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Empathie als der Kitt des moralischen Universums

2013, Zeitschrift für philosophische Forschung

Thomas Schramme, Hamburg Empathie als der Kitt des moralischen Universums Ich stimme mit Michael Slote überein, was die Wichtigkeit der Empathie für die Grundlagen der Moral betrifft. Im Gegensatz zu ihm befasse ich mich jedoch nur damit, welche Rolle die Empathie dabei spielt, eine moralische Person zu sein. Ich werde zunächst den Begriff der Empathie untersuchen und mich anschließend der Frage zuwenden, inwiefern Empathie grundlegend für die Moral sein könnte. In den letzten Jahren wurden verschiedene Aspekte der Empathie ausgiebig diskutiert. Ich werde auf einige der dabei eingeführten Unterscheidungen zurückgreifen, um zu klären, welche dieser Aspekte für moralische Probleme relevant sind. Slote zufolge ist Empathie „ein motivierender psychologischer Mechanismus“ (Slote , ), bei dem „die Empfindung eines anderen (unfreiwillig) in uns hervorgerufen wird“ (ibid., ). Empathie muss vom Mitgefühl (sympathy) unterschieden werden. Beim Mitgefühl empfindet jemand ein Gefühl für einen anderen. Slote zufolge bedeutet daher Empathie – so nehme ich an –, dass jemand ein Gefühl oder eine Emotion mit einem anderen teilt. Dabei handelt es sich zumeist um negative Gefühle wie körperliche Schmerzen oder seelische Qualen. Fraglich ist jedoch, ob wir bei der Empathie immer – oder auch nur normalerweise – das fühlen, was jemand anderes fühlt. Beispielsweise wurde darauf hingewiesen, dass wir einer depressiven Person gegenüber empathisch sein können, ohne selber depressiv zu werden (Darwall ; siehe Slote , ). Natürlich könnte man entgegnen, dass wir einer depressiven Person gegenüber keine Empathie empfinden, sondern Mitgefühl, das heißt dass sie uns leid tut. Andererseits können wir zu einer depressiven Person durchaus ehrlich gemeint sagen: „Ich weiß, wie du dich fühlst“, denn wir können ähnliche Erfahrungen gemacht und uns beispielsweise niedergeschlagen und mutlos gefühlt haben. Es scheint, als wäre das möglich, ohne dass wir notwendigerweise mit der depressiven Person mitfühlen, also ohne ihr gegenüber Mitgefühl zu empfinden. Um zu wissen, wie sich jemand fühlt, müssen wir uns nicht in einem besonderen Gefühlszustand befinden. Der Gefühlszustand des anderen muss uns lediglich vertraut sein. Im Englischen wurde „Empathy“ zunächst als Übersetzung des deutschen Begriffs „Einfühlung“ verwendet, um damit einen epistemischen Mechanismus des Zugriffs auf einen anderen Geist zu beschreiben (Coplan und Goldie , xiii). Ich glaube nicht, dass Einfühlung notwendigerweise die Gegenwart irgendeines Gefühlszustands voraussetzt. Wir verstehen oft, was „in“ einer anderen Person vorgeht, die sich selber in keinem bestimmten Gefühlszustand Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (),  622 Thomas Schramme befindet (siehe auch Slote ,  f., wo Slote den Begriff „intellektuelle Empathie“ einführt). Für den Zugriff auf den mentalen Zustand eines anderen dürften allgemeine emotionale Fähigkeiten notwendig sein, denn es scheint, als erlernten wir unsere Fähigkeit, den Geist eines anderen zu „lesen“, zum Teil deswegen, weil wir fühlen können, was der andere fühlt. Im Gegensatz dazu kann ein Roboter wohl keine Empathie empfinden, weil ihm die Erfahrung jeglicher Gefühle fehlt. Ein Roboter kann vielleicht den Geist anderer Leute „lesen“, indem er aus dem Verhalten einer Zielperson bestimmte mentale Zustände ableitet, doch dies würde keine wirkliche Empathie darstellen, weil dabei der mentale Zustand der Zielperson keine Rolle spielt. Mit anderen Worten: Für einen Roboter steht nicht der mentale Zustand im Mittelpunkt, sondern das Verhalten. Der mentale Zustand des anderen ist eine Art Information, die aus dem Studium des entsprechenden Verhaltens abgeleitet wurde. Aber bei der Empathie ist der Geist einer Zielperson das Objekt unseres mentalen Zustandes und nicht bloß eine aus dem beobachtbaren Verhalten abgeleitete Datenmenge. In der (Neuro-)Psychologie existiert eine dem vorher Gesagten ähnliche Unterscheidung zwischen kognitiver und emotionaler – manchmal auch affektiv genannter – Empathie (zum Beispiel Shamay-Tsoory et al. ). In Bezug auf diese Unterscheidung habe ich nun behauptet, dass kognitive Empathie die Gegenwart emotionaler Empathie nicht voraussetzt. Jedoch setzt sie emotionale Empathie im Sinne einer allgemeinen Fähigkeit der (kognitiv) einfühlenden Person voraus. Dies ist eine empirische Behauptung, die durch entsprechende Befunde untermauert werden müsste. Slote versteht unter Empathie also offenbar nicht kognitive, sondern emotionale Empathie, da er für Empathie voraussetzt, dass die Empfindung eines anderen (unfreiwillig) in uns hervorgerufen wird. Doch es ist unwahrscheinlich, dass emotionale Empathie stets aktuell vorliegen muss, um motiviert zu sein, das moralisch Richtige zu tun – wie beispielsweise jemandem zu helfen. Emotionale Empathie mag ein moralisches Verhalten auslösen, ist aber wohl keine Voraussetzung für Moralität. Möglicherweise ist sie ihr sogar abträglich. Slote ist sich all dessen bewusst, wie vor allem anhand seiner Diskussion deontologischer Elemente der Moral deutlich wird (Slote ,  ff.). Für ihn scheint emotionale Empathie kein wesentlicher Aspekt von Moral zu sein, sondern vielmehr „empathische Sorge“ (emphatic concern). Dieser Ausdruck wurde von dem Psychologen Daniel Batson eingeführt und von Slote übernommen, obwohl er sich in seiner abschließenden Analyse Martin Hoffmans Entwicklungsgeschichte der menschlichen Empathie anschließt (Slote ,  ff.). Ein wesentlicher Bestandteil des Begriffs der empathischen Sorge scheint auch Mitgefühl zu sein, da der Aspekt der Sorge einen moralischen Blickwinkel erfordert, das heißt Mitgefühl impliziert, das wiederum durch Empathie zu erklären zu sein scheint. Es scheint unmöglich, das ausgereifte Vermögen zur Empathie von Formen des Zugehörigkeitsgefühls (fellow-feeling) wie dem Mitgefühl zu unterscheiden. Hoffman beispielsweise spricht explizit von einem Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (),  Empathie als der Kitt des moralischen Universums 623 „sympathetischen Bestandteil“ der Empathie (Hoffman ,  f.; siehe auch Darwalls Gedanke einer „proto-sympathetischen Empathie“, Darwall ,  f.). Das Fazit des ersten Teils meines Kommentars lautet also folgendermaßen: Slote versteht Empathie anscheinend als emotionale Empathie. Doch wenn er über die Rolle der Empathie in der Moral spricht, scheint er eine Lesart von Empathie zugrunde zu legen, die eher dem Mitgefühl ähnelt. Ich halte dies nicht für ein Manko der Theorie, sondern für die unausweichliche Konsequenz einer bestimmten Position innerhalb der Moralphilosophie, deren grundlegendes Element die Empathie ist. Ich gehe davon aus, dass Empathie eine wichtige Rolle beim Mitgefühl spielt und nicht vollständig von ihm getrennt werden kann, obwohl es sich dabei um distinkte Phänomene handelt. Das Mitfühlen mit einem anderen wiederum dürfte eine notwendige Bedingung dafür sein, einen moralischen Standpunkt (moral point of view) einzunehmen. Diese Formulierung beinhaltet eine These über die Rolle von Empathie und Mitgefühl in der Moral, die sich meiner Meinung nach zumindest implizit hinter Slotes Theorie verbirgt: Beide Fähigkeiten sind notwendig für die Moral, aber sie müssen nicht immer als Gefühle gegenwärtig sein, damit eine Person moralisch motiviert sein kann (siehe auch Slote ,  und , wo er Empathie als Fähigkeit versteht). Durch die Entwicklung unserer (Fähigkeiten zur) Empathie und zum Mitgefühl sind wir in der Lage, den moralischen Standpunkt einzunehmen, aber sobald wir einmal in diesem Sinne moralfähige Personen sind, müssen wir nicht tatsächlich einfühlen oder mitfühlen, um das moralisch Richtige zu tun (siehe auch Slote , , für die analoge Behauptung, dass das Gefühl direkter empathischer Sorge für die Bereitschaft, moralisch zu handeln, nicht vorliegen muss). Wir sollten, mit anderen Worten, Empathie und Mitgefühl als Fähigkeiten oder Können ansehen, die entwickelt, das heißt generell und potentiell universell angewandt werden können. Inwiefern ist empathische Sorge der „Kitt (cement) des moralischen Universums“ (Slote , )? In diesem Abschnitt möchte ich dafür argumentieren, dass Empathie – die ich hier als Fähigkeit interpretiere und nicht als ein aktuell vorliegendes Gefühl – in der Tat eine notwendige Voraussetzung für Moral ist. Moral wiederum verstehe ich als das Einnehmen eines moralischen Standpunkts oder den Umstand, eine moralische Person zu sein.¹ Indem wir durch Empathie Zugang zu dem Geist von anderen erlangen, entwickeln wir auch die Fähigkeit, uns um andere zu sorgen. Das ist aber noch nicht alles. Ich glaube, dass moralisch zu sein letztlich bedeutet, die Moral wichtig zu nehmen beziehungsweise darauf Wert zu legen, moralisch zu sein. Moral wichtig zu nehmen impliziert nicht, sich um bestimmte moralische ¹ Eine moralische Person muss nicht immer moralisch handeln, sondern ist in der Lage dazu, moralisch zu handeln. Diese Beschreibung verhält sich analog zu dem Begriff der vernünftigen Person, die sich auch unvernünftig benehmen kann. Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (),  624 Thomas Schramme Standards zu sorgen. Vielmehr sind uns bestimmte moralische Forderungen oft egal, die anderen sehr wichtig sind. Doch eine Person, der Moral wichtig ist, berücksichtigt moralische Erwägungen – wie auch immer diese aussehen mögen. Deswegen ist eine moralische Person keine amoralische Person.² Eine amoralische Person – also eine Person, der Moral egal ist – bleibt in der Moralphilosophie meist eine hypothetische Figur. In Anlehnung an die Debatten in der Erkenntnistheorie könnten wir eine solche Person einen moralischen Skeptiker nennen. In der Moralphilosophie wird manchmal behauptet, dass wir die grundlegendste Frage beantworten müssten: „Warum sollen wir moralisch sein?“ Dies ist die Frage, die der moralische Skeptiker aufwirft. Es hat jedoch den Anschein, dass real existierende Personen, denen Moral egal ist – Psychopathen – nicht in der Lage sind, einen moralischen Standpunkt einzunehmen. Zumindest legen Forschungsergebnisse dies nahe. Der Psychopath unterscheidet sich also von dem Amoralisten aus den philosophischen Debatten, der einen moralischen Blickwinkel einnehmen könnte, es aber nicht tut. Das Argument, das ich auf dieser Grundlage vorbringen möchte, besteht darin, einen empirischen Weg aufzuzeigen, wie wir einen Fortschritt in einer philosophischen Debatte erzielen können. Wenn wir wie Slote darüber nachdenken, was der Kitt der Moral ist, lohnt es sich vielleicht, Individuen zu studieren, die keinen moralischen Standpunkt einnehmen können. Psychopathie ist der Negativtest für eine Theorie über die Fähigkeiten, die für Moralität benötigt sind (siehe auch Slote , ,  f.). Das in diesem Zusammenhang wichtigste Forschungsergebnis lautet, dass Psychopathen über keine Empathie zu verfügen scheinen (siehe zum Beispiel Baron-Cohen ). Doch müssen wir mit unserer Terminologie vorsichtig umgehen. Ich habe den Begriff der empathischen Sorge bereits so beschrieben, dass er dem ähnelt, was ich den moralischen Standpunkt genannt habe, da er eine Komponente des Mitgefühls enthält. Die Argumentation droht hier, zirkulär zu werden: i) Einen moralischen Standpunkt einzunehmen bedeutet, sich empathisch zu sorgen. ii) Psychopathen können keinen moralischen Standpunkt einnehmen. iii) Psychopathen verfügen über keine empathische Sorge. Ich glaube jedoch nicht, dass wir es hier mit einem problematischen Zirkelschluss zu tun haben. Die Argumentation ähnelt vielmehr der empirischen Untermauerung einer begrifflichen These, die in der ersten Aussage aufgestellt wurde. Zumindest die dritte Aussage ist zum Teil empirisch und könnte sich in Zukunft als falsch erweisen. Deswegen untersuchen viele Philosophen die ² Um es noch einmal zu sagen: Eine amoralische Person ist keine unmoralische Person. Eine Person, die sich (regelmäßig) moralisch schlecht verhält kann durchaus moralische Maßstäbe anerkennen, auch wenn sie sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht entsprechend verhält. In diesem Fall ist sie keine substantiell moralische Person beziehungsweise keine moralisch gute Person und im schlimmsten Fall eine unmoralische Person. Einer amoralischen Person sind im Gegensatz dazu moralische Maßstäbe gleichgültig. Dennoch kann es sein, dass sie sich wiederum niemals unmoralisch verhält, weil sie gegen keine moralischen Regeln verstößt. Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (),  Empathie als der Kitt des moralischen Universums 625 Psychopathie als ein Phänomen, das im Zusammenhang mit Grundfragen der Moralphilosophie interessant ist (Nichols , Maibom ). Wenn wir uns der Meinung vieler Forscher anschließen und Empathie für eine der grundlegendsten moralischen Fähigkeiten halten – oder zumindest eine Fähigkeit, über die Psychopathen nicht verfügen – müssen wir uns zunächst die Tücken des Begriffs der Empathie vergegenwärtigen. Im ersten Abschnitt habe ich mich auf die weit verbreitete Unterscheidung zwischen kognitiver und emotionaler Empathie bezogen. Selbst wenn jemand zeigen könnte, dass Psychopathen über keine Empathie verfügen und nicht in der Lage sind, moralisch zu handeln, ist damit nicht gleichzeitig bewiesen, dass der moralische Sentimentalismus korrekt ist – allein schon, weil Empathie auch als kognitive Fähigkeit interpretiert werden kann. Forscher müssen deswegen genauer angeben, welchen Aspekt der Empathie sie studieren. Wir benötigen emotionale Empathie, um anzuerkennen, dass ein bestimmtes Verhalten schlecht für andere ist. Wir benötigen kognitive Empathie, um zu verstehen, dass alle Personen Bedürfnisse und Interessen haben, die durch die Moral geschützt sind – selbst bei den Menschen, mit denen uns keine emotionale Empathie verbindet, sowie im Fall von Bedürfnissen und Interessen, die keine emotionale Sorge hervorrufen (siehe Decety & Meltzoff ,  ff., für weitere Überlegungen zur Rolle, die kognitive Fähigkeiten bei pro-sozialen Einstellungen spielen). Ich wollte in meinem Kommentar darlegen, dass es sich bei dem grundlegendsten Aspekt der Moral um den moralischen Standpunkt handelt. Wir können nur dann eine moralische Person sein, wenn wir über gewisse Fähigkeiten verfügen. Letztere können durch Untersuchungen über Psychopathen bestimmt werden, die – davon gehe ich aus – unfähig zur Moral sind. Die empirische Forschung zur Psychopathie und damit zusammenhängende Studien über Empathie betonen, wie wichtig Empathie für Moralität ist. Ich habe also versucht, Slotes Behauptung zu verteidigen, dass Empathie „der Kitt des moralischen Universums“ ist. Dabei habe ich vor allem erläutert, in welchem Sinn seine Behauptung wahr sein könnte. (Übersetzung aus dem Englischen von Michael Weh) Literatur Baron-Cohen, Simon (), Zero Degrees of Empathy: A New Theory of Human Cruelty, London: Allen Lane. Coplan, Amy & Goldie, Peter (), „Introduction“, in: Coplan, Amy & Goldie, Peter (Hg.), Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press, IX – XLVII. Darwall, Stephen (), „Empathy, Sympathy, Care“, Philosophical Studies :  – . Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (),  626 Thomas Schramme Decety, Jean & Meltzoff, Andrew N. (), „Empathy, Imitation, and the Social Brain“, in: Coplan, Amy & Goldie, Peter (eds.), Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press,  – . Hoffman, Martin L. (), „Empathy, Justice, and the Law“, in: Coplan, Amy & Goldie, Peter (Hg.), Empathy: Philosophical and Psychological Perspectives, Oxford: Oxford University Press,  – . Maibom, Heidi L. (), „Moral Unreason: The Case of Psychopathy“, Mind and Language  ():  – . Nichols, Shaun (), „How Psychopaths Threaten Moral Rationalism: Is It Irrational to be Moral?“ The Monist  ():  – . Shamay-Tsoory, Simone G., Aharon-Peretz, Judith, Perry, Daniella (), „Two systems for empathy: a double dissociation between emotional and cognitive empathy in inferior frontal gyrus versus ventromedial prefrontal lesions“, Brain :  – . Slote, Michael (), The Ethics of Care and Empathy, London: Routledge. – (), Moral Sentimentalism, Oxford: Oxford University Press. Zeitschrift für philosophische Forschung, Band  (), 