Ziem Grammatische Konstruktionen Und Semantische Frames
Ziem Grammatische Konstruktionen Und Semantische Frames
Ziem Grammatische Konstruktionen Und Semantische Frames
Textanalyse1
Alexander Ziem, Hans C. Boas, Josef Ruppenhofer
Die Konstruktionsgrammatik ist eine Familie von miteinander verwandten sprach- und
grammatiktheoretischen Anstzen, die grundlegende Prmissen miteinander teilen. Ge-
meinsam gehen sie davon aus, dass (a) grammatische Konstruktionen genauso wie Le-
xikalische Einheiten2 sprachliche Zeichen, also konventionalisierte Form-
Bedeutungspaarungen, sind, (b) grammatische Strukturen und sprachliche Zeichen ein-
heitlich im Sprachwissen reprsentiert sind, nmlich als Konstruktionen, und (c) die
Grammatik einer Sprache ein strukturiertes Netzwerk von Konstruktionen, das so ge-
nannte Konstruktikon, bildet (Ziem/Lasch 2013: 36f.). Gleichwohl handelt es sich bei
der Konstruktionsgrammatik keineswegs um einen homogenen Ansatz oder gar um eine
eigenstndige Grammatiktheorie. Vielmehr unterscheiden sich verschiedene konstrukti-
onsgrammatische Strmungen und Schulbildungen teilweise grundlegend hinsichtlich
ihrer Erkenntnisinteressen, Methoden und methodologischen Voraussetzungen (vgl.
hierzu den berblick in Ziem/Lasch 2013: 38-66; ausfhrlich: Hoffmann/Trousdale
2013). Entsprechend bleibt festzuhalten, dass sich nicht alle konstruktionsgrammatischen
Anstze gleichermaen fr eine textlinguistische Analyse, wie sie hier im Kontext des
Sammelbandes durchgefhrt werden soll, eignen. Mit dem gebrauchsbasierten Modell
von Goldberg (1995; 2006) und dem FrameNet-Konstruktikon (Fillmore et al. 2012)
liegen jedoch zwei miteinander kompatible Anstze vor, die sich am Sprachgebrauch
orientieren und in der Analyse auf das verstehensrelevante Wissen abzielen, das ntig
ist, um komplexe sprachliche Einheiten angemessen zu benutzen und zu verarbeiten. Wir
mchten diesen Zugang im Folgenden nutzen und sein Erklrungspotential an einem
Zeitungstext (vgl. die Einleitung zu diesem Band) exemplarisch aufzeigen. Insbesondere
erlutern wir, (a) inwiefern einschlgige konstruktionsgrammatische Beschreibungskate-
gorien fr konkrete syntaktisch-semantische Analysen Einsatz finden knnen, (b) wie
bei der Textannotation vorgegangen wird bzw. werden kann und (c) welche Mglichkei-
ten es zur Visualisierung der erzielten Ergebnisse gibt.
Unsere Analyse greift zentrale Prmissen von Goldbergs (1995; 2006) so genannter
Kognitiver Konstruktionsgrammatik auf (vgl. den berblick in Boas 2013a), erlaubt es
aber auch, durch die Bercksichtigung von lexikalisch evozierten semantischen Frames
1
Wir mchten uns sowohl bei den Herausgebern des Sammelbandes Jrg Hagemann und Sven Staffeldt als
auch bei Stefan Mller sehr herzlich fr hilfreiche Kommentare zu einer frheren Version des vorliegen-
den Beitrags bedanken.
2
Zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Bedeutungen eines Wortes bzw. sprachlichen Ausdrucks
fhrt Fillmore (1985) den Terminus Lexikalische Einheit (Lexical Unit) ein (vgl. auch Cruse 1986:
23-24), der auch in FrameNet bernommen wird; jede einzelne Wortbedeutung wird als Lexikalische
Einheit (LE) betrachtet.
298 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
Konstruktion (Frequenz)
syntaktische Eigenschaften
morphologische Eigenschaften Form
phonologische Eigenschaften
symbolische Beziehung
semantische Eigenschaften
pragmatische Eigenschaften (konventionelle) Bedeutung
diskurs-funktionale Eigenschaf-
ten
Abbildung 1: Beziehung zwischen Form und Bedeutung in der KxG (Croft 2001: 18)
Das Konzept der Konstruktion, d. h. einer konventionalisierten Paarung von Form und
Bedeutung, wird in der KxG als die Grundeinheit der grammatischen Analyse angesehen
(Goldberg 2006). Wie Abbildung 1 zeigt, kann die Form syntaktische, morphologische
und phonologische Aspekte umfassen, whrend die Bedeutung aus semantischen, prag-
matischen und diskurs-funktionalen Eigenschaften bestehen kann. Wie Abbildung 2
deutlich macht, erlaubt ein solcher Konstruktionsbegriff es, sprachliche Einheiten auf
unterschiedlichen Abstraktionsgraden bzw. Komplexittsstufen zu erfassen, die das
gesamte Spektrum des Syntax-Lexikon-Kontinuums abdecken: z. B. Morpheme (z. B.
be-, anti-, -heit), Wrter (z. B. Erdbeere, kriechen, wohl), idiomatische Ausdrcke (z. B.
die Kurve kratzen), die Resultativkonstruktion, das Vorgangspassiv und die Subjekt-
Prdikats-Konstruktion. Abbildung 2 zeigt in der rechten Spalte nur die Formseite der
Konstruktion (z. B. [Subj V] oder [N und N]), nicht jedoch die Bedeutungsseite, welche
weiter unten in Form von semantischen Frames beschrieben wird.
Whrend frhere Versionen der KxG (z. B. Fillmore/Kay 1995) neue Konstruktionen
nur dann postulieren, wenn diese zumindest teilweise unanalysiert sind, schlgt Gold-
berg (2006) auch solche Einheiten als Konstruktionen vor, die sowohl vllig transparent
als auch partiell oder vollstndig nicht-kompositionelle Einheiten sind: Its con-
structions all the way down. (Goldberg 2006: 18) Nach dieser Ansicht sind alle Form-
Bedeutungspaarungen als unterschiedliche Konstruktionen anzusehen, wenn sich deren
Existenz nicht aus schon vorher existierenden Konstruktionen erklren lsst:
Any linguistic pattern is recognized as a construction as long as some aspect of its form or
function is not strictly predictable from its component parts or from other constructions rec-
ognized to exist. In addition, patterns are stored as constructions even if they are fully pre-
dictable as long as they occur with sufficient frequency. (Goldberg 2006: 5)
Neben diesen theoretischen Grundannahmen legen KonstruktionsgrammatikerInnen
auch groen Wert auf die Verwendung von authentischen Sprachdaten. Ihr Erkenntnisin-
teresse richtet sich auf den Sprachgebrauch, weshalb der zugrunde liegende Ansatz
vielmals als gebrauchsbasiertes Modell (Barlow/Kemmer 2000; Ziem/Lasch 2013)
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 301
bezeichnet wird. Dieses zeichnet sich durch eine grundstzliche Skepsis an der Haltbar-
keit und analytischen Brauchbarkeit der von Chomsky eingefhrten grundstzlichen
Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz aus (vgl. hierzu auch Taylor
2007; Ziem 2008: 117-172).
3
Der Begriff Idiom umfasst eine Reihe von unterschiedlich fixierten idiomatischen Ausdrcken, von so
genannten offenen Idiomen (Lambrecht 1984) bis hin zu unterschiedlich stark fixierten idiomatischen
Ausdrcken mit unterschiedlich spezifizierten Leerstellen, siehe u. a. Nunberg et al. (1994); Sag et al.
(2001); Dobrovolskij (2011); Wulff (2013).
302 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
4
Zur ausfhrlicheren Erluterung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der unterschiedlichen konstruk-
tionsgrammatischen Anstze unter Einbezug der so genannten Embodied Construction Grammar und
Fluid Construction Grammar vgl. Ziem/Lasch (2013: 38-66).
5
Busse (2012) zeigt, wie das Frame Konzept auch in anderen linguistischen Theorien auer Fillmores
Frame Semantik verwendet wird.
6
Vgl. Boas (2010a; 2011; i. Dr.) und Fillmore et al. (2012), mit Blick auf zeichentheoretische Aspekte
auch Ziem (2008: 173-246).
7
Fr nhere Informationen zum Arbeitsablauf des FrameNet Projekts, als dessen Endprodukt eine anhand
von semantischen Frames strukturierten Datenbank von frame-evozierenden Lexikalischen Einheiten des
Englischen entsteht, siehe Fillmore/Baker (2010) und Ruppenhofer et al. (2010).
8
Vgl. https://framenet.icsi.berkeley.edu.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 303
2.2 Von Frames zu Konstruktionen: auf dem Weg zu einem FrameNet-
Konstruktikon
Was genau sind nun Frames? Woraus setzen sich Frames zusammen, und wie lassen sich
Frames analytisch beschreiben? Innerhalb des hier vertretenen Ansatzes wird davon
ausgegangen, dass sich Bedeutungen von sprachlichen Ausdrcken ber Frames erfassen
lassen. Einzelwrter, Mehrwortausdrcke, partiell lexikalisch gefllte Konstruktionen
und auch abstrakte Konstruktionen (wie die Subjekt-Prdikat-Konstruktion, vgl. Tabelle
1) evozieren Wissensstrukturen, die als Frames bezeichnet werden. 9 Frames erfassen
Wissen ber wiederkehrende, zum Teil kulturspezifische Erfahrungen und Ereignisse
und die dazugehrigen Beteiligten und Situationsparameter, welche als Frame-Elemente
(FEe) bezeichnet werden. Frame-Elemente sind frame-spezifische Instanziierungen bzw.
Realisierungen abstrakter semantischer Rollen (auch bekannt als Theta-Rollen; vgl. etwa
Boas 2013b: 83-86).
9
In der Terminologie FrameNets heien Einheiten, die Frames evozieren und annotiert werden mssen,
auch Targets oder Frame Evoking Elements, kurz: FEEs. Wie wir weiter unten sehen werden, knnen
nicht nur Lexikalische Einheiten als Targets bzw. FEEs fungieren, sondern auch grammatische Konstruk-
tionen.
304 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
Betrachten wir als Beispiel den Lexikoneintrag der Lexikalischen Einheit full (voll,
voller), welcher aus insgesamt drei Teilen besteht. Der erste Teil des Lexikoneintrags in
der FrameNet-Datenbank benennt den semantischen Frame, der von der Lexikalischen
Einheit evoziert wird. Auerdem liefert er eine wrterbuchartige Definition der Lexikali-
schen Einheit und listet die Frame-Elemente auf, die mit einer Lexikalischen Einheit in
diesem Frame syntaktisch realisiert werden (siehe Fillmore/Baker 2010; Boas 2005;
2013b). Im Fall von full betrifft der Lexikoneintrag in FrameNet den Frame
Abound_with, der auch in unserem Beispieltext in Satz 110 der Nachricht durch die
Form voller evoziert wird (Das Meer ist voller ). Dieser Frame beschreibt eine Situa-
tion, in der ein Ort (FE LOCATION) von einer Masse/Substanz oder einer Menge von
Individuen (FE THEME) gefllt oder bedeckt wird.11 Zustzlich gehrt zur Definition des
Frames, dass die Situation aus der Sicht eines im Text schon bekannten oder leicht
erschliebaren Ortes beschrieben wird. Praktisch heit dies, dass der Ausdruck, der die
LOCATION-Rolle fllt, syntaktisch als Subjekt realisiert wird. Die Definition des Frames
sieht weitere Parameter und Mitspieler vor wie z. B. die Periode (FE TIME), whrend der
der Zustand der Flle an einem Ort besteht, oder den Grad (FE DEGREE), zu dem der Ort
von der Substanz oder Menge gefllt ist. Diese weiteren Frame-Elemente sind aber im
Gegensatz zu den FEs LOCATION und THEME peripher und damit zusammenhngend
weglassbar (optional). Abbildung 3 zeigt den zweiten Teil des von FrameNet produzier-
ten Lexikoneintrages der Lexikalischen Einheit full (voll, voller), welcher die semanti-
schen Valenzmuster bzw. die so genannte Kombinationen von Frame-Elementen (frame
element configurations) sowie die damit verbundenen syntaktischen Realisierungen
darstellt.
Der in Abbildung 3 dargestellte Teil des Lexikoneintrags von full (voll, voller) fasst
tabellarisch zusammen, in welchen Kombinationen bestimmte Frame-Elemente einer
Lexikalischen Einheit syntaktisch realisiert werden knnen. Diese Tabellen werden au-
tomatisch aus den annotierten Korpusbelegen erstellt und zeigen die Kombinationen von
Frame-Elementen (frame element configurations) sowie deren zum Teil recht unter-
schiedliche syntaktische Realisierungen. So zeigt die Tabelle in Abbildung 3 z. B. fr die
fnfte Konfiguration von Frame-Elementen (LOCATION, THEME) insgesamt fnf unter-
schiedliche Varianten an, wie diese Frame-Elemente syntaktisch realisiert werden bzw.
welche Frame-Elemente ausgelassen werden (im Sinne einer so genannten Null-
Instanziierung, vgl. Fillmore (1986) und Abschnitt 3.3). 12 Der dritte Teil eines Fra-
meNet-Lexikoneintrags listet alle fr eine Lexikalische Einheit annotierten Korpusbele-
ge, welche die Grundlage fr die im ersten und zweiten Teil des Lexikoneintrags erfas-
sten Spezifikationen bilden. So zeigt Beispiel (1) einen annotierten Korpussatz, der als
Grundlage fr die in Abbildung 3 dritte syntaktische Realisierung [NP.Ext, PP[of].Dep]
10
Wenn im Folgenden von Satz 1, Satz 2 usw. die Rede ist, beziehen wir uns auf den ersten, zweiten
etc. Satz des Nachrichtentextes, wobei die berschrift nicht mitgezhlt wird.
11
Die Namen der Frame-Elemente (in kleinen Grobuchstaben) sind, wie in der FrameNet-Datenbank, auf
Englisch formuliert. Dies hat keine besonderen theoretischen oder praktische Implikationen, sondern re-
flektiert lediglich die Tatsache, dass die FrameNet-Datenbank die Struktur des Lexikons des Englischen
erfasst und deshalb englische Bezeichnungen fr die Frame-Elemente benutzt werden.
12
Die ganz links dargestellten Zahlen sind die Menge der bislang annotierten Korpusbeispiele fr die
einzelnen Kombinationen von Frame-Elementen (siehe Fillmore et al. 2003).
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 305
der fnften Kombination von Frame-Elementen (LOCATION, THEME) dient. Die frame-
evozierende Lexikalische Einheit full ist als Target (Tgt) annotiert, die Konstituente the
house (das Haus) als FE LOCATION und of smoke (von Rauch) als FE THEME.
Die auf der Basis des Englischen strukturierten semantischen Frames lassen sich nicht
nur fr die Beschreibung und Analyse des Lexikons des Englischen verwenden, sondern
weitgehend auch fr die Beschreibung und Analyse von Lexika anderer Sprachen. So
entstanden in den letzten zehn Jahren FrameNets fr eine Reihe typologisch unterschied-
licher Sprachen wie z. B. das Deutsche (Burchardt et al. 2009), das Schwedische (Borin
et al. 2009), das Spanische (Subirats 2009), das Japanische (Ohara 2009), das Portugiesi-
sche (Salomo 2009) und das Franzsische (im Rahmen des so genannten kicktionary,
vgl. Schmidt 2009). Allen FrameNets ist gemeinsam, dass sie die vom Berkeleyer Fra-
meNet auf der Basis des Englischen entwickelten Frames fr die Analyse anderer Spra-
chen weitgehend wiederverwenden (zur Methodologie vgl. etwa Boas 2009).
Der Frame Abounding_with kann, wie die allermeisten der in FrameNet definier-
ten Frames, durch mehr als eine Lexikalische Einheit evoziert werden. Neben unserem
Beispiel voller knnen beispielsweise auch bedeckt, berst und viele weitere (insbe-
sondere deverbale) Adjektive den Frame evozieren, wie in den Beispielen (2) und (3) zu
sehen ist.
Die beiden Beispiele zeigen, wie auch Abbildung 3, dass in dem Frame Abounding_
with die Abbildung der FEs auf grammatische Funktionen relativ starr ist: Das FE
LOCATION fungiert als Subjekt, das FE THEME als Argument, das syntaktisch als Prpo-
sitionalphrase realisiert wird. Andererseits zeigt sich beim FE THEME auch Variation in
der Realisierung: Es kann durch die Prposition mit oder die Prposition von regiert
werden, wobei offen ist, ob beide Varianten im Zusammenhang mit allen Prdikaten
gleich typisch sind.13
Frames und FEe stehen nicht unverbunden nebeneinander. Innerhalb von Frames gibt
es bestimmte Arten von Beziehungen zwischen FEen, die insbesondere Beschrnkungen
beim gemeinsamen Vorkommen verschiedener FEe erfassen. Zwischen Frames und
13
Die Lexikalische Einheit voller ist in mehrerlei Hinsicht ungewhnlich. Zum einen verlangt sie als einzi-
ge, dass das FE THEME als Genitiv-NP realisiert wird, was bei dem einfachen voll, das den Frame eben-
falls evozieren kann, nicht der Fall ist (vgl. etwa den Beleg Konstantin Christomanos berichtet von ei-
nem Zimmer voll von Pferdebildern...[DEWAC], ausfhrlich hierzu: Zeldes i. Dr.). Zum anderen scheint
voller den Ausdruck eines optionalen DEGREE FEs zu blockieren: Bei einer Websuche konnten fr ist
sehr voller keine Belege gefunden werden, anders als fr ist sehr voll von (Google-Zugriff:
30.04.2013).
306 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
ihren FEen gibt es Beziehungen, die modellieren, dass manche Frames bzw. FEe Unter-
arten anderer Frames bzw. FE sind, dass manche Frames Teil grerer Szenarien sind
und hnliches.14 So steht der in unserem Text durch voller evozierte Frame Aboun-
ding_with in Beziehung zum Abundance-Frame, der durch Lexikalische Einheiten
wie abound.v, abundant.a, teem.v und andere evoziert wird. Der Abundance-Frame
unterscheidet sich von dem Abounding_with-Frame wesentlich dadurch, dass er die
Situation der Flle aus der Sicht des FEs THEME erfasst, welches grammatisch entspre-
chend als Subjekt realisiert wird, whrend das FE LOCATION als oblique Prpositio-
nalphrase kodiert wird.
In dem zunchst lexikographisch inspirierten korpuslinguistischen FrameNet-Projekt
wurden syntaktische und semantische Eigenschaften von Verben, Nomen, Adjektiven
und Prpositionen in valenztheoretischer Tradition systematisch untersucht und in einer
Datenbank zusammengetragen. Der Erklrungskraft eines solchen Ansatzes, dessen
Strke in der Explizierung valenzbedingter Eigenschaften von Lexikalischen Einheiten
liegt, stt jedoch nicht nur bei phraseologischen Konstruktionen an seine natrlichen
Grenzen. Es sind beispielsweise auch bestimmte Prposition-Nomen-Muster (unter Ar-
rest, in Haft usw.), Verb-Nomen-Muster (Rat geben, Anlauf nehmen usw.), N-N-
Komposita (Radstand, Hoffnungstrger usw.) etc. (vgl. Fillmore et al. 2012: 312), die
eine groe Herausforderung darstellen. Vor diesem Hintergrund stellen Fillmore et al.
fest:
[T]here remain many sentences whose semantic and syntactic organization cannot be fully
explained in terms of the kinds of structures recognized in FNs annotation database, or
simple conjoinings or embeddings of these, and that is where the new research on grammat-
ical constructions comes in. (Fillmore et al. 2012: 312)
Kurzum: Sobald die Bedeutung(en) komplexer sprachlicher Einheiten nicht kompositio-
nell erklrt werden knnen, die Ausdrcke also den Status von grammatischen Konstruk-
tionen im Sinne von Goldberg (1995: 5) haben, entsteht eine Erklrungslcke, die sich
allein im Rckgriff auf die lexikographisch annotierten Frames nicht schlieen lsst. Es
ist das mittelfristige Ziel, in einem FrameNet-Konstruktikon nun auch solche grammati-
schen Konstruktionen systematisch zu erfassen, zu annotieren und zu beschreiben. In
einem Pilotprojekt (vgl. Fillmore et al. 2012) ist in dieser Hinsicht Pionier-Arbeit gelei-
stet worden, wenngleich die Menge bislang dokumentierter grammatischer Konstruktio-
nen noch berschaubar gering ist.
Eine solche Erweiterung der FrameNet-Datenbank um grammatische Konstruktionen
drngt sich geradezu auf. Denn waren es anfnglich zwar vorwiegend lexikalische Aus-
drcke, die als frame-evozierende Einheiten im Zentrum der Untersuchungen standen
(Fillmore/Atkins 1992), so schloss dies wie bereits erwhnt keineswegs komplexere
Ausdrcke aus (Ruppenhofer et al. 2010: 17). Auch bei Phraseologismen wie zur Seite
stehen in (4) oder Exklamativstzen wie (5) handelt es sich beispielsweise um frame-
evozierende Einheiten.
14
Die Struktur der Frame-Beziehungen erschliet sich am besten ber die Visualisierung, den so genannten
FrameGrapher: https://framenet.icsi.berkeley.edu/fndrupal/FrameGrapher.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 307
15
(4) Koch wird Sagan zur Seite stehen.
(5) Wie schn ist Niederfranken!16
Der komplexe Ausdruck zur Seite stehen ruft, wie etwa auch die Lexikalischen Einheiten
helfen, Hilfe etc., den Assistance-Frame auf, und zur Evozierung des Degree-
Frames fhren interessanterweise nicht nur Lexikalische Einheiten wie sehr und total,
sondern auch Exklamativkonstruktionen des formseitigen Typs [wie [ADJ] [x]], wobei
die Leerstelle [x] hier nicht nher spezifiziert wird, weil sie genauso leer bleiben (wie
schn!) wie variabel gefllt werden kann. 17
Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass syntaktisch komplexe Einheiten wie zur Sei-
te stehen und wie schn genauso wie Lexikalische Einheiten (z. B. Knecht, Weberknecht,
weben etc.) den Status von sprachlichen Zeichen haben und infolgedessen im Rahmen
des FrameNet-Projektes prinzipiell erfasst werden knnen. Denn: Ihre Formseite ist
konventionell mit (mindestens) einer Bedeutung verknpft, und genauso wie Lexikali-
sche Einheiten rufen sie jeweils einen semantischen Frame auf. Es ist deshalb nur konse-
quent, im FrameNet-Projekt solche syntaktisch komplexen Konstruktionen ebenfalls zu
bercksichtigen und in die Datenbank aufzunehmen, wenngleich damit weit ber die
ursprnglich in FrameNet anvisierte lexikographische Zielsetzung hinausgegangen wird.
Vor dem Hintergrund dieses kurzen berblicks ber die Beschreibung und Analyse
von Lexikalischen Einheiten wenden wir uns in den folgenden Abschnitten der Idee von
Fillmore et al. (2012: 317-324) zu, das von FrameNet verwendete Annotationsschema
fr Lexikalische Einheiten auf grammatischen Konstruktionen zu erweitern, weil sich
diese aufgrund ihrer grundlegenden gemeinsamen Eigenschaften kaum voneinander
unterscheiden.
15
Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/fraktur/fraktur-die-sprachglosse-stehen-12039169.html, letzter Zu-
griff 28. Mai 2013.
16
Vgl. http://www.sueddeutsche.de/bayern/blamage-fuer-das-wissenschaftsministerium-oh-wie-schoen-ist-
niederfranken-1.1651621, letzter Zugriff 28. Mai 2013.
17
Fllungen sind vielfltig mglich, so etwa formseitig durch [Verb fin + NP] wie in Wie schn klingt das,
durch [NP + Verbfin] wie in Wie schn das klingt oder durch ein dass-Satz-Komplement wie in Wie schn,
dass du hier bist.
308 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
18
Vgl. Boas (2010b) zur Anwendung von Konstruktionen fr kontrastive Analysen im Rahmen der KxG.
19
Aktuell gibt es Constructicons fr das Englische (Fillmore et al. 2012) und Schwedische (Lyngfelt et al.
2012); Plne zur Erstellung von Constructicons gibt es daneben fr das Japanische, Portugiesische und
Deutsche.
20
Vgl. allerdings Croft (2001), der argumentiert, dass grammatische Funktionen vollstndig ber Konstruk-
tionen erklrbar sind.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 309
Satz Das Meer steckt voller wunderbarer, verrckter und besonderer Lebewesen.
Informa- Das Meer steckt voller wunderbarer, verrckter und besonderer Lebewesen. (Fokus)
tions- (Topik)
struktur
Phrasen- Das Meer steckt voller wunderbarer, verrckter und besonderer Lebewesen. (VP)
struktur (NP)
Gramma- Das Meer steckt voller wunderbarer, verrckter und besonderer Lebewesen. (P)
tische (Subj.)
Fkt.
Wortart21 Das Meer steckt voller wunder- ver- und beson- Lebe-
(Art.) (N) (V) (Adj.) barer rckter (Konj.) derer wesen
(Adj.) (Adj.) (Adj.) (N)
Lexikon Das Meer steck-t voll-er wunder- ver- und beson- Lebe-
& mor- bar-er rck-t- der-er wesen
pho- er
logische
Struktur22
21
Whrend wir der Einfachheit halber hier auf die gngigen Wortarten (im Sinne der DUDEN-Grammatik)
zurckgreifen, fllt die Wortartenannotation mit SALTO differenzierter aus, insofern dem computerlin-
guistischen Konzept der Wortenannotation folgend morphosyntaktische Eigenschaften mit einbezogen
werden. Statt einer globalen Kategorie V (Verb) gibt es so etwa die Wortart VFIN (finites Verb).
22
Hinsichtlich der Ebene des Lexikons und der morphologischen Struktur, also jener Ebene, auf der Wrter
und Morpheme als kleinste konstruktionelle Einheiten angesiedelt sind, besteht in der Literatur keine Ei-
nigkeit darber, ob alle Elemente tatschlich als Konstruktionen im Sinne der KxG anzusehen sind. Wh-
rend Goldberg (2006: 5) Morpheme ebenfalls als Konstruktionen bezeichnet, argumentiert Booij (2010:
12), dass Morpheme aufgrund ihres nicht-zeichenhaften Charakters keinen Konstruktionsstatus htten
(siehe Boas 2003 und 2011 zum Status von so genannten Mini-Konstruktionen).
23
Eine der Hauptannahmen der KxG ist, dass sich alle Arten von linguistischen Informationen parallel
beeinflussen knnen, d. h., dass z. B. die Informationsstruktur die Wortstellung beeinflussen kann und
deshalb gewisse unmarkierte Wortstellungen (welche durch spezielle Satzkonstruktionen lizenziert, also
in einem grammatischen System zugelassen werden) abndern kann (vgl. Goldberg 2006). So werden in
der KxG nicht nur den grammatischen Konstruktionen in engerem Sinne Konstruktionsstatus zugeschrie-
ben, sondern auch anderen Arten von sprachlichen Informationen, die fr das Sprachwissen als relevant
angesehen werden. Dies betrifft nicht nur die in Tabelle 1 dargestellten Ebenen, sondern umfasst im Be-
reich der gesprochenen Sprache beispielsweise auch nichtsprachliche (wie gestische), phonetische bzw.
phonologische usw. Informationen, denen der Konstruktionsstatus zugeschrieben werden kann (vgl. z. B.
Boas 2004).
310 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
24
Frame-Elemente werden auf den nicht-terminalen Knoten einer Konstituentensyntax annotiert. Die Grn-
de dafr waren zum einen grere Effizienz der Annotation ganzer vorgegebener Phrasen gegenber der
manuellen Annotation aller relevanten terminalen Knoten, Vermeidung hndischer syntaktischer Analyse
und Annotation sowie die Nutzung zur Verfgung stehender computerlinguistischer Werkzeuge, die mit
Konstituentensyntax arbeiten.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 311
25
zen, auch nicht von uns korrigiert. Theoretisch wre es mglich, auch die Syntax des
untersuchten Textes durch SALTO-Annotationen komplett neu zu erfassen. 26 Wir ver-
zichten aber im Interesse der bersichtlichkeit darauf, unser Fokus liegt auf der Erfas-
sung des verstehensrelevanten Wissens (im Sinne von Busse 1991: 141ff.; Ziem 2008:
150-172).
25
Z. B. ist die PP im Meer in Satz 7 des Textes flschlicherweise an schtzen statt an Leben angehngt. Zu
beachten ist, dass Flle wie die flache PP in den vergangenen Jahren in Satz 4 keine Parser-Fehler dar-
stellen; der Parser verzichtet standardmig auf die Reprsentation der enthaltenen Nominalphrase.
26
Das FrameNet-Projekt selbst liefert hinsichtlich der Annotationen nur partielle syntaktische Analysen,
nmlich fr die Satzteile, die fr annotierte Frame-Instanzen relevant sind.
27
Dieses Beispiel zeigt, dass es je nach Textsorte unterschiedliche Arten von textsortenspezifischen Kon-
struktionen geben kann, z. B. fr Zeitungstexte, Kochrezepte, Bedienungsanleitungen, Gesetzestexte und
andere Textgenres.
28
Ob es sich bei Phrasenstrukturen um Konstruktionen handelt, ist eine offene Frage, der an dieser Stelle
nicht nachgegangen werden kann. Erstaunlicherweise ist dieser Problemkomplex in der einschlgigen
Fachliteratur bislang kaum explizit thematisiert (vgl. aber Michaelis/Lambrecht 1996). Wie bereits er-
whnt, spricht aber einiges dafr, ihnen den Konstruktionsstatus zuzusprechen.
312 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
29
Dies ist in Abbildung 1 nicht annotiert, da auf der zweiten Ebene nur semantische Aspekte erfasst sind.
30
Der Commemorative-Frame ist in der aktuellen FrameNet-Datenbank noch nicht erfasst. Solche Fra-
mes sind deswegen hier und im Folgenden mit einem Sternchen versehen. Interessant wre es, an dieser
Stelle genauer zu fragen: Woher wissen wir, dass eine solche Lesart zu prferieren ist? Anders gewendet:
Wodurch ist die Evozierung des Commemmorative-Frames (sprachlich und kognitiv) motiviert? Wir
knnen aus Platzgrnden nicht nher auf solche Fragen eingehen (die sich analog zu allen Frame-
Aktivierungen stellen lieen); nur soviel: Es handelt sich offenkundig um kognitive Motivationen, die
sich aus der Aktivierung von Hintergrundwissen und vor dem Hintergrund eines ganzen Weltbildes und
Wertesystems ergeben, hier etwa dem Wissen, dass es sich bei der Artenvielfalt um ein schtzenswertes
Gut handelt und dass die Artenvielfalt eines Gedenktages wrdig ist. Wussten Sie etwa, dass auch Tag
der Honduranischen Frau (zumindest im Kulturkreis Honduras) den Commemorative-Frame evo-
ziert? Es ist der 25. Januar, der Tag, an dem in Honduras das Frauenwahlrecht eingefhrt wurde.
314 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
31
Wie bei der grafischen Darstellung der annotierten berschrift hat auch hier die automatisch eingefgte
Bezeichnung Pseudo keine analytische Relevanz.
32
Zu einer genaueren Analyse der valenztheoretisch interessanten Lexikalischen Einheit voller vgl. Ab-
schnitt 3.4.2.
33
Vgl. die Definition in der FrameNet-Datenbank (letzter Zugriff: 31.5.2013): The LOCALE is a geograph-
ical location as defined by shape. This frame includes natural geographic features, including land/ice
forms and bodies of water. Beispiel: We climbed up the the rock [cliff] LOCALE.
34
Vgl. die FrameNet-Definition: A LOCATION is filled or covered with the THEME. The LOCATION is
realized as the External Argument, and the THEME either as a PP complement headed by with, in or of.
NB: This frame does not include uses of adjectives like paved when they merely specify the Type of
some location, as in paved and unpaved roads. Beispiel: [The waters of the bay] LOCATION teemed [with
fish]THEME.
35
Vgl. die FrameNet-Definition: This frame concerns an EVALUEE being judged for its quality, i.e. how
much it would probably be liked. In many cases, the EVALUEE is implicitly judged good or bad relative to
other instances of its type. The EVALUEES desirability is determined by one or more PARAMETERS,
which are scalar properties of the EVALUEE. The evaluation may also explicitly be relativized to a set of
CIRCUMSTANCES, a COMPARISON_SET of entities that belong to the same class as the EVALUEE, or an
AFFECTED_PARTY. The DEGREE of goodness or badness may also be expressed. Note: With some targets,
desirability is conventionally aligned with quantity, i.e., GOOD is MORE. Beispiel: [On clear
days]CIRCUMSTANCES, [the view]EVALUEE was excellent.
36
Vgl. die FrameNet-Definition: A certain IDIOSYNCRASY belongs to an ENTITY distinguishing it from
other entities. Beispiel: [The art of change-ringing]IDIOSYNCRASY is peculiar [to the English]ENTITY.
37
Vgl. die FrameNet-Definition: The LUs in this frame refer to biological entities labeled by the FE OR-
GANISM. An ORGANISM is described as something that can be alive, or have naturally occuring biological
processes and functions, however the concept of life is often used metaphorically for non-organic entities
316 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
which resemble or act as if they have organic life. Beispiel: NASA may someday discover a
[new]DESCRIPTOR [lifeform]ORGANISM [from another planet]ORIGIN.
38
Diese Konstruktion ist im aktuellen Konstruktikon fr das Englische (vgl. die Dokumentation unter
https://framenet2.icsi.berkeley.edu/frameSQL/cxn/CxNeng/cxn00/21colorTag/index.html, letzter Zugriff:
10. Juni 2013) noch nicht erfasst; auch diese Konstruktion ist deshalb mit einem Sternchen versehen.
39
Der Beitrag des Konnektors und scheint vor allem pragmatischer Natur. Whrend augenscheinlich Konti-
nuitt auf der thematischen Ebene signalisiert wird, markiert das explizite und (statt eines Nullkonnek-
tors) eine Vernderung im Diskurs. Dies gilt im Hinblick auf das Topik (Meer vs. Arten), aber auch im
Hinblick auf die Textfunktion (Beschreibung vs. Analyse). Wir breiten die Analyse des rhetorischen Ef-
fekts von Satz-initialem und an dieser Stelle nicht weiter aus (vgl. Baumgarten 2007; Dorgeloh 2004).
Anzumerken ist, dass FrameNet und auch das bestehende Fragment eines Konstruktikons fr das Engli-
sche Lexikalische Einheiten mit Diskursfunktionen bisher wenig bis gar nicht erfasst haben.
40
Wir verzichten hier aus Platzgrnden auf eine morphologische Analyse von unbekannt.
41
In der vom FrameNet-Projekt verwendeten Reprsentation erscheinen Sttzverben und Kopulaverben auf
einer anderen Annoationsebene als Frame-Elemente. SALTO unterstzt keine Unterscheidung von Ebe-
nen.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 317
Opposition steht zum Schon-entdeckt-worden-Sein, und nicht die, die sich auf Bekannt-
heitsgrade bezieht (wie z. B. in der Formulierung ein sehr bekannter Knstler).
In (6) liegt kein Argument vor, dass das Tertium Comparationis, also das FE ENTITY_2
des aufgerufenen Similarity-Frames spezifiziert; in (7) fehlt eine Angabe dazu,
wohin Emil den Ball zurckwirft, insofern die semantische Rolle GROUND des durch
zurck evozierten Locative_relation-Frames nicht bedient wird; und in (8) ist es
schlielich das Possessorargument Eltern von wem? das fehlt, obgleich der evozierte
Kindship-Frame das entsprechende FE EGO zu seinem Kernbereich zhlt.
Null-Instanziierungen werden entweder durch die Verwendung eines bestimmten
sprachlichen Ausdrucks oder durch das Auftreten einer bestimmten grammatischen Kon-
struktion lizenziert. Hinsichtlich der Interpretation des unrealisierten Elements gibt es
zwei Haupttypen von Null-Instanziierungen:
42
Nach der Analyse von Lyngfelt (2012) handelt es sich bei fehlendem Agens im Passiv um so genannte
Free Null-Instantiation (FNI), die mit einer kontextuellen Spezifizierung als indefinit oder generisch
kompatibel ist.
320 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
(i) Definite Null-Instanziierung (DNI). Eine DNI liegt vor, wenn das fehlende FE
bzw. das fehlende Argument, das dieses FE spezifiziert, aus dem Kontext oder
Kotext erschlossen werden kann. Diese Form der Null-Instanziierung, die auch
als anaphorische Null-Instanziierung bezeichnet wird, liegt in den Fllen (6)
bis (8) vor.
(ii) Indefinite Null-Instanziierung (INI). Von einer INI spricht man etwa dann,
wenn transitive Verben intransitiv verwendet werden. Dies ist beispielsweise
hufig bei Verben wie essen oder stricken der Fall, wie (9) und (10) exempla-
risch veranschaulichen.
Hier sind die ausgelassenen Referenten existentiell im Diskurs gebunden, aber sie ms-
sen zum Zeitpunkt der uerung nicht spezifiziert sein.
Zustzlich zum Faktor Interpretation wird fr die Kategorisierung von Null-
Instanziierungen blicherweise betrachtet, wodurch die Auslassung lizenziert ist, etwa
durch lexikalisch voll spezifizierte Konstruktionen oder durch schematische Konstruk-
tionen, in die die frame-evozierende Lexikalische Einheit eingebunden ist. Whrend
Beispiele (9) und (10) lexikalisch lizenziert sind, sind Passiv-Konstruktionen wie (11)
prototypische Beispiele fr konstruktionell lizenzierte Null-Instanziierungen.
43
Die Modellierung von Generizitt ist in der Konstruktionsgrammatik wie in anderen Theorien ein ungel-
stes Problem. Generizitt hat im Deutschen keine eindeutigen formalen Korrelate wie Artikel, verbale
Flektionsformen o. . und wird beim Textverstehen eher gestalthaft wahrgenommen. Daher ist es schwie-
rig, die Lizenzierung von generischer Interpretation in der Grammatik zu verorten.
322 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
grund der deiktischen Funktion von da in davon handelt es sich hierbei zwar nicht um
eine Definite Null-Instanziierung, denn eine Instanz des FE muss ja nicht von den
LeserInnen aufgrund ihres Kontextwissens inferiert werden, vielmehr liegt Koreferentia-
litt mit dem Diskursreferenten Lebewesen vor (davon von den Lebewesen);
wie Null-Instanziierungen stehen jedoch auch solche nachtrglichen FE-Instanziierungen
glei-chermaen im Dienste der textuellen Kohrenzbildung.
Die bisher diskutierten Auslassungen mit indefiniter oder generischer Interpretation
stellen die Mehrheit der Null-Instanziierungen dar. Im Text findet sich darber hinaus in
Satz 4 ein Fall der so genannten Identity-of-sense-anaphora (Kay 2006; Lyngfelt
2012): Das FE ENTITY im von neue evozierten Familiarity-Frame, das in einer
nicht-elliptischen NP durch das von neue modifizierte Kopfnomen gefllt wrde, ist hier
uninstanziiert. Der Antezedent ist das Konzept der Arten im vorangehenden Satz. 44
Noch ein weiterer, hnlicher Fall von anaphorischer Auslassung findet sich in Satz 4:
hinzukommen ruft den Accruing*-Frame auf, dessen FE PRE-EXISTING nicht spezifi-
ziert ist.45 Fr dieses FE findet sich auch keine konkrete Vorerwhnung des relevanten
Referenten: der Menge der zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannten Arten. Dieser
Referent muss von LeserInnen aufgrund ihres Textverstndnisses aktiviert werden, z. B.
durch den Kontrast, der sich in Satz 2 ergibt, wenn ber unbekannte Arten gesprochen
wird, deren Beschreibung ja auch bekannte Arten prsupponiert (vgl. hierzu Ziem i. Dr.).
Insgesamt scheinen die anaphorischen Auslassungen anders als die indefiniten und gene-
rischen allein durch Sprachkonomie und nicht als Mittel der Aufmerksamkeitslenkung
motiviert zu sein.
44
FrameNet unterscheidet Identity-of-sense anaphora nicht von DNI; auch sie werden unter dem Label
DNI annotiert.
45
Vgl. unsere Definition des Accruing-Frames: Some number of PRE-EXISTING entities form a set or
GROUP. At some point, the set or GROUP is extended to include NEW members. The addition to the PRE-
EXISTING set appears through an act of cognition (discovery or realization) by an unexpressed COGNIZ-
ER. Beispiel: Sie hat es nicht nur mit zwei europischen Anbauprodukten zu tun, sondern hinzukommt
jetzt noch [ein drittes Produkt] NEW, nmlich europische Blumen und Zierpflanzen. Wir fhren hier ein
deutsches Beispiel an, weil es im Englischen keine Lexikalischen Einheiten zu geben scheint, die den
Frame aufrufen; im Englischen werden relevante Aspekte vielmehr durch andere Frames wie den Cau-
se_to_be_included-Frame evoziert.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 323
1994; Mller, in diesem Band) ist und als die wohl am strksten formalisierte Variante
betrachtet werden kann. Da sich konstruktionsgrammatische Analysen, ganz gleich wel-
chen Grad an Formalisierung sie anstreben, auf das Grundkonzept der grammatischen
Konstruktion berufen, lassen sich die in den verschiedenen Varianten gewonnenen Ein-
sichten in die jeweils ausformulierten Theorien bertragen (vgl. Sag/Boas/Kay 2012).
Die bisher in den Abschnitten 3.1-3.2 vorgestellten Analysen der berschrift und der
ersten Stze des Zeitungstextes haben sich primr mit der Untersuchung der Frame- und
Wissensstrukturen beschftigt, die der Interpretation des Textes zugrunde liegen. Gram-
matische Konstruktionen wurden in diesem Rahmen ebenfalls besprochen, jedoch ge-
schah dies, ohne sie zu formalisieren. Um zu zeigen, wie eine Formalisierung unserer
konstruktionsgrammatischen Analysen aussehen kann, diskutieren wir nun exemplarisch
einige grammatische Konstruktionen, die bereits in den vorangehenden Abschnitten
erwhnt worden sind. Da wir wegen Platzmangels hier nicht die volle Bandbreite an
grammatischen Konstruktionen, d. h. von abstrakt-schematischen Konstruktionen bis hin
zu lexikalisch gefllten Konstruktionen, diskutieren knnen, beschrnken wir uns exem-
plarisch auf drei Konstruktionen, die diese Bandbreite illustrieren. Die Formalisierung
der grammatischen Konstruktionen geschieht in Form der SBCG (Sag 2012) bzw. im
Format des SBCG-kompatiblen Konstruktikons (Fillmore et al. 2012).
In den einfachsten Fllen besteht die (Mutter-)Konstruktion aus den phonologischen und
morphologischen Werten von Zeichen1 und Zeichen2, den Tchtern. Als Beispiel sei hier
die Verhltnis-Konstruktion genannt (vgl. Boas i. Dr.), deren Mutter aus zwei Tch-
tern besteht wie in (14).
Mit einer solchen von Fillmore et al. (2012) vorgeschlagenen Notation lassen sich im
Prinzip alle Arten von Konstruktionen erfassen. Die am Ende stehenden Konstruktions-
eintrge sollten dabei laut Fillmore et al. (2012: 331) die folgenden Informationen ent-
halten:
Der Konstruktionseintrag (16) ist wie folgt zu interpretieren: (1) Die Mutter (M) der
Verhltnis-Konstruktion ist eine NP; (2) die erste Tochter (T1), der Zhler, ist eine
quantifizierte NP, die eine bestimmte Quantitt von Einheiten eines einzigen Typs be-
schreibt; (3) die zweite Tochter (T2), die unabhngige Gre, ist eine PP mit pro als
Kopf, die eine indefinite NP enthlt, welche eine andere Art von Einheit beschreibt; (4)
die Semantik der Mutter (M) spezifiziert das neue Konzept, welches durch den Quotien-
ten der zweiten Tochter-Konstituenten, des Zhlers und des Gezhlten, entstanden ist.
Die Verhltnis-Konstruktion lizenziert somit alle Phrasen, welche die von der Kon-
struktion gestellten Restriktionen erfllen, wie z. B. vier Euro pro Stck, 50 km pro
Stunde usw. (vgl. Boas i. Dr.).
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 325
3.4.2 Einige Beispiele aus dem Text
Ein groer Vorteil der von Fillmore et al. (2012) vorgeschlagenen Notation von Kon-
struktionseintrgen liegt darin, dass sie Konstruktionen mit unterschiedlichem Abstrakti-
onsgrad erfassen knnen. So hat z. B. die in (17) und (18) relativ abstrakt-schematische
Subjekt-Prdikat-Konstruktion keine sonderlich spezifische Bedeutung, auer
dass sie die vom Prdikat identifizierten Eigenschaften mit dem Subjekt in Verbindung
bringt.46
Als zweites Beispiel dafr, wie Konstruktionen formalisiert werden knnen, besprechen
wir nun das im dritten Satz des Zeitungstextes (Mehr als tausend Arten wurden in den
vergangenen Jahren gefunden) vorkommende Vorgangspassiv, welches weniger
schematisch ist als die Subjekt-Prdikat-Konstruktion. Das Vorgangspassiv,
vergleiche (19) und (20), unterscheidet sich von den anderen bisher besprochenen Kon-
struktionen auch dadurch, dass es insgesamt sechs Tchter hat, wovon eine Tochter
(werden) fixiert ist und drei andere Tchter (Time, Location, Agent) optional weggelas-
sen werden knnen (optionale Nennung von Zeit- und Ortsangabe, Konstruktionelle
Null-Instanziierung).47
46
Der hier vorgeschlagene Eintrag fr die Subjekt-Prdikat-Konstruktion ist nur ein erster Versuch,
die relativ komplexen Prdikationsverhltnisse im Deutschen zu erfassen. Mit anderen Worten, die hier
vorgeschlagene Subjekt-Prdikat-Konstruktion erfasst nur die prototypischen Kongruenzverhlt-
nisse zwischen Subjekten (typischerweise NPs) und den Prdikaten (typischerweise VPs) in normalen
Deklarativstzen mit unmarkierter Wortstellung. Unterschiedliche Wortstellungen werden durch Wort-
stellungskonstruktionen geregelt, nicht jedoch durch die Subjekt-Prdikat-Konstruktion. Die hier
vorgeschlagene abstrakte Subjekt-Prdikat-Konstruktion macht in dieser Form auch keine genauen
Aussagen zu sekundrer Prdikation (Staudinger 1997; Mller 2002; Boas 2003), welche durch eine An-
zahl von spezifischeren Prdikationskonstruktionen lizenziert wird.
47
Es ist wichtig hervorzuheben, dass die Vorgangspassiv-Konstruktion allein nicht ausreicht, um den
gesamten Satz Mehr als tausend Arten wurden in den vergangenen Jahren gefunden zu lizenzieren. Ne-
ben den einzelnen Wrtern (die auch jeweils Konstruktionsstatus haben) und den phrasenbildenden Kon-
struktionen, die die NPs bilden, wird der Satz auch noch von einer Subjekt-Prdikat-Konstruktion
(Kongruenz zwischen Subjekt und werden) und diversen morphologischen Konstruktionen, etwa zur
Markierung von Tempus lizenziert.
326 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
Vorgangspassiv Patient
(19) { [ ] [werden] ([Time]) ([Location]) ([Agent]) [Partizip]}48
Eine bisher offene Frage betrifft den Status von peripheren Frame-Elementen (Adjunk-
ten) wie TIME und LOCATION, welche auch bei Passivkonstruktionen optional sind. Ei-
nerseits knnten diese als die vom Verb (bzw. des entsprechend evozierten Frames)
projizierten Frame-Elemente betrachtet werden. Somit wre die Wegglassung von TIME
und LOCATION eine von der Vorgangspassiv-Konstruktion lizenzierte Null-
Instanziierung, welche je nach Kontext auch verstehensrelevant sein kann. Andererseits
knnte man die Lizenzierung von peripheren Frame-Elementen der Pragmatik berlas-
sen, welche abhngig vom Kontext die Lizenzierung von peripheren Frame-Elementen
regelt (vgl. hierzu Goldberg/Ackerman 2001). Eine Entscheidung fr die eine oder die
andere Lsung erscheint zu diesem Zeitpunkt nur schwer mglich, weil noch nicht aus-
reichend detaillierte Analysen zur Weglassbarkeit von peripheren Frame-Elementen in
anderen Konstruktionen des Deutschen vorliegen. Erst wenn es eine grere Zahl sol-
cher Analysen gibt, knnen verlssliche Aussagen darber gefllt werden, ob die Weg-
lassbarkeit von peripheren Frame-Elementen in den unterschiedlichen Passivkonstruk-
48
In (19) sind werden und Partizip fett gedruckt, weil diese zusammen die Vorgangspassiv-
Konstruktion evozieren, d. h. zusammen genommen bilden sie die C(onstruction) E(voking) E(lements),
parallel zu den F(rame) E(voking) E(lement(s)), welche semantische Frames evozieren.
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 327
tionen sowie anderen Konstruktionen durch die Pragmatik oder ber die Konstruktionen
selbst erfasst werden soll und kann.49
Wir wenden uns abschlieend der genaueren Analyse der in Satz 1 des Nachrichtentex-
tes vorkommenden Lexikalischen Einheit voller zu, welches den Abounding_with-
Frame evoziert (vgl. die Ausfhrungen in Abschnitt 2.2). Interessant ist, dass voller in
diesem Kontext nicht allein vorkommen kann, sondern nur in Verbindung mit dem
Funktionsverb stecken, mit dem es zusammen ein Funktionsverbgefge bildet. 50 Als
solches hat voller einen gemischten Status, d. h. es befindet sich an der Grenze zwischen
dem Bereich, der traditionell als Lexikon bezeichnet wird, und dem Bereich, der tradi-
tionell eher als Grammatik angesehen wird. Mit anderen Worten: Auf unser Beispiel
angewendet bedeutet dies, dass die konstruktionellen Eigenschaften von voller wie folgt
przisiert werden knnen:51
49
Vgl. Ackerman/Webelhuth (1998) fr eine umfassende Analyse des Passivs im Deutschen, welche ein
Netzwerk von insgesamt 14 verwandten Passivkonstruktionen postuliert.
50
Andere Funktionsverben, die mit voller vorkommen knnen, sind z. B. bleiben und sein. All diesen
Funktionsverbgefgen ist gemeinsam, dass der Abounding_with-Frame von voller evoziert wird und
nicht vom Funktionsverb, vgl. hierzu Ruppenhofer et al. (2010: 31-32) zum Status von Funktionsverbge-
fgen.
51
Der von voller aufgerufene Abounding_with-Frame bleibt in der nachfolgenden Analyse und Inter-
pretation absichtlich unbercksichtigt, vgl. hierzu ausfhrlich Abschnitte 2.2 und 3.1.
52
Die Eigenschaften von voller als Teil eines Funktionsverbgefges unterscheiden sich hinsichtlich der
Kasusmarkierung von denen von voller als Prposition auerhalb eines Funktionsverbgefges. In unse-
rem Fall markiert das Funktionsverbgefge steckt voller das FE THEME des Abounding_with-Frames
als Genitiv-Plural. In Fllen, in denen voller als Teil einer regulren PP erscheint (z. B. die Wanne voller
Wasser, das Haus voller Kinder), schlgt Zeldes (i. Dr.) vor, voller als unterspezifizierte Prposition zu
analysieren, welche fr eine NP mit optionalen Adjektiv-Modifikatoren, aber ohne Artikel subkategori-
siert, und dazu tendiert, diese NP entweder als Dativ-Singular oder Genitiv-Plural zu markieren. Da sich
jedoch keine festen Muster ausfindig machen lassen, argumentiert Zeldes auf der Basis von Korpusbele-
gen, dass die Argument-NP generell keine Markierung trgt, es sei denn eine Default-Pluralmarkierung,
die auch eventuelle Adjektivmodifikatoren erfasst.
328 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
4. Schlussbemerkungen
Das Ziel des vorliegenden Beitrages bestand darin, einen frame- und konstruktionsba-
sierten Ansatz zur Textanalyse in Grundzgen zu skizzieren. An einem konkreten Bei-
spiel sollte mglichst vollstndig rekonstruiert werden, welches Wissen zum Textverste-
hen notwendig ist. Der Beitrag folgt der Idee eines so genannten FrameNet-
Konstruktikons (im Sinne von Fillmore et al. 2012), also der systematischen Bercksich-
tigung und Einbindung von (syntaktisch komplexen) grammatischen Konstruktionen in
die FrameNet-Datenbank.
Ausgangspunkt bildete der Befund, dass es sich bei dem Berkeleyer FrameNet-
Projekt und einer gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik gleichsam um Schwe-
stertheorien handelt. Beide versuchen, auf der Basis authentischer Sprachdaten zu erfas-
sen, was SprecherInnen wissen mssen, um Texte produzieren und verstehen zu knnen.
Valenzorientierte Lexikographie (wie das traditionelle FrameNet-Projekt) ist jedoch
nicht in der Lage, alle Aspekte kommunizierter Bedeutungen zu erfassen, da grammati-
sche Konstruktionen ebenfalls bedeutungstragende Einheiten sind. Weil also syntakti-
sche Strukturen genauso wie Lexikalische Einheiten (im Sinne von Fillmore 1985) Be-
deutungen verfgbar machen und Frames evozieren, bietet es sich an, framesemantische
Prinzipien auch zur semantischen Beschreibung von konstruktionellen sprachlichen
Zeichen zu verwenden.53
In dem vorliegenden Beitrag haben wir an diese Ideen angeknpft, um ein frame- und
konstruktionsbasiertes Modell zur grammatischen Textanalyse vorzustellen. Entspre-
chend standen dabei die erklrende Erluterung von ausgewhlten Frames und Konstruk-
tionen im Mittelpunkt, die im Nachrichtentext evoziert werden. Diese wurden nach Fra-
meNet-Vorgaben und mithilfe der SALTO-Software annotiert und ausgewertet. Aus
Platzgrnden haben wir uns hauptschlich auf die Untersuchung exemplarischer und
anschaulicher Beispiele beschrnkt. Die vollstndigen Ergebnisse der frame- und kon-
struktionsbasierten Annotation des gesamten Nachrichtentextes knnen jedoch bei Inter-
esse online abgerufen werden.54
In unserer Analyse haben wir neben der Benennung und Analyse von Lexikalischen
Einheiten versucht, das verstehensrelevante Wissen der untersuchten sprachlichen Zei-
chen im Kontext des konkret vorliegenden Textes zu erfassen. Hierbei hat sich Folgen-
des gezeigt: Einerseits besteht der Text aus vielen einfachen Phrasenstrukturen, die
keinen besonderen Beitrag zur Interpretation des Textes zu leisten scheinen. Daneben
enthlt er aber auch einige idiomatische Lexikalische Einheiten wie voller in Satz 1 oder
Instanzen klassischer Konstruktionen wie der Resultativkonstruktion in Satz 9 (fangen
heraus), fr deren umfassende und detaillierte Analyse die Konstruktionsgrammatik
ein geeignetes Analyseinstrumentarium bereitstellt, die aber auf der Textebene nicht weit
53
Andererseits ist festzuhalten, dass die Konstruktionsgrammatik freilich auch andere semantische Theorien
zur Beschreibung von Bedeutungen einsetzen knnte und dies tatschlich auch tut (siehe Sag 2012: 87-
95).
54
Sie stehen unter folgenden URLs zum Herunterladen bereit:
http://www.uni-hildesheim.de/ruppenhofer/data/Arten-KxG.zip
http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/konstruktionsgrammatik/publikationen/
Grammatische Konstruktionen und semantische Frames fr die Textanalyse 329
ausstrahlen. Am interessantesten sind aus unserer Sicht insbesondere jene Konstruktio-
nen, die texttypenspezifisch sind, wie z. B. die Konstruktion, welche eine artikellose NP
als berschrift lizenziert, oder die, die per Nennung eines Namens am Textende den
Autor/die Quelle eines Textes identifiziert. Solche Phnomene sind bisher weder in den
Flietextanalysen von FrameNet (full-text annotation) noch im Konstruktikon zum
Englischen bercksichtigt worden. Schlielich haben wir in der phnomenorientierten
Diskussion in Abschnitt 3.3. gezeigt, wie sehr nachtrgliche FE-Instanziierungen und
verschiedene Typen von Null-Instanziierungen (ganz gleich, ob diese lokal lexikalisch
oder konstruktionell lizenziert sind) eine kohrenzstiftende Funktion im Text erfllen.
Das Ziel unserer Analyse war es ausdrcklich nicht, eine formale Beschreibung der
sprachlichen Einheiten vorzulegen (etwa im Sinne der Kopf-gesteuerten Phrasenstruk-
turgrammatik, vgl. Mller in diesem Band) oder eine detaillierte Konstituentenstruktur-
oder Valenz-Analyse durchzufhren (vgl. Engel, in diesem Band; Staffeldt/Zimmer-
mann/Zimmermann, in diesem Band), auch wenn die hier durchgefhrte Untersuchung
teilweise auf entsprechende formale, konstituentenbezogene und valenzgrammatische
Bestimmungen zurckgreift und es prinzipiell mglich ist, diese in die vorliegende Stu-
die nahtlos zu integrieren.
Entsprechend erhebt der hier vorgestellte Beschreibungsansatz nicht den Anspruch,
eine eigenstndige, in sich abgeschlossene Grammatiktheorie zu sein, er ist vielmehr
angewiesen auf und zugleich kompatibel mit Analyseperspektiven anderer theoretischer
Provenienz und Ausrichtung. Dies zeigt sich in diesem Beitrag in dreierlei Hinsicht:
Erstens greift die errterte Idee eines so genannten FrameNet-Konstruktikons auf grund-
legende Konzepte eines an syntaktischer und semantischer Valenz orientierten Beschrei-
bungsmodells auf, die mit framesemantischen berlegungen im Anschluss an Fillmore
1975 und 1985 verbunden und weiterentwickelt werden; zweitens wurden die manuellen
Annotationen des analysierten Zeitungsartikels mithilfe des SALTO-Tools durchgefhrt,
das fr framesemantische Analysezwecke auf die Konstituentenstruktur eines Textes
aufbaut (vgl. Burchardt et al. 2006); und drittens wre es schlielich wie in Abschnitt
3.4 angedeutet durchaus mglich, im Anschluss an die Sign-Based Construction
Grammar eine formale Beschreibung der annotierten Frames und Konstruktionen zu
ergnzen, die gngige Notationsformen der Kopfgesteuerten Phrasenstruktur-Grammatik
nutzt.
Vor diesem Hintergrund knnte man sich fragen, warum denn dann berhaupt eine
konstruktionsgrammatische und framesemantische Analyse des Zeitungstextes ntig ist?
Die Antwort lautet: Auch wenn der Nutzen etwa valenzorientierter oder schulgrammati-
scher Satzanalysen unbestritten ist und bleibt, so erheben wir den Anspruch, mit dem
Konzept eines FrameNet-Konstruktikons eine umfassendere und vollstndigere Be-
schreibung und Erklrung des verstehensrelevanten Wissens anzubieten. Anders formu-
liert: Mithilfe des FrameNet-Konstruktikons lassen sich Dimensionen des sprachlichen
Wissens empirisch erschlieen, die schon deshalb jenseits des Zugriffsbereichs anderer
Anstze liegen, weil die Erfassung der Bedeutung(en) von sprachlichen Ausdrcken und
syntaktischen Strukturen in konkreten Texten und Diskursen meistens zu kurz kommt.
Dass dies eine auf Frames und grammatische Konstruktionen basierte Analyse leisten
kann, hoffen wir gezeigt zu haben.
330 Alexander Ziem, Hans C. Boas und Josef Ruppenhofer
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