, Aristotelem nolle tragoediae finem esse animam humanam a terrore & misericordia expurgare, sed his uti ad alias perturbationes ab animo
removendas: ex quarum remotione animus virtutibus exornatur. nam ira, verbia
gratia, depulsa succedit mansuetudo. expulsa avaritia inducitur liberalitas atque ita
de caeteris.16
Schon die Gegenüberstellung der zu entfernenden passiones/perturbationes
und der einzupflanzenden virtutes macht deutlich, daß die payÆmata der aristotelischen Definition von Maggi mit Lastern, vitia, gleichgesetzt, oder
vielmehr durch diese ersetzt wurden, so daß die Katharsis bei ihm letztlich
auf die Reinigung der Seele von den Lastern hinauslief:
Aristoteles ... vult id, quod infra latius in definitione Tragoediae dicetur, ut in audiendis recte confectis Tragoediis timoris & misericordiae interventu animus a vitiis
expurgetur.17
15
16
17
1, 373f.; 376–383) und hätten also auch von B. Segni zur Kenntnis genommen werden
können. Jedoch scheinen weder Lombardi noch Maggi selbst vor 1550 eine solche Katharsis-Deutung, wie sie für uns zuerst bei Segni (1549) greifbar wird, explizit vertreten
zu haben: vgl. Weinberg (1961) vol. 1, 382 und Lombardi in Maggi/Lombardi (1550) 97.
Vgl. Maggi in Maggi/Lombardi (1550) 16: «Poesim vero Philosophiam quandam moralem esse, iam aperte demonstravimus»; «Quae cum ita sint, poetarum munus erit suavi
sermone scribere, apte imitando, ut bonos mores inducant» (13). Lombardi (in Maggi/
Lombardi 1550, 6) spricht von der «proposita morum cum voluptate correctione». Dem
Zweck und Nutzen der Poesis entsprechend wird auch die Poetica definiert, vgl. Lombardi in Maggi/Lombardi (1550) 8: «Poetica est facultas videndi quodcumque accomodatum est ad imitationem … ad vitam corrigendam & ad bene beateque vivendum comparata»; vgl. 11; dazu Weinberg (1962) 1, 375; Miesen (1967) 21, 35.
Maggi in Maggi/Lombardi (1550) 98.
Maggi in Maggi/Lombardi (1550) 22.
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I. Die Suche nach der Schuld
Wie eine solche Reinigung der Seele vor sich gehen soll, erläutert Maggi dann
bereits im Hinblick auf das Postulat des 13. Kapitels der Poetik, in der Tragödie soll dargestellt werden, wie glänzende Männer aus dem Glück ins Unglück geraten: glänzende Männer stürzen ja bekanntlich auf der Bühne wie
im Leben durch ihre Laster ins Unglück. Wenn nun der Zuschauer sieht, wie
Laster und Leidenschaften die auf der Bühne dargestellten Menschen zu Fall
bringen, wird er von Mitleid und Furcht ergriffen. Um einem ähnlichen
Schicksal zu entgehen, versucht er dann die verderblichen Laster, deren Folgen für die anderen so fürchterlich waren, in seinem eigenen Leben zu vermeiden:
Cum igitur principes viri felices habeantur; si in infelicitatem transierint, maior apparet mutatio: unde maior exoritur commiseratio & metus; quibus vehementibus in
animo affectionibus sibi ipsis homines cavent vitiaque, quibus in miseriam alii lapsi
sunt, evitant.18
War also Jähzorn oder Habgier die Ursache des Sturzes des tragischen Helden, wird der eingeschüchterte Zuschauer selber milde oder freigebig. Obschon Maggi die genaue Funktion der beiden aristotelischen Wirkungskategorien Furcht und Mitleid eher andeutete als erklärte, machte seine KatharsisDeutung bald Schule. Benedetto Varchi lehrte sie schon 1553 mit Begeisterung an der Accademia Fiorentina.19 Ihm folgten 1554 Giovan Battista
Giraldi Cinthio,20 1559 Minturno und viele andere.21 Obschon 1560 Pietro
18
19
20
Maggi in Maggi/Lombardi (1550) 154.
B. Varchi, Della Poetica in generale lezzione una, Della Poesia lezzioni cinque (gehalten
1553; erstmals veröffentlicht in 1590); zitiert nach: Opere di Benedetto Varchi ora per la
prima volta raccolte, vol. 1–2 (Trieste [1] 1858, [2] 1859) vol. 2, 681–733; hier 724; weiteres dazu unten S. 56–58, 75.
G. B. Giraldi Cinthio, «Discorso ... intorno al comporre delle comedie e delle tragedie a
Giulio Ponzio Ponzoni» (1554), zitiert nach: Crocetti (1973; zu dieser Ausgabe vgl.
freilich Villari 1996, Anm. 1 zu S. 5) 169–224; hier: bes. 176, 182f. Giraldi Cinthio beanspruchte, den Discorso, in dem von der von Segni (1549) und Maggi (1550) begründeten
Katharsis-Deutung ausgegangen wird, bereits 1543 geschrieben zu haben. Obschon
zuletzt Reiss (1999) 240 und Javitch (1999) 62 ihm Glauben schenkten, ist es unzweifelhaft, daß die Schrift von Giraldi Cinthio in der Form, wie sie 1554 publiziert wurde,
nicht nur Maggi (1550) sondern auch Robortello (1548) voraussetzt, und also nicht vor
1548 geschrieben werden konnte, dazu unten S. 80f. mit Anm. 7 (vgl. auch Roaf 1991,
143f.; Mastrocola, 1998, 28 mit Anm. 22). Generell zu Giraldi Cinthio s. Foà (2001a),
zu seiner Dramentheorie Buck (1952) 159–163; Herrick (1955) 63–92; Kostic (1960)
64f.; Weinberg (1961) vol. 1, 433–444; Horne (1958) 62–82; dens. (1962), bes. 23–47;
Herrick (1965) 72–117; Ariani (1974), bes. 115–178; Lucas (1984), bes. 15–71; Mastrocola (1998), bes. 192–254; Javitch (1998), bes. 148–163, s. ferner u. S. 58, 76, 80f., 109f.
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
21
Vettori und 1570 Ludovico Castelvetro – um nur die einflußreichsten zu nennen – andere, Robortello zum Teil stark verpflichtete Erklärungen der Katharsis vorlegten,22 behielt die von Segni und Maggi entwickelte Theorie ihren
festen Platz in der Vielfalt der vorgeschlagenen, nicht selten stark eklektischen
Interpretationen. In der systematischen Poetik von Giovanni Antonio
Viperano aus dem Jahr 1579 erscheint Maggis Katharsis-Deutung bereits als
eine von Aristoteles losgelöste, allgemeingültige Tragödiendefinition:
Tragoedia est poësis virorum illustrium per agentes personas exprimens calamitates
..., ut misericordia et terrore animos ab iis perturbationibus liberet, a quibus huiusmodi facinora proficiscuntur.23
Trotzdem gingen die Meinungen über die wahre Bedeutung der aristotelischen Katharsis noch zu Beginn des 17. Jh.s weit auseinander. Daniel Heinsius plädierte 1611 für eine im wesentlichen auf Robortello zurückgehende
Auffassung.24 Paolo Beni, der 1613 den letzten Poetik-Kommentar der italie-
21
22
23
24
A. Minturno, De Poeta (Venetiis 1559; Nachdr. München 1970) lib. I, 63f.; die Position
Minturnos ist freilich viel komplexer und eklektischer, da in sie auch Elemente der
Deutung von Robortello integriert sind (1559, lib. I, 74f., und vor allem lib. III, 179).
Generell zu Minturnos Poetik s. Weinberg (1961) vol. 2, 737–743; vgl. auch Stillers
(1988) 323–366; zu dessen Katharsis-Verständnis vgl. Hathaway (1962) 225–229 und
Kostic (1960) 66f. Vgl. ferner z. B. A. Segni, Lezzioni intorno alla poesia (1573); zitiert
nach Weinberg (1970/74), vol. 3, 7–100, hier: 82f.; dazu Weinberg (1961) vol. 1, 302f.
Petri Victorii Commentarii in primum librum Aristotelis de Arte Poetarum (Florentiae
1560; Nachdr. München 1967) 56f.; L. Castelvetro, Poetica D'Aristotele Vulgarizzata et
Sposta (in Vienna d'Austria 1570; Nachdr. München 1967; zitiert nach der Ausgabe a
cura di W. Romani, vol. I–II, Roma 1978) 160–163; dazu Weinberg (1960) vol. 1,
461–466 resp. 502–513, bes. 505f.; Hathaway (1962) 292f. resp. 234– 238; Kostic (1960)
65f. resp. 67f. Weiteres zu Vettori unten S. 111–116.
I. A. Viperani De poetica libri tres (Antverpiae 1579; Nachdr. München 1967) 94; vgl.
93f.: «eius [sc. tragoediae] vero finis est misericordiam, vel terrorem excitando ab ira,
cupiditate, & similibus| animi permotionibus, quae res atroces & scelestas producunt,
spectatorum animos expurgare.» Dementsprechend definiert Viperano (1579, 21f.) auch
die Aufgabe des Dichters: «Ergo poetae finis est humanarum actionum imitatione &
carmine docere & delectare. Docet autem quibus in rebus humanae vitae felicitas sita
sit, atque infelicitas ...» Generell zu Viperano s. Weinberg (1961) vol. 2, 759–765; vol. 1,
297–298, der jedoch nicht auf Viperanos Tragödiendefinition einging. Sie wurde indessen auch vom Jesuiten Jacobus Pontanus wörtlich übernommen: Jacobi Pontani e
Societate Jesu Poeticarvm Institutionvm Libri III ( 11594, 21597, zitiert nach: Ingolstadii:
Sartorius, 31600; SUB Göttingen 8 Aesth. 5048) 108; s. dazu Bielmann (1928), bes. 50f.;
George (1972) 75–84.
Danielis Heinsii De tragoediae constitutione liber, in quo praeter caetera tota de hac
Aristotelis sententia dilucide explicatur (Leiden 1611 zusammen mit: Aristotelis De Poe-
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I. Die Suche nach der Schuld
nischen Renaissance herausbrachte,25 hielt dagegen an Maggis Katharsis-Deutung fest. An Maggis Interpretation hatte Beni allerdings zweierlei auszusetzen:26 erstens, daß Maggi, wie dargetan, die payÆmata der Katharsis-Definition ganz ohne Bedenken und Begründung durch die vitia ersetzte; zweitens,
daß in der Konstruktion von Maggi nur die Furcht eine sinnvolle Funktion
hatte, das Mitleid hingegen überhaupt keine Rolle spielte. In der Tat, wenn
der Zuschauer von Lastern lediglich aus Angst davor ablassen soll, daß ihm,
falls er den vitia weiterhin frönt, ein ähnliches – wie das auf der Bühne dargestellte, durch lasterhaftes Betragen vom tragischen Helden selbst herbeigeführte – Unglück widerfahren könnte, – wozu bedarf es dann noch des Mitleids?27
25
26
27
tica Liber. Daniel Heinsius recensuit, ordini suo restituit, latine vertit, Notas addidit …;
Nachdr. Hildesheim [u. a.] 1976) 20–31. Heinsius’ Werk liegt nun auch in einer annotierten doppelsprachigen Ausgabe von Duprat (2001) vor. Zu Heinsius’ Tragödientheorie s. Meter (1984), zur Katharsis bes. 166–174 und Duprat (2001) 9–98, zur Katharsis
bes. 32–38, 61–65. Aus Meters, aber auch Duprats Ausführungen geht freilich nicht
deutlich genug hervor, daß Heinsius im Gefolge Robortellos und im Gegensatz zu
Maggi die als moderatio und expiatio verstandene Katharsis in erster Linie auf die zwei
spezifisch tragischen Affekte Eleos und Phobos bezog; vgl. indessen Heinsius (1611)
20f.; 23: «Ita qui miserias frequenter spectat, miseratur & quidem ut oportet. Qui frequenter ea quae horrorem movent, intuetur, minus tandem horret & ut decet»; 29:
«[Tragoedia est ... imitatio ... quae] non narrando, verum per misericordiam & horrorem eorundem expiationem affectuum inducit»; 30: «Iisque actionibus horrorem &
commiserationem movet. Quae duo eosdem in humano animo affectus mitigant aut sedant & si recte adhibeantur, defectum eorum atque excessum expiant ac purgant. Mediocritatem vero relinqunt.» Seine eigene Auffassung vom Nutzen der Tragödie(nLektüre) legte Heinsius übrigens in der lesenswerten Oratio «De utilitate, quae e lectione Tragoediarum percipitur. Habita, cum Electram Sophoclis interpretaturus esset»
(c. 1612?) dar; zitiert nach: Danielis Heinsii Orationes, editio nova, tertia parte auctior
(Lugduni Batavorum 1627; SUB Göttingen, 8 SVA V, 6095) or. XXII, 317–326.
Pauli Benii Eugubini In Aristotelis Poeticam commentarii. In quibus ad obscura quaeque decreta planius adhuc dilucidanda, centum poeticae controuersiae interponuntur &
copiosissime explicantur ... (Patauii in Beniana: per Franciscum Bolzettam, 1613). Der
Kommentar von Beni wurde – wohl aus chronologischen Gründen – weder von Kostic
(1960) noch von Weinberg (1961) berücksichtigt und fand auch sonst wenig Beachtung;
s. immerhin Hathaway (1962) 284–290; und Diffley (1984); wieder abgedruckt in leicht
veränderter Form in: ders., (1988) 164–205.
Seine eigene Deutung wird von Beni im Rahmen der Controversia 39 «Num recte de
Tragica purgatione praeceperit Aristoteles» (201–209) durch die Kritik seiner Vorgänger vorbereitet und anschließend (209–212) gegen fünf mögliche Einwände verteidigt.
Beni (1613) 206: «Cui [sc. Madio] sane cavendum erat diligenter, ne tam facile & indicta
causa libidinem, avaritiam, uno verbo vitia pro perturbationibus usurparet. Cur enim
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
23
Doch auf den Gedanken, daß schon allein durch diese Einwände die Konstruktion Maggis in ihren Grundlagen erschüttert sein dürfte, verfiel Beni
nicht. Da er selbst die Poesie allgemein und somit auch die Tragödie als «oratio non exiguae magnitudinis actionem imitans, qua non sine magna iucunditate ad virtutem excitentur & ad bene beateque vivendum dirigantur mortales,» definierte28 und alle anderen Katharsis-Deutungen nicht im entferntesten
seiner Definition der Dichtung entsprachen, legte er Maggis Theorie seiner
eigenen Interpretation der Katharsis zugrunde. Er versuchte jedoch, die von
ihm aufgezeigten Widersprüche und Ungereimtheiten zu beseitigen. Da auch
er die soeben bei Maggi getadelte Vermengung von perturbationes und vitia
nicht ganz vermeiden konnte, stellte er in seiner Definition die beiden Begriffe konsequent nebeneinander und suchte seine Entscheidung wenigstens
damit zu begründen, daß die payÆmata an dieser Stelle der Poetik sowohl
verderbliche, zu vitia verleitende perturbationes als auch vitia selbst bedeuten
müssen, weil Aristoteles einfach nichts anderes gemeint haben könne.29 Beni
bemühte sich ferner auch die zweite Wirkungskategorie der aristotelischen
Katharsis, Eleos, zur Geltung zu bringen. Er konnte zwar das Mitleid in das
Modell von Maggi auch nicht integrieren, schrieb jedoch auch diesem Affekt
eine analoge reinigende Wirkung zu: die vom Mitleid ergriffene Seele des Zu-
28
29
dum perturbationes purgari ais commiserationis & metus ope, luxuriam & avaritiam in
medium affers? Huc accedit quod dum avaros, libidinosos uno verbo vitiosos in calamitates ob vitia incidere animadvertimus, nobisque propterea a libidine & avaritia temperandum proponimus, id timoris fit ope; commiserationis (quod hactenus ex Madio
ducere liceat) nullo modo; & tamen iubet Aristoteles ut purgatio fiat timoris commiserationisque praesidio.» Die Funktion der Furcht wird von Beni (1613) 207 ausführlich
erläutert: «... timor etiam si quis in me excitatur efficit ut mihi vitanda ea sive vitia sive
incitamenta uno verbo eas causas proponam unde ille in miseriam cecidit. Quare dum
video Tarquinium spoliari & in exilium eijci, superbiam mihi ac libidinem frangendam
propono unde ille calamitosus est.»
Beni (1613) 181. Diese Definition wird dann von Beni (1613) 181–184 erläutert; vgl. bes.
184: «Id enim bono poemati est propositum, ut immoderatis mortalium affectionibus
tanquam medelam afferat & vitia expellens inserat virtutes & in universum ad virtutem
incendat»; s. ferner auch die daran anknüpfende Controversia XXXVI «De fine poesis»
(185–189).
Beni (1613) 209: «Quanquam obijicias statim. Tu vero interim in perturbationum loco
vitia quoque refers: cum tamen iamdiu id ipsum visus sis Madio obijicere. Obieci, fateor: sed eo nomine quod cum metu diceret avaritiam libidinemque purgari, docendum
quoque erat, revera hoc in loco perturbationes pro vitiis haud sumi perperam ... Imo
vero cum [sc. Aristoteles] purgari iubeat, nisi vitia aut perturbationes, quae extra lineam
provectae ad vitia deflectant, intelligere nullo modo potuit: nam affectiones quae non
dum peccent & ad vitiositatem declinent, purgatione indigent nulla.»
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I. Die Suche nach der Schuld
schauers könne auch von vielen Lastern befreit werden.30 Da er aber einerseits
die traditionelle Auffassung vertrat, daß in der Tragödie im Unterschied zur
Komödie Fürsten und Könige dargestellt werden sollen,31 und Aristoteles
anderseits im 13. Kapitel nachdrücklich betonte, daß die kathartische Wirkung nur dann erzielt werden könne, wenn der tragische Held dem Zuschauer
ähnlich ist, zog Beni daraus den konsequenten, aber etwas pedantisch anmutenden Schluß, daß die von Aristoteles beschriebene Wirkung der als Fürstenspiegel verstandenen Tragödie sich notwendigerweise auf die Fürsten und Könige beschränken müsse, während die gewöhnlichen Menschen den moralischen Nutzen aus der Komödie ziehen sollen:32 Furcht und Mitleid wären für
die normalen Sterblichen ohnehin nutzlos.33 So kam Beni zur folgenden Erklärung der germana Aristotelis sententia bezüglich der Katharsis:
Tragicis enim infortuniis excitandae sunt in Tyrannorum regumque ac potentium
pectore haec duae affectiones maxime, misericordia scilicet & metus, ut hinc affectiones & vitia corrigantur quibus reges quique caeteris authoritate praestant, laborare solent.
[1] Et quidem misericordiam excitari iubet in eorum pectore, ut hac occupati, saevitiam exuant, crudelitatem, avaritiam, rapacitatem, iracundiam. contra vero amplectantur clementiam, mansuetudinem, liberalitatem, munificientiam, ac cives illi
suos & populos paterna charitate prosequantur.
[2] Timorem vero & horrorem in iisdem concitari iubet, ut ne inani laetitia efferantur, aut voluptatibus intemperanter serviant, aut vitiis indulgeant, sed libidini,
ambitioni, huiusmodique perturbationibus ac vitiis tanquam frena iniiciant.
Denique & misericordia & timor excitatur in illis ut sese ipsi in officio contineant,
& in populis urbibusque regendis iuste ac clemente se gerant. Id quod ex tragica
imitatione sequitur maxime; dum enim rex regem videt ob superbiam aut rapacitatem vel libidinem & intemperantiam e felici illo statu in calamitatem deturbari, similis exemplo sibi timet omninoque statuit ea declinare vitia & moderari perturbationes, unde ille calamitosus factus est. Itaque in animum plane inducit ut clemen30
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32
33
Den für Maggis Modell so zentralen Zusammenhang zwischen den auf der Bühne als
Ursachen des Unglücks dargestellten und beim Zuschauer zu reinigenden Lastern resp.
Leidenschaften mußte Beni freilich im Eleos-Teil seiner Katharsis-Deutung aufgeben.
Wie Beni sich die gleichzeitige Wirkung der beiden Elemente vorstellte, ist nicht ganz
klar.
S. dazu unten S. 32 und 68 mit Anm. 120.
Beni (1613) 208f.; vgl. 277 mit Diffley (1984) 69f. Die von Beni vorgenommene Einschränkung der Reichweite der Katharsis auf die oberste Schicht der Bevölkerung, die
ja zur Folge hätte, daß ein Drama für den größten Teil des Publikums ohne moralische
Wirkung bleiben müßte, ließ auch ihn selbst an der Gültigkeit der aristotelischen Lehre
zweifeln; dazu Diffley (1984) 79. Trotzdem geht Beni – pace Diffley – nicht so weit,
wie etwa Scaliger, der die Katharsis für irrelevant erklärte.
Beni (1613) 209.
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
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tiam induat & moderatione ac iustitia vitam instituat suam. Ita sane perspicuum
videri potest, cur Aristoteles timorem maxime & misericordiam purgandis perturbationibus adhibuerit, & quam iure adhibuerit. 34
Der französische Klassizismus hatte für Benis unzeitgemäße ‘Mitleidspoetik’ im Ganzen wenig Verständnis, rezipierte jedoch rasch das, was er gut
brauchen konnte – die nicht zuletzt durch Beni vermittelte und verdeutlichte
Interpretation Maggis.35 Als Jean Chapelain sich im Jahre 1620 anschickte, la
Préface à l’Adonis zu schreiben, konnte er im Prinzip zwischen verschiedenen, ihm bestens vertrauten Katharsis-Deutungen des Cinquecento wählen. 36
Er entschied sich, ohne zu zögern, für Maggi. Ohne auf kontroverse Details
einzugehen, ließ er keinen Zweifel daran, daß die fin, der Endzweck der Poesie l’utilité ist und daß dieser Nutzen hauptsächlich en la purgation des passions vicieuses besteht.37 Chapelain vertritt diese Auffassung 1630 in der programmatischen Lettre sur la règle des vingt-quatre heures38 und legt sie 1638
den verbindlichen Sentimens de l’Académie Françoise sur la Tragi-comédie du
Cid zugrunde.39 Den «uns trop amis ... de la volupté», die im Délectable «le
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35
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37
38
39
Beni (1613) 209.
Zur Katharsis im französischen Klassizismus siehe Bray (1927) 74–77; besser Phillips
(1980) 37–46; vgl. ferner auch Lyons (1999) 48–76 und Forestier (2003) 119–159, bes.
141–154. Die von Robortello und Heinsius vertrenene Theorie der konsolatorischen
Wirkung der Tragödie wurde dagegen im 17. Jh. sowohl in die Dramentheorie der
Jesuiten, z. B. bei T. Gallutius, «Commentarius de Tragoedia», in: Tarquinii Gallutii
Sabini e Societate Iesu Virgilianae Vindicationes et commentarii tres de Tragoedia,
Comoedia, Elegia (Romae, Ex Typographia Alexandri Zannetti 1621; SUB Göttingen 8
Auct. lat. II, 8450) 249–326; hier 251–253, als auch in die Theorie des barocken Trauerspiels in Deutschland integriert, dazu Schings (1971).
Exemplare von Robortello (1548), Maggi/Lombardi (1550), Minturno (1559), Castelvetro (1570), Viperano (1579), Heinsius (1611), Beni (1613) und vielen anderen literaturtheoretischen Abhandlungen des 16. und des frühen 17. Jh.s befanden sich in der Bibliothek Chapelains im Jahre 1637, s. Searles (1912) 363–365. Das Meiste muß Chapelain bereits 1620 bekannt gewesen sein.
J. Chapelain, La Préface à l’Adonis (geschrieben 1620; veröffentlicht 1623); zitiert nach:
Bovet (1905) 30–52; hier 43f.; vgl. 37. Die von A. C. Hunter besorgte Ausgabe von
Chapelains Opuscules critiques (Paris 1936) blieb mir leider unzugänglich.
J. Chapelain, Lettre sur la règle des vingt–quatre heures (29. 11. 1630); zitiert nach:
Dotoli (1996) 226–235; hier 229: «... le but principal de toute représentation scénique
est d’émouvoir l’âme du Spectateur par la force et l’évidence avec laquelle les diverses
passions sont exprimées sur le Théâtre, et de la purger par ce moyen des mauvaises habitudes, qui la pourraient faire tomber dans les mêmes inconvénients que ces passions
tirent après soi ...»
[J. Chapelain], Les Sentimens de l’Académie Françoise sur la Tragi-comèdie du Cid
(Paris 1638; Druckprivileg 26. Nov. 1937); zitiert nach: Gasté (1898) 355–417. Zu Cha-
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I. Die Suche nach der Schuld
vrai but de la Poësie Dramatique» sehen, stellt er die «autres» gegenüber, für
die «la veritable fin» der Tragödie im Utile besteht.40 Daß die zweite Position
in Chapelains Augen die einzige richtige war, versteht sich von selbst, ist doch
das Délectable eines Dramas in Wahrheit nur Mittel zum Utile, ein Instrument der Tugend, «qui purge l’homme … de ses habitudes vicieuses».41
Maggis Auffassung der moralischen Wirkung der Tragödie wird dann bei
Georges de Scudéry und La Mesnardière zum Dogma, das nicht mehr aus
dem Text der Poetik heraus entwickelt zu werden brauchte, sondern als fester
Bestandteil der Dramentheorie vorausgesetzt und angewandt werden konnte.42 Erst Corneille, durch die Querelle du Cid zur Auseinandersetzung mit
der aristotelischen Poetik gezwungen, griff 1660 im zweiten Discours – offenbar in der Absicht, seine klassizistischen Kritiker mit ihren eigenen Waffen zu
schlagen – auf Maggi und Beni zurück, um die Mechanik der moralisch gedeuteten purgation des passions par pitié et crainte erneut plausibel zu begründen und zu erläutern. Dabei entfernt er bezeichnenderweise das von Beni in
die Theorie hineingebrachte Sondergut und kehrt im wesentlichen zu Maggis
Auffassung der aristotelischen Lehre zurück:
Ainsi la pitié embrasse l’interêt de la personne que nous voyons souffrir, la crainte
qui la suit regarde le nôtre, et ce passage seul nous donne assez d’ouverture pour
trouver la manière dont se fait la purgation des passions dans la tragédie. La pitié
d’un malheur où nous voyons tomber nos semblables nous porte à la crainte d’un
pareil pour nous; cette crainte (nous porte) au désir de l’éviter, et ce désir à purger,
modérer, rectifier, et même déraciner en nous la passion qui plonge à nos yeux dans
ce malheur les personnes que nous plaignons, par cette raison commune mais naturelle et indubitable, que pour éviter l’effet il faut retrancher la cause. 43
40
41
42
43
pelains Dramentheorie vgl. Bray (1927) 65–67; Jones/Nicol (1976) 51–56; zur Querelle
du Cid s. Gasté (1898) 5–55; Descotes (1980) 31–50; Clarke (1992) 41–52; Dotoli (1996)
13–162. Zu Chapelains Quellen s. Searles (1912).
Chapelain (1637) 359.
Chapelain (1637) 17.
Siehe dazu unten S. 59f., 64, 77.
P. Corneille. Discours de la Tragédie, et des moyens de la traiter, selon la vraisemblance
ou le nécessaire (1660); zitiert nach: ders., Œuvres complètes, Vol. III, Textes établis,
présentés et annotés par G. Couton (Paris 1987) 142–173; hier: 142f. Neuere Literatur zu
Corneilles Dramentheorie bei Louvat/Escola (1999) 311–315; s. darüber hinaus vor allem Clarke (1992), bes. 41–116; ferner Böhm (1901), bes. 90–151; Reiß (1910) 71–81;
Jourdain (1912) 76–97; Searles (1915); von Fritz (1955) 33–52; Conradie (1975); Jones/Nicol (1976) 66–80; Fuhrmann (1973) 236–250; vgl. auch Thiercy (1992); Lyons
(1999) Index s. v. «C.» (246); s. auch unten S. 88 mit Anm. 28, 122–127.
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1. Katharsis: Furcht und Mitleid
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Der Anblick des Unglücks, das der tragische Held erleidet, erregt also nach
Corneille bei uns Mitleid mit ihm. Da aber der unglückliche Held uns ähnlich
ist – schließlich sind auch Könige nur Menschen wie wir –,44 löst das Mitleid
mit ihm bei uns auch Furcht davor aus, daß dasselbe auch uns widerfahren
könnte. Da wir ferner sehen, daß die Leidenschaften den Menschen ins Unglück stürzen, bewegt uns das Bühnengeschehen dazu, diese verderblichen
Leidenschaften als Ursachen des Unglücks in uns zu bekämpfen.45 In dieser
kathartischen Kettenreaktion bekam endlich auch das Mitleid eine zwar
untergeordnete, jedoch durchaus sinnvolle Funktion.
Daß dies eine Verfälschung der aristotelischen Poetik war, versteht sich am
Rand. Wichtiger ist, daß das 13. Kapitel der Poetik, das auch bei Aristoteles
unter Rücksicht auf die Wirkungsabsicht formuliert war, nun folgerichtig im
Hinblick auf die Theorie der moralischen «purgation des passions» gedeutet
wurde.46 Es liegt nämlich auf der Hand, welche Bedeutung der Begriff Hamartia in diesem Zusammenhang bekommen mußte. Da es einerseits nach
Maggi, Viperano, Beni oder La Mesnardière – das heißt letztlich nach Seneca –
Leidenschaften und Laster sind, die den Menschen ins Verderben stürzen,
und Aristoteles anderseits sagt, daß die tragische Figur diÉ èmart¤an tinã ins
Unglück gerate, so mußte das Wort bei Aristoteles als ein solches Vergehen
gedeutet werden, das man aus lasterhaften Leidenschaften oder aus einer bestimmten lasterhaften Leidenschaft heraus begeht. Die entsprechende Deutung der Hamartia war für die erstrebte Auslegung der aristotelischen Dramentheorie im Sinne eines Maggi sogar unabdingbare Voraussetzung.
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45
46
Benis Argumente für die Einschränkung der Reichweite der Katharsis auf Könige (vgl.
oben) suchte Corneille (1660) 143 folgendermaßen zu entkräften: «… Mais ces rois sont
hommes comme les auditeurs, et tombent dans ces malheurs par l’emportement des passions dont les auditeurs sont capables. Ils prêtent même un raisonnement aisé à faire du
plus grand au moindre, et la spectateur peut concevoir avec facilité, que si un roi pour
trop s’abandonner à l’ambition, à l’amour, à la haine, à la vengeance tombe dans un
malheur si grand qu’il lui fait pitié, à plus forte raison, lui qui n’est qu’un homme du
commun, doit tenir la bride à de telles passions, de peur qu’elles ne l’abîment dans un
pareil malheur.»
Daß Corneille selbst an die Gültigkeit bzw. Realisierbarkeit dieser Theorie nicht glaubte, steht auf einem anderen Blatt; s. dazu unten S. 123–126.
Dazu unten 78f.; vgl. jetzt auch Reiss (1999) 244.