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Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
Rexilius, Günter
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Zeitschriftenartikel / journal article
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Rexilius, G. (2001). Das Persönliche ist politisch ist psychologisch. Psychologie und Gesellschaftskritik, 25(4), 35-66.
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-18250
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Günter Rexilius
Das Persönliche ist politisch ist
psychologisch
Hat kritische Psychologie noch etwas zu sagen? Wenn ja, was, wie, wozu
könnte sie sich äußern? Oder gönnen wir ihr den Tiefschlaf, in den sie gefallen zu sein scheint? Müssen wir möglicherweise ihr Ableben registrieren
- und wäre ihr die eine oder andere Träne hinterherzuweinen? Eindeutige
oder rundweg überzeugende Antworten auf diese Fragen habe ich nicht,
aber sie haben mich angeregt, in Bezug auf kritische Psychologie, wie ich
sie verstehe, meine Position zu orten und eine persönliche Antwort zu finden. 1
Vorrede
Im Jahre 1988 fand am Psychologischen Institut der Universität Gießen 2
eine Veranstaltung statt, zu der die Fachschaft eingeladen hatte. Die OrganisatorInnen wollten, dem Thema »Katamnese« folgend, gemeinsam mit
einigen »Ehemaligen« darüber reden, was kritische Psychologie gewesen
war und sein könnte oder auch nicht. Eingeladen war eine Reihe von früheren Studentinnen, die bis in die siebziger Jahre hinein versucht hatten,
wie an vielen anderen Orten, so auch in Gießen, eine Psychologie zu entwickeln, zu lehren und in praktische Arbeit umzusetzen, die Veränderung
von solchen Lebensbedingungen zum erklärten Ziel hatte, an denen Menschen - viele Menschen - leiden und zerbrechen. In Debatte, Zwie- und
Streitgespräch sollten die Älteren den Jüngeren verständlich machen, wie
sie ihre eigene, die gesellschaftliche und die psychologische Entwicklung
zwischen 1968 und 1988 einschätzen, sie waren aufgefordert, den noch
Studierenden Rede und Antwort zu stehen, sich Kritik und Selbstkritik zu
stellen. Es geschah, was zeitgemäß war: Fronten waren entstanden zwischen denen, die sich von ihren psychologie- und gesellschaftskritischen
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Vorstellungen mehr oder weniger konsequent gelöst, sie nach eigener Deutung hinter sich gelassen hatten, und jenen, deren Begriffe sich wenig und
deren Ziele sich gar nicht verändert hatten. Während die einen sich überwiegend einer Wissenschaft zugewandt hatten, die gesellschaftliche, soziale
und individuelle Zustände als gegeben und nicht - oder nur durch vorsichtige und dosierte Eingriffe in Form von Absprachen mit allen beteiligten
Menschen, also durch kompetente Konfliktlösung hergestellte - betrachtete, beharrten die anderen darauf, dass die Zustände, denen ihre Kritik galt
und auf deren Veränderung ihr persönliches, berufliches und politisches
Handeln gerichtet war, sich verschärft und ihr wissenschaftliches Verständnis wie ihre praktische Absicht deshalb mehr denn je zutreffend war.
Der bemerkenswerte Höhepunkt dieses lebendigen und anregenden Wochenendes bestand in der pointiert und leidenschaftlich vorgetragenen Etikettierung Letzterer als die »Ewiggestrigen«, die nichts dazugelernt hätten.
Unter der Wucht dieses Attributs erstarb der zunächst von nostalgischer
Demonstration gemeinsamer Ziele und Vorstellungen getragene Dialog. Es
blieb der ernüchternde Eindruck, dass einige studenten bewegte AktivistInnen den Lauf der Geschichte Ende der siebziger Jahre verschlafen hatten,
sie standen ein wenig donquichotteähnlich und beschämt da wegen ihrer
scheinbaren Rückständigkeit und Unbelehrbarkeit. Aber auch irritiert,
weil für sie die intellektuellen Wendemanöver zu überstürzt und zu ziellos
abliefen - das Fazit, gesellschaftskritisches Denken und Handeln, also
auch kritische Psychologie, hätten sich überlebt, widersprach ihren eigenen
Erfahrungen und Empfindungen. Zu ihnen gehörte auch ich.
Dialektik, persönlich
Die mit dem Strom der Zeit und des wissenschaftlichen Fortschritts geschwommen waren, trafen mit ihrer Kritik, die durchaus verächtliche
Züge trug, eine wunde Stelle im Selbstverständnis der sich vergebens gegen
ihn Stemmenden, die mit zweifelnden Gedanken und beunruhigenden Gefühlen zurückblieben. Einerseits. Andererseits bewegte der Abschied der
Einen von den Analysen und Handlungsmustern, die wenige Jahre zuvor
noch unzweifelhaft richtig gewesen waren, die Anderen dazu, den eigenen
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Beweggründen nachzuspüren, über die ganz persönlichen Impulse für eine
Haltung nachzudenken, die mehr war als ein modischer Schwenk des Lebenslaufs. Die unwiderlegbare und nicht zu vertreibende Überzeugung,
dass tiefe eigene Gefühle, dass ein ganz dichter Teil der eigenen Lebensgeschichte mit Gedanken und Zielen und praktischem Handeln in sozialen
Randgruppen, im Studium, in politischen Gruppen eng verknüpft, ja mit
ihnen verwoben war, forderte Nachforschungen nach innen und nach außen heraus. Ich wurde fündig; und was ich fand, hat mit meinem Verständnis von kritischer Psychologie und mit ihrer möglichen Bedeutung heute
und morgen zu tun. Drei Befunde meiner Rückbesinnung und -betrachtung sollen einen roten Faden bilden, an dem entlang ich mich kritischer
Psychologie nähern möchte.
Der erste Befund hat mit meinen frühesten Erinnerungen zu tun. Bis
etwa zu meinem fünfundvierzigsten Lebensjahr haben mich, geboren im
Januar 1943, Kriegsträume regelrecht heimgesucht. Bomben fielen, Flugzeugmotoren dröhnten, Explosionen krachten in meinen Schlaf, ich wachte auf, schweißgebadet, voller Angst, herzrasend, manchmal jede Nacht.
Am Abend nach meiner Geburt wurde das Krankenhaus in Berlin, in dem
meine Mutter mich zur Welt gebracht hatte, von amerikanischen Bomben
getroffen; da die Gebärenden nicht in den Luftschutzkeller durften, mussten wir auf Station bleiben, der Wöchnerinnentrakt - unser Glück - blieb
nahezu als einziger stehen. Seit den ersten Stunden meines Lebens weiß ich,
dass Krieg eine schreckliche Angst in die Seelen von Menschen, vor allem
von Kindern, einbrennt, die sie nicht mehr loslässt, der sie sich nur unter
günstigen Umständen durch lange und langwierige Versuche, sie zu beund verarbeiten, ein wenig entziehen können. Das sekundäre Lernergebnis
aus diesen Erfahrungen bestand in der eindrücklichen Gewissheit, dass
Angst Menschen lähmt und sie in den stillen - depressiven oder resignierten - oder in den wirklichen Tod treiben kann oder für diejenigen gefügig
oder ungefährlich macht, die Angst auslösen.
Mein zweiter Befund hat mit dem Osten und dem Westen zu tun. Wir
wurden kurz nach meiner Geburt auf die Insel Rügen evakuiert, wo meine
Großmutter wohnte und uns aufnahm. Als ich vier Jahre alt war, kehrte
mein Vater aus russischer Gefangenschaft zurück. Wir zogen kurz vor meiP&G 4/01
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ner Einschulung in die Nähe von Stralsund auf das Festland. Ich war gerade in die zweite Oberschulklasse gekommen, als meine Eltern mir eröffneten - meinen beiden jüngeren Geschwistern enthielten sie diese Information vor -, dass wir alle in den nächsten Tagen wegziehen würden,
niemand dürfte davon wissen. Ich, knapp 15 Jahre alt, überlegte, ob ich
meine Eltern verraten sollte, weil ich glücklich war in der Schule, mit meinen Schulkameraden, bei den Jungen Pionieren, Freundschaftsratsvorsitzender war ich gewesen, in der Gesellschaft für Sport und Technik, das alles aufzugeben war ein fast unerträglicher Gedanke. Mich hatte irgendeine
Ahnung beschlichen, dass nicht gut sein würde, was meine Eltern angekündigt hatten. In einer - im wahrsten Sinne des Wortes - Nacht- und Nebelaktion flohen wir in den Westen, zunächst in Flüchtlingslager in Berlin und
Lübeck, dann nach Witten, wo mein Vater erste Arbeit bekam. Nun begann eine Erfahrung, die sich nicht weniger stark als jene Angst in mir festsetzte. Mein Vater konnte nicht als Bahnbeamter weiterarbeiten, weil die
Bundesbahn sich nicht verpflichtet sah, Reichsbahnangehörige einzugliedern. Er arbeitete - immerhin vierzig Jahre alt - einige Tage im Gleisbau,
bis er zusammenbrach, danach beim Edelstahlwerk Witten - später Thyssen - bei der Werksbahn, dann bei Opel in Bochum am Fließband. Er
machte Fernlehrgänge und schaffte nach vielen Jahren den Sprung als Angestellter in die Stadtverwaltung. Die berufliche Abwertung, die er erlitt,
die Missachtung seiner Fähigkeiten und Qualifikationen, die enttäuschten
Hoffnungen vom Land, in dem Milch und Honig fließen sollten, die demütigende Erfahrung, vierzig Jahre des eigenen Lebens einfach ausradiert zu
bekommen, verkraftete er nicht. Er wurde schwer depressiv, erkrankte
schließlich an Krebs und starb viel zu jung, für sich selbst, für seine Ehefrau, für seine Kinder.
Ich selbst, sehr guter Schüler in der DDR, erlebte ein völliges Desaster,
weil mein weit vorauseilendes naturwissenschaftliches Wissen und meine
sprachlichen Kenntnisse - Russisch - am Gymnasium nicht gefragt waren.
Das Aufbaugymnasium in Herdecke, besucht von vielen Kindern, die wie
ich aus der DDR kamen, wurde zu einer seelischen und intellektuellen Heimat. Neben der Schule hatte der Sport für mich eine große Rolle gespielt,
ich war Mitglied der Schülernationalmannschaft der DDR gewesen und
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wollte im Westen wieder Fußball spielen. Gewohnt an eine enge Verbindung von Fußballspielen und sozialer Erfahrung, hervorragend pädagogisch betreut von kompetenten Übungsleitern im Osten, schreckte mich die
westliche Kluft zwischen sportlicher Aktivität und sozialem Desinteresse jeder einzelne Spieler entfernte sich nach Training oder Meisterschaftsspiel
alleine, isoliert und verlassen von den anderen nach Hause - so sehr ab,
dass ich meine leistungssportlichen Ambitionen begrub. Noch in jugendlichem Alter hatte ich am Schicksal meines Vaters und am eigenen Schicksal erfahren, dass der gleichgültige Umgang von Menschen, die besitzen
und saturiert sind, mit Menschen, die auf Anerkennung, Respekt und Unterstützung angewiesen sind, krank machen, lebensbedrohlich sein und
menschliches Leben zerstören kann. Auch diese Erfahrung bewirkte einen
sekundären Lerneffekt, noch vor jeder Fähigkeit zu theoretischer Reflexion
sozialen Erlebens: Der gesellschaftliche Kontrast, den das Leben in zwei
Welten mir vermittelt hatte, die für mein Erleben verschiedener nicht sein
konnten, verankerte in mir als eine zweite mich durchdringende Gewissheit, dass die Gleichgültigkeit von Menschen gegenüber Menschen ein
Grundmodell von Kommunikation und Interaktion - oder einfacher: des
Umgangs mit- beziehungsweise gegeneinander - in dem Land war, in dem
ich nun lebte.
In diese Zeit fiel der nachdenkliche Blick stärker auf das Leben meiner
Eltern. Ich sah, wie beide ihr Leben mit Arbeit verbrachten, von frühmorgens bis spätabends, um ihren drei Kindern eine optimale Entwicklung
einschließlich Abitur und Universität zu ermöglichen, und wie für dieses
Leben, das von Mühen und Anstrengungen gezeichnet war, außer gelegentlichen Urlaubsreisen und einem kleinen Wohnwagen nichts, aber auch
nichts übrig blieb an auch nur mäßigem oder erwähnenswertem Wohlstand, an Zufriedenheit, gar Glück. Das Leben meiner Eltern führte mich
zu meinem dritten lebensgeschichtlichen Befund, es öffnete mir Einblick in
Benachteiligung, Elend, in Ausbeutung und Ungerechtigkeit über den familiären Horizont hinaus. Es kann, so sagte ich mir, nicht angehen, dass
materielle Güter und Lebenschancen so ungleich und ungerecht verteilt
sind, wie ich es in meiner eigenen Familie und, über sie hinausblickend, bei
vielen Menschen immer deutlicher sehen lernte. Jeder Mensch, so die komP&G 4/01
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plementäre Überlegung, hat so viel Anspruch und Recht auf Anteil an den
gesellschaftlichen Früchten - egal ob Güter, Kultur, Bildung, Wissen - wie
der andere; eine derart krasse Ungleichverteilung, wie sie alltäglich zu erleben ist, kann nur bedeuten, dass wenige sich auf Kosten - materielle, seelische, körperliche usw. - vieler anderer bereichern. Noch vor jedem theoretischen Begriff hatte sich dieses Alltagswissen, das dem Auge und dem
Ohr, die nicht versperrt sind, nicht entgehen kann, in mir festgesetzt, es bewegte mich, trieb mich an, Erklärungen und Begründungen zu finden. Und
es führte zu einem dritten sekundären Lerneffekt: Es ist nicht nur angemessen, auf solche Ungerechtigkeiten im menschlichen Zusammenleben mit
Wut und Zorn zu reagieren, sondern es ist geradezu verwunderlich und bedarf der Erklärung, wenn diese Gefühle sich nicht einstellen bei dem, der
das existentielle Unrecht sieht oder gar erlebt.
Dialektik, das Persönliche transzendierend
Die in ihrer Entstehung skizzierten Gefühle und Einsichten führten ein
Schlummerdasein in mir, als ich begann, in Bochum Psychologie zu studieren. Mein Theorieverständnis, mein psychologisches und politisches Denken und Handeln, sind zwar ohne ihre Vorgeschichte nicht zu verstehen;
erst durch die Begegnung mit einer nachdenklichen und gesellschaftskritischen, in außerparlamentarischer Opposition erfahrenen StudentInnengeneration aber erhielt sie einen mehr als persönlichen Sinn. Die unmittelbare Konfrontation mit einer lebendigen, energischen und aktiven Kritik
innenpolitischer (Bundeswehr und NATO, Nazis in hohen politischen und
gesellschaftlichen Ämtern, Ausgrenzung und Ächtung von Kommunisten
u.v.m.) und außenpolitischer (Vietnamkrieg, chinesische Revolution, Algerienkrieg, südamerikanische Befreiungsbewegungen) Ereignisse und Entwicklungen erwies sich als individueller Glücksfall. Bei dem Versuch, den
Sog, den die soziale Bewegung, die mich erfasste, gedanklich zu durchdringen, entdeckte ich recht schnell eine Reihe struktureller Gemeinsamkeiten
mit meiner eigenen Lebenserfahrung und ihren noch diffusen inneren Ergebnissen. Vor allem der Kontrast zwischen den Theorien und Methoden
der Psychologie und den Erfahrungen in der sozial-politischen Arbeit, die
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vom ersten Semester an das Studium begleitete, war unfasslich, unbegreiflich. Von Armut und Elend im Obdachlosenasyl, vom Leiden der Kinder
dort, von den Qualen der Psychiatrisierten in den Landeskliniken, von all
den irritierenden bis erschütternden Lebensumständen, zu denen die praktischen Erfahrungen im sozialen Feld Zugang verschafften, wusste die Psychologie nichts. Zu ihnen hatte sie nichts zu sagen, zu ihrem Verständnis
nichts beizutragen, vor allem zur Veränderung keine Meinung und keine
Methoden. Als hätte Erkenntnis einen Resonanzboden, klang in meinem
Kopf und in meinem Empfinden an, was die ersten zwei eigenen Lebensjahrzehnte an erkenntnisrelevanten Resten zurückgelassen hatten.
Zu begreifen war diese gesellschaftliche Wirklichkeit durch Erklärungen, die gesellschaftskritische Theorie zur Verfügung stellte und die in das
psychologische Verstehen der Studierenden einzudringen begannen - jenseits und abseits der prüfungsrelevanten Psychologie, deren VertreterInnen
ihren unerschütterlichen Glauben an Richtigkeit und Wichtigkeit ihrer
Wissenschaft trotz ihrer sozialen und gesellschaftlichen Irrelevanz nicht nie - verloren. Für die politisch-psychologische Sozialisation vieler StudentInnen aber wurden andere theoretische Entwürfe und praktische Eingriffe
in Leiden machende Zustände wichtig: Eine gesellschaftskritische Psychoanalyse, die Diskussionen aus den zwanziger und dreißiger Jahren über
Psychoanalyse und Marxismus wieder aufgriff und neurotische Reaktionen und Abwehrmechanismen in soziale und gesellschaftliche Vorgänge
einbettete; eine Psychiatriebewegung - Antipsychiatrie in England und den
USA, Demokratische Psychiatrie in Italien und Frankreich, Sozialpsychiatrie in Deutschland -, die ein völlig neues, das medizinische überwindende
und auch den kranken als sozialen Menschen verstehendes Krankheitsmodell entwickelte; eine gesellschaftswissenschaftlich unterfütterte Sozialpsychologie, die menschliches Fühlen, Denken und Handeln auf die konkreten
und erfahrenen Lebensbedingungen bezog; eine Psychologiekritik, die der
Kausalverkürzung und Wirklichkeitsferne psychologischer Theorie und
Methodik auf den Grund ging und sie bis ins theoretische Detail und das
einzelne Testergebnis hinein nachwies. Diese Art der wissenschaftlichen
Nahrung, genossen neben dem für den Studienabschluss notwendigen formalen Studienverlauf, half sowohl zu verstehen, an welchen konkreten
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Bedingungen ihrer Existenz viele Menschen litten und zerbrachen, als auch
dem Ausmaß an Gleichgültigkeit, Angst und Zorn, das sich in der eigenen
Lebensgeschichte verdichtet hatte, theoretisch auf die Spur zu kommen.
Wissenschaft als Hoffnung
Es lag gewissermaßen in der Natur der Sache - für mich: des Psychologiestudiums und sozialer Randgruppenarbeit -, dass Unzufriedenheit mit der
vorhandenen Wissenschaft und praktisches Eindringen in krankmachende
Lebensverhältnisse eine neue Wissenschaft entstehen ließen. Die theoretischen Suchhilfen, die sich anboten, waren radikal in einem wörtlichen, ja
in einem euphemistischen Sinne und schafften es, den bedrückenden, oft
genug verkrüppelnden Lebensverhältnissen, die jeder Mensch selbst spüren oder als Lebensrealität anderer Menschen wahrnehmen konnte, bis an
ihre historischen, ihre materiellen, ihre ideellen, ihre religiösen, ihre kulturellen Wurzeln zu folgen und damit so etwas wie ein umfassendes Verständnis ihres Entstehens und ihrer Grundlagen herzustellen. Diese auch
ästhetisch beeindruckende Vollkommenheit in der Verbindung von gesellschaftlicher Wirklichkeit und ihrer begrifflichen Abbildung hatte Theorie
zuvor nicht erreicht, weder bei Kant noch bei Hegel noch bei Nietzsehe,
aber auch bei Marx oder bei Freud nicht - erst ihre erkenntniskritische Zusammenschau machte einen solchen Höhepunkt verstehender Annäherung
an die Wechselwirkung von Mensch und Gesellschaft möglich. Die theoretische Radikalität ließ nicht locker, sie setzte sich gedanklich, vor allem
aber gefühlsmäßig fest und forderte zum Handeln heraus: Nicht oft in der
deutschen Geistesgeschichte wurde so viel, so leidenschaftlich, so ernsthaft
über das Verhältnis von Theorie und Praxis geredet. Das Ringen um ihre
Verbindung war keinem stupiden oder selbstgefälligen Aktionismus geschuldet, es war kein Ersatz für theoretische Blindheit oder Ratlosigkeit,
sondern der theoretische Begriff selbst zwang zum Handeln, war Impuls
für das praktische Zupacken: Wer verstanden hatte, wo Ungerechtigkeit
und Benachteiligung ihre Wurzeln haben, blickte der Verantwortung für
ihr Fortbestehen oder ihre Veränderung buchstäblich ins Auge. Schließlich
erfuhr diese praktische Seite der Wissenschaft eine theoretische Legitima-
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tion, die Mut machte, zum Handeln ermunterte, ja herausforderte: Kritische Theorie erwies sich auch insofern als radikal, als sie die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse als Produkt menschlichen Handelns durchschaubar machte und die Menschen - alle Menschen - als ihre Subjekte, als ihre
GestalterInnen ermutigte, aus ihnen durch ihr eigenes Tun, durch ihr forderndes Eingreifen, lebenswerte Zustände zu machen. 3
Der theoretische Blick von der Ebene der oberflächlichen Erscheinung
auf die wesentlichen Triebkräfte und Entwicklungsbedingungen der gesellschaftlichen wie der individuellen Wirklichkeit transportierte basale Einsichten in aktuelle gesellschaftliche Zusammenhänge und Entwicklungsprozesse und führte - für die eher nach verbindlichen und erklärenden
Erkenntnissen Suchenden durchaus überraschend - auf eine ganz neue,
dem wissenschaftlichen Vorgehen scheinbar wesensfremde Ebene: Sie verlangte nach einer Entscheidung für oder gegen gesellschaftliche Bedingungen, die als ursächlich für Lebensverhältnisse erkannt wurden, unter und
an denen viele Menschen leiden. Die scheinbare Wertfreiheit von Wissenschaft, die dem theoretischen Gedanken seine unbegrenzten Möglichkeiten
eröffnen sollte, erwies sich als gebunden an das Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, den politischen und ökonomischen - und nicht
zuletzt auch den sozialen - gesellschaftlichen Status quo möglichst unangetastet zu lassen. Diese Wissenschaft - so die unmittelbar einleuchtende Kritik an ihr - beinhaltete eine unbewusste Parteinahme für diese gesellschaftlichen Gruppen, die von dem So-sein der Zustände profitierten, indem sie
andere Menschen beherrschten und ausnutzten. Wissenschaft und Ethik,
so eine der wichtigsten und bis heute strittigsten Einsichten aus der Verbindung von Theorie und Praxis, sind nicht voneinander zu trennen, sondern
sind wie die zwei Seiten einer Medaille miteinander verbunden. Erkenntnissuche steuert unwiderruflich auf eine Entscheidung zu, das eigene Handeln bewusst in eine Veränderung krankmachender Lebensverhältnisse
einzubinden oder sie - manchmal bewusst, oft aber eher naiv-desinteressiert -zu rechtfertigen und zu stärken. 4
Wissenschaft, wie sie sich in jenen Jahren Bahn brach in die Köpfe und
in die Eingeweide derjenigen, die wissen und verändern wollten, wies Eigentümlichkeiten auf, die in ihrer Konzentration mit der Bündelung von
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Lichtstrahlen durch ein Brennglas zu vergleichen sind, weil sie das Spektrum möglicher Eigenschaften wissenschaftlicher Durchdringung von Welt
und Mensch zu seltener Kraft vereinte: Sie deckte Zusammenhänge zwischen allen Ebenen oder Facetten menschlicher Existenz auf; sie half, die
Ursachen und Bedingungen individuellen Leidens zu erkennen; sie lieferte
die theoretischen Kategorien, mit denen zu begreifen war, wie falsches Bewusstsein von den eigenen Lebensbedingungen den verändernden Eingriff
in sie lähmt; sie schuf die Voraussetzungen, um in den eigenen Gefühlen
und Gedanken psychische Abbilder der vergangenen und aktuellen existentiellen Bedingungen zu erkennen; sie weckte schließlich in denen, die
sich ihr öffneten und sie für sich instrumentell erschlossen, das »Prinzip
Hoffnung«5, sie könnte zur Befreiung von Zwang, Unterdrückung und
Täuschung dienlich sein. Die Vorstellung von einer emanzipatorischen
Wissenschaft, deren theoretische Einsichten radikal verändernde Handlungsräume erschließt, hatte diese leidenschaftliche Konnotation, die von
der Sehnsucht nach einer besseren Welt durchdrungen ist; sie war keine
Phrase, in ihr verdichtete sich die Hoffnung, sie paraphrasierte die Erotik
einer Transformation des Bestehenden in ein in vieler Hinsicht Besseres.
Theoretisches Durchdringen der vorfindlichen und erlebten Wirklichkeit und ihr Hineinfließen in praktische Optionen, hatten etwas mit dem
»Glück des Denkens«6 zu tun, von dem Adorno spricht, mit dem er Gedanke und Gefühl in einer semantischen Figur vereint. Sie hatte, in dieser
Gestalt, nun keineswegs alle erfasst, die in diesen Jahren politisch und wissenschaftlich sozialisiert wurden. »Das Persönliche ist politisch ... «, lautete in den bewegten Jahren des erhofften gesellschaftlichen Umbruchs ein
wichtiger Slogan - feministischer Herkunft -, der zunächst noch dialektisch gemeint war: »... und das Politische ist persönlich«. Selbst im alltäglichen Handeln in der Familie, in der Gruppe, in der Partnerschaft drücken
sich gesellschaftliche Zwänge und Strukturen aus, und in diesem Eindringen des Allgemeinen auch noch in die letzten Fasern des Besonderen, des
Konkreten, liegt die emanzipatorische Chance verborgen, es zu verändern,
hier und heute und jetzt. »Wer im Stehen pisst, ist für das System« - es gibt
kaum einen zweiten (Toiletten-)Spruch aus jener Zeit, der in seiner Deutlichkeit mehr zur Differenzierung zwischen denjenigen taugt, denen die
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Dialektik von Freiheit und Notwendigkeit der Veränderung auf allgemeiner und besonderer Ebene ein lebenserfüllendes Anliegen war, und denen,
die dann doch lieber an ihrer herrschaftskonformen Haltung - ihres Körpers und ihres Innenlebens - festhalten wollten.
Eine ähnlich differenzierende Wirkung erreichte nur noch die Frage,
wie man denn zur Roten Armee Fraktion (RAF) stünde. Es zeigte sich Mitte der siebziger Jahre mit überraschender Geschwindigkeit, dass die meisten Protagonisten gesellschaftlicher Veränderung sich für die verschiedenen Seiten der Existenz dieser Gruppierung nicht mehr erwärmen konnten.
Sie brachen ihren Ausflug auf ihre sozialromantische Spielwiese lieber ab,
als sich herausstellte, dass es riskant sein konnte, mit den »Schmuddelkindern « 7 zu spielen, als die Aktionen der RAF von ihnen verlangten, sich
noch einmal zu den Gründen für ihr gesellschaftskritisches Engagement zu
bekennen und anstelle einer Flucht auf die sichere Seite privater und beruflicher Existenz sich auf eine differentia specifica der militanten Aktionen
einzulassen. Nur noch Wenige erkannten, dass die RAF mit ihren Überfällen und Entführungen auf der Handlungsebene nicht nur einerseits kriminell handelte, von den gesellschaftlichen Konventionen her gesehen, und
mit der Tötung von Menschen sich ethisch aus der friedlich-sozialen Utopie eines gesellschaftlichen Umbruchs verabschiedet hatte, sondern dass sie
andererseits konsequent vollendete, was radikale Theorie nicht nur nahe
legte, sondern aufdrängte: Vor allem Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin
hatten einen historischen Höhepunkt von Erkenntnis und Handeln mit
ihrem eigenen Leben verknüpft. Wer Elend nicht nur sieht, so ihre persönliche und politische Logik, sondern mitempfindet, was es mit Menschen
macht, wer zudem einen Begriff von den Ursachen, den Bedingungen und
der Entwicklungslogik dieses Elends gewonnen hat, und wer schließlich
verstanden hat, dass Menschen das Leiden anderer Menschen herbeiführen und zu verantworten haben, der muss sich zu den Wurzeln vorarbeiten, um das Elend auszumerzen, und Wurzeln liegen tief im gesellschaftlichen - im historischen, im wirtschaftlichen, im politischen - Untergrund.
Fühlen, Denken und Handeln sind in den Aktionen der RAF eine immer
widersprüchliche, aber immer auch in ihrer Radikalität folgerichtige und
in ihrer Tendenz befreiende Symbiose eingegangen: Wissenschaftlich geseP&G 4/01
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hen waren sie ein aktionistischer Höhepunkt gesellschaftlicher Bewegung
mit dem Ziel, Elend, Leiden und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Die Dialektik von Persönlichem und Politischem, von Lebensgeschichte und gesellschaftlicher Entwicklung, von Wissen und Handeln, hatten sie einerseits
zugespitzt, andererseits in einer Weise überspitzt, die sie zugleich als Modell für gesellschaftliche Veränderung aufheben musste. 8
Psychologie und Lebensnerv
Wir PsychologiestudentInnen entwickelten auf dem Hintergrund unserer
wissenschaftlichen und sozialen Lernprozesse eine neue Psychologie. Sie
wies Besonderheiten auf, deren Eindringlichkeit sich kaum entziehen
konnte, wer mit der Hochschulpsychologie unzufrieden und durch die
praktischen Erfahrungen im sozialen Feld aufgerüttelt war. Die praktischen
und die sie bedenkenden psychologischen Seitenwege führten direkt zu den
Erkenntnisinstrumenten, die verständlich machen konnten, wie bedrückende und kränkende Lebensverhältnisse entstehen, auf welche Fundamente sie sich stützen und mit welchen Mitteln sie aufrechterhalten und
weiterentwickelt werden. Es waren zunächst einmal die marxistische
Theorie von den ganz praktischen Grundlagen einer kapitalistischen Gesellschaft mit ihren strukturellen Auswirkungen und die gesellschaftskritischen Analysen Kritischer Theorie, die sie auf die alltägliche Erfahrung
und das soziale Leben und Erleben übertrug, die verstehen halfen, wie ungerechte und unsoziale Lebensbedingungen entstehen, welche materiellen
Grundlagen sie haben, wie sie gerechtfertigt werden und welche Folgen sie
zwangsläufig für viele Menschen haben, die Erleben und Empfinden dem
Kopf, dem gedanklichen Durchdringen zugänglich machten. Sie drängten
sich nicht etwa im Studium der Psychologie auf, sondern waren die Inhalte
eines zweiten, eines Paralleluniversums des studentischen Daseins, in dem
ein Studium neben dem Studium, ergänzt von einer ernüchternden sozialen
Praxis, von einern erkenntniskritischen Aha-Erlebnis zum nächsten beförderten.
Als Teil einer wissenschaftlichen Bewegung, die selbst vor den Naturwissenschaften nicht Halt machte und deren Rolle bei Krieg, Unterdrü-
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ckung und Zerstörung von menschlichem Leben hinterfragte, entstand
eine Psychologie mit unterschiedlichen Facetten, deren VertreterInnen miteinander verband, dass sie die dialektische Eingebundenheit von Menschen
in ihre gesellschaftlichen Lebensverhältnisse als Erkenntnis- und Handlungsgrundlage verstanden. 9 Sie lösten die Menschen, über die sie forschten und mit denen sie praktisch umgingen, aus ihren vielfältigen Lebensbezügen nicht heraus, sondern erkannten in diesen die wesentlichen
Bedingungen für die Entwicklung und den Zustand menschlicher Psyche
und menschlichen Verhaltens. Zugleich versuchten sie, die methodologische Kluft zwischen ForscherInnen und Beforschten aufzuheben, indem sie
jeden einzelnen Menschen als Subjekt, als aktiven Gestalter seines eigenen
Lebens und Experten für sich selbst ernst nahmen, was ihn im Forschungsund Interventionssetting zum Partner werden, nicht länger Objekt bleiben
ließ. Kritische Psychoanalyse, Sozialpsychiatrie, Sozialpädagogik, Kritische Psychologie oder gesellschaftskritische Psychologie - so unterschiedlich sie die Akzente innerhalb ihrer Kritik an der vorherrschenden Psychologie oder ihrer innovativen theoretischen und praktischen Ideen und
Modelle setzten, so einig waren sie sich darin, sich an einem neuen Menschenbild zu orientieren und die Wissenschaft Psychologie als Instrument
zur Veränderung von Lebensverhältnissen und zur Linderung von Leidensprozessen zu nutzen. Auch die Psychologie, so lässt sich resümieren, befand sich an einem Höhepunkt der Vielfalt ihrer Ideen, der Radikalität ihres Selbstverständnisses wie ihrer gesellschaftlichen Einbindung. Sie war
dazu angetan, einen psychologischen Beitrag zu leisten, um gleichgültige
Umgangsformen zwischen Menschen durch partnerschaftliche und gleichberechtigte zu ersetzen, der Angst ihre Grundlagen zu nehmen, die der Zurichtung und Einpassung von Menschen in von anderen vorgegebene Lebensverhältnisse dient; sie strebte an, Zorn produktiv zur Veränderung
dieser Verhältnisse zu nutzen, nicht nur individuell im psychotherapeutischen Setting, sondern sozial, gesellschaftlich, als befreiendes Grundrnuster menschlichen Handelns. 10
Nicht zuletzt machte psychologische Theorie, die sich vom naturwissenschaftlich-experimentellen Paradigma löste und ihren nomothetischen
Anspruch aufgab, es möglich, sich selbst als fühlendes und verstehendes
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Wesen zu begreifen. Psychoanalyse wies darauf hin, dass seelische Dynamik mit den existentiellen Bedingungen von Menschen zusammenhängt
und eine Befreiung aus inneren Zwängen an den äußeren Lebensumständen ansetzen muss; kritische Psychologie verdeutlichte, wie psychisches
Geschehen im einzelnen gesellschaftlich überformt wird und weIche Möglichkeiten Menschen als einzelne und miteinander haben, sich individuelle,
soziale und gesellschaftliche Handlungsräume zu schaffen, indem sie sich
als Subjekt ihrer Lebensverhältnisse ganz praktisch betätigen. Von diesem
Selbstverständnis her hatten es insbesondere psychologische Wissenschaftlerinnen in der Hand, der marxistischen Theorie entscheidende Impulse
für ein radikales, also die Wurzeln menschlichen Fühlens und Denkens erfassendes, Verständnis von Mensch und Gesellschaft zu entleihen. In der
Werttheorie des »Kapital« war die weitreichendste Erklärung der Verhaltensmuster angelegt, die seit der Entstehung des Kapitals als Entwicklungsgrundlage gesellschaftlicher Vorgänge den Umgang von Menschen miteinander grundlegend prägen. Marx erläutert in den ersten Kapiteln seines
Hauptwerkes die Grundregeln des Warentausches, denen gemäß die Gebrauchswerte von Gegenständen der Vergleichbarkeit wegen einen abstrakten Maßstab für ihren Tausch gegen andere Gebrauchswerte benötigten. Entscheidend an der Entstehung dieses Maßstabs ist, dass der soziale
Charakter des Tauschs - die Begegnung von Menschen in der Reichhaltigkeit ihrer Persönlichkeit, ihrer Erfahrungen und ihrer Geschichte - in ihm
zunehmend verschwand und durch das ersetzt wurde, was man getrost als
den Schlüssel zum Verständnis der Dynamik moderner kapitalistischer Gesellschaften bezeichnen kann: Die Gleich-Gültigkeit der Waren als Basis
für die Gleichgültigkeit der Menschen einander gegenüber. ll
Gleichgültigkeit als ein - neben anderen - grundlegendes gesellschaftliches Verhaltensmuster gegenü ber anderen menschlichen Individuen, gegenüber ihren gleichberechtigten Ansprüchen an ein nicht weniger zufriedenes oder glückliches Leben als das von anderen, gegenüber Achtung
ihrer Geschichte und ihrer Kultur, gegenüber ihrer Würde als unversehrte,
autonome Subjekte, hat sich in die Weitsicht, in das Weltverständnis der so
genannten westlichen Kultur tief eingenistet. Es ist so selbstverständlich
geworden, dass es weder erlebt noch bemerkt wird, es wird durch habitu-
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Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
elle soziale Umgangsformen zugedeckt, aber es durchzieht selbst sie noch
wie ein roter Faden: Im Verhalten armen und leidenden Menschen gegenüber; im Umgang mit Behinderten, wie es für unsere Gesellschaft typisch
ist; in der Akzeptanz gegenüber Arbeitslosigkeit und sozialer Deklassierung; in rassistischen Einstellungen, wie sie die Gesellschaft verseucht haben; in der politischen Entwicklung der letzten Jahre - man könnte unzählige Beispiele anführen, die Ausdruck genau der Gleichgültigkeit sind, die
mit der Entstehung des Warentauschs verbunden und mit ihrer Entwicklung zu einer tragenden psychologischen Säule kapitalistischer Gesellschaften geworden ist. 12
Gesellschaftskritische Psychologie hatte sich ziemlich weit zu den
Wurzeln eines Verständnisses menschlichen Leidens, seiner historischen
Quellen, seiner materiellen Grundlagen und der Möglichkeiten, es aus seinen gesellschaftlichen Fesseln zu befreien, vorgegraben. Sie erkannte die
Gleichgültigkeit als Schlüsselbegriff für das Verständnis sozialer Verhältnisse; die Erfahrungen ihrer VertreterInnen im sozialen Feld machten die
Angst von benachteiligten und ausgegrenzten Menschen deutlich: Lebensangst, Existenzangst, Angst um ihre Kinder - Folgen der Gleichgültigkeit,
mit der sie leben müssen, ein Gefühl, das dem Leben jedes Einzelnen wie
ein seelisches Krebsgeschwür innewohnt. Aber im Kontakt, in der psychologischen oder pädagogischen oder politischen Zusammenarbeit mit den
unterprivilegierten Menschen, wurde auch ihre Wut spürbar, die zornige
Spannung, die innerfamiliär, gegen Frauen und Kinder, in latenter wie manifester Aggressivität, in den verschiedensten selbstzerstörerischen Verhaltensweisen zum Ausdruck kam. Kritische PsychologInnen hatten und haben den emotionalen Schlüssel zum Verstehen sozialer Gegenwart in der
Hand.
Wendezeit ...
Mitte der siebziger Jahre bahnte sich das Ende der Hoffnungen an. Sie
schlugen zurück, sie machten dem aufmüpfigen Spuk ein Ende, sie, die als
Establishment, als herrschende Gruppen, als die Mächtigen in verschiedensten gesellschaftlichen Lebensfeldern bezeichnet worden waren. Als nachP&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
haltig wirksam erwIesen sich die Berufsverbote, die im exemplarischen
Verfahren an Tausenden von LehrerInnen, HochschullehrerInnen, PädagogInnen und anderen politisch - gesellschaftsverändernd - engagierten
Menschen zwei Ziele »auf einen Streich« erreichten: Wer in Prozessen um
ihre politische Gesinnung und ihr berufliches Handeln gemaßregelt und/
oder exkommuniziert wurde, war künftig aufgrund legaler Gewaltausübung daran gehindert, Wissen um die Entstehung menschlichen Leidens
und die Möglichkeiten von Veränderung weiterzugeben und praktisch
werden zu lassen. Wer diese Methode der Existenzvernichtung - um nichts
anderes handelte es sich in vielen Fällen - bei FreundInnen oder KollegInnen oder GenossInnen erlebte, wurde in die innere Flucht geschlagen, verunsichert, verängstigt, »the police inside« wurde implantiert. 13 Die Berufsverbote waren in ihrem Prinzip wie in ihrem Ausmaß nicht nur der Anfang
vom Ende kritischer Wissenschaft, sie erstickten im Wortsinne die zarten
Keime eines glücklicheren Lebens für alle Menschen hierzulande, nicht
zum ersten Mal in der deutschen Geschichte. Auf der Grundlage des sogenannten Radikalenerlasses konnten diejenigen aus dem öffentlichen Dienst
- also dem für Akademikerlnnen sozialer und pädagogischer Fachrichtungen wichtigsten Arbeitsmarkt - herausgehalten werden, die nach Meinung
der politischen und juristischen und wissenschaftlichen Experten für die
rechte Gesinnung nicht auf dem Boden der »Freiheitlich-Demokratischen
Grundordnung« standen. Der kritische Geist, die kritische Wissenschaft,
hatten in diesem Staat keine Heimat mehr, ihren VertreterInnen blieb die
mehr oder weniger verlogene Anpassung - zu der sich die meisten bedrohten ehemaligen Weltverbesserer mit guten, existenzsichernden Gründen,
entschlossen -, Resignation oder der Suizid. 14
Unter dem Druck der Verhältnisse, aus vielfältigen persönlichen Gründen, nicht zuletzt aber auch, weil ihnen die theoretische wie die praktische
Radikalität kritischer Wissenschaft von jeher nicht geheuer gewesen war,
wich die reflexive Auseinandersetzung vieler Intellektueller mit Welt und
Mensch zunehmend auf Positionen zurück, die so political wie psychological correct waren. Zudem stellte sich heraus, dass viele Kritikaster sich von
der Aufhebung der sozialen Distanz zwischen den Forschenden und den
Beforschten überfordert fühlten. So viel Nähe zu Menschen aus unteren
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P&G 4/01
Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
gesellschaftlichen Schichten, mitfühlende oder mitleidende Nähe zu ihnen,
schließlich sogar Handlungsmodelle, in denen hierarchische Klarheit
durch gemeinsames Tun unterlaufen zu werden drohte, sprengte den Rahmen der Bereitschaft, sich auf Veränderung einzulassen. Was Russell
Jacoby 15, bezogen auf die Entfernung kritischer Impulse aus der psychoanalytischen Theorie und Praxis, mit ),sozialer Amnesie« umschrieb, galt
nicht weniger für die übrige Psychologie, für die Psychiatrie, für die Pädagogik, für alle sozialen Arbeitsfelder und für ihre wissenschaftlichen
Begründungen: Der Leitsatz »das Persönliche ist politisch« verlor seine
dialektische Kraft, die persönliche Seite des Politischen, im Sinne einer Verpflichtung, mit seiner theoretischen und praktischen Arbeit einen Beitrag
zur Veränderung von bedrückenden und erniedrigenden Lebensverhältnissen zu leisten, ging verloren.
Mit der Verabschiedung dialektischen Verstehens und Handelns sagte
Wissenschaft sich zwangsläufig von den Begriffen los, die gesellschaftliche
Widersprüche benannt und angreifbar gemacht hatten; die es in ihrer gedanklichen Radikalität geschafft hatten, kapitalistische Produktionsverhältnisse in ihrer historischen Genese, in ihrer Struktur, in ihrer Entwicklungsdynamik und in ihren Auswirkungen auf die unmittelbar betroffenen
Menschen, auf die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse hier und überall
auf dem Globus durchschaubar zu machen: Herrschaft - von Menschen
über Menschen; Ausbeutung - von Menschen durch Menschen; Gewalt von Menschen gegen Menschen; falsches Bewusstsein über diese Widersprüche - von Menschen anderen Menschen aufgezwungen, etwa über
Wirklichkeit verdeckende Sprachregelungen; Imperialismus und Kolonialismus - die Beherrschung und Ausbeutung von Menschen in der »unterentwickelten« durch Menschen in der westlichen Welt; Faschismus - die
technisch perfektionierte Form von Ausbeutung, Herrschaft und falschem
Bewusstsein, die mit der technologischen Entwicklung in immer perfekteren und damit immer schwerer erkennbaren Erscheinungsformen auftritt
und auftreten wird. Nicht zuletzt machte die so absurde wie vehemente
Ausgrenzung politökonomischer und philosophischer Grundlagen des
marxistischen Weltverständnisses deutlich, dass es nicht um ein diskursives
Ringen um Wahrheit oder theoretische Angemessenheit ging, sondern um
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
Verdrängung, um Angst, aber auch um Karriere und Anbiederung. Politische Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaft, Ideologiekritik durch
Marx und Engels, durch Adorno, Horkheimer oder Bloch, Alltagsanalyse
durch Brückner oder Lefebvre, haben die kapitalistische Wirklichkeit mit
einer solchen Präzision in ihren Grundzügen beschrieben, dass sie auf die
gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände passen wie ein Maßanzug,
auch wenn Muster und Farbe nicht mehr in jeder Einzelheit übereinstimmen. Abschied von dieser wissenschaftlichen Erkenntnis kapitalistischer
Wirtschaft und ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen bedeutet bis heute,
Verzicht auf Verstehen und Verändern, bedeutet also, zunehmend unmenschlicher werdende Lebensverhältnisse zu dulden .
... in der Psychologie
Besonders bemerkenswert in Bezug auf den deutschen Geisteszustand, der
in den siebziger Jahren für kurze Zeit aus seinem Schlummer erwachte, in
den er nach 1945 gefallen war, ist die Unterstützung, die die politischen
Gegenreformer ausgerechnet von den Schulen und Hochschulen bekamen.
Zugleich exemplarisch und besonders ausgeprägt bewirkte dort der theoretische und methodische Dissens zwischen dem wissenschaftlichen mainstream und den kritischen Herausforderungen an ihre VertreterInnen
schon nach wenigen Diskursversuchen eine totale Abschottung nicht nur
gegen wissenschaftliche Impulse, sondern vor allem gegen personelle Teilhabe kritisch-psychologischer KollegInnen an Forschung und Lehre. Die
Deutsche Gesellschaft für Psychologie (heute: DGPs) verweigerte denen die
Aufnahme, die sich den Kriterien einer experimentell-verhaltenswissenschaftlichen Psychologie nicht unterwerfen konnten und wollten, weil sie
ihrem Wissenschaftsverständnis nicht genügten, und nahm ihnen damit die
Möglichkeit, sich in wissenschaftlichen Debatten zu profilieren und ihre
Ansätze und Vorgehensweisen in fachgerechte Diskussionszusammenhänge einzubringen. Das mainstream-Kartell funktionierte perfekt: Da Berufungskommissionen an fast allen Hochschulen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft von den Mitgliedern der DGPs dominiert wurden,
bekamen die kritischen PsychologInnen - von wenigen Ausnahmen abge-
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P&G 4/01
- - - - - - - Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
sehen - keine Chance, ihre Vorstellungen von Wissenschaft und einer engen Verknüpfung von Forschung, Lehre und Praxis, weiterzuentwickeln.
Innerhalb von fünfzehn Jahren war kritische, gesellschaftskritische Psychologie personell und damit auch wissenschaftlich ausgeblutet. Die wenigen übriggebliebenen Hochschulenklaven, vor allem das Psychologische
Institut an der Freien Universität Berlin, wurden zu einem langsamen Tod
verurteilt, der eintrat, als »der letzte Häuptling« der Kritischen Psychologie, Klaus Holzkamp, leider viel zu früh starb.
Kritische Psychologie und aktuelles Geschehen
Interessiert also die in den Abgründen gesellschaftlicher Verhältnisse verwurzelte Wissenschaft vom menschlichen psychischen Geschehen, die kritische Psychologie, nicht mehr? Doch, sie interessiert. Denn sie erst hilft,
die Frage nach der möglichen Bedeutung einer gesellschaftskritischen Psychologie heute zu beantworten. Kritische Psychologie weiß so viel wie keine anderer Wissenschaft über menschliche Gefühle, über ihre Dynamik,
ihre Abhängigkeit von den konkreten Lebensbedingungen, aber auch über
die Mechanismen ihrer Verdrängung und die aus ihnen entstehenden Leidensprozesse. Die theoretischen Versuche zu verstehen, wie sich faschistische Empfindungs- und Denkmuster in den Menschen Anfang der dreißiger Jahre eingenistet haben, haben Überzeugungskraft erst gewonnen,
als die familiären Strukturen und ihre individuellen Folgen sowie die psychischen Vorgänge der Überzeugung und die seelischen Voraussetzungen
für sie deutlicher herausgearbeitet wurden. Sinnvolle bzw. erfolgreiche Psychotherapie nutzt den reflektierenden Rückgriff auf die Lebensgeschichte
und die Lebensbedingungen des leidenden Menschen und ihre Folgen für
seine psychischen und psychosomatischen Befindlichkeiten. Erziehung ist
im wesentlichen Ergebnis profunder Kenntnisse kindlicher Gefühle und
kognitiver Entwicklungsprozesse in Abhängigkeit von den äußeren
Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind. In nahezu allen psychologischen
Theorien und Methoden stecken Annahmen oder Wissen um die Zusammenhänge zwischen psychischem Geschehen und menschlichen Existenzbedingungen, auch wenn ihre BetreiberInnen sich dieser VoraussetzunP&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
gen häufig nicht bewusst sind. Kritische Psychologie war - und ist - der
bislang umfassendste Versuch, sich diesen Zusammenhängen wissenschaftlich-systematisch und praktisch-verändernd zu nähern.
An einem Beispiel, das sich angesichts aktueller gesellschaftlicher Zustände aufdrängt, will ich versuchen, mich der Bedeutung kritischer Psychologie hier und heute zu nähern. Die roten Fäden der dialektischen
Untersuchung von menschlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen, Gleichgültigkeit, Angst und Zorn sollen beispielhaft aufgegriffen
und als Erkenntnisinstrumente für aktuelles Geschehen verwendet werden.
An einem aktuellen Beispiel möchte ich veranschaulichen, wie ihr kritischpsychologisches Verständnis Einsichten in ihre Entstehung, ihren dynamischen Ablauf und ihre Folgen vertiefen kann: Am 11. September, am Krieg
als Mittel der Politik und am Abschied von den letzten demokratischen
Schamgrenzen; der Zerstörung des sozialen Netzes.
Der 11. September
Die Anschläge von New York und Washington haben fast alle Menschen
erschreckt. Die durch ständigen Medienkonsum auf eigentlich jeden
Schreck vorbereiteten inneren Verarbeitungsmuster wurden auf eine völlig
unerwartete, die eigentlich grenzenlose Phantasie überragende Weise herausgefordert, treffender noch: überfordert. Erst die auf den Schreck folgenden Reaktionen bilden, kritisch-psychologisch betrachtet, die gesellschaftliche Realität in ihrer Widersprüchlichkeit ab. Die meisten PolitikerInnen
spürten sofort, mehr als dass sie zunächst begriffen, dass etwas geschehen
war, das die gängigen Systeme der Herrschaftssicherung bis an ihre Fundamente erschütterte. Erstmals in der Geschichte der letzten einhundertfünfzig Jahre hatten die Unterdrückten und Ausgebeuteten in einer Weise zurückgeschlagen, die nicht mit den üblichen geheimdienstlichen und militärischen Interventionen hinreichend zu beantworten war. So tief auch bei
ihnen der Schreck saß, dass hier eine von ihnen nicht mehr kontrollierbare
Geschichte des Widerstands beginnen könnte, so exzentrisch und maßlos
waren die Reaktionen, in jeder Hinsicht: Sie sprachen von einer Bedrohung
der ganzen zivilisierten Welt, was ihre eigene Angst zum Ausdruck brachte
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P&G 4/01
- - - - - - - Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
und einem Rufen im Walde bei Dunkelheit glich, um sich selbst Mut zu
machen, aber auch denen Angst machen sollte, auf deren Rückhalt sie
mehr denn je angewiesen waren, der sogenannten Bevölkerung. So wichtig
ihnen sonst Symbole sind, die emotional gebundene Gefolgschaft sichern
helfen, so perfekt sorgten sie dafür, dass der Symbolgehalt der Anschläge
aus der öffentlichen Diskussion umgehend verschwand: World Trade Center, Pentagon und Weißes Haus als Ziele konnten symbolischer nicht zum
Ausdruck bringen, wer getroffen werden sollte: Das für Elend und Hunger
verantwortliche Kapital; das Pentagon als Schaltzentrale kriegerischer Vernichtungsstrategien überall auf der Welt; das Weiße Haus als Machtzentrum nicht nur Amerikas, sondern der westlichen Welt insgesamt. Wer
symbolische Botschaften lesen kann, wusste sofort, um was es den Attentätern ging; alles Gerede von fanatischen islamischen Fundamentalisten,
von einem Privatkrieg des Ossama bin Laden gegen die USA usw. dienten
lediglich dem Zweck, die Botschaft zu verschleiern: Nur weil mindestens
die Hälfte der Menschheit alle Gründe und die zu ihnen passenden Hassgefühle hat, konnte sich eine solch extreme Handlungsvariante herausbilden.
Alle weiteren Argumente mögen ihre konnotative Berechtigung haben, an
der denotativen Bedeutung der Geschehnisse vom 11. September ändern
sie nichts.
Kritisch-psychologisch gesehen ist nicht auszuschliessen, dass die Attentäter nicht nur ihre eigene Botschaft mitteilen wollten, sondern auf die
Brüchigkeit der inneren Verhältnisse in den westlichen Gesellschaften zielten, darauf, die Folgen von gleichgültigen sozialen Verhältnissen, von existentieller Angst und versteckter Wut in selten klarer Weise erkennbar und
spürbar werden zu lassen: Im Gegensatz zu den offiziellen politischen Reaktionen äußerten sich viele Menschen privat oder öffentlich - soweit sie
nicht als sogenannte Prominente floskelhafte Gemeinplätze von sich gaben
- mit einer demonstrativen Klarheit. Sie sprachen nachdenklich von dem
Signal, das wir endlich verstehen sollten, von der Schuld, die wir alle an
diesen Anschlägen und ihren Ursachen tragen, von dem Elend und dem
Hunger, die der Westen zu verantworten hat und die Hass und Aggression
hervorbringen, und sie benannten Widersprüche, wie die Tatsache, dass
kaum jemand sich so sehr über die zahllosen Kinder, die täglich an Hunger
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
sterben, aufregt, wie über die Toten von New York. Sie äußerten Einsichten und Mitgefühl, mit den Opfern von New York nicht weniger als mit
den zu erwartenden Opfern durch einen Rausch von Rache und Vergeltung, in den Politikerlnnen und Medien unterschiedslos fielen.
Wer verstehen will, so bestätigten diese Wortmeldungen und Meinungsäußerungen kritisch-psychologische Einblicke in psychisches Geschehen, muß mitfühlen können, unterschiedslos. Viele Menschen verstanden, was kritisch-psychologisches Verständnis menschlichen Handelns in
wissenschaftliche Begriffe zu fassen versucht hat: Wenn die Gefühle sprechen, haben sie Gründe; und auch wenn sie es so vernichtend tun, wie in
den USA geschehen, liegen ihnen noch subjektive Erfahrungen mit konkreten Lebensbedingungen, emotional bewertetes Erleben von Menschen, zugrunde. In diesem Anschlag wird erkennbar, welche explosiven emotionalen Folgen Gleichgültigkeit von Menschen gegenüber Menschen hat, dass
ihre vielen Facetten sich auf vielen verschiedenen Handlungsebenen abspielen können. Im den letzten Jahrhunderten macht die globalisierte
Gleichgültigkeit sich für Menschen jenseits des Wohlstandsäquators
zunehmend dadurch bemerkbar, dass sie ihrer natürlichen Reichtümer
beraubt werden, sich freiwillig oder unter politischem oder, wenn nötig,
unter militärischem Druck, westlichen Wirtschafts-, Kultur- und Lebensformen anpassen müssen, und dass sie an Hunger, an westlichen Waffen
oder in bürgerkriegsähnlichen Fehden sterben, in denen sich ihre Angst,
ihre Verzweiflung und Wut und die in ihre Köpfe und Seelen exportierte
Gleichgültigkeit Ventile suchen. So wie Sarkasmus und Resignation die
Sprache der Hoffnungslosen innerhalb der Grenzen gleichgültiger sozialer
Lebensverhältnisse - also hierzulande - ist, so ist der subversive Anschlag
die Sprache der Hoffnungslosen jenseits dieser Grenzen: Diese Art von gezielter Gewalt gibt eine kaum misszuverstehende Antwort auf die Frage,
ob eine gleichgültige Behandlung von Menschen, die ihr Leben zu einem
endlosen Leidensprozess werden lässt, denn folgenlos bleiben könnte. Sie
ist die Sprache der Angst, deren Semantik sich ökonomischer Gleichgültigkeit verdankt und deren Grammatik der zur Handlung gewordene Zorn
ist. In ihr ist die Dialektik von Politischem und Persönlichem, die sich im
Empfinden jedes einzelnen Menschen eingräbt und in sozialen, kulturellen
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P&G 4/01
- - - - - - - Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
und religiösen Metaphern »vererbt« wird, zur Tat geronnen, praktisch geworden. Der kritisch-psychologische Blick auf das Ausmaß dieser Gewalt
kann den systematischen Zusammenhang zwischen ihren politischen und
wirtschaftlichen - also fundamentalen gesellschaftlichen - Wurzeln und
ihre individuellen Folgen freilegen helfen.
Krieg, das haben auch viele von denen verstanden, die hierzulande unter friedlichen Bedingungen aufgewachsen sind, spitzt die Gleichgültigkeit
gegenüber Menschenleben, gegenüber dem Anspruch jedes Menschen auf
Leben und menschenwürdige Lebenschancen, auf eine grausame Weise zu.
Er löst Angst aus vor Bomben und Granaten und Verzweiflung über sterbende und verstümmelte Kinder, aber auch eine ohnmächtige Wut darüber,
der Gewalt aus Stahl und Sprengstoff nur den eigenen Körper entgegensetzen zu können, oft nur das Wider-Wort. Diese Empfindungen verstärken
sich, wenn Menschen den Eindruck gewinnen, als denkende und fühlende
Subjekte ihrer Lebensverhältnisse nicht ernst genommen zu werden, weder
durch Politikerlnnen 16 noch durch Medien, über die sie notgedrungen ihre
Informationen beziehen müssen. Als die Medien sich selbst gleichschalteten und über den Krieg nach den Attentaten möglichst wenig und in entschärfendem Vokabular berichteten, und als sie darauf verzichteten, objektive oder, wenn sie fehlten, wenigstens Informationen aus allen verfügbaren Quellen zu berichten, damit dem Einzelnen ein abgewogenes, subjektiv
gewichtetes Urteil möglich wird, fühlten viele Menschen sich belogen und
betrogen einerseits, noch weiter verunsichert und verängstigt andererseits.
Sie brachten ihre Angst, ihr Mitgefühl und ihre Wut gegenüber kriegerischem Handeln zum Ausdruck, ihrer eigenen Gleichgültigkeit gegenüber
blieben oder wurden sie selbstkritisch und nahmen den Einbruch von Krieg
in ihr Leben zum Anlass, die Dialektik von Persönlichem und Politischem
für sich zu beleben. Im staatstreuen Kontrast begruben die Medien diese
individuell wie gesellschaftlich lebenswichtige Dialektik durch sprachliche
Kriegsführung und verbale Täuschung. In den Köpfen und Empfindungen
von Menschen, wo die Dialektik der Geschichte, wo Persönliches und Politisches nicht durch Bomben zerstört werden können, wird sie vom wirklichkeitsangemessenen Empfinden und Verstehen abgespaltenP
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
Die Eingriffe in die Komplexität des seelischen Geschehens werden
weiter verstärkt, wenn Menschen sich von anderen Menschen zwingen lassen, einer Kriegsteilnahme und repressiven Gesetzen zuzustimmen, obwohl
sie wegen ihrer Überzeugung eigentlich dagegen stimmen müssten, wenn
sie sich einer auf die Spitze getriebenen Gleichgültigkeit gegenüber ihren
Gefühlen und ihrer Selbstachtung unterwerfen. Diese Renaissance der autoritäts-gehorsamen Gleichförmigkeit ist aus kritisch-psychologischer Sicht
in ihren Folgen für die seelische Dynamik wie für die rationale Realitätsbewältigung vieler Menschen folgenschwer, weil der semantische Schleier,
der über ihr liegt, wie die demokratischen Rituale, hinter der sie verborgen
werden, zu einem unauflösbaren Widerspruch in Denken und Fühlen führen. Persönliches und Politisches werden in einer Weise zerrissen, die Angst
schürt und dazu zwingt, Wut zu verdrängen, nicht nur bei denen, die unmittelbar betroffen sind - eine Kombination sozialer Erfahrung, von der
kritische PsychologInnen, nicht zuletzt geschult durch psychoanalytische
Einblicke in seelische Dynamik, wissen, dass sie nicht nur den einzelnen
Menschen krank machen, sondern eine gesellschaftliche Form des Zusammenlebens von innen her zersetzen können. t8
In den letzten jahrzehnten, beschleunigt in den letzten drei jahren, haben die gleichgültige GrundeinsteIlung - und damit das von ihr verursachte
Gefühlskonglomerat aus Angst, Resignation und verdrängter Wut - sich
zur gesellschaftlichen Grundregel entfaltet. Bedrohlich, vielleicht dramatisch an diesem normativen Wandel ist, dass er begleitet wird vom aufwendigen Bemühen, ihn zu verschleiern. Wir erleben, wie Täuschungsmanöver
für Denken und Fühlen raffinierter und perfekter angewendet werden. Dieser Sachverhalt ist keinem Zufall zu verdanken, sondern hängt zusammen
mit und ist typisch für bestimmte Muster der Darstellung von Wirklichkeit, nämlich ihrer Mystifikation und semantischen Verschleierung. Diese
Formen der Demagogie beziehungsweise der emotionalen Infiltration sind
eines der wesentlichen Kennzeichen des Politik- oder Gesellschaftsentwurfs, der sich in den letzten jahren politisch, also gesellschaftliche Lebensumstände gestaltend, durchgesetzt hat; der gesellschaftliche und individuelle Lebenswirklichkeit im sozial-kommunikativen Duktus entschärft
und beschönigt, aber in der konkreten politischen Umsetzung konsequent
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P&G 4/01
Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
gleichgültig und verängstigend ist, mit allen menschlichen Folgen, die dieser Haltung anhaften, verborgen unter einer vorgeblich sozial geprägten
Moral.
Doppelmoral ist die gleichgültige Aufhebung von Moral, das gelebte
Desinteresse an ihr. Moral hat mit Angst zu tun, vor den Sanktionen, die
ihrer Verletzung folgen könnten. Das Spiel auf der seelischen Klaviatur
wurde perfekt. Die politische Doppelmoral diente zur Rechtfertigung eines
mörderischen und schamlosen Krieges: Ein monatelanges Bombardement
eines ohnehin schon zerstörten Landes; die grausamstem Bombentypen und
Minenteppiche gegen die Zivilbevölkerung; Tausende von getöteten Menschen, die das Pech hatten, in Afghanistan gelebt zu haben; ein entlarvend
lächerlicher Feldzug, der in Kauf nimmt, dass Hunderttausende an Hunger
sterben, weil die für ihr Überleben notwendigen Lebensmittel durch die
Bomber ferngehalten und in einer zerstörten Landschaft nicht transportiert
werden können (ein lO-jähriger Junge neulich im therapeutischen Gespräch: das wäre doch etwa so, als wenn mein Bruder mit Fäusten gegen
mich kämpfen würde und ich einen Speer in der Hand und Pistolen im
Gürtel zu stecken und eine Handgranate hätte).
Der Gleichgültigkeit hinter einer Doppelmoral, der Menschenleben
nichts wert sind, wenn sie einer angeblich zivilisierten Definition von lebenswertem Leben nicht genügen, korrespondiert die Angst, die als Mittel
zur Gleichschaltung von Meinung und Haltung ebenfalls einen historischen Höhepunkt erlebt. Freund oder Feind, Verbündeter oder Gegner,
Claqueur oder Banause, mitmachen oder ausgegrenzt werden - diese einfache Logik der September-Moral kann jede und jeder verstehen und sich
entscheiden. Nicht nur Ulrich Wickert hat angstvoll einen argumentativen
Purzelbaum geschlagen, nicht nur einige Lehrer in Hessen und SchleswigHolstein mussten ihre Friedensliebe mit Suspendierung bezahlen: Mit dieser Moral des Entweder-Oder, mit dem, was im Deutschen Bundestag geschehen ist, deutet sich das Ende demokratischer Kultur- nicht unbedingt
demokratischer Phraseologie oder formaler Rituale - hierzulande an. Es ist
nur eine historische Pointe, dass diese Ereignisse im Reichstag lokalisiert
sind. Den ehemaligen DDR-Oppositionellen, die in einem offenen Brief
ihrer Resignation über die hiesigen Verhältnisse Ausdruck verliehen l9 , haP&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
ben aus ihrer Erfahrung mit staatlicher Repression den Finger zielgenau in
die deutsche scheindemokratische Wunde gelegt.
Aufgaben kritischer Psychologie
Die vorstehenden Überlegungen zum 11. September und seinen Folgen,
zum Krieg und zur sozialen Deklassierung vermitteln einen nur oberflächlichen Eindruck von jener theoretischen Radikalität, die der kritischen Psychologie eigen ist. Bei den Wurzeln der besonderen Ereignisse ist sie erst
angelangt, wenn es ihr gelingt, so etwas wie allgemeine Erkenntnisse herauszuarbeiten, die einen die einzelnen Geschehnisse übergreifenden Hintergrund für ihr Verständnis bilden können. Wenn Doppelmoral Politik
durchsetzt, damit ihre unmenschlichen Seiten kaschiert werden können,
sollte es die Aufgabe kritischer Psychologie sein, auf die Folgen für
menschliches Seelenleben hinzuweisen, etwa auf die double-bind-Situation, in die sie Menschen drängt. PsychologInnen wissen, dass krank wird,
wer in eine solche Beziehungsfalle gezwungen wird, weil die emotionale
Kälte - oder Gleichgültigkeit -, weil die Angst, die sie auslöst, und weil die
wegen der Abhängigkeit vom Fallensteller verdrängte Wut, die sie ebenfalls schafft, betroffene Menschen verrückt, konfus, handlungsunfähig machen, sie lähmen. 2o Es kann ein Bestreben kritischer Psychologie sein, den
Zusammenhang zwischen diesen sehr persönlichen Folgen gesellschaftlicher Doppelmoral und ihren politisch-historischen Grundlagen zu benennen. Kritische Psychologie hilft aber auch denjenigen, ihren Blick auf ihre
Lebensrealität und die Gründe für ihr Elend zu lenken, die hören und wissen wollen. Gleichgültigkeit, Angst, Zorn könnten drei Schlüsselbegriffe
zeitgemäßer seelischer Dynamik, den aktuellen Lebensverhältnissen angemessener Verhaltensmuster sein, sie könnten helfen, die Mechanismen von
Herrschaft und Unterdrückung aufzuspüren und aufzudecken, die überall
dort zur Grundlage menschlichen Zusammenlebens werden, wo kapitalistisches Wirtschaften und sie rechtfertigende Politikmuster gesellschaftliches Leben und individuelle Entwicklung bestimmen. Was immer Karl
Marx falsch gesehen oder verstanden haben mag - diesen Zusammenhang
zwischen ökonomischer, sozialer und seelischer Dynamik hat er durch-
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P&G 4/01
- - - - - - - Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
schaut und verständlich gemacht wie kein anderer Wissenschaftler.
Schließlich müsste es ein Anliegen kritischer Psychologie sein, eine der bedeutendsten Leistungen kritischer Wissenschaft, die Verschwisterung von
ethischer Haltung und wissenschaftlicher Forschung, wiederzubeleben, der
doppelbödigen Moral auf den Grund zu gehen und Wege aufzuzeigen, wie
ihrer lähmenden Wirkung durch entdeckende Erkenntnis und veränderndes Handeln Einhalt geboten werden kann.
Kritische Psychologie mag auch in diesem Heft viele Facetten haben.
Die in diesem Beitrag ausgebreitete Position erhebt keinen Anspruch auf
Vollständigkeit oder umfassende Erkenntnis; sie soll ermuntern, die Psychologie als radikale Wissenschaft nicht zu vergessen und ihre analytische
wie ihre verändernde Kraft zu sehen. Wenn kritische Psychologie gesellschaftlich etwas bewegen könnte, dann wäre sie geeignet, diejenigen, die
ihre Botschaft verstanden haben, zum Handeln zu ermuntern. Das Ausmaß gesellschaftlicher Bedrohung, wie es in diesem Beitrag gesehen wird,
fordert auf, in die Prozesse der Veränderung, in die Vorgänge des Angstmachens und der Gleichgültigkeit einzugreifen. Kritische Psychologie in
diesem Sinne kann mit ihrem Wissen über den Zusammenhang zwischen
gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und individueller Existenz gesellschaftliche Veränderung bewirken: Sie kann die Dialektik von Persönlichem und Politischem ernst nehmen, sie kann über die psychischen und
sozialen Wurzeln und Folgen gesellschaftlicher Lebensbedingungen aufklären und dazu ermuntern, psychologische Erkenntnis in veränderndes Handeln umzusetzen. Wenn sie es schafft, das persönliche Erkennen und Verstehen als politisch begreifbar zu machen und damit ihren AdressatInnen
als Ausgangspunkt für die praktische, die politische Intervention nahezubringen, hat sie eine unverzichtbare Aufgabe: Egal, ob aufklärerische Impulse oder (partei-)politische Arbeit oder ressourcenstärkende Intervention
im sozialen Feld, ob Unterstützung von AsylbewerberInnen oder von Behinderten, ob psychotherapeutische Arbeit mit leidenden, manchmal mit
traumatisierten Menschen oder Schutz von Kindern vor Armut und Elend
- jeder praktische Eingriff ist ein Stückchen Abwehr von Gleichgültigkeit
und Angst und ein Beitrag zur produktiven Wendung von Wut, die sich
nicht mehr selbstzerstörerisch oder zerstörerisch gegen andere Menschen
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - -
äußern muss. Nicht zuletzt kann berufliche Praxis ein Ort sein, kritischpsychologisches Verstehen in konkretes Handeln umzusetzen, egal in weichem psychologischen Arbeitsfeld. 21
Nachrede
Mein Vertrauen in die aufklärerische Wirkung, die kritische Psychologie
nach wie vor haben könnte, nährt sich unter anderem, wie ich zu skizzieren versucht habe, aus der besonderen Dialektik von Persönlichem und Politischem in meiner eigenen Lebensgeschichte. Sie ist noch tiefer in mir verwurzelt, als ich zu Beginn meiner Überlegungen angedeutet habe. Ich betrachte es als ein besonderes Glück, die ersten fünfzehn Jahre meines
Lebens in dem Teil Deutschlands aufgewachsen zu sein, der heute nicht
mehr existiert, und es erfasst mich nach wie vor ein wenig Trauer und
Wehmut, wenn ich an die Chancen auf eine gerechtere Welt denke, die in
ihm angelegt waren, und an die Vernichtungswut seiner Gegner, die ihm
den Garaus gemacht hat, als er von einem verselbständigten Funktionärshaufen abgewirtschaftet worden war.
Die Flucht meiner Familie in den Westen war von SED-Funktionären
erzwungen, die für den frühen Tod meines Vaters zumindest mitverantwortlich sind. Keiner von ihnen, der mitgewirkt hat an staatlicher Überwachung und Ausgrenzung von Menschen in der ehemaligen DDR, kann sich
von seiner persönlichen Schuld freisprechen. Aber wer in diesem Staat gelebt hat, kommt um der historischen Redlichkeit willen an der Erkenntnis
nicht vorbei, dass der reale Sozialismus eine lebensgefährliche Bedrohung
für die MachthaberInnen in der sogenannten »freien Welt« war, deren
Freiheit vor allem darin bestand, das Prinzip von materieller Ausbeutung,
sozialer Ungleichheit und politischer Machtsicherung durch militärische
Gewalt und geheimdienstlichen Terror aus archaischer Vergangenheit in
Gegenwart und Zukunft zu transportieren. Es war die zugleich manifeste
und subtile Bedrohung von außen, die der historischen Unsicherheit und
Ängstlichkeit vieler sozialistischer Funktionäre Nahrung gab, die sehr klar
und treffend erkannten, dass der »kalte Krieg« ein auf allen überhaupt
möglichen Ebenen geführter Versuch war, dem sozialistischen Modell mit
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P&G 4/01
- - - - - - - Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
oder ohne kriegerische Gewalt ein möglichst schnelles Ende zu bereiten,
und die statt Vertrauen in ihre Idee und die von ihr erfassten Menschen
voller Misstrauen in den bekannten üblen, ihre Idee ad absurdum führenden Überwachungs- und Unterdrückungswahn verfielen.
In meinem Erleben ist der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden von Widersprüchlichkeit gezeichnet: Er war auch ein Hoffnungsschimmer für die Menschen, die sich mit Begeisterung und kraftvoll auf eine
neue Form von Leben und Zusammenleben gestürzt und dabei Erfahrungen gemacht haben, die in der jüngeren Geschichte einzigartig und für die
Beteiligten mitreißend waren: was eine menschliche Gesellschaft, was soziales Miteinander statt gleichgültigem Umgang miteinander, was angstfreies Leben 22 , was Einsatz für lebenswerte Verhältnisse anstelle von Zorn
auf sie, bewirken können, was solche Bedingungen allen Menschen an
Entwicklungsmöglichkeiten, an Lebensqualität bieten könnten, die nicht
in Konsumgrößen aufgewogen werden kann. Auch wenn diese Seite realsozialistischer Wirklichkeit heute auf eine kuriose Weise im Rückblick zugedeckt, zugeschüttet, abgestritten und ignoriert wird: Ich habe Erfahrungen mit einem neuen Menschenbild gemacht, mit begeisterten Menschen,
die Ideale verwirklichen wollten und durch warenästhetische Attacken
nicht zu blenden und zu korrumpieren waren, habe das Spüren von sozialer Nähe, von Hilfsbereitschaft und ernstem wie fröhlichem Miteinander
von Menschen erlebt, die einander ja nicht als Verwandte oder lebenslange
Freunde nahe standen, sondern als Verbündete beim Aufbau einer besseren
Gesellschaft als der, die sie hinter sich gelassen hatten. Sie haben mir eine
Ahnung von dem vermittelt, was eine menschlichere, eine bessere Welt sein
kann - nicht als Phrase, sondern als konturiertes und plastisches Bild verstanden, das lebbar ist als praktisch gewordene Dialektik von Persönlichem und Politischem.
Mein Beitrag zur Zukunft einer kritischen Psychologie möchte ermuntern zu hoffen und zu handeln, zu wissen und, nicht zuletzt, zu erinnern,
dass das andere Leben nicht nur Phantasie oder Utopie ist, sondern dass
diese Utopie schon ein bisschen erfahrbar war und für die, deren Leben sie
- diesseits und jenseits des damaligen »Eisernen Vorhangs« - geprägt hat,
nicht vergessen ist.
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - - - GünterRexilius - - - - - - - - - - - - - - -
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Anmerkungen
Ich werde auf einen umfangreicheren wissenschaftlichen Apparat verzichten und
mich auf einige Fußnoten beschränken, die gelegentliche Erläuterungen oder
Ergänzungen zum Text enthalten, weil die Liste der Literaturhinweise zu einzelnen
Abschnitten nicht sinnvoll zu beschränken war. Ich biete aber allen Imeressentlnnen an, auf Anfrage eine umfängliche Literaturliste zu verschicken.
2
Basisgruppe und Fachschaft Psychologie der Universität Gießen, Katamnese - ein
Kongress. Gießen 1988.
3
Zur neuen Psychiatrie finden sich, verbunden mit Namen wie Cooper und Laing;
Basaglia und Jervis; Foucault und CasteI; Dörner usw. immer noch viele Verbindungen in der aktuellen Diskussion. Die psychoanalytischen Debatten sind eher
verlorengegangen, wie die Dialektik als Erkenntnismethode, wie sie von der Kritischen Theorie entwickelt wurde, deshalb hier kurze Literaturhinweise: Gente, H.P., Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, Frankfurt/M. 1970, 2 Bde.; Horkheimer,
M. & Th.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Amsterdam 1946; Adorno, Wiggershaus, R., Die Frankfurter Schule, München 1986.
4
Auch hier zwei kurze Hinweise: Tomberg, F., Bürgerliche Wissenschaft. Frankfurt/
M. 1969; Habermas, J., Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1972.
5
Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt/M. 1970.
6
»Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit«,
schreibt Adorno in einem kleinen Text, den er »Resignation« genannt hat: Dieses
Glücksgefühl haben in jenen Jahren viele suchende und entdeckende Studierende
mit ihm geteilt (Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt/M. 1977).
7
So heißt es punktgenau in einem sozialkritischen Song des Liedermachers FranzJosef Degenhard.
8
Zur Vertiefung: Meinhof, U., Die Würde des Menschen ist antastbar, Berlin 1980;
Aust, S., Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985.
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Zu diesen Facetten gehört die gesellschaftskritische Psychologie, die mit der Herausgabe dieser Zeitschrift begonnen hat - damals noch im Zweiergespann, Grubitzsch & Rexilius, später ergänzt durch Peter Mattes, Klaus-Jürgen Bruder, Christiane Schmerl und andere, außerdem Adam Zurek, Franz Dick usw.; die Kritische
Psychologie, verbunden mit der Zeitschrift »Forum Kritische Psychologie« und
dem Namen von Klaus Holzkamp; die kritische Psychoanalyse, zu der etwa Thomas Leithäuser, Gerhard Vinnai, Alfred Lorenzer zu zählen waren; die Sozialpsychiatrie mit Klaus Dörner, Ute Plog, Heiner Keupp etc.; die Hannoveraner
Gruppe um Peter Brückner, Alfred Krovoza, Ali Wacker. Es ließen sich noch viele
Namen aufzählen, diese wenigen mögen genügen, um anzudeuten, welche intellek-
Das Persönliche ist politisch ist psychologisch
tuelle und praktische Kraft in den frühen Jahren in der kritischen Psychologie
steckte.
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Noch ein paar Anker für diejenigen, die verweilen möchten, mit vielen Quellenangaben: Klaus Holzkamp, Kritische Psychologie, Frankfurt/M. 1970; Grubitzsch &
Rexilius, Psychologische Grundbegriffe, Reinbek 1981; Rexilius & Grubitzsch,
Psychologie, Reinbek 1986, zudem die zuvor genannten Zeitschriften.
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Die gründliche Beschäftigung mit Politischer Ökonomie erwies sich als eine unerschöpfliche Quelle für ein besseres Verstehen gesellschaftlicher Zusammenhänge
und auch für die Kritik der bestehenden und die Entwicklung einer neuen Psychologie. "Das Kapital«, die Marxschen "Grundrisse« und "Politisch-ökonomischen
Manuskripte« halfen vielen psychologischen Gedankengängen auf die Sprünge.
12
Während des Schreibens dieses Beitrags stieß ich auf das Buch von Gerald A.
Cohen, Gleichheit ohne Gleichgültigkeit, Hamburg 2001, in dem, jetzt auf soziologischer und ökonomischer Ebene, das Thema der gesellschaftlich wirksamen
Gleichgültigkeit abgehandelt wird.
13
Kaum ein anderer Wissenschaftler hat sich zum Thema innere und äußere Überwachung historisch und systematisch so ausführlich und materialreich geäußert wie
Michel Foucault, etwa in Dispositive der Macht, Berlin 1978; Überwachen und
Strafen, Frankfurt/M. 1977.
14
Zu den Berufsverboten s. 3. Internationales Russell-Tribunal, Zur Situation der
Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1979,4 Bde.
15
Soziale Amnesie, Frankfurt/M. 1978.
16
Über die Art des Umgangs mit Öffentlichkeit in Konfliktsituationen gibt es mittlerweile - etwa in Bezug auf den Kosovo-Krieg - eine gut dokumentierte Literatur
und einzelne Berichte in den Medien, zum Beispiel: "Es begann mit einer Lüge«,
Bericht von Jo Angerer und Mathias Werth in der ARD am 8. Februar 2001 um
21.45 Uhr, das Sende-Manuskript ist über die Internetseite der ARD abrufbar; Jürgen Elsässer, Kriegsverbrechen, Hamburg 2001.
17
Trotz der Gleichschaltung der Medien bleiben über das Internet viele Informationsmöglichkeiten, erreichbar mit jeder beliebigen Suchmaschine. Zahlreiche
internationale Intellektuelle haben auf diesem Wege entschieden kritisch Position
bezogen. Ihre Informationen und Einwürfe bilden die Grundlage meiner eigenen
Überlegungen. Beispielhaft seien die indische Philosophin und Publizistin Arundhati Roy, Noam Chomski, Pierre Bourdieu und die brasilianischen Bischöfe mit
ihrer bekannt pointierten und zielgenauen Analyse genannt, aber auch hierzulande
einige wenige Berichte etwa im Feuilleton und auf der Dokumentationsseite - nicht
etwa im Politikteil- der Frankfurter Rundschau und im WDR 5.
P&G 4/01
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- - - - - - - - - - - - - - GünterRexilius
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Auf andere Beispiel für den Durchbruch von Gleichgülrigkeit und Angst als beherrschende Regeln gesellschaftlicher Ordnung, soll nur kurz hingewiesen werden.
Gleichgültigkeit und Angst durchziehen in den letzten Jahren zunehmend die
sozialen Lebensverhältnisse. Die Rentenreform etwa, die als große soziale Errungenschaft von ihren MacherInnen verkauft wird, verelendet nicht nur viele, die ihr
Leben lang gearbeiter und noch mehr Menschen, die keine Chance hatten, überhaupt oder hinreichend bezahlte Arbeit zu finden, sie macht die kaum zum Überleben reichende Rente auch abhängig von Marktgesetzen, die sich jeder rationalen
Kontrolle entziehen und von einer mehr oder weniger großen Gruppe von Spekulanten manipuliert werden. Rente in Abhängigkeit von ökonomischer Irrationalität unter dem Etikett von Sachzwängen und Sicherheit - so sieht Politik aus, die
sich den Anschein gibt, soziale Sicherheit zu schaffen. Die Angst vieler Menschen
vor der Zukunft verdankt sich der Gleichgültigkeit ihrer politischen VertreterInnen
gegenüber ihren lebenswichtigen Interessen. Die Gesundheitsreform, die Arbeitslosigkeit, die Behinderten, die Bildungschancen sozial benachteiligter Kinder, die
zunehmende Armut auch hierzulande - die Liste der Attacken auf die Menschen,
die es nicht geschafft haben oder nicht schaffen konnten, weil ihre Startbedingungen von vornherein chancenlos waren, sich nach oben zu konkurrieren, am gesellschaftlichen Reichtum angemessen teilzuhaben, ließe sich fast endlos fortsetzen.
Politisches und Persönliches sind unter eine soziale Kontrolle geraten, die ihr dialektisches Zusammenwirken, ihr Praktischwerden in veränderndem Handeln,
durch erlebte Gleichgültigkeit und, wo nicht durch ökonomische, dort doch durch
gesetzlich induzierte Angst unterdrückt.
19
Siehe dazu die Internet-Seite ,,http://www.wir-haben-es-satt.de.''
20
Siehe dazu Bateson et al., Schizophrenie und Familie, Frankfurt/M. 1969.
21
Dieser Satz weist auf den Zwiespalt hin, in dem ich mich befunden habe, als ich
begann an diesem Beitrag zu arbeiten: Die Alternative zum Thema war ein Versuch, die kritisch-psychologischen Anteile meiner jetzigen Berufstätigkeit als Psychotherapeut und Psychologischer Sachverständiger am Familiengericht herauszuarbeiten, um deutlich zu machen, welche Chancen die praktische Arbeit bietet, kritisches Wissen und veränderndes Handeln miteinander zu verbinden. Vielleicht
gibt es eine andere Gelegenheit, dieses Vorhaben zu realisieren.
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Vielleicht hebt das Thema Angst die Widersprüchlichkeit, die ich meine, noch einmal hervor: Natürlich gab es die Angst vor dem Staatssicherheitsdienst für viele
Menschen, und jeder einzelne, der die Angst verspürte, war einer zu viel; aber es
gab auch ein Freisein von Angst, von sozialer Angst, von Bedrohtsein, ein Gefühl
von Sicherheit, das für viele Menschen eine neue Erfahrung war.