Communicatio Socialis 10 (1977) 4: 269-275
Quelle: www.communicatio-socialis.de
Kirche und Konstruktion sinnvollen Lebenswissens
von Paul M. Zulehner
In diesem Beitrag geht es nicht darum, ob die Kirche in Zukunft ihre Chancen
nützen wird, sondern eher darum, welcher Art ihre Chancen sind. Es geht uns damit
auch nicht um die Mittel, die der Kirche für ihre kommunikative Aufgabe in Zukunft zur Verfügung stehen, sondern um die Frage, welche inhaltlichen Schwerpunkte ihre "Sendung" haben wird. Wir stellen diese Überlegungen in einen wissensund religionssoziologischen Rahmen, der jeweils ohne Ankündigung auch pastoraltheologische Aspekte enthalten wird.
1. Gesellschaft als sinnvolles Lebenswissen
1.1 Suche nach sinnvollem und geglücktem Leben
Wir gehen in unseren Überlegungen davon aus, daß die Menschen auch in Zukunft
nach sinnvollem und geglücktem Leben Ausschau halten. Dabei geht es ihnen darum,
die entscheidenden Fragen ihres Lebens einer sinnvollen Antwort näher zu bringen.
Auch in Zukunft werden dazu die Fragen nach den materiellen Gütern und ihrer
gerechten Verteilung, die Frage nach der Gestaltung von Sexualität und Lebensweitergabe, die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker in stabilen
politischen Ordnungen, die Frage nach Bildung und Formung der jeweils nächsten
Generation (Weitergabe angesammelten Wissensvorrates) sowie die Frage nach dem
Sinn des Ganzen gehören. Aus einer anderen Perspektive könnte man sagen, es gehe
um die Fragen, wie die Menschen sinnvoll umgehen mit Eros/Liebe/Sexualität,
Autorität/Macht/Freiheit sowie Besitz/Vermögen1 • Wir müssen auch nicht eigens
hervorheben, daß die Beantwortung dieser Fragen in Zukunft nicht allein mit dem
sinnvollen Leben, sondern weithin auch mit dem überleben der Menschheit zu tun
haben wird: Man denke an die Frage der überbevölkerung, der Unterernährung
und des Hungers, des wirtschaftlichen Gefälles zwischen den verschiedenen
"Welten", der Bedrohung der friedlichen Weltordnung durch technokratisch-bürokratische Regime, die Möglichkeit der Ausrottung der Zivilisation durch ABCWaffen2.
1.2 Lebenssinn ist nicht "Eigen-Sinn"
Es gehört zu den wichtigen humanwissenschaftliehen Erkenntnissen, daß Lebenssinn
nicht "Eigen-Sinn" ist. Vielmehr nimmt ihn der einzelne jeweils von (signifikant)
anderen entgegen: von seiner Herkunftsfamilie im Zuge der Primärsozialisation, von
wichtigen Bezugspersonen (wie dem Ehepartner) als Erwachsener. Gewiß ist der
einzelne in der Lage, das, was andere zunächst aus ihm gemacht haben, zu formen,
zu modifizieren, im Zuge einer "Konversion" auch zu verändern. Gerade Studien
Prof. Dr. Dr. Paul M. Zulehner ist o. Professor für Pastoraltheologie an der Universität
Passau.
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zur Konversion3 zeigen aber wiederum, daß auch hier maßgeblich andere im Spiel
sind. Kurz: Lebenssinn ist im Normalfall von anderen, von der Gemeinschaft
getragen, vermittelt, nicht zuletzt auch konstruiert.
1.3 Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit
So kommt folgerichtig die Wissenssoziologie auch zur These, daß Gesellschaft ein
Konstruktionsvorgang von "Wirklichkeit" ist. Im Rahmen unserer Überlegungen
genügt es zu sagen: Ein Konstruktionsvorgang von "Lebenswissen", worunter wir
eben die Summe von Antworten auf die Fragen nach einer sinnvollen Gestaltung
und Deutung des Lebens verstehen. Um sinnvoll zu leben, ja um überhaupt zu überleben, wird es der Menschheit in Zukunft (wie schon immer) darum gehen, unter
den vorfindbaren ökonomischen, sozialen und geistigen Voraussetzungen eine entsprechende gesellschaftliche Wirklichkeit zu konstruieren, damit ein sinnvolles Lebenswissen.
2. Kirche und Konstruktion von Lebenswissen
Wir können nunmehr schon die Frage stellen, in welcher Art die Kirche bei dieser
entscheidenden Aufgabe der Menschheit mitmachen kann. Eine Antwort auf diese
Frage soll aus einer historischen Perspektive angegangen werden.
2.1 "Christentümliche" Gesellschaft
Die Art, nach einem Beitrag der Kirche zu fragen, ist nämlich für die Kirche relativ
jung. Es gab in der "alten Welt" viele Generationen (und in der Kirche denken
gewiß auch heute noch viele so: Man denke an die Traditionalisten um Lefebvre), für
die es eine Selbstverständlichkeit war, daß die wichtigsten Elemente gesellschaftlichen
Lebenswissens aus dem Raum der (christlichen) Kirche(n) bezogen wurden: Dies galt
gleichermaßen für den Bereich Ehe/Familie/Sexualität, aber auch die politischen
Ordnungsvorstellungen, die wirtschaftlichen Modelle, die Erziehung der Kinder und
der Jugendlichen, ganz besonders aber für die Fragen der Religion und der Weltdeutung. Wir haben es hier mit Gesellschaften mit einem Monopol an Lebenswissen
zu tun, wobei dieses monopolisierte Lebenswissen aus dem Raum der Kirche entnommen wurde. Die Befolgung dieses Lebenswissens wurde bei den Bürgern auch
mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln durchgesetzt.
2.2 "Säkularisierung"
Durch tiefgreifende geistige (die Natur, auch die soziale Natur ist "machbar"), wirtschaftliche (Explosion der Naturwissenschaft, der Technik), soziale (die alte, ständisch-vorindustrielle Gesellschaft kann neue Bevölkerungsgruppen nicht mehr mit
einem "Stand-Ort" versehen) und damit politische Revolutionen gerät die vorindustriell-"christentümliche" Gesellschaft zunehmend in Bewegung und Umwandlung. Weite Bereiche der Gesellschaft, damit aber auch des Lebens der einzelnen
werden durch das überkommene gesellschaftlich-kirchliche Lebenswissen nicht mehr
geformt. Man denke an die Welt der Arbeit, aber auch an die Welt der Intelligenz,
in wachsendem Maße auch die Welt der Sexualität, die Welt der Jugendlichen und
neuestens auch die der Frau. Das führt konsequenter Weise dazu, daß im Raum
der Gesellschaft alternative "Lebenswissen" entwickelt werden, die den neuen
Lebensfragen gerechter werden sollten. Entscheidend ist, daß diese neuen Lebens270
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weisheiten oft unter heftigem Protest der Kirche und damit jenseits ihrer Mauern
entstanden sind. Manches Lebenswissen ist daher nicht mit innerer Notwendigkeit
"anti- oder areligiös"; ihre Transzendenzarmut ist eher Ausdruck des Protests dagegen, daß kirchliche Kreise unverrückbar an alten Lebensweisheiten (unter theologisch fragwürdiger Berufung auf Jesus Christus) festgehalten haben, mit denen aber
viele Menschen nicht mehr leben konnten. Man denke konkret an die Fragen der
politischen Demokratie, der Religionsfreiheit, der aktiven Gestaltung der Sexualität
und ihrer Funktionen, der Einschätzung der Freiheit und Autonomie sowohl des
einzelnen wie auch der "weltlichen Sachbereiche". Gewiß hat eine sold1e Protesthaltung auch zu einer Verkürzung mancher neuer Lebensweisheiten um die volle
anthropologisd1-theologische Breite geführt. Letzte Fragen wurden dann oftmals
ausgeklammert oder durch neue Glaubensbekenntnisse (wie "mit dem Tod ist alles
aus", "es darf keinen Gott geben") ersetzt.
2.3 Pluralistische Gesellschaften
Immerhin steht als vorläufiges Ergebnis dieser Entwicklung fest, daß in der Welt das
überkommene christlich-kirchliche Lebenswissen, wenn überhaupt, so nur noch eines
unter vielen ist: Manche politische Systeme haben ihm grundsätzlich den Kampf
angesagt und sind bestrebt, an die Stelle eines christlichen Monopols von Lebenswissen ein atheistisch-kommunistisches zu setzen. Es gibt aber Vermutungen, daß
diese atheistisch-kommunistischen Monopolisierungstendenzen aufgrund der veränderten ökonomischen und sozialen Bedingungen kaum auf lange Zeit durchzuhalten
sind, so daß die Zukunft wahrscheinlich dem Pluralismus an Lebenswissen gehört.
Lediglich durch totalitäre Systeme (ganz gleich, ob christlicher oder anderer Provenienz) wäre der Pluralismus zu überwinden. Das bedeutet aber: Die vorhin beschriebene Aufgabe der Menschen in Zukunft, unter den vorfindbaren ökonomischen,
sozialen und geistigen Bedingungen sinnvolles Lebenswissen zu konstruieren, steht
voraussichtlich unter der Prämisse des Pluralismus: Verschiedene Vorstellungen darüber, was für den Menschen sinnvoll ist, werden miteinander konkurrieren, jede
wird von sich meinen, sinnvoller zu sein, jede wird Anstrengungen unternehmen,
Menschen für sich zu gewinnen, und auch das, was an gesellschaftlichem Lebenswissen zu festen Gesetzen und Institutionen "gerinnt", entscheidend mitzuformen.
2.4 Grundaufgabe der Kirche
Damit kann schon Grundsätzliches über den Auftrag der Kirche in der Menschheit
der Zukunft gesagt werden: Sie wird an der Konstruktion sinnvollen und geglückten Lebenswissens unter den Bedingungen des dritten Jahrtausends mit anderen
zusammenwirken. Dabei wird sie sich auf das "Lebenswissen J esu" berufen. Dieses
hat zu tun mit dem lebendigen Gott Jesu, dessen Zuwendung zu den Menschen,
damit, daß Gott den Menschen unbedingt "angeht" und Gemeinschaft mit ihm
sucht, daß diese Zuwendung Gottes zum Menschen, wo sie im Glauben angenommen
wird, hoffnungsvoll Gemeinschaft der Menschen untereinander stiftet. Auf diese
Weise erhalten die Gestaltungsaufgaben menschlicher Lebensbereiche eine Basisorientierung: Sie sind allesamt so zu gestalten, daß communio, Einheit wächst,
Leben möglich, Lebensraum geschaffen wird. Gewiß hat die Kirche das für das dritte
Jahrtausend erforderliche Lebenswissen heute noch nicht rezepthaft zur Hand. Das,
was im Lauf der Kirchengeschichte als christlich-kirchliches Lebenswissen aus der
Perspektive des Evangeliums ausgeformt wurde, behält zwar orientierenden Cha271
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rakter, zeigt, was herauskommen kann, wenn Jesu Geist in bestimmte Lebenslagen "einsickert" und durchdringt. An den überkommenen Orientierungen kann
aber noch nicht abgelesen werden, was konkret an Lebensweisheiten herauskommt,
wenn der Geist Jesu in die Lebensbedingungen der kommenden Generationen "einsickert". Was aber bereits jetzt gesagt werden kann: Es wird dieses kommende
christlich-kirchliche Lebenswissen in der Fluchtlinie all jener Lebenswissen liegen, die
im Lauf der Geschichte im kirchlichen Gesprächszusammenhang unter Berufung auf
Jesu Lebenswissen konstruiert wurden.
3. Einzelne Aspekte kirchlichen Handeins um 2000
Wer diesem Grundansatz zustimmt, daß die Kirche berufen ist, an der Konstruktion
von sinnvollem Lebenswissen für die Menschheit im Jahr 2000 mitzuarbeiten, wird
klaglos dem Weg unserer weiteren Überlegungen folgen.
3.1 Zuwendung zu den Menschen
Verwirklicht kann diese Aufgabe nur dann werden, wenn die Kirche eine hohe
Solidarität mit der Menschheit hat. Die entsprechenden grundsätzlichen Beschlüsse
hat das Zweite Vatikanische Konzil schon gefaßt. Hoffnung und Angste der Menschen sind auch Hoffnung und Angste der Jünger Christi, so betont das Konzil. Die
Kirche wird als Zeichen und Werkzeug des Heils der Menschheit gezeichnet, damit
als soziale und theologische Wirklichkeit, die nicht sich selbst lebt, sondern als
Ferment des Heils anderer in der Welt ist. Nicht Auszug in ein heiles Getto (das
zumal immer kleiner werden müßte), sondern dienendes Sich-der-Welt-Aussetzen
wird von der Kirche und ihren Mitgliedern verlangt.
3.2 Glaubwürdigkeit produzieren
Als Lebensorientierung aus dem Geist Jesu wird die Kirche - mutiger als bisher
vielleicht - trotz allem Respekt vor dem Wahren und Guten bei jenen, die nicht zu
ihr gehören, versuchen, Menschen für sich zu gewinnen. Für sich, das heißt konkret:
Für ein Leben aus dem Geist Jesu, damit für Nachfolge und Jüngerschaft. Nur so
kann sie als Zeichen und Werkzeug des Heils in der Welt aufgebaut werden. In konkreten Menschen wird dann Jesu Geist in der Welt anwesend sein und in die Welt
"einsickern" können. Durch Menschen, die christlich in der modernen Welt leben,
wird auch Glaubwürdigkeit hergestellt. Glaubwürdigkeit in einem doppelten Sinn:
Innere Glaubwürdigkeit, indem einsichtig gemacht werden kann, daß das Lebenswissen Jesu eine verläßliche Straße zu sinnvollem und geglücktem Leben ist, äußere
Glaubwürdigkeit, weil in der Kirche Menschen sind, die von sich sagen können:
Wir versuchen, aus dem Geist Jesu zu leben, und machen dabei die Erfahrung, daß
wir auf dem Weg zu sinnvollem und geglücktem Leben und Zusammenleben sind.
Daß diese Glaubwürdigkeit mit Zeugnis zu tun hat, sei angemerkt.
3.3 Expressive und kritische Arbeit
Die Aufgabe der Kirche wird in erster Linie konstruktiv sein müssen. Es geht darum,
(kontrasthaft) Lebensalternativen zu entwickeln, wie eben unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen Menschen sinnvoll, weil christlich, leben können. Das wird
die Kirche aber nicht abhalten, Wahres und Gutes in Lebensmodellen anderer Menschen und Menschengruppen zu entdecken. Sie wird sich sehr oft daran erinnern, daß
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der Geist Gottes nicht die formellen Grenzen der Kirchenmitgliedschaft respektiert.
So wird sie, gerade weil sie die Aufgabe, lebbares Lebenswissen zusammen mit
anderen Menschen zu konstruieren, als schwierig ansieht, sehr aufmerksam das
Gelungene bei anderen aufgreifen und "ausdrücklich" gutheißen. Expressiv verstärkende Arbeit wird sie leisten, wobei gar nicht immer vonnöten ist, daß das, was sie
bestärkt und gutheißt, immer auch schon die Fülle des Christlichen sein muß. Im
übrigen wird sie fragmentarisch Christliches auch im eigenen Haus, bei den eigenen
Kirchenmitgliedern entdecken, denen es nicht immer gelingen wird, wegen der spannungsreichen Lebenssituation die Fülle des Christlichen auch in jeder Lebenslage zu
leben.
Natürlich besitzt eine solche bestärkende Aufgabe bereits kritische Kraft. Wenn
Gutes stark wird, wird zugleich auch weniger Gutes eingegrenzt und muß schrumpfen. Darüber hinaus wird sich die Kirche entschieden - um der Menschen willen mit den vorfindbaren Lebensweisheiten auseinandersetzen. Sie wird aufzeigen, daß
sie zwar allesamt mit dem Anspruch auftreten, sinnvoll und human zu sein. Sie
wird aber mit innerer Logik, aus dem Gefüge des diskutierten Systems von Lebenswissen heraus zeigen, daß auf dem gezeigten Weg das gesteckte Ziel sinnvollen und
humanen Lebens nicht (voll) erreicht wird.
3.4 Spannung zwischen Tradition und Reform
Es ist klar, daß ein solches Agieren der Kirche heute noch keine Selbstverständlichkeit ist. Vielleicht steht ihm als stärkstes Hemmnis ein Defizit an Selbstvertrauen
und pastoraler Identität entgegen. Dies führt vereinzelt zur Strategie, Ererbtes unverändert festzuhalten, jene zu sammeln, die mit der kommenden Gesellschaft in
vielen Bereichen nicht zurecht kommen, die am Pluralismus als solchem zerbrechen
und deshalb nach klaren Lebensanweisungen verlangen, die ganz dem entsprechen,
was sie in ihrer frühen Sozialisation erlernt haben. Es ist aber unmißverständlich zu
sehen, daß eine solche pastorale Strategie die Kirche für die Aufgaben der Zeit um
2000 nicht vorbereitet. Unbeschadet einer klaren christlichen Identität wird sie sich
beunruhigt vor die Frage stellen, inwieweit nicht vieles an ihrem christlich-kirchlichem Lebenswissen einer versinkenden Gesellschaft angehört, obwohl es fast unentwirrbar mit dem "eigentlich Christlichen" verflochten ist. Die kritische Oberprüfung des ererbten christlich-kirchlichen Lebenswissens steht als wichtige Aufgabe
an. Dabei wird es um eine doppelte Prüfung gehen: Um eine Konfrontation des
Ererbten mit der Lebenswirklichkeit der Menschen, aber ebenso um eine Überprüfung
neuer Formulierungsversuche des Christlichen in neue Lebenslagen hinein am kirchlichen Gesprächszusammenhang, an der kirchlichen Tradition.
3.5 Zukunftschancen
Experten stehen nicht an, einer dergestalt handelnden, agierenden und nicht bloß
reagierenden Kirche wachsende Zukunftschancen zu bescheinigen. Gerade die abgesättigte, durch künftige Bedrohungen aber doch zutiefst verunsicherte "säkulare
Welt" beginnt, in zunehmender Dringlichkeit die Frage nach sinnvollem Leben und
nach dem Sinn des Ganzen zu stellen. Mag sein, daß es heute erst kleine Gruppen
sind, unter den Jugendlichen ebenso wie unter den Erwachsenen. Die Zeit scheint
aber vorbei zu sein, wo man sich mit wehenden Fahnen aus traditionsträchtigen
Lagern in die Reihen der Modernität begibt. Ererbtes, das heutiges Leben verstehen
und gestalten hilft, genießt wachsenden Kredit. Dazu kommt, ·daß die Kirche offen273
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bar in wichtigen Lebensanliegen nach wie vor eine Art Monopol hat: Wo es um
letztes Fundament des Lebens geht, um die Krisen des Lebens und ihre Deutung, um
den Tod, um den selbstlosen Einsatz füreinander. Der Einsatz aller humanen Mittel,
auch der religiösen, wird ein sinnvolles überleben der Menschheit bringen, so behaupten die Verfasser der Berichte über die Lage der Menschheit an den Club of
Rome. Sollte bei so vielen Erwartungen die Kirche keine Zukunft haben? Und wird
die Kirche diese Chancen um der Menschen willen auch nützen? Es gibt viele
Zeichen, die Hoffnung machen5 •
Anmerkungen:
1. P. Bigo: L'Eglise et Ia revolution du tiers monde, Paris 1974.
2. 0. K. Flechtheim: Futurologie. Der Kampf um die Zukunft, Köln 2 1971. Dazu auch die
verschiedenen Berichte über die Lage der Menschheit an den Club of Rome.
3. M. Schbilisky: Religiöse Erfahrung und Interaktion, Stuttgart 1976.
4. P. L. Berger, T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt
1969.
5. Zu den ganzen Überlegungen auch: P. M. Zulehner: Einführung in den pastoralen Beruf,
München 1977. - Ders., Religion nach Wahl, Wien 1974. - Ders., Heirat- GeburtTod. Eine Pastoral zu den Lebenswenden, Wien 1976. - Ders., Säkularisierung von
Gesellschaft, Person und Religion, Wien 1973.
SUMMARY
The author's contribution does not examine how the Church will contribute to communication in the year 2000 but what she will have to say. More precisely: is the Church going to
say anything essential at all? He develops a short sketch of the possible structure of the
Church's contribution towards dialogue in a pluralistic society, beginning with the Statement
that man in the future will also question the purpose of human life. Three main areas
of life to come under questioning will be 1. Eros, Iove, sexuality. 2. Authority, power,
freedom, and 3. Possession, property. The Church has to enter into dialogue with the world
in these specific areas in a pluralistic society, and with a strong sense of human solidarity.
The Church must offer constructive alternatives showing a meaningful forming of life. A
critical appraisal of the past teachings of the Church will be required. In the areas of 'life
crisis', 'death' and selflegs sharing, especially, the Church has an important contribution to
make towards the survival of mankind.
RESUME
La question de cette collaboration n'est pas Ia suivante: Comment l'Eglise apportera-t-eHe sa
collaboration a Ia communication en l'an 2000, de quel moyen se servira-t-elle? Mais:
Qu'aura-t-elle a dire? Encore plus durement: Aura-t-eile, du point de vue du contenu,
quelque chose d'important a communiquer? L'auteur developpe en une courte esquisse le
contenu structural possible d'une collaboration ecclesiastique a un dialogue pluraliste de Ia
societe. 11 part du fait que !es hommes continueront a se poser des questions sur le sens de
Ia vie, et ce vraisemblement dans !es trois domaines suivants: »Eros I amour I sexualite<<,
>> autorite I puissance I liberte«, et »possession I richesse<<. Dans ces domaines, l'Eglise en
reconnaissance du pluralisme et en forte solidarite avec l'homme - devra parler avec le
monde, se laisser mettre en danger par lui et offrir aux hommes des alternatives constructives pour qu'ils fa~onet
ingenieusement leur vie. Une revision critique, progressive du
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a
savoir livre jusqu'ici par l'Eglise sera necessaire. L'Eglise pourra collaborer activement la
survie de l'humanite, specialerneut dans les themes tels que >>la crise de la vie«, »la mort«
et »le don total de soi«.
RESUMEN
Este trabajo no se pregunta: C6mo contribuira la Iglesia a la comunicaci6n en el aii.o 2000,
de que medios se servira? Se pregunta: Tendra algo que decir? Mas causticamente:
Tendra algo esencial que anunciar? El autor desarrolla brevemente la posible estructura de
una aportaci6n eclesial al dialogo pluralista de la sociedad. Parte del supuesto que los
hombres seguiran inquiriendo sobre el sentido de la vida y probablemente sobre tres complejos: »erotismo/amor/sexualidad<<, »autoridad/poder/libertad« y »propiedad/riqueza«.
Reconociendo el pluralismo y en solidaridad con el hombre, la Iglesia hablara con el mundo
sobre estas cuestiones, se »expondra« y debera ofrecer al hombre alternativas constructivas
para una configuraci6n adecuada de la vida. Sera necesaria una revision crftica de la teorfa
difundida hasta ahora por la Iglesia. Especialmente en temas como »crisis vital«, »muerte<<
y »compromiso altrufsta<<, la Iglesia podra prestar una aportaci6n importante a la supervivencia de la humanidad.
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