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Das Spukhaus von Melchior Joller (Stans, Schweiz, 1862)

Der Spukfall Melchior Joller (Stans/ Schweiz, 1862) - Zusammenfassung Lukas Vogel: „Schreckliche Gesellschaft. Das Spukhaus zu Stans und das Leben von Melchior Joller“ (Verlag hier+jetzt, Baden, 2011; ISBN 978-3-03919-237-3) Bisher waren die Ereignisse vom Spätsommer 1862 in der „Spichermatt“, dem Haus von Melchior Joller (1818-1865) aus zwei Quellen bekannt. Das ist zum einen Jollers eigene Publikation Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen (Zürich, 1863), im Stile eines distanzierten, kühlen Rapports abgefasst und deshalb bisher stets als vertrauenswürdig eingestuft. Zum zweiten sind es die ergänzenden Recherchen von Fanny Moser in ihrem Buch Spuk – Irrglaube oder Wahrglaube? (Baden, 1950). Das neue Buch von Lukas Vogel beleuchtet den Spukfall Joller sowohl anhand neuer Quellen wie auch in seinem historischen und biografischen Kontext. Joller wollte sein Buch zuerst im katholischen Verlag Hurter in Schaffhausen veröffentlichen, es erschien jedoch am 1. September 1863 im Zürcher Verlag Hanke, offenbar nur in einer einzigen Auflage. Sein Titel verweist auf Maximilian Pertys Buch Mystische Erscheinungen der menschlichen Natur (Leipzig 1861). Perty war Professor für Zoologie und Anthropologie an der Universität Bern. Er schrieb nicht nur das Vorwort zu Jollers Schrift, sondern griff auch redaktionell ins Manuskript ein. Haus und Familie Stans, Hauptort des Kantons Nidwalden und in der Nähe des Vierwaldstättersees gelegen, war um 1860 ein Dorf mit 2‘000 Einwohnern. Das Haus „Spichermatt“ stand eine Viertelstunde Fussweg ausserhalb des Dorfzentrums am Weg nach Stansstad und Luzern. Der Vorgängerbau war im sogenannten Franzosenkrieg am 9. September 1798 abgebrannt. Jollers Grossmutter Veronika Gut – sein Grossvater war bereits gestorben – liess das Haus neu errichten. Ausser zur Zeit seines Studiums in Luzern, Freiburg im Breisgau und München (1835-1841) lebte Joller stets in diesem Haus. Beim Tod seines Vaters 1845 ging es in seinen Besitz über. 1850 liess er einen Anbau errichten mit einem damals in einer ländlichen Umgebung sehr ungewöhnlichen, asphaltierten Flachdach. Der Hof „Spichermatt“ gehörte um 1850 zu den wertvollsten Höfen in der Umgebung von Stans. Veronika Gut (1757-1829) war eine nationalistische Agitatorin, welche den Widerstand gegen die französisch dominierte Helvetische Republik (1798-1803) mit Worten und Geld unterstützte. Melchior Jollers Vater Jakob (1786-1845) war Veronika Guts einziger überlebender Nachkomme. Der Älteste kam 1798 im Krieg um, die vier Töchter verstarben bei einem mysteriösen Unfall zwei Jahre später. Melchior Joller hatte vier Schwestern, aber keine Brüder. Er war der einzige männliche Nachfahre von Veronika Gut. Joller besuchte bis 1835 die Lateinschule der Kapuziner in Stans, anschliessend drei Jahre lang das Gymnasium in Luzern, welches auf Grund der politischen Lage Luzerns als Bildungsstätte der liberal-katholischen Elite der Innerschweiz diente. Anschliessend studierte er ein Jahr in Freiburg im Breisgau, danach ein Jahr in München und wiederum ein Jahr in Freiburg. Diese süddeutsche Stadt und ihre Universität waren ein Hort des liberalen Katholizismus, Jollers Freiburger Professoren waren die Vordenker einer liberalen Staatsorganisation in Süddeutschland. In München besuchte er unter anderem eine Vorlesung über experimentelle Physik. Einen formellen Universitätsabschluss erlangte Joller nicht. In Freiburg lernte er auch seine künftige Frau kennen. Karoline Wenz (1820-1904) stammte aus einer Familie von staatlichen und kirchlichen Verwaltungsbeamten. Sie heirateten 1842 und zogen gemeinsam in die „Spichermatt“. Joller eröffnete eine Anwaltspraxis und führte gleichzeitig die Landwirtschaft, welche zum Hof „Spichermatt“ gehörte. Für die meisten landwirtschaftlichen Tätigkeiten stellte er Lohnarbeiter an. Zwischen 1843 und 1858 hatte das Paar sieben Kinder: Robert (1843-1877), Emaline (geb. 1845), Melanie (geb. 1848), Henrika (geb. 1850), Eduard (1851-1882), Oskar (1853-1881) und Alfred (1858-. Karoline Joller wurde als Fremde im Dorf nicht gern gesehen. Mindestens einmal wurde Joller während der Predigt vom Pfarrer angegriffen, weil er, statt Priester zu werden, vom Studium in einer fremden Stadt mit einer „armseligen elenden Heirat“ nach Hause gekommen sei. Zur Zeit des Spuks lebte ferner die Dienstmagd Christine Christen (1847-1917) im Haus. Anwalt und Politiker Mit Gleichgesinnten gründete Joller 1844 zusammen mit Gleichgesinnten die erste Zeitung des Kantons Nidwalden, das liberale Nidwaldner Wochenblatt. Es wurde auf Druck der Priesterschaft sofort verboten. Erst nach der Garantie der Pressefreiheit durch die Schweizer Verfassung von 1848 konnte es neu gegründet werden. Trotz rasch sinkender Abonnentenzahl wurde es mehrere Jahre weitergeführt. In den letzten Jahren war Joller nicht nur Redaktor, vielmehr stand auch die Handpresse für den Druck der Zeitung in der „Spichermatt“. Die Einstellung der Zeitung 1857 hinterliess Joller einen grösseren Schuldenberg. Immer wieder kandidierte Joller für Ämter in der kantonalen Führung, doch fand er trotz seines rhetorischen Geschicks an der Landsgemeinde, der politisch entscheidenden Versammlung aller wahlberechtigen Männer im Kanton, nie eine Mehrheit. Einzige Ausnahme war 1857 die überraschende Wahl als einziger Abgeordneter Nidwaldens in den Nationalrat, die Volkskammer des eidgenössischen Parlaments. Doch Joller machte sich bei seinen Wählern rasch unglaubwürdig: Schimpfte er vor der Wahl gegen die „Millionenspekulanten“, also die Eisenbahnunternehmer, so stimmte er im Parlament stets mit der dominierenden liberalen Fraktion um den mächtigen Zürcher Banken- und Eisenbahnunternehmer Alfred Escher. Im Parlament war er zwar fleissig anwesend, trat aber kaum mit Voten und schon gar nicht mit gewichtigen Gesetzesvorschlägen in Erscheinung. Er war ein Hinterbänkler, weshalb er nach Ablauf der Legislatur 1860 seine Chancen auf eine Wiederwahl realistischerweise als sehr gering einschätzte. Eine liberale Tageszeitung im benachbarten Luzern reihte ihn kurz vor dem Wahltermin unter die „Schlafmützen und Possenreisser“ ein. Joller verzichtete auf eine erneute Kandidatur, womit seine politische Karriere zu Ende war. Eine Herzensangelegenheit war für Melchior Joller das Schützenwesen, zumal er in der Milizorganisation der schweizerischen Armee keine Rolle spielen konnte. Die Schützenvereine waren eine wichtige Stütze der liberalen Bewegung und des jungen Schweizer Bundesstaates. Von der Gründung des Nidwaldner kantonalen Schützenverbands an war Joller dessen Sekretär, er gestaltete die Statuten mit und schrieb die Protokolle der Versammlungen. Als einer der Vertreter Nidwaldens hatte er einen grossen Auftritt am Eidgenössischen Schützenfest in Zürich 1859, zudem war er eine der treibenden Kräfte hinter dem Eidgenössischen Schützenfest von 1861 in seinem Heimatdorf Stans. Melchior Joller war zu seiner Zeit einer von nur zwei Anwälten mit einem juristischen Universitätsstudium im Kanton Nidwalden. Weitere Anwälte traten vor den Nidwaldner Gerichten auf, aber sie besassen kein universitäres Wissen. Die beiden studierten Anwälte standen oft mit- oder gegeneinander vor Gericht. In den meisten Fällen ging es um kleinere, aber für die Beteiligten teilweise existenzielle Rechtshändel wie Erbschaften, Kaufverträge, Wegrechte und Grenzziehungen. Über die Grenzen des Kantons Nidwalden hinaus fand ein Fall Aufmerksamkeit, in welchem Joller eine Frau vor Gericht vertrat, die zusammen mit ihrem Bruder ihren kleinen Neffen ermordet hatte, um an sein Erbe zu gelangen. Joller und seinem Anwaltskollegen gelang es, die beiden Mörder vor der Todesstrafe zu bewahren, was ihnen die Sympathie der liberalen Elite und den Zorn der konservativen Priesterschaft eintrug. Neue Quellen Nicht bekannt war, dass die staatliche Untersuchungskommission – die tatsächlich entgegen ihrem Auftrag keinen Schlussbericht ablieferte – sehr wohl Akten produziert hatte, darunter zwei Zeugenprotokolle, das Verhör mit Jollers Dienstmagd sowie ein Notizheft des Kommissionspräsidenten, in welchem er sämtliche ihm zugetragenen Nachrichten über den Fall und die Familie Joller neben sehr wenigen eigenen Beobachtungen notierte. Die Unterlagen zeigen, dass die Kommission weder das Haus minutiös untersuchte noch die von Joller genannten Zeugen befragte, sondern einzig nach Indizien suchte, um diesen Spuk als Betrug der Familie Joller nachweisen zu können. Als dies nicht gelang, brach sie ihre Arbeit ab. Nach vereinzelten Vorkommnissen ab 1860 brach der Spuk am Fest Mariae Himmelfahrt, 15. August 1862 heftig aus. Zwei Monate lang war insbesondere tagsüber immer wieder heftiges Poltern zu spüren, Türen und Fenster flogen auf und zu, vereinzelt waren Stimmen zu hören, Gegenstände flogen durch die Luft und nachts wurden Familienmitglieder von kalten Händen berührt. Dies dauerte so lange, bis die Familie am 23. Oktober 1862 das Haus fluchtartig verliess. Joller beklagte sich dabei nicht nur über den Spuk, sondern auch über den Hohn und Spott seiner ehemaligen politischen Weggefährten, welche ihm den Verbleib in Stans verunmöglicht hätten. Betrugsvorwürfe und Schulden Die folgenden drei Jahre verbrachte die Familie in wechselnden Mietwohnungen in Zürich. Mehrmals musste Joller vor Gericht erscheinen, weil ihm oder seinem inzwischen erwachsenen Sohn Robert Betrug vorgeworfen wurde. Im September 1865 reiste Melchior Joller mit seiner Frau und drei von sieben Kindern nach Rom, wo er rund zwei Monate nach Eintreffen verstarb. In Stans hinterliess er umfangreiche Schulden, die auf einen zu aufwendigen Lebenswandel zurückzuführen waren. Die Landwirtschaft seines stattlichen Hofes und sein Einkommen als Anwalt hatten nicht ausgereicht, um seine Ansprüche zu finanzieren. Mit der Übersiedlung nach Rom zerstreute sich Jollers Familie. Melanie ging nach Freiburg im Breisgau ins Kloster. Robert, Eduard und Oskar verstarben als Söldner in Niederländisch-Indien, nachdem Robert und Eduard bei den päpstlichen Zuaven gedient hatten. Emaline und Henrika verheirateten sich in Italien, der jüngste Sohn Alfred trat zuerst in die päpstliche Schweizergarde ein und wurde später Bibliothekar am Deutschen Archäologischen Institut in Rom. Spukphänomene traten in der Familie nach dem Wegzug aus Stans offenbar nicht mehr auf, ebenfalls nicht mehr im Haus „Spichermatt“. Die Biografie Jollers ist reich an unerfüllten Amibitionen, an aufwändigem Lebenswandel, an immer wieder erhobenen Betrugsvorwürfen. Das macht seine eigenen Aufzeichnungen über die Phänomene zwar nicht wertlos, doch sind diese – da als Rechtfertigung gegenüber seinen ehemaligen Nachbarn und politischen Freunden verfasst – mit grosser Vorsicht zu lesen.