Diogenes Magazin Nr.13

Nr.
13
Sommer 2013
Diogenes
Magazin
Martin Suter
ber Reisen und Lesen mit Stil
Begleitet von Sebastian Koch
und Gentlemangauner Allmen
Belgrad noir
Die Krimidestination des neuen
Autorenduos Schnemann&Volic
Spannung mit Stil

Donna Leon schwrmt
von Ross Macdonald
Romane
mit Stachel
Im Gesprch mit
Arnon Grnberg
und Joey Goebel
4Euro/7 Franken
783257 850130
Lesestoff fr Entdecker.
Reportagen, Weltgeschehen im Kleinformat.

Jeden zweiten Monat neu. Erhltlich im Buchhandel, an grossen
Kiosken und im Abonnement. www.reportagen.com
Cartoon
von Posy Simmonds
Angeber!
Foto Titelseite: Gaby Gerster/ Diogenes Verlag; Illustration: Posy Simmonds
Ich hatte es zu fast vollkommener Gleichgltigkeit im

Hinblick auf Gilberte gebracht, als ich zwei Jahre spter
mit meiner Gromutter nach Balbec fuhr.
Diogenes Magazin
Ersatz fr das leidige
Editorial
Ein Auszug aus dem dritten AllmenRoman von Martin Suter, Allmen
und die Dahlien, ab Juni im Handel
und dazu ein Sommergedicht von
Rainer Brambach:
Beilage
Das Prigord
Ein kleiner Reisefhrer von Martin Walker
Prigord
Im Juli und August

Rainer Brambach
Seit Jahren, im Juli und August,
wenn die Villen, mter, Schulhuser
und Fuballpltze verdet sind,
bekomme ich tglich Gre von fern.
Der Brieftrger wirft
einen Alphornblser samt Gebirge,
die Seufzerbrcke, den Denker
von Rodin,
einen Serben in Pluderhosen,
auch das schilfbestandene Ufer
einer Nordsee-Insel
in meinen Kasten.
Freunde erinnern sich meiner,
nachdem sie ohne mich fortfuhren.
Diogenes Magazin
Arnon Grnberg 36
hat einen bitterbsen und beiend
komischen Roman geschrieben:
Der jdische Messias erzhlt von einem,
der auszieht, das auserwhlte Volk
von seinem Leid zu erlsen und die
Menschheit das Frchten lehrt.
Ein Buch, frei von Scheinheiligkeit,
ein Buch wie sein Autor.
Interviews
Martin Suter 4
1
13_I_walker_reisefuehrer_perigord.indd 1
26.02.13 10:46
Ein kleiner Reisefhrer von

Martin Walker
Der Autor der Krimis um Bruno,
Chef de police von Saint-Denis,
zeigt uns sein Prigord, ein Paradies
auf Erden: reich an kulinarischen
Genssen, kulturellen und historischen Schtzen, malerischen
Stdtchen, idyllischen Landschaften. Mit vielen Restaurant- und
Hoteltipps.
Sebastian Koch 6
Jelena Voli und
Christian Schnemann 16
Arnon Grnberg 36
Joey Goebel 44
Impressum
Vorschaufenster
39
62
Foto links: Atout France; Foto rechts: Roger Eberhard
Zum Tee berraschte Carlos Allmen

mit der Nachricht, dass auf dem
Konto bereits die dreihundertzweiundsechzigtausend eingegangen waren,
die er noch gestern ber das Internet
fakturiert hatte. Danach spielte er
noch ein Stndchen Klavier, las ein
paar Gedichte des wunderbaren
Rainer Brambach und zog sich um
zum Ausgehen.
Diogenes Magazin Nr.13
Illustration oben: Tomi Ungerer; Foto links: Regine Mosimann/Diogenes Verlag; Foto Mitte: Nathan Beck/ Diogenes Verlag; Foto rechts: Gaby Gerster/ Diogenes Verlag
Inhalt
Joey Goebel 44
widmet sich in seinem neuen Buch
Ich gegen Osborne einer aussterbenden Spezies: dem Gentleman,
wenngleich einem sehr jungen dem
16-jhrigen James Weinbach.
Um Umgangsformen geht es auch in
unserem Gesprch mit dem Autor.
Ein neues Autorenduo: Jelena Voli

und Christian Schnemann 16
fhren uns durch eine faszinierende
Metropole: Belgrad, so nah und doch
so fern in Kornblumenblau, dem
ersten Band ihrer Krimiserie. Im
Interview erzhlen die Grenzgnger
von ihrer langjhrigen Freundschaft.
Wie Der groe Gatsby 20

bis heute die Mode inspiriert
Farbige Wochen 50
Wie wrde die Welt aussehen,
wenn ein autistisches Kind sie regiert?
Mario Vargas Llosa 24

ber Bcher gegen Flugangst
Semps Radfahrer 30
Donna Leon
ber ihren Lieblingskrimiautor
Ross Macdonald
54
Martin Suter 4
erzhlt uns von seinen Reisen
zwischen Dolcefarniente und strapa
zisen Recherchen.
Der Schauspieler Sebastian Koch
freut sich, Suters vielgereisten Helden,
Johann Friedrich von Allmen, in der
Fernsehverfilmung zu verkrpern.
Und Allmen selbst nimmt uns in
einem Auszug aus seinem neuesten
Fall mit nach Biarritz.
Nachruf
Jakob Arjouni ist tot 40
Christian Seiler erinnert an einen
Menschen mit einem grandioses Talent
zum Schreiben und fr Freundschaften.
Rubriken
Die einsame Insel
Christian Schnemann
28
Literarisches Kochen 52
mit Hugo Loetscher
Top 20 Brunos Lieblingssongs 34
Lesefrchtchen 58
Denken mit Friedrich Hebbel 48
Wer schrieb hier? Gewinnspiel
63
Ein Autor Eine Stadt

Hamburg mit
Friedrich Dnhoff
60
Mag ich Mag ich nicht 64

Laura de Weck
Diogenes Magazin
Interview
Martin Suter
Die Kunst
des Reisens
4
Diogenes Magazin
Ihr Held, Johann Friedrich von Allmen, geht erneut auf Reisen. In Allmen und der rosa Diamant nchtigte
er im Grandhotel in Heiligendamm,
dieses Mal, in Allmen und die Dahlien,
ist es das vornehme Htel du Palais in
Biarritz. Mussten Sie sich zu Recherchezwecken auch dort einquartieren?
Selbstverstndlich. Die Allmen-Serie
ist das Resultat harter Recherchen. Ich
bin froh um diese Gelegenheit, den
Verlag an meine alte Forderung zu erinnern, die Auslagen fr diesen Rechercheaufwand endlich auf meiner Spesenabrechnung zu akzeptieren.
Sie sind augenblicklich mit Ihrer Familie auf Grand Tour in Asien. Warum gerade Asien? Welche Destinationen reizen Sie dort besonders?
Es htte eine einjhrige Weltreise werden sollen. Aber whrend der Planung
haben wir gemerkt, dass wir da in einem unbarmherzigen Rhythmus immer nur am Ankommen und Abreisen
wren. Wir wollen aber nicht in kurzer
Zeit mglichst viel sehen, sondern mit
viel Zeit mglichst wenig so intensiv
wie mglich. So haben wir uns fr diese Form entschieden: Wir schlagen unsere Zelte in Singapur auf und machen
von dort aus sieben Reisen in ganz Asien.
In Singapur steht ein legendres viktorianisches Hotel, in dem auch der
groe Schriftsteller und Kosmopolit
William Somerset Maugham gench-
Foto: Gaby Gerster/ Diogenes Verlag
Wie sein Held, Johann Friedrich

von Allmen, Gentlemangauner,
Kunstexperte und Laienkrimino
loge, ist Martin Suter viel unter
wegs. Frher reiste und schrieb
er als Reporter fr die Zeitschrift
GEO. Und auch heute noch sind
seine Reisen oft beruflicher Na
tur. Dieser Tage ist Suter mit sei
ner Familie in Asien, auf Erho
lungsreise, wie er sagt. Unsere
Fragen hat er am Indischen Oze
an beantwortet.
tigt hat. Das Raffles. Hat Ihre Reise

Sie auch dorthin gefhrt?
Wenn ich vorhin Zelte gesagt habe,
war damit das Raffles gemeint. Ich war
das erste Mal als GEO-Reporter vor
ber dreiig Jahren auf Maughams Spuren dort. Es ist inzwischen noch schner geworden.
Welches ist fr Sie das beste Hotel der
Welt?
Fr jemanden, der diese groen Traditionshuser mag, kommt das Raffles in
der Kategorie Stadthotel dem schon
sehr nahe. Das perfekteste in der Kategorie Strand habe ich krzlich in
Thailand angetroffen: das Trisara in
Phuket. Da stimmt jedes Detail. Aber
fragen Sie mich nach unserer Rckkehr
nochmals.
Wie lange werden Sie unterwegs sein?
Sieben Monate.
Ist diese Reise auch eine Recherchereise fr einen neuen Roman?
Nein, es ist eher eine Erholungsreise
von meinen bisherigen Romanen.
Gibt es Kontinente, Lnder oder
Stdte, die Sie als Reiseziel berhaupt
nicht reizen?
Kontinente nicht, Lnder schon. Solche, in denen Krieg herrscht, zum Beispiel. Und Stdte? Solche in solchen
Lndern.
Gibt es Orte, die Sie unbedingt noch
entdecken mchten?
Mein Lebensmotto ist ja, dass man
nichts verpassen kann im Leben. In
diesem Sinn: Nein.
Welche Reisen Ihrer Kindheit haben
sich Ihnen besonders eingeprgt?
Meine erste Ferienreise ans Meer. Italien, Forte dei Marmi.
Knnen Sie sich an die erste Reise erinnern, die Sie selbst bezahlt haben?
Argentinien, 1969.
Welches war die schnste Reise, die
Sie je unternommen haben?
Nicht die schnste, aber die abenteuerlichste: mit einem alten Landrover von
Basel nach Nairobi, von dort aus per
Schiff nach Karachi und Bombay, danach zwei Monate Sri Lanka und dann
per Flugzeug ber Teheran und Moskau zurck in die Schweiz.
Welches war die schlimmste, langweiligste?
Jede im Zusammenhang mit dem Militrdienst.
Es scheint Sie zumeist in die Ferne zu

ziehen, reisen Sie noch in Ihrer Heimat, der Schweiz?
Mindestens einmal im Jahr ins Engadin.
Strand oder Berge?
Im Sommer Strand, im Winter Berge.
Stdtetrip oder Wanderung?
Nicht Stdtetrip, aber wir reisen gerne
in eine Stadt, um dort eine Zeitlang zu
wohnen und ein Gefhl dafr zu bekommen. Weniger, um Besichtigungen
zu machen.
Gibt es Orte, die Sie

unbedingt noch entdecken
mchten?
Mein Lebensmotto ist ja,
dass man nichts verpassen
kann im Leben. In diesem
Sinn: Nein.
Sind Sie in den Ferien aktiv, oder

knnen Sie auch tagelang unttig am
Pool liegen?
Wrde ich schon gerne mal. Aber ich
beantworte diese Fragen am Rande eines Pools am Indischen Ozean. So viel
zu unttig.
Gibt es bestimmte Formen des Reisens, denen sie gar nichts abgewinnen knnen?
Der organisierten, fremdbestimmten.
Gruppenreisen, Pauschalreisen.
Was fr Allmen die Geschftsreisen,
sind fr Sie die Lesereisen. Mgen Sie
diesen Reisetyp?
Ja, mag ich. Allerdings in geringeren
Dosen als frher.
Sie sind einige Zeit als Journalist fr
GEO durch die Welt gefahren, haben
Reisereportagen geschrieben. Wenn
Sie heute unterwegs sind, ist Ihr Blick
auf fremde Lnder und Sitten ein anderer, oder reist der Journalist noch
mit?
Der Journalist bleibt zu Hause. Ich geniee es zu reisen, ohne jeden Tag etwas erleben zu mssen.
Schreiben Sie auch heute noch, wenn
Sie auf Reisen sind?
Am liebsten schreibe ich unterwegs

nicht. Aber das schaffe ich selten. Auf
dieser Reise habe ich mir zum Beispiel
vorgenommen, einen Reisebericht zu
schreiben. Fr unsere Tochter, damit
sie sich spter erinnert.
Allmen reist mit einem Schrankkoffer,
auch wenn er nur ein paar Tage fort
ist. Wie sieht Ihr Gepck aus? Finden
sich darunter auch die Rollkoffer,
ber die Sie sich in einer BusinessClass-Geschichte lustig gemacht haben?
Inzwischen haben alle meine Gepckstcke Rder. Ich reise zwar nicht mit
so viel Gepck wie Allmen. Aber mit
mehr als frher als Reisejournalist. Ein
zweiter Anzug ist immer dabei. Ich
mag es, mich zum Abendessen umzuziehen. Und weil das die ganze Familie
tut, reisen wir auch hier in Asien nicht
gerade mit leichtem Gepck.
Sie leben in Guatemala, Ibiza und
Zrich. Knnen Sie sich vorstellen,
dauerhaft an nur einem Ort zu leben,
gesetzt den Fall, Sie knnen sich weiterhin mehrere Wohnsitze leisten?
Doch, ich glaube, das knnte ich schon.
(Man kann ja nichts verpassen.)
Allmen ist ein eifriger Leser. In Maughams Geschichte Der Bchersack erzhlt der weitgereiste Autor von seinem wichtigsten und schwersten
Gepckstck: dem Bchersack, der
auf keiner seiner Reisen fehlen darf.
Reisen Sie auch mit einem ganzen
Sack voller Bcher?
Frher reiste ich mit ein paar Bchern,
die ich dann der Hotelbibliothek berlie. Aber nicht mit einem Bchersack.
Ich spreche es nicht gerne aus, aber im
Zeitalter der E-Books hat dieser sich
erbrigt. Was ich aber auf Reisen immer wieder tue, ist Bcher kaufen. Die
schicke ich dann nach Hause.
Was lesen Sie in den Ferien? Suchen
Sie Inspiration fr Ihr eigenes Werk
in der Ferienlektre?
Im Moment lese ich leider Selbstgeschriebenes: die Fahnen von Allmen
und die Dahlien und die Franzsisch
bersetzung von Die Zeit, die Zeit.
Aber dazwischen reicht die Zeit fr ein
Wiedersehen mit der einen oder anderen Erzhlung von William Somerset
Maugham. kam/ck
Diogenes Magazin
Sebastian Koch
Eine Frage
des Stils
Sie haben bislang eher tragische, historische Figuren verkrpert, die Figur des Schriftstellers in Das Leben
der Anderen, Andreas Baader, Klaus
Mann, Richard Oetker oder jetzt, in
Das Wochenende nach dem Roman
von Bernhard Schlink, einen Ex-Terroristen, eine Figur, die an Christian
Klar angelehnt ist.
Die komische Figur eines Hochstaplers und Gentlemangauners ist
eher ungewhnlich fr Sie. Haben
Sie gezgert, die Rolle anzunehmen?
Dass ich scheinbar wenig komische
Rollen gespielt habe, hngt damit zusammen, dass die politischen Stoffe,
die schweren Kaliber populrer waren.
Im Ausland habe ich doch einiges im
komischen Bereich gemacht. Albatross
zum Beispiel mit Julia Ormond, eine
groartige britische Komdie, die in
Deutschland leider nicht in die Kinos
kam. Dabei habe ich groe Lust auf
komische Stoffe, unter der Bedingung
natrlich, dass sie gut geschrieben sind.
Das ist im komischen Fach fast noch
wichtiger als im tragischen. Dass nicht
alles ausgesprochen wird, dass der Humor zwischen den Zeilen liegt, ein Humor, der meist tiefer Depression entspringt. Das gibt es leider viel zu selten.
Vor allem vermutlich in deutschen
Drehbchern
Ja, aber die Allmen-Romane von Mar6
Diogenes Magazin
Foto: Gregor Hohenberg Photography
Interview
Der groe Schauspieler Sebastian

Koch (Das Leben der Anderen, Die
Manns, A Good Day to Die Hard),
in diesen Wochen in der Ver
filmung von Bernhard Schlinks
Das Wochenende in den Kinos zu
sehen, wird sich demnchst ei
nem weiteren Diogenes-Autor
zuwenden: Koch spielt Johann
Friedrich von Allmen in der Fern
sehverfilmung von Martin Suters
Krimireihe. Wir erreichten ihn
am Telefon in Berlin.
tin Suter haben diesen Humor. Ich

freue mich sehr, mich auf diesen Allmen einzulassen, diesen merkwrdigen Menschen, um den man immer
wieder Angst hat, der um sich selber
aber nie Angst zu haben scheint. Ich
bin sehr gespannt, wo wir da landen
Allmen selbst ist ja kein groer Komiker. Viel Komik birgt aber die Beziehung zwischen ihm und Carlos, zwischen dem Herrn und dem Diener. Die
beiden wohnen ja im Grtnerhuschen,
sozusagen in der ehemaligen Scheune
des eigentlichen Anwesens von Allmen. Das ist eine groartige Ausgangssituation.
Allmen fhrt sein grobrgerliches
Leben fort, als habe sich nichts verndert. Wie er das durchzieht, formvollendet, das hat einen nahezu britischen
Humor. Er benimmt sich so, als seien
smtliche Grundlagen noch da, vor allem die finanziellen
und steigt hufig in sehr teuren
Hotels ab. Auch Sie verbringen viel
Zeit in Hotels. Knnen Sie diese Aufenthalte noch genieen?
Ja. Ein gutes Hotel ist fr mich nach
wie vor etwas ganz Besonderes. Weil
ich seit dreiig Jahren in der Weltgeschichte umherreise, wei ich, wie bedeutsam es ist, wenn sich jemand in das
Sein seiner Gste hineinversetzt, die
Dinge am rechten Platz sind und sthetisch. Ich kann das sehr genieen.
Und dann gibt es die ganz besonderen Hotels, die so atemberaubend schn
sind, dass man gar nicht mehr abreisen
mchte. Das Mandarin Oriental in
London zum Beispiel, direkt am Hyde
Park. Ich habe dort whrend der Dreharbeiten zu Die Hard gewohnt. Ein
klassisches Grandhotel mit wunderbarem Flair, in dem technisch alles auf
dem neuesten Stand ist. Das gilt brigens auch fr das Sacher in Wien.
Allmen, der Privatier, verbringt viel
Zeit in seinem Lieblingscaf, dem
Viennois. In welcher Umgebung knnen Sie am besten entspannen?
Da bin ich gar nicht so weit weg von
ihm. Wie Allmen liebe ich die Atmosphre der Kaffeehuser in Wien, Prag,
Budapest. Dort zu sitzen und zu lesen
Kommen Sie denn noch dazu, etwas
anderes zu lesen auer Drehbcher?
Na ja (lacht), Martin Suter, immer wieder.

Das haben Sie schn gesagt, Sie drfen aber auch Nicht-Diogenes-Autoren nennen.
Nun, zu viel mehr finde ich kaum die
Zeit. Ich bereite mich gerade auf eine
Serie ber den Vatikan vor, fr den
amerikanischen Fernsehsender Showtime. Ridley Scott fhrt dabei Regie.
Hochspannend. Und da muss ich mich
natrlich einlesen, es braucht viel Zeit
und Arbeit, diesen Stoff zu durchdringen, die hierarchischen Strukturen zu
verstehen
Ich sollte abends kein

Buch mehr anfangen, weil
ich einfach nicht wieder
aufhren kann. Unglaublich,
was Bcher mit einem
machen knnen. Und
dann ist der nchste Tag
ruiniert.
Lesen Sie eigentlich jedes Drehbuch,
das Ihnen angeboten wird?
Eigentlich schon. Mein Problem ist,
dass ich oft nicht den Absprung finde.
Auch wenn ich nach zwanzig, dreiig
Seiten schon wei, dass es nichts ist,
muss ich weiterlesen. Das ist absurd,
denn es kostet mich viel Kraft und
Zeit
und Nerven vermutlich auch.
Und wie.
Ihr schnstes Leseerlebnis?
Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel
Garca Mrquez. Zum Ende hin habe
ich nur noch ein, zwei Seiten am Tag
gelesen, damit ich lnger etwas davon
habe. Ich wollte diese Welt aus kalkigen Wnden und Leintchern voller
Sperma, die man in die Ecke stellen
kann, nicht verlassen. Das sind Bilder,
die man nie vergisst.
Ich sollte abends kein Buch mehr
anfangen, weil ich einfach nicht wieder
aufhren kann. Unglaublich, was Bcher mit einem machen knnen. Und
dann ist der nchste Tag ruiniert. Das
geht mir genauso bei TV-Serien. Furchtbar, ich werde sofort schtig. Vielleicht
sollte ich nur noch Kurzgeschichten
lesen (lacht).
Da habe ich was fr Sie: Suter, Business-Class-Geschichten. Kaum je lnger als drei Seiten, genau das Richtige fr vielbeschftigte Schauspieler.
Perfekt.
Wenn Johann Friedrich von Allmen
verreist, dann mit schwerem Gepck.
Sein Erscheinungsbild ist ihm sehr
wichtig. Ist das bei Ihnen hnlich?
Nein. Ich habe ein paar Pullover, ein,
zwei Anzge dabei. Wenig, aber immer
noch zu viel. Ich nehme aber sicher
nicht meinen halben Kleiderschrank
mit wie Allmen. Was das uere anbelangt, die Etikette, sollte man gewisse
Formen kennen, das tue ich auch, aber
leben muss ich sie nicht unbedingt.
Haben Sie Freude an schnen Kleidern?
Ja, aber das ist sehr intuitiv bei mir. Ich
habe einige Kleidungsstcke, an denen
ich hnge und die ich seit Ewigkeiten
trage. Aber dass das Hemd von dem
und dem sein muss nein. Wenn ich
etwas Schnes von einer edlen Marke
finde, kaufe ich es. Aber nicht, weil der
Name eines bestimmten Designers
draufsteht. Schnheit ist nicht abhngig von Brands.
Kann es passieren, dass man Sie am
Wochenende in Berlin, wo Sie wohnen, in Jogginghose auf der Strae
antrifft?
Sicherlich nicht. Es gibt Grenzen.
Da hat Allmen ja auch ganz klare
Vorstellungen. Mnner in kurzrmligen Hemden
geht gar nicht. Das gilt brigens

auch fr blaue Bermudashorts und gelbe Polohemden. Aber dafr muss man
nicht Allmen heien.
Ein Schlfchen am Nachmittag, er
nennt es Lebenschwnzen, ist das
Allergrte fr Allmen. Was ist wahrer Luxus fr Sie?
Zeit.
Zeit wofr?
Zeit, in der einfach nichts ist, in der die
Welt einstrzen kann oder man schnell
nach Paris fhrt; Zeit, in der einem
Dinge passieren knnen, die nicht
durch den nchsten Termin verhindert
werden. ck
Diogenes Magazin
Vorabdruck
Martin Suter
Allmen in Biarritz
D
er Himmel hing tief ber dem

aufgewhlten Atlantik. Allmen
hatte einen holprigen Flug in einer fr
seinen Geschmack viel zu kleinen Maschine hinter sich und fuhr nun in der
nach kaltem Tabak stinkenden Limousine eines zum Glck wortkargen Basken auf der Kstenstrae Richtung Biarritz.
Carlos hatte ihm die Douglas-Fairbanks-Suite reserviert, seine Lieblingssuite im Htel du Palais. Obwohl er
vorhatte, am nchsten Tag wieder zurckzufliegen, lagen im Kofferraum
zwei Gepckstcke: sein kleiner Reisekoffer und sein lederner Kleidersack
auf Rollen. Die Vorstellung, nicht jederzeit zwischen vier Anzgen und
den entsprechenden Schuhen, Socken,
Hemden und Krawatten aussuchen zu
knnen, machte ihn nervs. Die Klei-
Diogenes Magazin
derwahl ist eine intuitive Entscheidung

und darum nur sehr beschrnkt planbar.
Allmen trug noch immer die seidene
Augenklappe. Sie hatte ihm eine bisher
nicht gekannte Tatkraft verliehen. Und
er glaubte, dass er diese fr seine Verhandlungen mit Tenz wrde gebrauchen knnen.
Sie passierten das schmiedeeiserne
Tor und die Auffahrt zum du Palais.
Der Anblick des Schlsschens auf seiner kleinen Landzunge weckte Erinnerungen an lngst vergangene Augustwochen.
Der Wagenmeister, der das Entladen
des Wagens dirigierte, war noch derselbe. Monsieur de Allmen nannte er
ihn.
Er betrat die luftige Empfangshalle
mit der breiten Freitreppe, die sich wie
schwerelos zu den oberen Etagen emporschwang. Die junge Rezeptionistin

hatte er noch nie gesehen, aber sie begrte ihn mit Willkommen zurck
im du Palais und legte ihm den Meldeschein zur Unterschrift vor. Alle anderen Rubriken waren bereits ausgefllt. Die Adresse stimmte noch, Villa
Schwarzacker. Dass Allmen inzwischen nicht mehr im Haupthaus, sondern im Grtnerhuschen lebte, ging
auch hier niemanden etwas an.
Die Douglas-Fairbanks-Suite war
unverndert: Schlafzimmer, Salon, Boudoir, alles mit ausgesuchten Empirembeln eingerichtet. Viel Marmor in
Bad und Toilette und nach wie vor die
runde Badewanne, die er schon damals
als etwas deplatziert empfunden hatte.
Er ging an eines der hohen Fenster
und ffnete es. Die Wellen bersplten
Foto: DR Orient-Express
Nach einem Ausflug in die Welt der Finanzsoftware im zweiten Band von Suters Krimiserie befinden wir
uns in Allmen und die Dahlien wieder in der Welt der schnen Knste. Und der heiklen Amouren. Ein sehr
teurer Blumenstrau, ein Dahlienbild von Henri Fantin-Latour, ist wie vom Erdboden verschluckt. All
men soll es wiederbeschaffen. Die Ermittlungen halten einige berraschungen fr ihn bereit: ein blau
es Auge ist darunter und der Aufenthalt in einem der schnsten Hotels der Welt.
Foto: DOMUSimages Alexander Rudolph
den menschenleeren Strand. Die

Sturmfahne knatterte am Mast neben
dem unbemannten Lebensretterturm.
Weit drauen ein unverdrossener Surfer.
Er schloss das Fenster und packte
seine Koffer aus. Dann duschte er und
zog den schiefergrauen Kaschmirdreiteiler an. Eine Weste konnte bei diesem
Wetter nicht schaden.
Als er die Krawatte band, fiel sein
Blick auf ein kleines gerahmtes Foto,
und er musste lcheln. Es zeigte den
jungen Douglas Fairbanks. Er trug
eine Augenklappe.
Die Bar war leer bis auf ein altes
Ehepaar, das aussah, als wre es von der
tea time briggeblieben. Die Frau las
Zeitung, der Mann lste ein Kreuzwortrtsel. Es schien nicht besonders
schwierig zu sein, denn jedes Mal,
wenn er sie nach einem Wort fragte,
wusste sie es, ohne von ihrer Lektre
aufzuschauen.
Allmen setzte sich in ein etwas abgelegenes kleines Sitzgrppchen; er hoffte, dort spter vor Mithrern sicher zu
sein, und bestellte ein Mineralwasser.
Er wollte nicht mehr intus haben als
Tenz.
Auch die Bar hatte sich nicht verndert. Es musste fnfzehn oder sechzehn Jahre her sein, seit er das letzte
Mal hier war. Aber noch immer versprte er das Gefhl von Wehmut, das
ihn am Ende seines letzten Aufenthalts
umfangen gehalten hatte. Ein paar Tage
zuvor hatte er von Gabrielle Tapping
Abschied genommen. Sie hatten zwei
unvergessliche Wochen im du Palais
verbracht und dabei immer gewusst,
dass es die letzten sein wrden. Gabrielle war verheiratet und hatte keine
Absicht, daran etwas zu ndern. Sie
hatten sich im Hotel kennengelernt,
und sie hatte kein Geheimnis daraus
gemacht, dass ihre Geschichte nicht
ber ihren gemeinsamen Aufenthalt
hinausgehen wrde. Das war auch
ganz in seinem Sinn gewesen, er wollte
sich nicht binden.
Doch je nher der Tag des Abschieds
gekommen war, desto deutlicher wurde ihnen bewusst, dass es nicht so einfach sein wrde. Sie waren beide drauf
und dran, sich ernsthaft zu verlieben.
Nach dem trnenreichen Adieu hat-
te er hier noch drei melancholische

Tage verbracht, und die gleiche Wehmut beschlich ihn seit seiner Ankunft.
Schlag sechs begann am anderen
Ende des Raums der Pianist zu spielen.
Kurz darauf betrat ein Mann die Bar,
sah sich um und kam auf ihn zu.
Tenz, der Bilderdieb.
Er war etwas flliger, als Allmen ihn
in Erinnerung hatte, sein weiblondes
Haar war windzerzaust, und er besa
den Teint eines Strandspaziergngers.
Sie sind ein Detektiv?

Kunstfahnder
trifft es besser.
Tenz bestellte einen Campari, und
Allmen schloss sich an. Sind Sie oft im
du Palais um diese Jahreszeit?, fragte
er, um das Gesprch in Gang zu bringen.
Es ist eine der besten Arten, den
europischen April zu berstehen,
antwortete Tenz.
Da haben Sie recht. Im du Palais
und im Hassler in Rom.
Mir ist das Hassler etwas zu berladen, wandte Tenz ein und kam ohne
weitere Umschweife zur Sache: Wer
sind Sie?
Allmen gab ihm sein offizielles
Krtchen. Allmen International Inquiries. The Art of Tracing Art. Johann
Friedrich von Allmen.
Sie sind ein Detektiv?

Kunstfahnder trifft es besser.
Sie wissen, dass das Bild schon
Diebesgut war, bevor es den unrechtmigen Besitzer wechselte?
Darber bin ich selbstverstndlich
informiert.
Ich wollte es einfach erwhnt haben. Damit wir von den gleichen Voraussetzungen ausgehen.
Allmen nickte.
Zwei Millionen bietet sie also?
Bieten ist zu viel gesagt. Ist sie bereit zu zahlen.
Zwei Millionen sind mir zu wenig.
Weshalb haben Sie mich dann herbestellt?
Wer bereit ist, zwei Millionen in die
Hand zu nehmen, zahlt auch mehr.
Ich bin autorisiert, bis zwei zu gehen.
Niemand steigt mit dem Hchst
gebot in die erste Runde.
Ich wrde es an Ihrer Stelle nicht
darauf ankommen lassen.
Tenz musterte ihn wie ein Boxer seinen Gegner. Er wechselte die Taktik.
Das Bild ist verkauft.
Allmen wechselte sie auch: Ich
wei. An Tino Rebler.
Wenn Sie das so genau wissen, weshalb wenden Sie sich dann nicht direkt
an ihn?
Sie haben den besseren Draht zu
ihm.
Stimmt. Tenz wartete ab.
Sie haben ihn schon informiert,
nicht wahr?
Diogenes Magazin
Tenz nickte. Deshalb sage ich:

Zwei Millionen reichen nicht.
Weil er es seiner Dalia geschenkt
hat.
Falls Tenz berrascht war, lie er es
sich nicht anmerken. Auch.
Was hat er Ihnen bezahlt?
Zu viel fr Ihr Angebot. Wenn wir
beide, er und ich, ein gutes Geschft
machen wollen, mssen Sie schon hher einsteigen.
Sie drei, wollten Sie sagen. Vergessen wir Teresa nicht.
Diesmal schien Tenz doch etwas ertappt. Aber er blieb schlagfertig. Wir
vier. Vergessen wir auch Sie nicht. Er
lachte. Allmen fiel auf, dass er gebleichte Zhne hatte.
Allmen gab sich geschlagen. Ich
werde mit meiner Auftraggeberin Kontakt aufnehmen.
Tun Sie das. Am besten gleich.
Allmen erhob sich. Das kann schon
eine Weile dauern.
Wir haben Zeit.
Von seiner Suite aus rief er Carlos an.
Wie hoch soll ich gehen, Carlos?
Hatte Madame Gutbauer nicht gesagt, Sie sollten beim Wert des Bildes
von den dreieinhalb Millionen Dollar
ausgehen, die das Blumenbild von
Fantin-Latour im Jahr zweitausend bei
Christies New York erzielt hat?
Materiell, hatte sie betont. Immateriell das Doppelte.
Dann denke ich, wir knnen schon
bis drei Millionen gehen, Don John.
10
Diogenes Magazin
Als er zurck in die Bar kam, brachte der Kellner gerade den dritten Campari fr Tenz. Und?, fragte er und
versuchte, es beilufig klingen zu lassen.
Good news, antwortete Allmen
und lie ihn noch einen Moment zappeln.
Tenz beging den Fehler, einen
Schluck aus dem Glas zu trinken. Seine
Hand zitterte ein wenig und lie Allmen eine spontane Entscheidung tref-
Es ist nicht, was Geld

aus uns macht. Es ist, was
kein Geld aus uns macht.
fen. Zweieinhalb, sagte er. Sein Gegenber war schlielich auch kein
ehrlicher Mann.
Die Rotonde war ein runder Saal in
Wei und Gold, dessen Licht aus Kristallleuchtern sich mit der blauen Dmmerung vermischte. Sie saen am Fenstertisch von Tenz, obwohl Allmen
lieber an seinem Stammtisch gesessen
htte. Dafr schloss sich dieser Allmens nostalgischer Bestellung an:
Mdaillon de foie gras lancienne,

haricots verts als Vorspeise und als
Hauptgang Sole cuite la pole, beurre
meunire, pommes vapeur. Auch beim
Wein berlie er Allmen die Wahl: eine
Flasche Taittinger, Comtes de Champagne, Ros 2002 fr den Anfang, danach eine Flasche Chteau dYquem.
Jahrgang 1996, um Madame Gutbauers
Spesenrechnung nicht allzu sehr zu belasten. Und damit es, je nachdem, auch
eine zweite werden durfte.
Drauen schumte der Atlantik,
und der Regen berzog die Fenster mit
glitzernden Perlen. Speisen und Getrnke, der fr beide befriedigende Abschluss des Geschfts und eine gewisse
Seelenverwandtschaft, die nach und
nach zutage trat, beflgelten das Gesprch und machten aus dem konspirativen Treffen einen unerwartet behaglichen Abend.
Auch Tenz war weitgereist, polyglott und ein Kenner und Liebhaber
der angenehmeren Seiten des Lebens.
Nicht wahr, es war Cheryl, die
mich verraten hat!?
Wir geben unsere Quellen nie
preis, erwiderte Allmen.
Wie haben Sie sie dazu gebracht?
EMMA_Az_Diogenes_56x250_080313 08.03.13 14
Allmen gab keine Antwort.

Eine seltsame Frau. Sie hasst Dalia
Gutbauer. Und trotzdem bleibt sie bei
ihr. Wie Onkel Hardy. Er hasste sie
und blieb.
Und wie Teresa Cutress, fuhr Allmen fort. Hasst und bleibt.
Was das Geld doch aus uns macht,
sagte Tenz nachdenklich.
Nicht das Geld. Die Leute, die es
besitzen, korrigierte ihn Allmen.
Tenz trank den letzten Schluck aus

seinem Glas und dachte darber nach.
Er kam zu einem anderen Schluss:
Weder noch. Es ist nicht, was Geld aus
uns macht. Es ist, was kein Geld aus
uns macht.
Ein MUSS
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Frau!
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Erscheint im Juli
Mit dem Diebstahl von fnf

Jugendstil-Schalen geht alles los.
Der bringt Allmen verarmter
Lebemann und Schngeist
und sein Faktotum Carlos auf eine
Geschftsidee: eine Firma fr die
Wiederbeschaffung schner
Dinge. Die Geburt eines
ungewhnlichen Ermittlerduos
und der Start einer wunderbaren
Krimiserie.
Im zweiten Fall wird es fr

Allmen International Inquiries
ernst. Ein seltener, viele Millionen
schwerer Diamant soll
wiederbeschafft werden. Und
nichts ist so, wie es scheint, in
diesem Fall von wahrhaft
globalem Interesse.
Aus dem Duo ist ein Trio

geworden, an den finanziellen
Verhltnissen jedoch hat sich
nichts gendert. Umgeben von
halbseidenen Halbganoven,
versuchen Allmen, Carlos und
Maria im Fall eines verschwunde
nen Gemldes ihren Sinn fr
Richtig und Falsch zu bewahren.
Das Blatt von

Alice Schwarzer
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Diogenes Magazin
11
Schaufenster
Diogenes: Verlag des Jahres

Was fr ein schnes nachtrgliches
Geschenk zum 60. Verlagsjubilum:
Die deutschen Buchhndlerinnen und
Buchhndler haben Diogenes zum Verlag des Jahres gewhlt (punktgleich mit
dem Carl Hanser Verlag in Mnchen).
Diogenes wurde damit zum elften Mal
Verlag des Jahres so oft wie kein anderer Verlag.
Books Do Furnish a Room, heit ein berhmter Roman von Anthony Powell
aus dem Jahr 1971, inzwischen ein Klassiker der englischen Literatur. Noch
ein paar Jahre frher meinte Cicero:
Ein Raum ohne Bcher ist wie ein
Krper ohne Seele, oder Hermann
Hesse: Ein Haus ohne Bcher ist arm,
auch wenn schne Teppiche seinen Boden und kostbare Tapeten und Bilder
die Wnde bedecken. Das wissen
auch die Einrichtungshuser, die in ihrer Werbung immer wieder Bcher als
Dekoration einsetzen. Einige Diogenes
Bcher haben es nun sogar auf den
Umschlag eines schnen Bildbands
geschafft, der im Callwey Verlag erschienen ist und sinnigerweise Wohnen
fr die Seele heit.
3:2 fr Paulo Coelho

Motivation einmal anders: Im Nordderby-Klassiker zwischen dem HSV
und Werder Bremen kam Anfang des
Jahres auch ein Schriftsteller zum Zug.
Wie die BILD berichtete, las HSVTrainer Thorsten Fink seinen Spielern
vor dem Anpfiff einige Zeilen aus Paulo Coelhos Sei wie ein Fluss, der still
die Nacht durchstrmt vor. Das hat
wunderbar gepasst, sagte Fink. Tenor:
Wenn man alles tut, voll konzentriert
und mutig ist, dann bekommt man
auch etwas zurck. Und, siehe da, der
HSV schlug Werder mit 3:2. Paulo
Coelho sei Dank!
Auszeichnungen
Zwei originelle Auszeichnungen fr
John Irving: Der amerikanische Bestsellerautor, dessen letzter Roman In
einer Person einen transsexuellen Helden in den Mittelpunkt des Geschehens
stellt, hat Anfang April den Straight for
Equality in Literature Award in New
York erhalten. PFLAG, die amerikanische Non-Profit-Organisation fr Familien und Freunde Homo-, Bi- und
Transsexueller, wrdigt damit John Irvings Bestreben fr sexuelle Toleranz
und Gleichbehandlung in seinem literarischen Werk. John Irving erhlt auerdem im Juni 2013 den Lambda Literary Foundation Bridge Builder Award
der weltweit grten LGBT(Lesbian,
Gay, Bisexual and Transsexual)-Literatur-Organisation.
Nicht fr ihr literarisches Engagement,
sondern fr ihre Untersttzung der
Hospiz- und Palliativarbeit in Deutschland erhielt Doris Drrie im vergangenen Jahr durch Bundesprsident Joachim Gauck das Bundesverdienstkreuz.
Petros Markaris wurde in Lyon der
Prix du polar europen der franzsichen Wochenzeitung Le Point fr den
ersten Band seiner Griechenland-Krisentrilogie Faule Kredite verliehen, als
bester Kriminalroman eines europischen Autors.
12
Diogenes Magazin
Illustration links: Saul Steinberg, Untitled, c. 1950-54/Ink on paper/ The Saul Steinberg Foundation/2013, ProLitteris, Zurich; Illustration rechts: Jean-Jacques Semp
Book Casting
Auch bei einer Wahl, bei der nicht das

Herz, sondern trockene Zahlen entschieden, lag Diogenes 2012 ganz vorne,
nmlich auf Platz 1 der Spiegel-Jahresbestsellerliste: Mit Bestsellerplatzierungen der Neuerscheinungen von Martin
Suter, Donna Leon, John Irving, Martin Walker, Ingrid Noll, Petros Markaris war Diogenes im letzten Jahr der
erfolgreichste Belletristik-Verlag im
Bereich Hardcover.
Diogenes im Vatikan
Der kleine Nick sorgt fr Schlagzeilen
im Vatikan: Das offizielle Organ des
Kirchenstaats, der Osservatore Romano,
berichtete von der ersten lateinischen
Ausgabe der Abenteuer des kleinen
Nick in Frankreich, die im Frhjahr
2014 auch bei Diogenes auf Lateinisch
erscheinen sollen.
Habemus librum: Liebe Kolleginnen

und Kollegen aus den katholischen
Verlagshusern Herder und Patmos,
nostra culpa, aber
das Buch zum neuen Papst Franziskus
ist bereits seit ber
dreiig Jahren bei
Diogenes lieferbar.
Philatelie
Tomi Ungerer hat, wie schon zum vierzigsten Jahrestag des Elyse-Vertrags,
der die deutsch-franzsische Vershnung besiegelte, auch zum fnzigjhrigen Jubilum die Gedenkbriefmarke
fr die franzsische Post gestaltet.
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Die Zeitschrift der Kultur
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Endlich
Sommer!
Endlich
Lesen!
288 Seiten, Leinen

ISBN 978-3-257-06850-4
Elsa ist starrkpfig, widerspenstig, verletzlich und manchmal

schlicht und einfach ein Biest.
Fr den Knstler Lorenz Brauer
und seinen Bruder Karl ist ihr
Name gleichbedeutend mit
Schicksal. Sie ist das Mdchen,
an das einer der Brder sein
Herz verlor und der andere seine
Illusionen. Das Mdchen, das
keiner von beiden vergessen
kann. Zrtlich und schonungslos
schlgt Astrid Rosenfeld einen
Bogen von einer verrckten
Kindheit auf dem Land bis zum
Glamour und den Perversionen
der modernen Kunstwelt.
14
Diogenes Magazin
Francis, achtzehn, wohnt mit

seiner Mutter in einem Trailerpark in New Jersey und sieht
sein Leben schon dort enden. Bis
zu dem Tag, an dem er die
Wahrheit ber seine Zeugung
erfhrt. Zusammen mit seinem
besten Freund Grover, einem
verschrobenen Superhirn, und
dem Mdchen seines Herzens,
der unberechenbaren Anne-May,
macht er sich auf eine Reise quer
durchs Land zur Westkste,
um seinen Vater zu finden.
Ein dramatischer Erkundungstrip mit einem atemberaubenden
Showdown.
Ein Sommer in Spanien, nach

dem nichts mehr so sein kann,
wie es war. Vier uerst
unterschiedliche Menschen,
alle auf der Suche nach der
Sonnenseite des Lebens. Aber
kann man das Glck buchen wie
einen Urlaub, alles inklusive?
Ein herzzerreiend komischer
Roman ber Mtter und
Tchter, ber die Zumutungen
der Liebe und das Glck der
Freundschaft, und ber unsere
ewige Sehnsucht nach dem
Sden.
Auch als Diogenes E-Book
Daniel hat eine halbe Flasche

Wodka intus und fhrt viel
zu schnell. In der Peripherie von
Mailand kommt es zum Crash
und zur Begegnung mit
Clare Amerikanerin, liiert mit
einem Anwalt. Daniel ist
Schriftsteller und Vater zweier
halbwchsiger Kinder. Mit dem
Unfall beginnt ein Wechselspiel
von Anziehung und Abstoung,
von geschenkten und verpassten
Momenten. Die Geschichte einer
Suche nach Wahrhaftigkeit und
einer Liebe, die kaum mglich
scheint.
Sommerzeit ist auch Lesezeit.

Liest es sich nicht viel schner in
den lichtdurchfluteten Tagen des
Sommers als unter dem
knstlichen Licht einer Leselampe im Herbst oder Winter? In
Endlich Sommer! erzhlen so
bekannte und beliebte Autoren
wie Doris Drrie, Martin Suter
und Zsuzsa Bnk von der
Sehnsucht nach wolkenlosem
Himmel und den Abenteuern,
die sich darunter abspielen.
Illustrationen: Jean-Jacques Semp
Nach einer ersten Verabredung

bringt der Mann die Frau nach
Hause. Dabei luft den beiden
ein herrenloser junger Hund zu.
Aber wer von beiden knnte
gerade jetzt einen Hund
gebrauchen? Der Mann darf
nur auf einen Kaffee mit zu
der Frau, und der Welpe soll
wenigstens etwas zu fressen
bekommen, bevor beide wieder
gehen. Doch der Mann bernachtet bei der Frau, und auch
der Hund darf bleiben und
wird zum Seismographen der
Beziehung.
Peter Hunkeler liegt im Solebad

und kuriert sein Rckenleiden,
als die Leiche eines Kunsthndlers aus Basel vorbertreibt.
Der Kommissr taucht ein in die
Welt des illegalen Kunsthandels.
Die Spur fhrt ihn schlielich
zur sagenumwobenen goldenen
Hand Rudolfs von Rheinfelden,
fr die sich einige Leute zu interessieren scheinen
Fr Brunos Geschmack ist im

malerischen Saint-Denis im
Prigord entschieden zu viel los:
Ein spanisch-franzsisches
Gipfeltreffen ruft die Separatistenbewegung ETA auf den Plan,
eine Gnsefarm wird von
Tierschutzaktivisten attackiert,
und dann ist da noch die
archologische Ausgrabungs
sttte, deren Forschungsleiter
nach einem prhistorischen
Menschen sucht.
272 Seiten, Paperback

ISBN 978-3-257-30016-1
Lorenzo wurde im Leben wenig

geschenkt: Er musste all seine
Kraft darauf verwenden, sich
durchzuboxen. Beruflich hat ihm
das zu einer Traumkarriere in
der Werbung verholfen, seine
Familie und seine Freundin
kamen jedoch zu kurz. Nun
hat ihn Federica verlassen und
sein Vater sich von ihm abgewendet. Lorenzo setzt alles
daran, die beiden geliebten
Menschen zurckzugewinnen
Diogenes
Diogenes Magazin
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Diogenes Magazin
Foto: Nathan Beck/ Diogenes Verlag
Interview
Belgrad noir
Foto: Mikica Petrovic/AP/KEYSTONE
Auftritt Milena Lukin. Die Expertin fr internationales Strafrecht ist in spektakulre Flle verwickelt und
nimmt uns mit in ein Land, von dem wir viel zu wenig wissen: nach Serbien. Kornblumenblau ist der
Auftakt der ersten deutschsprachigen Krimiserie, die in Belgrad spielt. Die Autoren: Christian Schne
mann, bekannt als Schpfer des ersten Frisrs unter den literarischen Privatermittlern, Tomas Prinz, und
seine langjhrige enge Freundin, die Belgrader Literaturwissenschaftlerin Jelena Voli, die mit diesem
Roman ihr belletristisches Debt vorlegt.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen,
gemeinsam einen Kriminalroman zu
schreiben?
Christian Schnemann: Wir wollten
schon lange etwas zusammen machen.
Jelena hatte immer tausend Geschichten im Kopf und eben diese Frauen
figur, aus der dann Milena Lukin, die
Heldin von Kornblumenblau, geworden ist. Irgendwann sa ich mit Ursula
Baumhauer, meiner Lektorin, zusammen und hab mich verplappert. Es
gbe da diese Freundin, die ich schon
mein halbes Leben kenne und mit der
ich gern einen Roman schreiben wrde.
Ursula ist gleich drauf angesprungen.
Dann kam noch das Recherchestipendium von der Robert Bosch Stiftung.
Da hab ich gesagt: Komm, Jelena, jetzt
mssen wir es endlich machen.
Wie haben Sie sich kennengelernt?
Christian Schnemann: Im Studium in
Mnster in den Achtzigerjahren, zu
Zeiten der Gorbatschow-Euphorie.
Wir saen gemeinsam im Russischkurs.
Jelena war die Einzige, deren Russisch
sich wirklich nach Russisch anhrte.
Jelena Voli: Hast du nicht auch einen

Serbischkurs bei mir gemacht?
Christian Schnemann: Ja, und du hast
mir nur eine Drei gegeben
Sie leben in Berlin, Herr Schnemann, Sie, Frau Voli, in Belgrad, wo
Sie an der Universitt Literatur unterrichten. Wie kommunizieren Sie?
Christian Schnemann: Viele, viele EMails.
Jelena Voli: SMS ohne Ende, unsere
Telefonrechnungen sind horrend. Also,
wenn jemand etwas von einem Telefonstipendium wei
Gibt es eine klare Rollenverteilung
zwischen Ihnen?
Christian Schnemann: Schwierig, das
auf einen Nenner zu bringen. Erst
dachte ich, man knne sagen, dass ich
beim Ausdruck das letzte Wort habe
und Jelena beim Inhalt. Aber das
stimmt so nicht. Derjenige von uns, der
gerade schreibt, hat inhaltlich automatisch die Nase vorn, weil beim Schreiben so vieles passiert, das man vorher
nicht absprechen kann. Zum Glck.
Und beim Ausdruck ist es so, dass Jele-
na viele Bilder mitbringt, die mir nicht

in den Sinn kmen. Eins jedoch kann
man vielleicht sagen: Ich bin eher derjenige, der die Fragen stellt, Jelena diejenige, die die meisten Antworten hat.
Jelena Voli: Ich bringe natrlich das
typisch Slawische mit: das Ausufernde,
Pathetische, Dramatische. Christian
steuert mit seinem norddeutschen protestantischen Temperament dagegen
an. Diese Grenzgnge sind einmalig.
Wir kennen uns jetzt 26 Jahre und
sind in dieser Zeit wie zusammengewachsen. Wir genieen es, Geschichten
zu suchen und sie aufzuschreiben. Geschichten gibt es berall. Mittlerweile
gehe ich durch die Welt und habe
Christians Brille auf: Alles, was mich
bewegt, versuche ich auf seine ironische und liebevolle Art zu sehen. Dennoch bleibt viel Dramatik und Pathos
in meiner Wahrnehmung. Das wiederum bereichert Christians Blick auf die
Welt.
Eigenheiten sprt man dennoch.
Vera, Milena Lukins Mutter, ist wohl
Ihre Figur, Frau Voli, und der deutDiogenes Magazin
17
18
Diogenes Magazin
hergewlzt. Wir simsen und mailen

uns stndig. Aus diesem Hin und Her
entsteht so ein Text.
Christian Schnemann: Manchmal
habe ich das Gefhl, etwas unbedingt
ganz genau wissen zu mssen. Das
kann auch etwas so Bldes sein wie die
Frage danach, wie lange Mais braucht,
um gar zu werden. Dann schreibe ich
Schnemann: Ich bin

eher derjenige, der die
Fragen stellt, Jelena
diejenige, die die meisten
Antworten hat.
Jelena schnell eine SMS. Ich wei jetzt
wirklich alles ber Mais. Fr den Roman konnten wir es dann aber doch
nicht gebrauchen. Solche berzhligen
Dinge wandern in das Milena-LukinArchiv fr die Folgeromane.
Wie haben Sie recherchiert?
Jelena Voli: Christian kam mit dem
sogenannten Grenzgnger-Stipendium
der Robert Bosch Stiftung nach Belgrad und zog durch die Stadt. Dabei
passierten auch recht seltsame Dinge.
Irgendwann bekam ich eine SMS von
ihm: Du, ich bin verhaftet worden.
Ich dachte, der macht Witze, und
schrieb: Soll ich dich retten kommen?
Foto: Walter Bibikow/Photographers Choice/Getty Images
sche Diplomat vermutlich eher die

von Herrn Schnemann, oder?
Jelena Voli: Dennoch, ohne Christians
Blick wrde es Vera so nicht geben.
Und den Ort der Handlung, Belgrad,
genauso wenig. Belgrad ist der Ort
meiner Kindheit und Jugend, ich habe
nicht die ntige Distanz zu dieser Stadt.
Christian Schnemann: Genauso ist es
mit dem Botschafter. Wir ergnzen
uns gut. Wenn du all deinen rger ber
die Deutschen im Ausland in die Figur
des Botschafters packst, kann ich da
gut einhaken. Schlielich kenne ich selber diese Situation, weil ich in den
Neunzigerjahren mit der OSZE (Organisation fr Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) in Bosnien war,
als Wahlbeobachter.
Manchmal musste ich leider wst
streichen, weil Jelena so unglaublich
viel Material liefert. All die tausend
schnen Sachen, das ist schade
Jelena Voli: aber eigentlich immer
eine Verbesserung. Bei mir gibt es oft
dieses typisch slawische Zuviel.
Christian bringt Leichtigkeit in unseren Text, Schnelligkeit.
Christian Schmann: Aber das Gewicht braucht es auch
Wie ist es Ihnen gelungen, dass der
Roman trotz der Co-Autorenschaft
wie aus einem Guss wirkt?
Jelena Voli: Jedes Wort wird hin- und
Darauf er: Lass mal, ist gut fr die Recherche.

Christian Schnemann: Das muss ich
vielleicht erklren: Ich bin mit der Kamera durch Belgrad gelaufen und habe
einfach rumfotografiert. Das ist die
beste Recherche berhaupt. Wenn ich
mir die Bilder spter ansehe, fallen mir
Dinge auf, die ich beim bloen Rumlaufen nicht bemerken wrde. Aus Versehen hatte ich die amerikanische Botschaft fotografiert und wurde prompt
verhaftet. Ausweisen konnte ich mich
auch nicht, alles, was ich bei mir hatte,
war eine abgelaufene Bahncard. Umso
besser fr den Roman, dachte ich:
Nehmt mich mit!
Man erfhrt in Ihrem Roman nebenbei sehr viel ber Belgrad, eine Stadt,
nur 1250 Kilometer von Berlin entfernt, die einem dennoch so wenig
vertraut ist.
Jelana Voli: Dabei verbindet Deutsche
und Serben oder Jugoslawen eine lange
Leidensgeschichte.
Belgrad ist eine schne Stadt. Es gibt
dort zwar keine bedeutenden Baudenkmler wie in Paris oder Rom, dafr aber
viel zu essen und zu trinken.
Jelena Voli: Genau. Gutes Essen, viel
Fleisch; schne Frauen mit Beinen bis
zum Hals. Belgrad ist eine der ltesten
Stdte Europas. Mit einer wahnsinnigen Aussicht, an zwei mchtigen Gewssern gelegen, der Donau und der
Save. Die Brankov-Brcke ist das eigentliche Wahrzeichen von Belgrad.
Sie verbindet die historische Altstadt
Stari Grad mit Novi Beograd, NeuBelgrad. Zemun, nrdlich der Save, war
frher sterreich-Ungarn, gegenber
lag das Osmanische Reich. Belgrad ist
geprgt durch dieses Sowohl-als-auch.
Sowohl links als auch rechts. Sowohl
Norden als auch Sden. Sowohl Westen als auch Osten, Okzident und Orient. Wenn ich mal wieder die Nase voll
habe von den Serben und ihrer Politik,
zwinge ich mich dazu, daran zu denken.
Christian Schnemann: Fr mich gibt
es zwei Belgrads: das Belgrad, in dem
die Nationalisten gegen die Verhaftung
von Mladi demonstrieren, wo die Demonstrationen von Schwulen und Lesben durch die Polizei geschtzt werden
mssen. Das ist das finstere, das un-
sympathische Belgrad. Dann gibt es

das Belgrad der Freunde und der Familie, mit aufgeschlossenen, freundlichen
und coolen Menschen, die in einer
bunten und lebenswerten Stadt wohnen und arbeiten. Diese beiden Bilder
von Belgrad zusammenzubringen, das
ist fr mich das Reizvolle.
Jelena Voli: Wie alle Metropolen hat
Belgrad verschiedene Gesichter. Viele
Jahrhunderte strmte es wie wild ber
dem Balkan, es gab kaum Jahrzehnte
ohne Krieg; und Freiheit fr die gewhnlichen Menschen war nie selbstverstndlich. Ich glaube, dass man in
Belgrad lernt, genauer hinzuschauen,
weil dort nichts einfach zu erreichen ist.
Das Leben dort ist anstrengend: In jedem Augenblick erlebt man, dass Europa nicht nur in Athen zu Hause ist,
sondern auch in Konstantinopel.
In Belgrad werden immer noch alle
politischen Optionen diskutiert: gleich
ob Monarchie, Sozialismus oder Demokratie nach westlichem Muster. Alles ist erlaubt. Politische Korrektheit
ist immer noch Sache der intellektuellen Eliten. Man vergisst in keiner Minute, wie wertvoll und fragil Freiheit
und Frieden sind. Und man glaubt immer noch, dass es Ideale gibt, fr die
man sein Leben aufs Spiel setzen sollte.
Milena Lukin, die sympathische Protagonistin in Kornblumenblau, fhrt
die Leser durch die pulsierende Stadt
Jelena Voli: Auch ein Fall von Sowohlals-auch. Sie ist halbe Deutsche, halbe
Serbin und hat zwei Psse.
Das macht es so leicht, ihr als Leser
zu folgen.
Jelena Voli: Das war die Intention!
Der zweite Fall mit Milena ist bereits
in Vorbereitung?
Christian Schnemann: Ja. Wir haben
uns darauf geeinigt, dass wir darin den
Kosovo in den Vordergrund rcken.
Wenn man an Serbien denkt, denkt
man ja automatisch auch an den Kosovo, die Wiege der Serben, aber auch
an die Unabhngigkeitsbestrebungen
der Republik, den seltsamen Status des
Kosovo. Wer davon profitiert
Jelena Voli: und wer die Kosten tragen muss.
So vieles ist in der Region in Bewegung. Davon bekommen wir hier
kaum etwas mit
Christian Schnemann: Parallel zur

letzten Wahl in Frankreich gab es auch
in Serbien einen dramatischen Regierungswechsel mit weitreichenden Folgen. Darber haben die deutschen
Medien kaum berichtet. Stattdessen
lang und breit ber die Landtagswahl
in Nordrhein-Westfalen und natrlich
ber Frankreich. Die Neue Zrcher
Zeitung zum Beispiel oder auch die International Herald Tribune berichten
dagegen ausfhrlich aus der Region.
Jelena Voli: Leider ist die politische
Entwicklung sehr komplex und nicht
leicht zu verstehen. Mit der Anerkennung des Kosovo ist der Weg fr weitere Auseinandersetzungen gebahnt. Es
ist natrlich absolut legitim, dass ein
Volk nicht mehr in einer Fderation leben will. Ich hatte gehofft, die Serben
wrden erstmals in der Geschichte die
Arme ffnen und sagen: Kommt, liebe
Brder, jetzt seid ihr unabhngig, jetzt
machen wir Geschfte miteinander.
Doch leider ist das nicht der Fall
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Belgrad eine europische Metropole,

so nah und doch so fern. Unter der
kundigen Fhrung von Milena Lukin
erschliet sich nicht nur ein aufsehenerregendes Verbrechen, sondern eine
faszinierende Stadt im Brennpunkt
europischer Geschichte.
Kornblumenblau entwirft ein Bild von
Serbien, das ganz weit weg ist von allem,
was einen sonst Berhrungsngste
entwickeln lsst.
Susan Vahabzadeh/Sddeutsche
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Lets swing!
Die Goldenen Zwanziger tanzen sich wieder in unser Leben: Kein Jahrzehnt wird in der Mode fter zitiert
und kein Roman stellt die Mode dieser Zeit mehr in den Fokus als Der groe Gatsby.
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Der einzige vollkommen unbewegliche

Gegenstand im Raum war eine riesige
Couch, auf der zwei junge Frauen
schwebten wie in einem verankerten
Fesselballon. Sie waren beide ganz in
Wei gekleidet, und ihre Rcke schwangen und flatterten, als wren sie nach
einem kurzen Flug ums Haus eben erst
wieder hereingeweht worden.
Flatternde Rcke, zarte Stoffe, lssige
Leichtigkeit ein paar Jahre zuvor
wre das undenkbar gewesen. Als Nick
Carraway, der Erzhler aus F. Scott
Fitzgeralds Der groe Gatsby, das
Wohnzimmer eines Freundes betritt,
sieht er vor sich das Ergebnis einer neuen selbstbewussten Weiblichkeit: zwei
Damen, in luftige weie Kleider gehllt. Ganz anders wre der Anblick
whrend der Belle Epoque gewesen, als
Frauen noch in enge Korsetts gezwngt
wurden, die ihnen eine Wespentaille
zauberten und die Brste dekorativ
nach oben schoben. Doch nun, Anfang
der Zwanziger, hatten sie sich befreit.
Oder besser gesagt: Die Modeszene
hatte sie befreit.
Alles begann mit der Vision des

franzsischen Designers Paul Poiret,
der als Erster Kleider ohne Korsett anfertigte. Nach dem Krieg fhrte Coco
Chanel seine Idee weiter und erfand
einen neuen Look fr einen neuen, androgynen Frauentyp: den GaronneStil. Die Merkmale dieses jungenhaften
Chics waren kurze Haare, schmal geschnittene Hosen oder Rcke und
Kastenjacken. Und? Ihre Kollektionen
wurden geliebt. Vor allem das kleine
Schwarze ihre wohl berhmteste Innovation: ein knielanges Kleid aus feinem Crpe de Chine oder Crpe Marocain, mit langen rmeln und niedrig
angesetzter, kaum betonter Taille. Die
Abendmodelle hatten raffinierte Rckendekollets, die Nachmittagskleider einen dezenten Halsausschnitt.
Vornehmlich in Schwarz und Wei.
Doch nun zurck zu den Damen auf
dem Sofa. Die eine? Daisy, die Frau
von Tom Buchanan und Gatsbys groe Liebe. Die andere? Jordan Baker,
eine Golferin und das nicht von ungefhr. Waren es doch auch die Sportlerinnen, die zur Emanzipation der
Frauen beitrugen. So verzichtete die
Tennisspielerin Suzanne Lenglen von
ihrem ersten Auftritt 1919 in Wimbledon an auf das bliche Korsett. Und
die Pilotin Amelie Earhart, die 1928 als
erste Frau den Atlantik berquerte,
trug mit Vorliebe Hosenanzge und
Kurzhaarfrisuren.
Glamour mit Suchtfaktor
Mrs. Wilson hatte sich eine Weile vorher
umgezogen und trug nun ein raffiniertes Nachmittagskleid aus cremefarbenem Chiffon, das ein unablssiges Rascheln von sich gab, wenn sie sich
durchs Zimmer bewegte. Unter dem
Einfluss des Kleides hatte sich auch ihr
Auftreten gendert. Die enorme Vitalitt, die in der Autowerkstatt so auffllig gewesen war, hatte sich in eine eindrucksvolle Grandezza verwandelt.
Mit Grandezza und Nonchalance so
wrde man jede Krise gern meistern.
Mrs. Wilson, Tom Buchanans Geliebte,
gewinnt ihre Fassung durch ein feines
Chiffonkleid zurck. Es verspricht ihr
Eleganz und Abenteuer.
Kein Wunder! Ist Mode nicht immer ein Versprechen? Gerade in Krisenmomenten besinnen sich die DesigDiogenes Magazin
21
ner auf alte, vermeintlich bessere Zeiten

zurck. Seit der Millenniumswende
kann man die Trends mit einem Wort
zusammenfassen: retro. Vor allem ein
Jahrzehnt hat es den Modemachern angetan: die Golden Twenties. So zeigt
Nina Ricci in der aktuellen Kollektion
glamourse Fransenkleider, und bei
Blumarine rutscht die Taille elegant auf
Hfthhe. Wie so viele Labels spielen
sie mit aufflligen Anleihen aus der
Zeit zwischen den beiden Weltkriegen,
aus dieser zauberhaften kurzen Phase
des wirtschaftlichen Aufschwungs, in
der unbekmmert gelebt werden durfte: Man nahm vieles auf die leichte
Schulter, verprasste sein Geld und bediente sich neugierig am Chic fremder
Kulturen. Auch Coco Chanel lie sich
verfhren. Sie verliebte sich in einen
russischen Grofrsten, entwarf Russenblusen aus Satin, arbeitete mit Seide,
Perlen, Glas und Strass.
Luxus und Exotik, diese Elemente
bestimmten auch die Kreationen einer
anderen wichtigen Designerin dieser
Zeit: Die Italienerin Elsa Schiaparelli
verzierte ihre Kleider und Strickpullover mit orientalischen und arabischen
Folkloremustern oder lie sie in Flaschengrn und Bordeauxrot erstrahlen.
Die Fashion-Highlights der wilden
Zwanziger, wie entspannt fallende
Flatterkleider, komplette Gentleman-
22
Diogenes Magazin
Anzge fr moderne Garonnes und

flieende, mit Schmuckornamenten
bestickte Stoffe, kehren immer wieder
auf die Laufstege zurck. Auch Ralph
Lauren begab sich auf Zeitreise: Im
vergangenen Sommer prsentierte er
eine ganze Kollektion im Gatsby-Stil.
Kommt Ihnen bekannt vor? Genau!
Ralph Lauren ist ein Wiederholungstter. Bereits 1967 entwarf er die Kostme fr die erste Verfilmung des Erfolgsromans. Bei der Neuverfilmung,
die jetzt in die Kinos kommt, durfte
sich eine andere Designerin ausleben:
Miuccia Prada berarbeitete vierzig
Kleider von Prada und Miu Miu im Stil
der Zwanziger.
Schnheit der Nacht
Die Sommernchte hindurch drang
Musik aus dem Haus meines Nachbarn.
In seinen blauen Grten schwirrten
Mnner und junge Mdchen wie Falter
zwischen dem Geflster und dem
Champagner und den Sternen umher.
Dekadenz und berfluss wer es sich
leisten konnte, oder auch nicht, feierte,
als gbe es kein Morgen. Opium, Alkohol, nackte Haut: Die Grenzen, die das
rigide preuische System jedem Einzelnen zuvor gesetzt hatte, wurden mit
Genuss berschritten. In der Weimarer
Republik sortierte sich nicht nur die

Politik neu, sondern auch die Kultur.
Ihre Vorreiter, Musiker, Literaten,
Knstler und Intellektuelle, lieen es
ordentlich krachen.
Ein weiteres wichtiges Zentrum der
Bewegung war Paris. Hier traf sich die
Avantgarde im Salon von Gertrude
Stein. Die Kunstsammlerin hatte zur
Jahrhundertwende in der Rue de Fleurus 27 das erste Museum fr moderne
Kunst eingerichtet. Mit frhen Werken
von Matisse, Renoir, Manet, Picasso,
Gaugin und Toulouse-Lautrec. In den
Zwanzigern versammelten sich hier
amerikanische Autoren von F. Scott
Fitzgerald ber Sherwood Anderson
bis Ernest Hemingway, der sich die
Sinne gern mit einem Gemisch aus Absinth und Champagner vernebelte.
Neben der Kunst, die sich neue
Wege suchte, brachte die Musik neuen
Schwung in die Gesellschaft: Aus
Amerika kam der Jazz nach Europa
und mit ihm unerhrte Tanzstile, wie
der Shimmy, mit exaltierten Sprngen,
Schreien und ganzem Krpereinsatz.
Das legendre Restaurant Buf sur le
Toit in Paris entwickelte sich zur InLocation, die Louis Armstrong und
Clment Doucet mit Jazz Sessions aufmischten und Jean Cocteau fr seine
dadaistischen Vortrge nutzte. Zudem
machte Josephine Baker den Charles-
ton populr. Eine Mulattin, die oben

ohne in den groen Theatern von Paris
und Berlin tanzte. Mehr Befreiung ging
nicht.
Doch der eigentlich Star auf den
ausschweifenden Partys war eine Kreation aus Stoff: das Flapper-Dress. Die
franzsische Designerin Madeleine Vionnet hatte genau das passende Kleid
zu den treibenden Rhythmen geschaffen. Ein kurzes Hngerkleid mit Trgern und Volants aus Fransen, die sich
bei jeder Bewegung flirrend mit dem
Krper seiner Trgerin mitbewegten.
Zeiten des Umbruchs
Fotos aus den Kollektionen 2012/2013 von Paco Rabanne (Starface), Blumarine (Zeppelinphoto), Ralph Lauren (Zeppelinphoto), Nina Ricci (Zeppelinphoto) und Etro (Boisire/SIPA). Dukas
Die Wagen aus New York parken in

Fnferreihen vor dem Haus, und schon
leuchten die Sle und Salons und Veranden vor satten Farben und seltsamen
neuen Haarschnitten und Schals, von
denen man in Kastilien nur trumte.
City Girls nannte man sie. Junge
Frauen, die mit kurzen Rcken, Bubikpfen und Zigarettenspitze im Mundwinkel den It-Girls nacheiferten, wie
der Schauspielerin Clara Bow, die den
Begriff mit ihrer Rolle in dem Stummfilm It prgte.
Aber auch Josephine Baker setzte
1925 durch ihren Auftritt in der Revue
Ngre im Thtre des Champs-Elyses
einen neuen Trend. Sie trug nicht nur

einen Herrenhaarschnitt la Coco
Chanel, sondern prsentierte ihre Haare raspelkurz. Der Pariser Starfriseur
Antoine hatte ihr diesen Look verpasst:
Er hatte ihre Haare am Hinterkopf
hoch anrasiert und den Rest mit Lack
geglttet. Madame Chanel reagierte sofort und schickte ihre Models mit lackierten kurzen Frisuren zum kleinen
Schwarzen ber den Laufsteg.
Doch nicht nur die Frisuren, auch
die Rcke wurden immer krzer. Und
lenkten so den Fokus auf ein Kleidungsstck, das bisher unter langen
Stofflagen verschwunden war: die
Schuhe. Die Schaufenster der Schuhsalons waren mit vllig neuen Kreationen geschmckt. Besonders beliebt
waren elegante Riemchenpumps und
spitze Spangenschuhe mit hohen Abstzen aus edlen Materialen wie Satin
oder Samt; aber auch Eidechsenleder,
Schlangenhaut und Krokodilleder waren en vogue. Verziert mit Strass und
Perlen wurden die Modelle zu feinen
Kunstwerken.
Die Lust am berfluss manifestierte
sich auch in allen anderen Accessoires:
Paillettenbestickte Stirnbnder zierten
Pagenschnitte und Wasserwellen, Pelze
und Federboas schmiegten sich an
nackte Schultern, der Cloche, ein eng
anliegender Hut, setzte die Augen in
Szene und lange Perlenketten tanzten

mit den Charleston-Kleidern um die
Wette. Gibt es etwas Schneres, als
heute wieder so in die Vergangenheit
zu swingen?
Buchtipp
Die Roaring Twenties: Rauschende

Partys finden auf dem Anwesen von Jay
Gatsby statt. Der Gastgeber selbst aber
bleibt im Hintergrund. Hinter der
glnzenden Fassade nimmt die Tragdie
ihren Lauf.
Zur Neuverfilmung von Baz Luhrmann
gibt es nun das Gigantenwerk
(Frankfurter Neue Presse) mit dem
Filmcover bei Diogenes.
Diogenes Magazin
23
Mario Vargas Llosa
Wie ich die Angst vor

dem Fliegen verlor
Alles Mgliche hat der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa schon ausprobiert, um seine Flug
angst zu berwinden: Alkohol kontraproduktiv. Kein Alkohol auch keine Lsung. Psychopharmaka
nutzlos. Zuletzt findet er doch ein Mittel, wenn auch eines mit Risiken und Nebenwirkungen...
Ein Erfahrungsbericht des Nobelpreistrgers. Zum ersten Mal auf Deutsch.
anche Menschen sind der naiven

Ansicht, die Angst vor dem Fliegen sei tatschlich eine Angst vor dem
Tod. Dem ist aber nicht so, die Angst
vor dem Fliegen ist die Angst vor dem
Fliegen, nicht vor dem Tod, und ist
eine so spezifische Angst wie Hhenangst, Spinnen- oder Katzenphobie,
um nur drei hufige Beispiele aus der
unberschaubaren Bandbreite menschlicher ngste zu nennen. Die Angst
vor dem Fliegen schwingt sich jh auf,
wenn ein einigermaen phantasievoller
und sensibler Mensch sich bewusst
wird, dass er in zehntausend Metern
Hhe mit tausend Stundenkilometern
durch die Luft rast, und sich fragt:
Was zum Teufel tue ich hier?, und zu
zittern anfngt.
Mir ging es so, nachdem ich bereits
jahrelang so selbstverstndlich Flugzeuge genommen hatte, wie ich meine
Hemden wechselte. Ich bin weiter in
diese fliegenden Ungetme gestiegen,
aber eine ganze Zeit lang brach mir der
kalte Schwei aus, sobald Turbulenzen
kamen und das Gewackel begann. Mei-
24
Diogenes Magazin
ne Freundin Saso, eine hchst liebenswerte Stewardess, die sich ber den
Wolken sicherer fhlt als auf festem
Boden und bei der meine Flugangst demtigendes Gelchter hervorrief, versuchte, mich mit Hilfe von Statistiken
zu heilen. Sie demonstrierte mir, was
inzwischen ohnehin jedermann wei.
Die Lsung fand sich

ganz unvermutet auf
einem Flug von Buenos
Aires nach Madrid...
Dass Flugzeuge wesentlich sicherer
sind als Autos, Schiffe, Zge und selbst
Fahrrder oder Rollschuhe, da jhrlich
mehr Menschen bei der Verwendung
dieser Fortbewegungsmittel verunglcken als beim Fliegen. Dass jeder noch
so harmlose Spaziergang zu Fu, statistisch gesehen, gefhrlicher ist, als
sich in die Luft zu begeben. Aber zumindest in meinem Fall vermgen ab
strakte Statistiken weder Emotionen

zu wecken noch ngste zu verscheuchen, und sosehr mein Kopf sich auch
von den Zahlen hatte berzeugen lassen, dass mir in einem Flugzeug weniger passieren konnte als im eigenen
Bett, brachte ich jeden Flug uerst
elend zu.
Ein Freund, der verstorbene uru
guayische Autor Carlos Martnez Moreno, mit dem ich einmal flog, hielt
whrend der gesamten Strecke ein
schmuddeliges, zerfleddertes Exemplar von Madame Bovary in der Hand;
er las nicht darin, streichelte es nur
ohne Unterlass. Es war sein Glcksbringer, der ihm einen sicheren, ruhigen Flug garantieren sollte. Er hatte
das Buch bei seiner ersten Flugreise
dabeigehabt, und seitdem war es sein
stndiger Reisebegleiter, weil Intuition,
Imagination oder Verstiegenheit ihm
sagten, dass nicht das reibungslose
Funktionieren der Motoren oder das
Geschick des Piloten, sondern dieser
literarische Talisman die Flugzeuge, in
denen er sa, vor Unglck und Schre-
cken bewahrte. Doch bei mir wirkte

Martnez Morenos Mittel nicht, dafr
hege ich eine viel zu hartnckige Skepsis gegen jede Form von Magie (vor allem gegen die moderne), vielleicht,
weil ich einfach noch nicht auf das
richtige Abrakadabra gestoen bin, das
mich davon berzeugen konnte.
Eine puertoricanische Freundin, die
sich ihr sorgloses Witwendasein mit
Reisen durch die ganze Welt vertreibt,
gestand mir, der Whisky habe sie von
ihrer Flugangst kuriert. Auf jeder Reise
hatte sie einen gut gefllten Flachmann
dabei, und nach dem zweiten oder dritten Schluck konnte der Flieger noch so
schaukeln oder vom Wind gebeutelt
werden, sie schttelte sich vor Lachen.
Ich probierte es mit ihrer Formel, aber
auch das schlug fehl. Mein Organismus
ist allergisch gegen Alkohol, und die
Schlckchen Whisky, die ich mir einflte, nahmen mir nicht die Angst vor
dem Fliegen, sondern steigerten sie
noch, ergnzt durch Kopfschmerzen,
Schttelfrost und belkeit. Ich htte
mich vermutlich hemmungslos betrinken mssen, um hnlich gelassen zu
werden wie meine karibische Freundin
nach ein paar Schlucken Alkohol. Die
Medizin wre schlimmer gewesen als
die Krankheit.
Ganz im Gegensatz zu meiner puertoricanischen Freundin gibt es Abstinenzler, die Flugangst Verdauungsbeschwerden und dem unmigen
Genuss von Spirituosen whrend der
Reise zuschreiben. Sie empfahlen mir,
auf Flgen weder zu essen noch Wein
zu trinken, sondern mich mit groen
und, wie sie versicherten, hchst beruhigenden Glsern Wasser zu begngen.

Auch das zeigte keine Wirkung. Im
Gegenteil, die aufgentigte Dit machte mich tieftraurig und fgte meiner
ungeschmlerten Angst die demoralisierenden Qualen von Hunger und
stndigem Harndrang hinzu.
Ebenso wenig halfen mir Seconal,
Xanax und all die anderen Pillen zur
Bekmpfung von Schlaflosigkeit. Es
gibt bewundernswerte Menschen (ich
beneide sie), die im Flugzeug von einer
sofortigen Schlfrigkeit befallen werden und friedlich bis zur Landung
durchschlafen, eingelullt vom Drhnen der Motoren. Andere tun es ihnen
nach, indem sie besagte Pillen schlucken und sich von ihnen ruhigstellen
lassen. Nur schalteten Schlaftabletten
leider nicht meine Trume aus, zudem
verursachten sie mir Herzrasen, so dass
ich mich in schrecklichen Alptrumen
schweigebadet vor Panik im Inneren
eines Flugzeugs sitzen sah. Der knstliche pharmazeutische Halbschlaf nahm
mir also auch nicht die Angst, sondern

bertrug sie auf Traum und Unterbewusstsein und verwandelte mich darber hinaus bei der Ankunft in einen
depressiven Zombie, eine Nebenwirkung, die Schlaftabletten stets bei mir
haben.
Die Lsung fand sich ganz unverhofft auf einem Flug von Buenos Aires
nach Madrid, zufllig ein Jubilum der
ersten Flugverbindung zwischen beiden Stdten (mit einer Iberia Douglas
DC-4) am 22. September 1946. Am
Flughafen kaufte ich einen Roman von
Alejo Carpentier, den ich noch nicht
gelesen hatte, Das Reich von dieser
Welt. Nichts hatte mich auf diese berraschung vorbereitet. Von den ersten
Zeilen an, in denen Henri Christophes
halluzinierender Streifzug durch die
Stadt und der Bau der berhmten Zitadelle von Haiti beschrieben werden,
zog mich diese groartig geschriebene
und noch gekonnter konstruierte Erzhlung, an der, wie bei allen Meisterwerken, nichts fehlt und nichts zu viel
Diogenes Magazin
25
ist, vollkommen in den Bann, lie mich

alles ringsum vergessen, versetzte mich
gute zehn Stunden lang von der kalten
Sternennacht, die das Flugzeug durchma, in die wundersame, abenteuerliche, epische Welt Haitis im 19. Jahrhundert, wo grausame Gewalt sich mit
zgelloser Phantasie verflocht und gewhnlich Alltgliches mit Legende
und Wundern verschmolz. Als ich die
letzten Zeilen las, landeten wir gerade
in Madrid-Barajas. Die Lektre hatte
genauso lange gedauert wie der Flug
und meine Angst whrend der gesamten Strecke vllig vertrieben.
Dieses Mittel hat sich seither bewhrt unter der Bedingung, dass ich
fr jeden Flug ein Meisterwerk auswhle, das mich schlagartig in den
Bann zieht und nicht loslsst, solange
ich der Schwerkraft trotze. Es ist natrlich nicht leicht, jedes Mal ein Buch zu
finden, das die entsprechende Qualitt
und Lnge aufweist. Aber im Laufe der
Zeit habe ich eine Art Instinkt entwickelt, der mir den richtigen Roman
oder die passende Erzhlung weist (es

muss etwas Erzhlendes sein; Poesie,
Theater oder Essay sind weniger wirksam gegen Flugangst). Dabei muss es
sich, wie ich festgestellt habe, nicht unbedingt um eine Erstlektre handeln,
es kann auch etwas bereits Gelesenes
sein, wenn es Werke sind, deren Zauber
so stark ist, dass er sich bei der zweiten,
dritten oder vierten Lektre genauso
unverbraucht und frisch erweist wie
bei der ersten. Hier (als Zeichen meiner
Dankbarkeit) eine Liste der dienstbaren Freunde, die mir bei meinen letzten
geglckten Versuchen, es Ikarus gleichzutun, geholfen haben, meine Flugangst zu berwinden: Herman Melvilles Bartleby und Benito Cereno. Die
Drehung der Schraube von Henry
James. Der Verfolger von Julio Cortzar. Dr. Jekyll und Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson. Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer. Der
Affe von Tania Blixen. Pedro Pramo
von Juan Rulfo. Die gesammelten Werke von Augusto Monterroso. Eine
Rose fr Emily und Der Br von William Faulkner und Orlando von Virginia Woolf. Zu meinem Glck verfgt
die literarische Apotheke ber unerschpfliche Reserven an solchen Erzeugnissen, so dass mir noch auf et
lichen Flugreisen guter Lesestoff
gesichert sein wird.
Originaltitel: Cmo perd el miedo al avin,

Copyright 1999 by Mario Vargas Llosa.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Buchtipp
Illustration: Jean-Jacques Semp
Wenn es heit: Bitte anschnallen

und alle elektronischen Gerte
abschalten, greifen Sie einfach zu den
hier versammelten Geschichten von
John Irving, Leon de Winter, Bernhard
Schlink, Doris Drrie, David Sedaris
u.v.a. ber sehr spezielle Sitznachbarn,
turbulente Flge, sonderbare Bekanntschaften hoch ber den Wolken oder
die Schmach, als Top-Manager
nicht vor, sondern hinter dem Class
Divider zu sitzen. Dieses Buch passt
in jedes Handgepck!
26
Diogenes Magazin
Serie
Kopfnsschen
9
7
6
1
7
3
9
5
6
9
1
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1
9
5
5
7
1
Leicht
Mittel
Schwer
DrudelTest
Literarische
Todesflle
Zwei
Schriftsteller,
ein Schicksal
Hier ist Ihre Phantasie gefragt. Was ist auf

den folgenden Bildern zu sehen?
Illustration oben: Ji Slva; Sudoku: Puzzle Company GmbH fr Diogenes Magazin; Drudel: Roger Price; Illustration unten: Chaval
Auf welche Art und Weise haben die

folgenden literarischen Figuren
ihrem Leben ein Ende gesetzt?
1) E
mma Bovary in Madame
Bovary von Gustave Flaubert
2) W
erther in Die Leiden
des jungen Werther von
Johann Wolfgang Goethe
3) A
nna Karenina in Anna Karenina
von Leo Tolstoi
4) H
auke Haien in Der Schimmelreiter von Theodor Storm
5) D
orian Gray in Das Bildnis des
Dorian Gray von Oscar Wilde
6) J ulia in Romeo und Julia von
William Shakespeare
Finden Sie die Gemeinsamkeiten!
1) Franois Villon Karl May

2) Homer Jorge Luis Borges
3) Antoine de Saint-Exupry
Henri Alain-Fournier
4) Amlie Nothomb
Georges Simenon
5) Ernest Hemingway
David Foster Wallace
6) Michail Lermontow
Alexander Pukin
7) Georg Bchner James Joyce
8) Joseph Conrad
Vladimir Nabokov
Errata und Non-Errata Diogenes und das liebe Vieh
Lsungen auf Seite 49
Hinsichtlich einer Drudel-Auflsung im Magazin Nr.12

gab es bei einigen Lesern Verwirrung ber die Hcker
anzahl von Kamelen und Dromedaren (Nr.12/S.41).
So ganz genau wissen wir es auch nicht. Hundertpro
zentig im Recht allerdings ist die Leserin, die die Ente
auf dem Cover von F.K. Waechters Wahrscheinlich
guckt wieder kein Schwein (Nr.12/S.45) als Gans iden
tifizierte. Wir bitten, den ornithologischen Irrtum zu
entschuldigen!
Diogenes Magazin
27
Serie
Christian Schnemann
auf der einsamen Insel
Christian Schnemann, wohnhaft in Berlin, Autor der beliebten Krimis um Frisr und Laiendetektiv Tomas Prinz, wohnhaft in Mn
chen, hat es literarisch in den wilden Osten verschlagen. In Belgrad, wo Schnemann selbst in den 90er-Jahren gelebt hat, spielt der
Kriminalroman Kornblumenblau Auftakt einer Serie um die Ermittlerin Milena Lukin , den er gemeinsam mit seiner langjhrigen
Freundin Jelena Voli verfasst hat. Dem Diogenes Magazin hat er verraten, wie er seine einsame Insel einrichten wrde, fr den Fall,
dass er einmal genug hat vom Grostadtpflaster.
Roman Die toten Seelen von

Nikolaj Gogol
Gemlde Die Grten der

Finzi-Contini von Hans Brosch
Sachbuch Die Kulturgeschichte

von Egon Friedell
Foto Gruppenfoto aller Menschen,

die ich mag
Lyrikband Les Fleurs du Mal

von Charles Baudelaire
Mbelstck Stehpult
Technisches Gert Fernglas
Theaterstck Der Kirschgarten

von Anton echov
Erzhlung Bonjour Tristesse
von Franoise Sagan
Zeitung Neue Zrcher Zeitung
Kleidungsstck Weies Hemd

Parfum Wood
Musikstck Eine CD mit den
Geruschen der Grostadt als
Erinnerung an mein altes Leben
Spiel Scrabble
Gesprchspartner Hillary Clinton
Zeitschrift Gala
Essen (nicht s)
Bulette mit Senf
Streitpartner Meine Schwester
Essen (s)
Marmorkuchen
Briefpartner Meine Tante in

Amerika
Lieblingsgetrnk (nicht alkoholisch)

Milch
Haustier Struppi
TV-Serie Downton Abbey,

alle Folgen, einschlielich der
Weihnachtsspecials
Schauspieler Christoph Waltz
Schauspielerin Laura Carmichael
Getrnk (alkoholisch)
Wodka
Im nchsten Magazin:
Astrid Rosenfeld
28
Diogenes Magazin
Joker Jede Menge Kissen und

Decken, und, wenn ich darf, noch
ein Ruderboot
Foto: NN oben: Chaval; Foto: Jens Schnemann

Illustration
Film Der talentierte Mister Ripley
Illustration: Jean-Jacques Semp
Diogenes Taschenbcher
fr den Sommer
Geschichten fr die
schnste Zeit des Jahres:
Fr alle, die doch lieber

zu Hause bleiben:
Hinterhltige Geschichten
vom Meer:
Sommerfrische
statt Asphalt:
Fr alle, die in den Ferien

Schlaf nachholen wollen:
Hinterhltige
Reisegeschichten:
Auch als Diogenes Hrbuch
Auch als Diogenes Hrbuch
Macht nicht nur am Strand

eine gute Figur:
Kein Sommer
ohne Strandflirt:
Im Strandkorb ohne Lesestoff?

Undenkbar:
Fr alle Wolkengucker
und Tagediebe:
Diogenes Magazin
29
Richard Dehmel
Radlers Seligkeit
Wer niemals fhlte per Pedal,
dem ist die Welt ein Jammertal!
Ich radle, radle, radle.
Wie herrlich lang war die Chaussee!
Gleich kommt das achte Feld voll Klee.
Herrgott, wie gro ist die Natur!
Noch siebzehn Kilometer nur.
Einst suchte man im Pilgerkleid
den Weg zur ewgen Seligkeit.
So kann man einfach an den Zehn
den Fortschritt des Jahrhunderts sehn.
Noch Joethe machte das zu Fu,
und Schiller ritt den Pegasus.
Ick radle!
30
Diogenes Magazin
Portfolio
Tour de Semp
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts beklagte

sich der Autor Lon Bloy bei seinem Verle
ger ber den geringen Absatz seiner B
cher. Was wollen Sie?, fragte der Verleger.
Seit sich die Leute fr das Fahrrad begeis
tern, haben sie keine Zeit mehr zum Le
sen.
Natrlich hat das Fahrrad dem Lesen nicht
geschadet, im Gegenteil. In der neuen Dio
genes Anthologie Fahrradfreunde erzhlen
Schriftsteller wie Siegfried Lenz, Urs Wid
mer, Andrea Camilleri oder Axel Hacke hin
reiende Fahrradgeschichten. Illustriert
hat das Buch Jean-Jacques Semp, von
dem wir hier ein zeichnerisches RadfahrerPortfolio zeigen.
Diogenes Magazin
31
Alphonse Allais
Ein Radweg um
die Welt
Fahrradfreunde
Buchtipp
a
240 Seiten, Leinen
ISBN 978-3-257-06863-4
Fahrradfreunde ist eine Hommage

auf das Fahrrad und all jene, die gerne
in die Pedale treten. Mit hinreienden
Geschichten ber erste Fahrversuche,
Radtouren bers Land, ob beschaulich
allein oder romantisch zu zwein, ber
die Tcken des Tandemfahrens, fiese
Fahrraddiebe und rasante Radrennen,
ja sogar ber den hsslichen Stiefbruder
des Fahrrads, den Ergometer.
Zauberhaft illustriert vom Fahrrad
liebhaber unter den Zeichnern
schlechthin: Jean-Jacques Semp.
Mein bester Freund? Ob man es glaubt
oder nicht: Das war mein Fahrrad.
Henry Miller
32
Diogenes Magazin
Wer mit dem Fahrrad um die Welt reisen will, trifft in Anbetracht der heutigen Verkehrsverhltnisse auf tausenderlei Schwierigkeiten, die keiner
Errterung bedrfen.
Darum fragt sich ja lngst alle Welt,
warum es nicht eine durchgehende,
vllig ebene, ununterbrochene Fahrbahn um unseren Globus geben kann,
eine Art erdumschlieendes Band.
Bisher verharrte die reizende Idee
im Bereich des Utopischen. Nun aber
steht dank einer Allianz von Wissenschaft und Kapital ihre Verwirklichung
bevor.
Es hat sich nmlich eine groe Gesellschaft gegrndet, die Socit G
nrale der weltumspannenden Viadukte fr den Radfahrer, Kapitalbedarf
1000000000 Francs.
Denn mittels einer Milliarde, einer

lumpigen kleinen Milliarde, lsst sich
dieses groartige Projekt ins Werk setzen. Die zu erwartenden Gewinne sind
unausdenklich.
Stellen Sie sich eine fabelhaft leichte,
endlose, auf Bambuspfeilern schwebende Hochstrae vor! Wie ungemein
elegant sich das ausnehmen wird, und
so japanisch!
Der Fahrbahnboden soll aus leichtem Teakholz bestehen, das mit Pegamoid beschichtet ist, einem unverwstlichen, wasserfesten und unbegrenzt
befahrbaren Material.
Zur berquerung der Meere werden die Pfeiler auf riesigen Schwimmkrpern ruhen, deren heliko-epizykloidale Form sie vor nahezu jeglicher
Erschtterung bewahrt.
Die Ingenieure der Socit Gnrale
der weltumspannenden Viadukte fr
den Radfahrer versprechen, den ersten
Streckenabschnitt bis zur Weltausstellung 1900 fertigzustellen.
Die Trasse wird folgende sein:
Paris (Courbevoie) Brest Halifax Vancouver Hawaii Japan
China Asien Kaukasus Russland
Deutschland Paris (Courbevoie).
Alle hundert Kilometer soll der
Radreisende ein hochkomfortables
Etablissement vorfinden, das gleichzeitig Hotel, Restaurant, Versorgungsund Reparatursttzpunkt ist (fr smtliche Streckenabschnitte im Ganzen
etwa fnfhundert Etablissements dieser Art, von welchen die Socit sich
unermessliche Gewinne verspricht).
Natrlich wird eine unter solchen
Umstnden vorgenommene Weltreise
nicht geeignet sein, Land und Leute
der durchmessenen Erdteile, ihre Fauna, Flora, Bodenschtze, Sprachen,
Kunstwerke usw. usw. zu erkunden.
Was die Socit Gnrale der weltumspannenden Viadukte fr den Radfahrer brigens auch nicht erstrebt.
Diese bezweckt lediglich, den geschtzten Haltern von Fahrrdern und
leichten Motorgefhrten das lange Reisen angenehmer zu machen sowie dem
weltweiten Sparerwillen eine Geldanlage zu bieten, wie es in einem Jahrhundert keine zweite gibt.
Aus dem Franzsischen von Christel Gersch
Diogenes Magazin
33
Serie
Martin Walker
Brunos Lieblingssongs
Viel Musik gab es nicht zu hren im katholischen Waisenhaus, in dem Bruno Courrges heute Chef de police von Saint-Denis in
Martin Walkers Prigord-Krimis seine Kindheit verbracht hat. Die begegnete ihm erst beim Militr. Heute hrt er viel Radio. Einen
Fernseher hat er nicht, dafr aber eine stattliche CD-Sammlung. Die meisten davon sind Geschenke von Freunden: Symphonien von
Beethoven und Brahms, Bach-Fugen, Mozart-Konzerte. Vom Brgermeister gibt es jedes Jahr eine CD zu Weihnachten, zuletzt PucciniArien, die Bruno begeistert haben. Dass YouTube nichts mit der Londoner U-Bahn zu tun hat, wei er mittlerweile auch. Eine Revolu
tion seiner Hrgewohnheiten. Martin Walker wirft fr das Diogenes Magazin einen Blick in Brunos Musiksammlung.
4. Dire Straits: Sultans of Swing
Bruno erinnerte sich, diesen Titel zum
ersten Mal bei einem seiner Auslandseinstze gehrt und auf Anhieb gemocht zu
haben; und zwar in der Kantine eines
franzsischen Militrsttzpunkts an der
Elfenbeinkste. Doch als Isabelle ihm
auf YouTube die Live-Mitschnitte verschiedener Versionen des Stcks und der
langen Gitarrensoli zeigte, berhrte ihn
der Song, als hrte er ihn zum ersten Mal.
34
Diogenes Magazin
6. Juliette Grco: Les feuilles mortes

Auch dieses Lied hrte Bruno zum ersten Mal im Haus des Barons. Zwar war
ihm die Sngerin bereits ein Begriff,
doch dieses Chanson veranlasste ihn,
sich in der Bibliothek von Saint-Denis
ein Exemplar ihrer Autobiographie Je
suis faite comme a (So bin ich eben) auszuleihen und sich ausfhrlicher mit der
Geschichte Frankreichs in den 1950erund 60er-Jahren zu beschftigen.
7. Eric Clapton: Layla
Er hatte den Song bereits in einer Kaserne im Radio gehrt. Doch endgltig in
seine Erinnerung brannte er sich in den
Keller-Tanzclubs von Sarajewo ein, wo
die Musik laut aufgedreht wurde, um
den Lrm der einschlagenden Artilleriegeschosse zu bertnen.
2. Jacques Brel: Le port dAmsterdam

Eines der ersten Stcke, die Bruno dank
Isabelle auf YouTube begegnet sind. Fr
Bruno ist Jacques Brel der grte Chansonnier berhaupt und derjenige, bei
dem er es am meisten bedauert, ihn nie
live gesehen zu haben. Dieses zutiefst
poetische Lied ber Seeleute, Sufer,
Huren und menschliche Begierden ist
von David Bowie und vielen anderen
eindrucksvoll interpretiert worden. Doch
nur wenn Brel selbst es in seiner rauhen,
kompromisslosen Art singt, ist es wirklich elektrisierend.
3. Eurythmics:
Sweet Dreams (Are Made Of This)
Den Song hrte Bruno zum allerersten
Mal in der Wohnung von Pamela. Das
gleichnamige Album war Teil ihrer selbst
zusammengestellten Kollektion von
Lieblingsstcken, die sie in den 1980erund 90er-Jahren als Jugendliche in
Grobritannien gehrt hatte.
de Gaulle in LKW-Konvois ins Gefngnis gefahren wurden, sangen sie und

zwar dieses Chanson.
5. Edith Piaf: Je ne regrette rien

Es ist unmglich, in Frankreich aufzuwachsen, ohne diesem klassischen PiafChanson irgendwann einmal zu begegnen. Fr Bruno schwingt darin allerdings
noch etwas anderes mit, seit ihm sein
Freund, der Baron, von den franzsischen Legionren und Fallschirmjgern
in Algier erzhlt hat. Als sie nach ihrem
fehlgeschlagenen Militrputsch gegen
8. Blondie: Atomic
Brunos Lieblingssong als Teenager. Wie
viele junge Franzosen lernte er durch
Popmusik mehr Englisch als in seiner gesamten Schulzeit. Zwei Zeilen daraus
Make it magnificent und Your hair is
beautiful hat er nie vergessen.
9. Yves Montand:
Le chant des partisans
Es gibt viele Versionen dieser Hymne
der franzsischen Rsistance, die 1943
von Anna Marly komponiert wurde und
auf ein russisches Volkslied zurckgeht.
Sie wurde zur Erkennungsmelodie von
Foto: Bastian Schweitzer/Diogenes Verlag
1. Charles Trenet:
Que reste-t-il de nos amours?
Geschrieben und erstmals aufgenommen
1942 whrend der nationalsozialistischen
Besetzung von Paris. Es gehrt mit seiner wehmtigen Melodie zu den groen
franzsischen Liebesliedern. Bruno hrte es zum ersten Mal bei einem Abendessen im Haus des Barons; spter nahm ihn
der Freund mit zu einer Vorfhrung von
Franois Truffauts Film Baisers vols
der Titel entstammt einer Zeile dieses
Lieds. Bei Bruno weckt es bitterse Erinnerungen an den glcklichen Sommer
seiner Affre mit Isabelle.
Honneur et Patrie, der Sendung, die Radio BBC von London aus fr die Mitglieder der Widerstandsbewegung ausstrahlte. Bruno findet Montands Version
auf dem Album Les Grandes Chansons
besonders beeindruckend: Das Gerusch
marschierender Stiefel zu den Klngen
des nationalsozialistischen Horst-WesselLieds wird hier nach und nach von den
Stimmen der Partisanen bertnt. Bruno
kann es sich nicht anhren, ohne dass
ihm die Trnen in die Augen steigen.
10. Joan Baez: Love Song to a Stranger
Der Song versetzt Bruno zurck in die
Zeit seiner Liebesaffre mit Katarina, als
er als Angehriger der UN-Friedens
truppen in Bosnien stationiert war. Katarina sang das Lied in ihrem Zimmer und
begleitete sich selbst auf der Gitarre. Viele Jahre spter stie Bruno bei YouTube
auf eine phantastische Pariser Liveaufnahme von Joan Baez von 1973.
11. Josipa Lisac:
Niz polje idu, babo, sejmeni
Ein bosnisches Volkslied im Stil der Sevdalinka. Diese Musik half den Bosniern,
den Krieg zu berstehen, und wurde von
vielen Politikern bei ihren Bemhungen
zur Einigung des Landes instrumentalisiert. Dieses Lied ist wichtiger Bestandteil der kulturellen Identitt Bosniens,
und Bruno erinnert es an die Belagerung
Sarajewos und an eine fehlgeschlagene
UN-Mission, die Frieden bringen sollte,
wo er nicht zu erreichen gewesen war.
12. Ultravox: Vienna
Ein weiteres Rock-Video, das Bruno
durch YouTube kennengelernt hat: Er
und Isabelle verbrachten einen langen
Vormittag im Bett, whrend sie im Internet durch einige ihrer Lieblingssongs
surfte.
13. Francis Cabrel: Hors-Saison
Die gleichnamige CD war eine der ersten, die Bruno fr sich selbst kaufte,
nachdem er den Song im Radio gehrt
hatte: ein winterliches Klagelied ber
eine vergangene Sommerliebe, angesichts
des eisigen Meers, das in den Hafen einer
Kstenstadt brandet. Bruno fand es

schrecklich traurig, mochte aber die Poesie dieses Lieds, ebenso die anderen Balladen auf der CD und allgemein Cabrels
Mischung von Rock und Blueselementen aus dem amerikanischen Sden.
14. Angus und Julia Stone:
Draw Your Swords
Bruno hrt gern Musik, wenn er die von
ihm trainierten Tennis- und RugbyTeams der Schule mit dem Kleinbus zu
Spielen fhrt. Die Jugendlichen wetteifern seit kurzem darin, ihm neue Musik
mitzubringen, die ihm gefallen knnte.
Dieses Stck mochte er sehr, und inzwischen ist er ein Fan.
15. Coldplay: Clocks
Auch diesen Song lernte er durch die
Kinder kennen, denen er das Tennisspielen beibringt. Er hrte ihn zum ersten
Mal auf der Fahrt zu einem Turnier in
Bergerac.
19. Lotte Lenya: Surabaya Johnny

Durch Horst wurde Bruno auch ein Fan
der Musik Kurt Weills in der Interpretation von Lotte Lenya. Er hatte bereits
von Mackie Messer gehrt; Surabaya
Johnny war jedoch eine echte Entdeckung fr ihn.
20. Ali Farka Tour: Ai Du
Diesen Song und damit eine ganz neue
Musikrichtung entdeckte Bruno whrend seiner Stationierung in Westafrika.
Er war auf Urlaub in Bamako und hingerissen von den malischen Musikern und
ihrem Blues, den sie erfunden zu haben
schienen. Zuerst hrte er in seinem
Stammclub Salif Keita mit Stcken aus
dessen Album Moffou; an einem anderen
Abend erlebte er Ali Farka Tour. Die
Musikkassette, die er kaufte, ging bald
kaputt. So war eine der ersten CDs, die
Bruno sich nach seiner Rckkehr nach
Frankreich beschaffte, Farka Tours Album Tamala. Aus dem Englischen von
Michael Windgassen
16. U2&Pavarotti: Miss Sarajevo

Bruno hielt sich im besetzten Sarajewo
auf, als die Band U2 ihre Europatournee
ber den lokalen Fernsehsender in ein
Studio mit Publikum bertragen lie.
Die Gruppe stoppte das Projekt, als sie
erfuhr, dass die Menschen auf dem Weg
zum Studio Gefahr liefen, von Heckenschtzen erschossen zu werden.
17. k.d. lang: I Dream of Spring
Bruno hrte diesen Song erstmals bei einem Abendessen bei Pamela; Fabiola
brachte die CD Watershed mit. Bruno
hatte noch nie etwas von der Sngerin
gehrt und stellte fest, dass Fabiola nicht
nur alle CDs von k.d. lang besa, sondern
auch smtliche Texte auswendig kannte.
18. Die Toten Hosen: Tage wie diese
Bruno sah sich mit seinem Freund, dem
deutschen Archologen Horst, ein deutsches Fuballspiel im Fernsehen an und
interessierte sich brennend fr den Song,
den die Fans im Stadion sangen. Horst
bersetzte ihm den Text; Bruno fand das
Stck wunderbar dynamisch und hatte
den Refrain gleich verinnerlicht.
432 Seiten, Leinen

ISBN 978-3-257-06862-7
Das Prigord ist ein Paradies fr Schlemmer,
Kanufahrer und Liebhaber des sen Lebens.
Doch im April, kurz vor Beginn der Feriensaison,
stren ein hchst profitables Touristikprojekt,
Satanisten und eine nackte Frauenleiche in
einem Kahn das beschauliche Leben an den Ufern
der Vzre. Und Bruno, Chef de police von
Saint-Denis, stren zustzlich hchst verwirrende
Frhlingsgefhle.
Diogenes Magazin
35
Arnon Grnberg, 1971 in Amsterdam

geboren, lebt und schreibt in New York.
Sein in 17 Sprachen bersetzter Erstling,
Blauer Montag, wurde in Europa ein
Bestseller. Neben allen groen nieder
lndischen Literaturpreisen wie dem
Anton-Wachter-Preis, dem AKO-Litera
turpreis, dem Libripreis und dem Cons
tantijn-Huygens-Preis fr sein Gesamt
werk erhielt Arnon Grnberg 2002 den
NRW-Literaturpreis.
Foto: Roger Eberhard
Sehr wahrscheinlich ist Grnberg

ein Genie, ein literarischer Jahrhun
dertglcksfall...
Frankfurter Allgemeine Zeitung
36
Diogenes Magazin
Interview
Der jdische Messias
Illustration: Dilek Sisli/ Alef Yayinevi
Arnon Grnbergs Jdischer Messias ist ein bestrzendes, ein sehr bses und rasend komisches Buch ber
anstndige Menschen, die schreckliche Dinge tun. Endlich erscheint es nun auf Deutsch. Schon oft hat
der niederlndische Autor mit Wohnsitz in New York landlufige Auffassungen von Liebe und Judentum
zertrmmert, und das tut er auch in diesem Roman, mit entlarvendem Humor. Ein Gesprch mit dem
Freigeist.
Ihr Roman, Der jdische Messias,
handelt von einem jungen Schweizer,
Enkel eines SS-Manns, der es zu seiner Mission erklrt, das Leid der Juden zu mildern, und selbst zum Judentum konvertiert. Dieser Xavier
Radek ist ein einsamer junger Mann
mit einem Schuldkomplex von biblischem Ausma und sehr hohen Idealen, die jedoch, vorsichtig formuliert,
in die Irre fhren. Was halten Sie von
Idealen, was von Ideologien?
Ganz ohne Ideale geht es nicht. Sobald
das Ideal aber religise Zge annimmt,
kann es leicht gefhrlich werden. Ein
Idealist, der die Unvollkommenheit
der Menschen und der Welt nicht akzeptiert, wird frher oder spter zum
Fanatiker. Idealismus ist oft der Anfang
von Fanatismus.
Man sagt ja gemeinhin, wir leben in
einer Zeit ohne Ideologien, jedenfalls
im Westen. Das stimmt nicht ganz. Der
Kapitalismus ist auch eine Ideologie.
Vielleicht ist eine Gesellschaft ganz
ohne Ideologien unmglich. Sobald
die Ideologie aber zum Gtzen ge-
macht oder als absolute Wahrheit propagiert wird, wird es unheimlich. Ich
bin eher ein Skeptiker.
Sie scheinen nicht viel vom Missionieren zu halten, ist das richtig?
Nein, ich bin, muss ich gestehen, in
vielerlei Hinsicht ein Libertin. Die Medizin ist oft verheerender als die
Krankheit.
Ich bin kein religiser

Mensch, aber ich bin auch
kein aggressiver Atheist.
Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin religis erzogen worden. Meine
Mutter war und ist religis, ohne wirklich an Gott zu glauben. Mein Vater
war Agnostiker. Ich habe sehr viel gelernt im Religionsunterricht, durch die
Beschftigung mit Religion. Ich bin
kein religiser Mensch mehr, aber ich
bin auch kein aggressiver Atheist. Diese Mhe, die Leute sich geben, um zu
beweisen, dass es Gott nicht gibt, ver-
stehe ich nicht. Das ist mir irgendwie

zu primitiv.
Schon bei den griechischen Tragdiendichtern lesen wir ber Gtter, es
gibt also wohl etwas, das ber den
Menschen steht. Wir knnen das
Schicksal nennen oder Gott, das ist mir
egal. Aber zu glauben, dass wir das
Schicksal sind, das ist reiner Hochmut.
Sind Konvertiten die grten Fanatiker?
Bestimmt.
Es gibt etliche Parallelen zwischen
Hitler und ihrer Hauptfigur, Parallelen, die darber hinausgehen, dass
beide mig begabte Maler sind. Xaviers Liebe zu den Juden hat furchtbare Konsequenzen, Hitlers Hass auf
die Juden mndete in den Vlkermord. Kann Liebe hnlich zerstrerisch sein wie Hass?
Primo Levi hat einmal geschrieben,
dass nicht Hass das Gegenteil von Liebe ist, sondern Gleichgltigkeit. Liebe
kann sehr destruktiv sein. Ich habe fter ber solche Lieben geschrieben,
zum Beispiel in Tirza. Wir glauben,
Diogenes Magazin
37
dass Liebe nur etwas Gutes und Schnes ist. Aber das ist ein Missverstndnis, vielleicht sogar reine Ideologie.
Hass allein ist keine erschpfende
Erklrung fr den Vlkermord.
Mich interessiert, wie jemand, der
sich selbst fr einen guten Menschen
hlt, fr einen liebenden Menschen, zu
schrecklichen Taten imstande sein
kann. Warum anstndige Leute bse
Sachen tun. Das ist interessant.
brigens gibt es viele Diktatoren,
die sich als Knstler verstanden haben.
Stalin schrieb ja Gedichte, Saddam hat
am Ende seines Lebens einen Roman
geschrieben. Es ist ja auch wirklich
verlockend, die Wirklichkeit als Gesamtkunstwerk zu sehen. Aber ein rein
sthetischer Blick auf die Dinge ist unmenschlich. Zurck zu Ihrer Frage: Ja,
aus Liebe kann leicht Hass werden.
Sie wissen vermutlich, dass Hitlers
Mein Kampf in Ihrem Roman das
verbotene Buch von Du-weitschon-wem, das Xavier und sein
jdischer Freund Awrommele ins
Hebrische bersetzen wollen mittlerweile online komplett auf Deutsch
verfgbar ist, in gedruckter Form ist
es aber nach wie vor in Deutschland
verboten.
Das ist eine schwierige Sache. Es gab ja
Grnde, das Buch zu verbieten. In
Amerika kann es allerdings jeder kaufen. Zum Beispiel auf amazon.com.
Amazon schickt das Buch jedoch nicht
nach Deutschland.
Es ist Zeit fr eine wissenschaftliche

Edition. Und die wird auch kommen.
Der Wiener Kabarettist Helmut Qualtinger hat Teile aus Mein Kampf vorgetragen. Das ist fabelhaft. Daniel Keel,
der verstorbene Diogenes Verleger, hat
mir davon erzhlt.
Ihr Umgang mit dem Holocaust ist
nicht sonderlich behutsam in Der jdische Messias. Oder besser: Sie lassen
ihre Figuren Drastisches ber den
Vlkermord denken und sagen. Ich
Wir glauben, dass Liebe

nur etwas Gutes und Sch
nes ist. Aber das ist ein
Missverstndnis, vielleicht
sogar reine Ideologie.
musste oft wenn auch verschmt
sehr laut lachen. Darf man Witze
ber den Holocaust machen?
Wir haben keine andere Wahl. Es ist
falsch, den Holocaust jenseits der Geschichte zu sehen, aus dem Holocaust
etwas zu machen, das man nicht mehr
anfassen darf. Wir sollten uns damit
auseinandersetzen. Und ein guter Roman soll immer auch unbequem sein.
brigens gibt es sogar in der Lagerliteratur viel Ironie. Imre Kertsz
ist sehr ironisch, genauso wie Tadeusz
Borowski, ein polnischer Schriftsteller,
den ich fr sehr bedeutend halte. Er
war in Auschwitz und hat ber seine

Zeit im KZ mit viel bsem Witz geschrieben. Das ist groartig. Wirklicher Humanismus ist humorvoll und
manchmal vielleicht auch zynisch.
Wollen Sie Ihre Leser aufrtteln mit
diesem Roman, sie schockieren?
Aufrtteln ja. Schockieren, hm. Ingeborg Bachmann hat geschrieben, dass
die Emprung in uns sein soll, wenn
nicht, dann sei uns nicht mehr zu helfen. Die Wirklichkeit ist schockierend.
Der Schriftsteller sollte uns daran erinnern. Einige Leser mgen das schwierig finden oder sogar unangenehm,
aber ich betrachte das, verzeihen Sie
den Ausdruck, als meine Aufgabe.
Der jdische Messias ist bereits in etlichen Lndern erschienen. Auch in
Israel?
Nein, dort noch nicht. Aber in den
USA, Frankreich, Holland usw. Die
Reaktionen waren positiv. Ich bin nirgendwo bedroht worden.
Sie sind der Sohn deutscher Juden.
Ihre Mutter war in mehreren Konzentrationslagern interniert, Ihr Vater hat den Krieg in Verstecken berlebt. Haben Sie zu Hause ber diese
Zeit gesprochen?
Meine Mutter manchmal, mein Vater
nie. Ich zitiere immer wieder gern einen Satz meiner Mutter. Wenn sie sehr
bse war, mit meinem Vater, oder mit
mir, oder mit meiner Schwester, sagte
sie oft: In Auschwitz war ich glcklicher als bei euch.
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38
Diogenes Magazin
Wie empfinden Sie den Umgang der

Deutschen mit dem Holocaust?
Die Vergangenheitsarbeit war ziemlich
erfolgreich, aber man soll sich nicht zu
frh ausruhen.
Buchtipp
640 Seiten, Leinen

ISBN 978-3-257-06854-2
Xavier Radek, Enkel eines SS-Manns,

zieht aus, das Trsten zu lernen. Doch
wie kann er die Juden von ihrem Leiden
erlsen? Zunchst einmal muss er selbst
einer werden. Xavier lsst sich
beschneiden und widmet sich gemeinsam mit seinem jdischen Freund
Awrommele der bersetzung von Mein
Kampf ins Hebrische, und er geht
noch viel weiter Arnon Grnbergs
Roman ist eine bitterbse Farce
und ein Angriff auf so ziemlich alle
wohlbehteten Tabus.
Diogenes
Hrbuch
Gelesen von
Helmut
Qualtinger
Ein glnzender,
umwerfend komischer Kabarettist.
Alfred Polgar
Das Pointenfeuerwerk des Spotts lsst
die Gesellschaft in
ihrer ganzen Lcherlichkeit erstrahlen.
Frankfurter
Allgemeine Zeitung
1 CD
Illustration: Tomi Ungerer
1 CD, Spieldauer 77 Minuten

Gelesen von Helmut Qualtinger
ISBN 978-3-257-80157-6
Hhepunkte aus den legendren

Aufnahmen und Liveauftritten von
Helmut Qualtinger. Und nebenbei eine
kleine Geschichte sterreichs in
Pantoffeln von der k.u.k Zeit ber den
Ersten Weltkrieg und den Anschluss
bis zur Nachkriegszeit. Mit dabei sind
der legendre Herr Karl, der ewige
Wiener Spieer und Querulant, und der
dummschlaue Travnicek. Auerdem
liest Qualtinger aus Karl Kraus
Die letzten Tage der Menschheit und
Adolf Hitlers Mein Kampf.
Wie den mit dem Staat Israel?

Sehr kompliziert. Fast niemandem gelingt es, ein normales Verhltnis zum
Staat Israel zu haben. Nicht den Deutschen, nicht den Juden. Dieser Staat ist
ja eine permanente Erinnerung an den
Zweiten Weltkrieg.
Kann ein Jude ein Faschist sein?
Ein Jude kann alles sein. Auch ein Faschist. Das Gegenteil zu behaupten,
wre antisemitisch.
Haben Sie Sympathien fr Ihre Figuren? Haben Sie Mitleid mit ihnen, ihrem Scheitern?
Sympathie. Ich lebe ja mit diesen Figuren monatelang. Sogar sehr viel Sympathie.
In Ihrem Roman Tirza heit es einmal, Sartre variierend: Die Hlle, das
sind nicht die anderen, das ist man
selbst. Das gilt wohl auch fr die Figuren im Jdischen Messias. Sie sind
sich selbst wie entfremdet. Auch ihr
Verhltnis ihren Mitmenschen gegenber ist gestrt. Gibt es echte Empathie in der Welt Ihrer Romane?
Doch, die gibt es. In Tirza und auch in
diesem Buch. Aber es gibt auch De
struktivitt und eine Gesellschaft, die
nicht immer ganz erfolgreich funktioniert. Wir sind ja vor allem ein Produkt
der Umstnde.
Die Figuren im Jdischen Messias
sind allesamt sehr unglcklich. Sie
haben einmal geschrieben: Glck
heit, fr sich alleine existieren zu
knnen. Glauben Sie das wirklich?
Kann man berhaupt alleine existieren? Der Mensch ist doch ein Gesellschaftstier. Vor diesem Hintergrund:
Ist unsere Suche nach Glck von
vornherein zum Scheitern verurteilt?
Hoffnung gibt es immer, aber muss
man denn immer glcklich sein? Man
sollte sich nicht dauernd fragen, ob
man glcklich ist. Sicher ist der Mensch
ein Gesellschaftstier, aber es ist auch
herrlich, mal ganz alleine zu sein. Man
sollte sich nicht abhngig machen von
Anerkennung, Besttigung von auen.
Oscar Wilde hat einmal geschrieben:
Es gibt kein unmoralisches Buch.
Entweder ein Buch ist gut geschrieben oder schlecht geschrieben. Das
ist alles. Was wrden Sie Wilde entgegnen?
Dass er recht hat wie so oft. ck
Impressum
Verleger: Philipp Keel
Geschftsleitung: Katharina Erne, Ruth Geiger,
Stefan Fritsch, Daniel Kampa, Winfried Stephan
Chefredaktion: Daniel Kampa
([email protected])
Stellvertretende Chefredakteurin:
Cornelia Knne ([email protected])
Redaktion: Nicole Griessmann (ng),
Martha Schoknecht (msc)
Grafik-Design: Catherine Bourquin
Scans und Bildbearbeitung: Catherine Bourquin,
Tina Nart, Hrlimann Medien (Zrich)
Webausgabe: Susanne Bhler ([email protected])
Korrektorat: Franca Meier, Dominik Sess
Bildredaktion: Regina Treier,
Nicole Griessmann
Vertrieb: Renata Teicke ([email protected])
Anzeigenleitung: Martha Schoknecht
([email protected])
Abo-Service: Christine Baumann
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Fr ein Abonnement benutzen Sie bitte die
auf Seite 59 eingedruckte Abokarte. Abonnementspreise: 10. fr drei Ausgaben in
Deutschland und sterreich, sFr 18. in der
Schweiz, andere Lnder auf Anfrage.
Beim Gewinnspiel sind MitarbeiterInnen
des Diogenes Verlags von der Teilnahme
ausgeschlossen. Die Gewinner werden
schriftlich benachrichtigt. Die Preise sind
nicht in bar auszahlbar. Der Rechtsweg ist
ausgeschlossen.
Alle Angaben ohne Gewhr. Redaktionsschluss: 15. Mrz 2013 / ISSN 1663-1641
Diogenes Magazin
Sprecherstr. 8, 8032 Zrich, Schweiz
Tel. +41 44 254 85 11, Fax +41 44 252 84 07
ber unverlangt eingesandte Manuskripte
kann keine Korrespondenz gefhrt werden.
Diogenes Magazin
39
Jakob Arjouni,
Mnchen, 2003
Mit John Irving nach einer

Lesung im Deutschen
Theater Berlin, 1995
Winfried Stephan, Mitglied der Geschftsleitung im Diogenes Verlag,
verleiht Jakob Arjouni die Goldene Eule, das von Tomi Ungerer
gestaltete Diogenes Ehrenzeichen, fr eine Million verkaufte Bcher.
Zrich, 14. Mrz 2011
In seinem Garten in Sdfrankreich,
fotografiert von seiner Ehefrau Miranda,
2006
1987, im Alter von 23 Jahren. Im selben Jahr

erschien Jakob Arjounis erster Roman,
Happy birthday, Trke! im Diogenes Verlag
40
Diogenes Magazin
Foto oben links: Isolde Ohlbaum/laif; Foto oben rechts: Anna Keel; Foto Mitte links: Miranda Junowicz; Foto Mitte rechts: Ruth Geiger/Diogenes Verlag; Fotos unten: Archiv Diogenes Verlag
Mit seinem Verleger und Freund

Daniel Keel (19302011) vor dem
Muse Balzac in Paris, 2003
Nachruf
Jakob Arjouni
19642013
22 Jahre alt war er, als sein erster Roman Happy birthday, Trke! bei Diogenes erschien. Am 17. Januar
2013 erlag Jakob Arjouni seiner Krebserkrankung. Er wurde 48 Jahre alt. Die folgende Rede hielt sein
langjhriger Freund Christian Seiler bei der Beerdigung am 26. Januar 2013 in Berlin. Wir trauern um
unseren Freund und Autor.
Foto: F.A.Z.-Foto/Frank Rth
anchmal war es auch so leicht,

wie es aussah. Ich erinnere mich
an einen Buchmessen-Abend in Frankfurt, frhe neunziger Jahre, Jakob hatte
gerade Ein Mann, ein Mord am Start,
als wir abends mit einer DiogenesRunde in irgendeinem prchtigen Gasthaus saen und tranken und scherzten.
Bier, Wein, Schnaps, und Jakob war so
in Fahrt, dass er die Gesellschaft spielend und brillant unterhielt, noch ein
Scherz, eine Anekdote, noch eine
Pointe, noch ein Glas.
Als wir gegen vier Uhr frh schwankend vom Tisch aufstanden, waren die
Augen von Winnie Stephan, der damals
Jakobs Lektor war, vor Freude und
Schnaps rotgeweint, und Winnie nahm
Jakob das Versprechen ab, dass wir
das morgen Abend auf jeden Fall wiederholen mssen.
Diese Geschichte erzhlte Jakob bis

zuletzt gern, auch wenn die Euphorie
brsk geendet hatte, als Jakob beim
Heimkommen ins Hotel ausprobierte,
wie man sich als Rockstar fhlt, und
versuchte, den Fernseher auf die Strae
zu werfen. Er verga allerdings, das
Antennenkabel auszustecken, so dass
der ehrgeizige Plan scheiterte. Die
Nacht ging ohne groen Knall in den
Kater des nchsten Tages ber.
Fr Kater und hnliche Knautschzustnde war Jakob mindestens so begabt wie fr Euphorien. Am Anfang
dachte ich, dass das zur Rolle gehrt,
die er sich als Autor von Bchern ausgesucht hatte, in denen Rausch und
Absturz so selbstverstndlich waren
wie Sonnenaufgang und Platzregen im
Dschungelbuch. Aber das stimmte
nicht. Die Phasen, in denen er sich ver-
knittert, angekrnkelt und bermdet

am liebsten vor den Fernseher zurckzog, um sich Wiederholungen von Fuballspielen oder zweitklassigen Tennispartien reinzuziehen, gehrten genauso
zu ihm wie die unwiderstehlichen Auftritte vor Publikum und Freunden.
Wenn man nicht genau hinsah, wirkte, was er machte, so leicht, so spielerisch. Auf den ersten Blick war Jakob
dieser hbsche, junge Kerl, der mit
kaum zwanzig Jahren Happy birthday,
Trke! geschrieben hatte und dem vllig zu Recht die Herzen der Leser und
Kritiker zuflogen. Er war so talentiert.
So witzig. So ein guter Beobachter. In
den Nachrufen, die letzte Woche in
den Feuilletons erschienen, wurde vllig korrekt die bahnbrechende Rolle
gewrdigt, die Jakob und seine Figuren
Kayankaya, Magic Hoffmann oder der
Diogenes Magazin
41
heilige Eddy in der neuen deutschsprachigen Literatur spielen.

Nur: Zugeflogen ist Jakob sein Knnen nicht. Er war von Beginn an ein
ernsthafter, erwachsener Schriftsteller
im Gewand eines lssigen, jungen Burschen. Er hatte beim Schreiben nie eine
Masche. Er setzte seine Figuren in Welten aus, in denen sie irgendwie zurechtkommen mussten, so wie er selbst.
Wie sie das taten, war interessant aber
vor allem trstete es ihn, den Autor,
den Freund seiner Helden. Immer wieder sprach Jakob von diesem Trost,
vom Gefhl, bei Kayankaya und den
anderen zu Hause zu sein. Das war
natrlich der Befund dessen, der dieses
Zuhause im wirklichen Leben so
lange nicht bekommen hatte.
In den letzten Wochen vor seinem
Tod schrieb Jakob noch drei kurze Erzhlungen, in denen er mit erschtternder Hrte dokumentiert, wie sehr
ihm als Kind ein Zuhause gefehlt hat.
Das hatte Spuren hinterlassen. Jakob
konnte massiv und selbstbewusst auftreten, aber hinter dieser Fassade war
er ein hochsensibler und ngstlicher
Mensch, ein Allroundphobiker. Er hatte Angst, mit der U-Bahn zu fahren,
ber eine zu hohe Brcke zu gehen
oder einen Aufzug zu bentzen, und
die Idee, ein Flugzeug fr eine seiner
zahlreichen Reisen zu bentzen, kam
ihm erst, als er seine knftige Frau
Miranda und damit das Phnomen
des Transkontinentalfluges kennengelernt hatte. Manchmal hatte er Angst,
allein zu sein. Auf Lesereisen bekam er
nachts in Provinzhotels Panikattacken.
Jakob musste eine Menge dafr tun,
um sich wohlzufhlen. Mit sich selbst
hatte er es nicht immer leicht, aber er
war talentiert fr Freundschaften, weil
erst Freundschaften ihm die Sicherheit
gaben, geschtzt und geliebt zu werden.
Seine Freunde waren ihm Familie. Er
fand diesen Familienanschluss bei vielen, die heute hier sind, und bei manchen, die es nicht mehr sind, wie bei
Daniel Keel, dem langjhrigen Verleger
von Diogenes, der Jakobs Vaterfreund
war.
Ich habe nie einen Freund gehabt,
der sich so fallen lassen konnte wie er
und gleichzeitig nicht die geringsten
Skrupel hatte, etwas Misslungenes oder
42
Diogenes Magazin
Fragwrdiges misslungen oder fragwrdig zu nennen. Er war anspruchsvoll, in jeder Hinsicht.

Mir wird in Zukunft besonders der
Gedanke daran fehlen, was Jakob dazu
sagt: zu meinen Sorgen und Problemen. Zu Pep Guardiola bei Bayern
Mnchen. Dazu, wie unser Leben jetzt
weitergehen soll.
Seine Meinung zu Trumen, Beziehungen, Politik, Bchern, Restaurants
und Fuballspielen war immer originell, nie angekrnkelt von Images,
Trends oder, was Fuball betrifft, auch
von der Realitt.
So wie er auf dem Markt seine eigenen Lieferanten suchte, schrge Weine
bevorzugte, das Huhn mit Zitrone so
kochte, wie ihm das einfiel und nicht
wie es das Kochbuch wusste, machte
sich Jakob sein Bild von Menschen und
Er war von Beginn an

ein ernsthafter, erwachse
ner Schriftsteller im
Gewand eines lssigen,
jungen Burschen.
deren Ideen und Sorgen. Ich hab viel
nachgedacht ber das, was du mir gesagt hast ist ein Satz, ohne den Jakob nicht auskam. Er war ein autonomer Denker, und er hatte sein eigenes,
gesetztes Tempo, um jenseits von
Schlagfertigkeit und Wortwitz auf etwas zu kommen, was interessant war
und vor allem richtig.
Es gab Momente in den vergangenen sechs, sieben Jahren, in denen Jakob staunend und berwltigt die Familie betrachtete, die Miranda und er
gegrndet hatten. Viele Jahre lang hatte
er es nicht fr mglich gehalten, dass
man so leben und dieses Leben mgen
knnte. Er war Miranda zutiefst dankbar dafr.
Besonders berrascht war er darber, wie groartig es sich anfhlte, Vater zu sein. Wer Jakob und seinen Sohn
Emil zusammen erlebt hat, wei, wie
innig die beiden Tom&Jerry gucken
konnten oder wie zwei alte Korsen
miteinander ber das Leben sprechen.
Jakob genoss das Glck mit seinen
Kindern, auch wenn er darunter litt,
seiner ltesten Tochter Elsa nicht ein

ebenso aufmerksamer Vater gewesen
zu sein wie Emil und Lucy. Er war
noch nicht so weit gewesen. Und er
hatte nicht viel Zeit, es zu sein.
Am Tag bevor Jakob an der Bauchspeicheldrse operiert wurde und der
letzte Zweifel verschwand, dass seine
Beschwerden vielleicht doch nicht von
einem bsartigen Karzinom stammen
knnten, sagte er noch mit einem Rest
von hoffnungsvollem Zweifel, mehr
eine Frage als eine Feststellung: Wenn
das Krebs ist, werde ich wohl Courage
haben mssen.
Er sprach dieses Wort Courage
vorsichtig und unbeholfen aus, weil er
zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, was es wirklich bedeuten sollte, aber
er hatte recht: Die beschissene Krankheit zwang ihn zu einer Courage, die er
nie und nimmer haben wollte. Er wre
so gern ngstlich geblieben. ber den
Tod sprach Jakob kaum, und wenn,
dann nur in Nebenstzen. Er wollte im
Schlaf sterben. Dass die Kinder deutsch
sprechen. Dass Miranda seinen Tod
verwindet.
Es liegt nichts Trstliches in Jakobs
frhem Abschied. Als wir ihn vergangene Woche noch einmal sehen durften,
sagte Mirandas Mutter Myrna angesichts des blassen, schnen Mannes,
der da ausgestreckt lag mit einem weien Hemd, dessen rmel hochgekrempelt waren, und dem roten Tuch in der
rechten Hand, das er immer dabeihatte,
wenn er auf Reisen ging: What a waste. Was fr eine Verschwendung.
Wir mssen Jakobs Familie trsten,
so gut wir knnen, und seinen Kindern
erzhlen, was fr einen groartigen Vater sie hatten.
Uns selbst trsten vielleicht Jakobs
Bcher, in denen Jakobs Freunde wohnen, mit denen wir ja noch immer so
oft am Tresen stehen knnen, wie wir
wollen. Die rumen uns das Pathetische schon herunter, das Rtseln nach
einem ungefhren Sinn oder mysterisen Botschaften in dieser Tragdie. Kayankaya sagt auf die Frage, woran er
glaubt: Keine Religion, keine Sternzeichen, keine warmen Steine oder
Glckszahlen. Wenn ich Halt brauche,
nehme ich mir ein Bier.
Okay.
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Joey Goebel, der 32-jhrige Vater eines kleinen Jungen, stand noch ganz unter dem Eindruck der
schrecklichen Ereignisse von Newton, Connecticut, als wir im Dezember mit ihm ber sein neues Buch
Ich gegen Osborne sprachen ein (Anti-)Highschool-Roman, der von einem jungen Mann im Mittleren
Westen erzhlt, der sehr wtend ist: wtend auf das Mdchen, in das er verliebt ist, wtend auf seine
Mitschler, die nichts als Sex im Kopf haben, wtend auf sein Land und die dort herrschenden Konven
tionen und der seinem Autor darin nicht unhnlich ist.
Dein neuer Roman, Ich gegen Os
borne, erzhlt aus dem Leben des
16-jhrigen James Weinbach, eines
sehr zornigen jungen Mannes. Du
selbst bist schon eine Weile kein Schler mehr und hast bereits drei Romane verffentlicht: Einer setzt sich mit
der heutigen Medienindustrie ausein
ander (Vincent), ein anderer handelt
von einer Truppe rebellierender Auenseiter (Freaks). Und dein letzter
Roman, Heartland, erzhlt die Geschichte einer typisch amerikanischen Familie, mit ihren emotionalen,
aber auch politischen Verstrickungen. Wie bist du auf die Idee gekommen, gerade jetzt einen (Anti-)Highschool-Roman zu schreiben?
Der Zeitpunkt schien mir richtig. Ich
habe schon mit 28 Jahren begonnen,
ber diesen Stoff nachzudenken. Auf
der einen Seite war ich noch nah genug
dran, um zu wissen, wie es sich anfhlt,
ein Teenager zu sein, auf der anderen
Seite schon weit genug weg, um die n-
tige Distanz zu wahren. Htte ich diesen Roman mit 24 Jahren geschrieben,
wre nicht viel mehr daraus geworden
als eine einzige Hasstirade, ein einziges
F you gegen die Highschool, die Jugendkultur, gegen den Konformismus.
Das alles steckt zwar auch in meinem
Buch, aber ich hoffe, meine Leser werden sehen, dass da noch mehr ist
Wie ist es dir auf der Highschool ergangen?
Oh, das war eine schwierige Zeit
Nicht ganz so schlimm vielleicht wie in
meinem Roman, aber doch fast. Die
Schule war riesig, fnfhundert Schler allein in der Senior Class. In meinem letzten Jahr hat man mich zum
originellsten Schler gewhlt. Irgendwie war ich also bei den meisten beliebt. Allerdings vermutlich aus den
falschen Grnden. Ich glaube, viele
haben mich blo fr einen Freak gehalten. Jeden Tag hatte ich dieselbe
schwarze Lederjacke an. Die Haare
trug ich vorne kurz, hinten lang. (Und
in den spten 90ern waren Vokuhilas

schon lange nicht mehr in.) Das war
mein ironischer Kommentar auf die
white-trash-Kultur Kentuckys. Aber
das hat natrlich niemand verstanden.
Der Abschlussball spielt eine wichtige Rolle in deinem Buch und im Leben fast jedes amerikanischen Teenagers. Was ist daran so besonders?
Vermutlich sehen viele Amerikaner darin eine Art Initiationsritus von der
Jugend hin zum Erwachsenendasein.
Fr mich allerdings ist diese Veranstaltung nur eine weitere Institution unter vielen, die wir verehren sollen. Eine
Verehrung, die uns von frhester Kindheit an eingetrichtert wird. Und deshalb ist es auch nur logisch, dass sich
viele amerikanische Teenager minderwertig fhlen, wenn sie nicht an diesem
angeblich so einschneidenden Ereignis
teilnehmen.
Nur um das klarzustellen: Ich wollte meinen Abschlussball eigentlich
schwnzen, aber in allerletzter Minute
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hat mich meine Mutter doch dazu gebracht, hinzugehen.

James ist ein ziemlich altmodischer
Kerl. Er nimmt keine Drogen, trinkt
keinen Alkohol. Er beschliet sogar,
Sex auch den Gedanken daran
ganz aus seinem Leben zu streichen
(hlt aber nur eine Stunde durch). Er
trgt Anzug statt Khaki-Shorts. Er
hrt Oscar Peterson und Frank Sinatra statt Justin Timberlake oder Britney Spears. Er glaubt an die romantische Liebe. Und anstiger geht es
kaum er liest Bcher. Was hat dich
an dieser Figur fasziniert?
Oh, da gibt es viele Dinge. All das, was
du beschreibst, zum Beispiel. James ist
fr mich ein echter Rebell, denn er geht
seinen ganz eigenen Weg. Er ist so etwas wie ein Anti-Anti-Held. Leider
gehrt er einer aussterbenden Spezies
an, er ist die Personifikation eines Lebensstils, einer Haltung, die es so nicht
mehr gibt zumindest nicht mehr in
Amerika.
Einer der Arbeits
titel fr den Roman war brigens The Last Gentleman Der letzte Gentleman. James
hat Stil, er ist romantisch, er ist kultiviert. Ein Mensch wie er wrde im
Mittleren Westen von heute vermutlich
weggesperrt werden.
James leidet am Umgang der Menschen miteinander. Wie geht es dir
damit?
Nun ja, ich bin auch nicht immer nur
nett. Aber dennoch: Mir geht es ganz
hnlich wie James. Ich glaube, wir sind
heutzutage mehr mit uns selbst beschftigt als je zuvor. Viel zu viele
Menschen kmmern sich nur noch um
ihre eigenen Angelegenheiten, sind
stndig mit ihren Smartphones zugange. Es scheint fast zur sozialen Norm
geworden zu sein, sich nicht mehr um
das zu kmmern, was um einen herum
vor sich geht, nur noch um das Display
vor der eigenen Nase.
Was missfllt dir am meisten an anderen Leuten?
Gedankenlosigkeit finde ich furchtbar.
Ich wundere mich sehr oft darber, wie
viele Menschen sich offenbar gar nicht
vorstellen knnen, dass andere auch
Gefhle haben.
Mitgefhl hingegen, vor allem dann,
wenn es bedingungslos ist, bewundere
ich sehr. Darum bemhe ich mich stndig. Und das tut auch James. Wie
schafft man es blo, all diese Menschen
zu mgen, die einem das Leben schwermachen?
Wenn vom American Way of Life
die Rede ist, denken einige Menschen
noch an Begriffe wie die Wrde des
Einzelnen, Optimismus, Idealismus,
die Suche nach Unabhngigkeit und
Freiheit. Was fllt dir dazu ein?
Ich will wirklich nicht als der stereo
type nonkonformistische Autor dastehen, der auf sein Land eindrischt. Es ist
groartig, hier zu leben. In meinem

Heimatort gibt es jede Menge sehr nette Leute, auch wenn das nicht zu dem
zu passen zu scheint, was ich vorhin
gesagt habe. Aber ich beantworte deine
Fragen eben auch fnf Tage nach dem
Massaker in Newton, Connecticut, und
das verdstert meine Sicht auf dieses
Land.
Also, nein, ich wrde diese wunderbaren Begriffe nicht auf die USA
anwenden. 9
/11, die Rezession, die
zahllosen Gewaltverbrechen, Arbeitslosigkeit Angst und Sorge gehen um
in diesem Land. Verzeih bitte, ich wei
natrlich, dass es uns in Amerika verhltnismig gutgeht, aber Kinder
sind doch heilig! Es ist einfach furchtbar traurig, was da geschehen ist. Sehr,
sehr traurig.
Es geht viel um Sex in deinem Roman. Den Umgang der Amerikaner
mit Sexualitt empfindet so mancher
als heuchlerisch. Es gibt in den USA
eine gigantische Pornoindustrie, es
gibt den Spring Break, die Frhlingsferien, in denen Studenten wahre Se-
xorgien feiern. 95Prozent der Amerikaner haben Sex vor der Ehe, und
doch halten 36 Prozent Sex vor der
Ehe fr falsch. Viele Amerikaner verdammen Verhtungsmittel und Abtreibungen. Was hltst du von dieser
Denkweise des Sex-for-me-but-notfor-thee?
Ich verstehe, was du meinst Ich habe
da etwas Interessantes bei meiner ersten Europareise erlebt. Auf einem Flug
von sterreich nach Deutschland lagen an Bord Playboy-Hefte aus. Die
Pressechefin von Diogenes, Ruth Geiger, erklrte mir, das sei nicht weiter
ungewhnlich. Wer wei, vielleicht ist
es wirklich gesnder, Sexualitt genau
so zu behandeln: wie irgendein weiteres Magazin, das irgendwo rumliegt.
Anstatt etwas Obsznes daraus zu machen oder Produkte damit verkaufen
zu wollen, zum Beispiel miese Musik
Du scheinst sehr wenig von der amerikanischen Mainstreamkultur zu
halten, das wird schon in Vincent
und Freaks deutlich, und jetzt wieder
in Ich gegen Osborne. Ist es schlimmer geworden seit 1999, dem Jahr, in
dem dein Roman spielt? Was gefllt
dir noch an der Popkultur?
Die TV-Serie Mad Men. Jede einzelne
Episode ist eine literarische Short Sto-
Buchtipp
432 Seiten, Leinen

ISBN 978-3-257-06853-5
Er ist ein Unikat in einer Welt, in der

sich jeder durch Originalitt abheben
will. Der Einzige, der sich noch nach
etwas sehnt und dafr kmpft: James
Weinbach, 16 Jahre alt. Der neue Roman
von Joey Goebel zieht der amerikanischen Partygesellschaft den Stecker!
Diogenes Magazin
47
Ob du dich selber erkennst? Du tust

es sicher, sobald du mehr Gebrechen
an dir als an den andern entdeckst.
Liebe ist darum so schn, weil sie vor
Selbstliebe schtzt.
Groe Menschen sind Inhaltsverzeichnisse der Menschheit.
Es ist am Ende das Beste an der Religion, dass sie Ketzer hervorruft.
Denken mit
Friedrich
Hebbel
Sind wir nicht Flammen,

welche rastlos brennen
Und alles, alles, was sie auch
umwinden,
Verzehren nur, doch nichts
umarmen knnen?
Das ganze Leben ist ein verunglck- Die Kunst ist eine zusammengepresster Versuch des Individuums, Form te Natur und die Natur eine auseinanzu erlangen.
dergelaufene Kunst.
Mensch, ergrnde die Welt und

nicht die Bcher, wie viel sie
Auch enthalten, es ward stets
aus der Welt ja geschpft,
Und, du magst es mir glauben,
ich habe es selber erfahren,
Sagt sie dir es nicht auch,
ist es fr dich nicht gesagt.
Nur vom berfluss lebt das Schne,
dies merke dir, Dichter,
Hast du nicht etwas zu viel, hast du
mitnichten genug.
Friedrich
dieWelt,
Welt,und
und
nicht
Bcher
FriedrichHebbel
Hebbel Ergrnde
Ergrnde die
nicht
diedie
Bcher
Die Dummheiten platter Kpfe sind Das Leben ist ein Traum, der sich
immer unfreiwillige Parodien von der selbst bezweifelt.
Weisheit der Gescheiten; denn nicht
einmal darin sind sie originell.
All solche spitzen Gedanken sind nur
Versuche, sich der Wahrheit zu beDie Freundschaft der meisten Men- mchtigen. Oft blinkt das reine Gold
schen ist eine Vorbereitung auf die heran, aber das Netz zerreit unter
Feindschaft.
seiner Last, es ist nur fr Goldfische
gemacht! O Gehirn! O Herz!
Was du teurer bezweifelst, die Lge
oder die Wahrheit? Jene kostet dein
Ich, diese doch hchstens dein Glck.
aa
240 Seiten, Leinen
ISBN 978-3-257-06737-8
Im nchsten Magazin:
George Orwell
48
Diogenes Magazin
ry. Jede einzelne hat etliche Bedeutungsebenen. Und Don Draper ist wohl
eine der groartigsten amerikanischen
Figuren berhaupt. Um die Serie massentauglich zu machen um dieses Phnomen geht es auch in meinem Roman
Vincent , wurde das Ganze stark geschnt. Wer die Serie kennt, wei, was
ich meine: Ausstattung und Schauspieler sind sehr ansehnlich.
Es gibt heute groartige Serien wie
Freaks and Geeks, Lost und Parenthood.
Viele Kinofilme sind allerdings schlechter. Und die Popmusik na ja Aber
Schluss jetzt, ich habe schon genug geschimpft. Belassen wir es dabei: Das
Fernsehen heute ist viel, viel besser!
All deine Romane spielen im selben
Bundesstaat. Was ist so besonders an
Kentucky einmal abgesehen davon,
dass du dort lebst?
Dass es nicht New York ist. Ich mag
New York wirklich sehr ein magischer Ort. Aber warum muss jeder beschissene Roman, Film, jede Fernsehserie uns davon erzhlen, wie cool und
aufregend das Leben dort ist?
Auch deswegen bin ich glcklich darber, dass meine Bcher in Europa so
erfolgreich sind. Ihr scheint zu verstehen, dass New York oder Los Angeles,
so wunderbar sie auch sind (und sie
sind wirklich wunderbar), recht wenig
mit Amerika zu tun haben.
Die alles entscheidende Frage zum
Schluss: Wie war dein eigener Highschool-Abschlussball?
Ich war mit einer Freundin, Becky,
dort, aber wir sind schnell wieder abgehauen, um im Wohnwagen eines
Freundes zu feiern. Die meiste Zeit
habe ich dort vor mich hingetanzt zur
Musik von The Dead Milkmen, mit einem Bier in der Hand. Ein Mdchen
hat versucht, mich anzugraben, aber
irgendwann hat sie verstanden, dass ich
lieber allein sein wollte. Mir ist schon
klar, dass ich etwas sonderbar bin.
brigens ist dieser Roman auch ein
Tribut an die Punk-Band The Dead
Milkmen und ihren Song I against Osborne, der den Kern meines Romans
erfasst: stark und selbstbewusst zu sein,
eine klare Haltung zu den Dingen einzunehmen, sich zu wehren, aber immer
auf eine stilvolle Art und Weise wie
ein echter Gentleman. ck
Foto: Ursula Edelmann/ARTOTHEK
Serie
Kopfnsschen
Lsungen
Schwer
Mittel
Leicht
Sudoku
8
4
2
EXKLUSIV
50%
PREISVORTEIL
Drudel-Test
1: Langbeinige Kuh
2: Kamel balanciert Bcher zur Verbesserung der Krperhaltung; Ersatzlsung:
Bcherbrett eines Exzentrikers
Sudoku: Puzzle Company GmbH fr Diogenes Magazin
Gemeinsame Schicksale
1) Wurden inhaftiert
2) Erblindeten
3) Kamen im Krieg um
4) Belgischer Herkunft
5) Begingen Selbstmord
6) Starben im Duell
7) Starben in Zrich
8) Schrieben auf Englisch, das nicht
ihre Muttersprache war
1 JAHR BCHER
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Literarische Todesflle
1) Nimmt Arsen
2) Erschiet sich
3) Wirft sich vor den Zug
4) Geht ins Meer
5) Ersticht sein Bildnis und stirbt dabei
6) Ersticht sich
Diogenes Magazin
49
50
Diogenes Magazin
Fotos: Lorenzo Pesce
Leseprobe
Fulvio Ervas
Wenn
Andrea die
Welt
regieren
wrde
Ein Vater und sein autistischer Sohn erleben ge
meinsam ein Abenteuer, das so wunderbar, schwie
rig und unvorhersehbar ist wie der Junge selbst.
Und Vater und Sohn einander nherbringt.
Halb voll oder halb leer, dieses Dilemma wre unbekannt.

Flaschen und andere Behltnisse mssen immer entweder
leer oder voll sein und die Kugelschreiberminen alle drin
oder alle drauen, nie halb so, halb so, sonst geht immer ein
Stift kaputt und einer nicht. Dieses Risiko muss vermieden
werden.
Von T-Shirts oder Pullovern mit Reiverschluss wrde
abgeraten, denn es ist schnell passiert, dass dieser ein wenig
offen steht. Bitte, Reiverschlsse entweder auf oder zu.
Schluss auch mit den ewigen Haarspaltereien, ob es warm
oder kalt ist. Ein bisschen Entschlossenheit kann nie schaden.
Niemand soll glauben, er knne eine Pizza so essen, dass
er sie einfach in Stcke schneidet, irgendwo anfngt und einen beliebigen Bissen zum Mund fhrt. Zuerst isst man
nmlich die weie Mozzarella, dann das grne Basilikum
und zum Schluss, aber erst ganz zum Schluss, den Boden mit
der Tomatensoe.
Dreihundertfnfundsechzig Mal im Jahr wre Tag der
Schokolade. Diese Regel wre immerhin leicht einzuhalten.
Thermostaten wrden nicht geduldet. Entweder ist die
Heizung abgestellt oder voll aufgedreht. bergangszeiten
sind eine Katastrophe.
Kirchtrme wrden mit automatischen Seifenblasenspendern ausgerstet, jeden Freitag Seifenblasen in Hlle und
Flle, um das Wochenende anzukndigen, und auch jeden
Montag, um den Wochenbeginn zu feiern, Feuerwerk an Silvester, bei Sonnenwende, bei Tagundnachtgleiche und zu jedem Anlass, wenn es finanziell drinliegt.
Eine Tyrannei mit absolut klaren Regeln.
Vorgegeben von einem hochsensiblen Tyrannen, der seine
Freiheit braucht. Aus dem Italienischen von Maja Pflug
Buchtipp
Foto: Franco Antonello
anche Leute sagen, dass das Leben mit einem autistischen Kind fremdbestimmt sei. Ja, dass man einer Art
Tyrannei zum Opfer falle. Wenn ich mir vorstelle, was passieren wrde, wenn Andrea die Welt regierte, muss ich lachen.
Als Erstes htten die Wochen eine Farbe. In der roten Woche Bahn frei fr den Handel mit Karotten, Orangen, Tomaten. Subventionen nur fr diese Produkte und totales Fahrverbot fr Lastwagen mit Broccoli, Wirsing oder Erbsen.
Wenn aber die grne Woche anbricht, fllen sich die Geschfte mit dem vorher nicht erlaubten Gemse; die Kisten
mit Orangen werden unverzglich nach Sizilien zurckgeschickt und die Karotten eine um die andere wieder in die
Erde gesteckt. Natrlich genau da, wo man sie herausgezogen hat, schlielich haben aus Frankreich stammende Karotten in der Gegend von Ferrara nichts zu suchen.
Nie gbe es eine lila Woche, zum Leidwesen aller Fans
von Pflaumen und Auberginen.
320 Seiten, Pappband

ISBN 978-3-257-06851-1
Abenteuer Leben: Die wahre

Geschichte eines Vaters, der Zugang zu
seinem autistischen Sohn sucht und
ihm eine Stimme schenkt. Der
Bestseller aus Italien ein intensives,
berhrendes, lebensbejahendes Buch.
Diogenes Magazin
51
Literarisches Kochen
Terrine
la Hugo Loetscher
I
ch war dabei, wie besagter Pt, das heit besagte TerDas heit, man braucht einen Wolf. Aber als Vertreterin
rine, gemacht wurde. Und wes das Herz voll ist, des
der zeitgenssischen Intelligenzija besitzest du ohne Zweigeht der Mund ber. Das gilt auch auf kulinarischer Ebefel einen Wolf, durch den man alles drehen kann, nur dass
ne: Wes der Magen voll ist nein, ich sehe, das Bild ist ein
du ihn fr diesmal nicht am Schreibtisch, sondern am Kbisschen gewagt.
chentisch befestigen musst.
Du machst dich zur Verteidigerin des einfachen RezepAber jetzt kommen wir zum man nehme. Man nehtes. Wenn du wsstest, wie einfach dieses Rezept ist. Es ist
me zum Beispiel Reste. Reste von Siedfleisch. Und dann
geradezu eine Aschenbrdel-Terrine, wenn du willst.
ein bisschen Schweinefleisch. Und dann Leber: vom HaZugegeben, die Umwege knsen und von den Hhnern und
nen etwas kompliziert sein. Man
von den Gnsen. Diese Leber ist
braucht nmlich Schweineja keineswegs teuer propos
schmalz. Nicht jenes Schmalz
billig: Es braucht auch noch etoder jenes Fett, das man in den
was Bouillon. Da kannst du die
Lden oder auch beim Metzger
Knochen des Huhnes, das du im
kaufen kann. Das eignet sich geRmertopf gebraten hast, auskorade frs Kochen oder Braten.
chen. Ich wrde sagen: Knochen
Nein, es muss schon richtiges
im Wert von etwa 95 Rappen.
Schweineschmalz sein, mit so
Aber jetzt knnen wir beginrichtig Grieben drin, das man
nen. Wir tun sofern du nicht
auch aufs Brot streichen knnte.
mitmachen willst, sind mit wir
Und das ist nicht leicht zu beimmer der Mann im Mond und
schaffen. Am ehesten noch, wenn
ich gemeint , wir tun also
ein Bauer gerade schlachtet. Du
Speckwrfel in die Pfanne und
hast sicher verstanden: Um sibraten sie, wir lassen sie fast aus.
208 Seiten, Leinen
cherzugehen, ziehst du eine Sau
Dann tun wir Zwiebeln und
ISBN 978-3-257-06847-4
auf, und beim Schlachten machst
Knoblauch hinein, braten darin
Viel mehr als ein Kochbuch:
Zwei geistreiche Genieer, Alice
du dann jenes Fett, das fr die
das Fleisch und drehen das GanVollenweider und Hugo Loetscher,
Terrine notwendig ist.
ze einmal durch den Wolf. Dann
plaudern aus der Kche. Rezepte,
Kulturgeschichtliches, Literarisches,
Und dann brauchst du auch
braten wir die verschiedenen LePersnliches, gewrzt mit
dem Salz der Begeisterung und
noch Gnsefett. Das ist, glaube
bern und tun auch die in den
dem Pfeffer des Humors.
ich, schon leichter zu kriegen.
Wolf. An Krutern sind BasiliZudem gibt es so einfache Rekum und Estragon zu empfehzepte, um eine Gans in deinem schlichten Sinne zu braten,
len. Dann lsst du die verschiedenen Schmalze, oder wie
dass du bei diesem Bratprozess ohne Zweifel auch zum
immer der Plural von Schmalz heien mag, ebenfalls durch
unerlsslichen Gnseschmalz kommst.
den Wolf; zum Schluss ein bisschen Cognac und ganz weUnd dann sollte man noch etwas vom Huhn haben:
nig Curry. Und was du jetzt hast, das tut man dann in ein
Wenn du ein Huhn im Rmertopf brtst, dann bleibt doch
Bain-Marie. Und darin lsst man es etwa so lange, wie du
am Boden immer ein gewisser Rest zurck. Der eignet
fr die bersetzung von fnf mittelschweren Seiten mosich bestens fr die Terrine.
dernistischer italienischer Prosa brauchst. Dann nimmst
Aber abgesehen von der Sau und dem Gnsebraten und
du das Ganze heraus. Essen kannst du es nicht, es muss
dem Hhneressen ist dann die Zubereitung der Terrine
abkhlen aber dann, dann ist die Terrine ganz vorzgganz einfach:
lich.
Foto: NN
52
Diogenes Magazin
Serie
Die Romane von

Georges Simenon
Sie sind Expeditionen in die mensch
liche Seele. Ihre Sprache ist einfach,
klar, komplex und subtil zugleich.
Verbrechen geschehen aus Grnden:
aus Habgier oder Eifersucht, aus
Rache, aus Angst.
Klassenunterschiede spielen eine
entscheidende Rolle: Wohlanstndig
fassadisierte Brger tten arme Leute,
wenn sie frchten, dass die ihnen etwas
wegnehmen knnten; umgekehrt
werden Habenichtse skrupellos und
gemein, wenn sie meinen, so die
Chance ihres Lebens zu ergreifen.
Kaum je ist ein Mensch, was zu sein er
vorgibt, und Simenon beobachtet sie
alle ganz genau, ihre Trume, ihr
Versteckspiel, ihre Finten, ihre
Leidenschaften, ohne sie roh zu
entblen.
Test-Abo:
10 Samstage,
10 Euro.
taz.de/testabo
Zeitung, wenn Sie Zeit haben:

taz am Wochenende.
Jetzt jeden Samstag mit
Nach dem Lesen Simenons wei man

auch, was an den sogenannten
Schwedenkrimis so de ist, an ihrem
sozio- und psychopathischen Personal
und ihren Blutrnstigkeitsexzessen,
mit denen das Publikum gleichermaen
aufgepeitscht wie abgestumpft wird:
Sie folgen den Gesetzen der Fernsehdramaturgie. Das Publikum kann sich
an Effekten hinter Glas erregen und
sich an empathiefreien Emotionen
berauschen. Nichts berhrt, nichts geht
unter die Haut, nichts entfaltet
Wirkung.
Mit Simenon lernt der Mensch sich
und seine Spezies kennen, und das ist
tatschlich aufregend.
mehr Inhalt und neuen

Perspektiven auf Gesellschaft, Politik und Kultur.
Foto: Nikolaus Geyer
Ab dem 20.04. im HAndel!

[email protected] | T (030) 25 90 25 90
Vom Multitalent Wiglaf Droste

erschien zuletzt 2012 Sprichst du
noch oder kommunizierst du
schon? in der Edition Tiamat. Bei
Diogenes kann man ihn als Spre
cher der Romane Der Malteser
Falke und Das groe Umlegen
von Dashiell Hammett erleben,
und als Lyriker in der Anthologie
Mit Gedichten durchs Jahr.
Diogenes Magazin
TAZ_amWE_Diogenes_117x250mm.indd 1
19.03.13 14:04
53
54
Diogenes Magazin
Foto: Fred Herzog
Essay
Donna Leon ber Ross Macdonald
Mein LieblingsKrimiautor
Wie viele Bcher kranken doch daran, dass die Figuren toterklrt sind, noch bevor sie auftreten drfen.
Ganz anders die Kriminalromane von Ross Macdonald, den Donna Leon als Nachfahren von Charles
Dickens verehrt geht es doch im Werk beider Schriftsteller um Geheimnisse, die weit zurckliegen:
Je mehr Lew Archer, Macdonalds brillanter Privatdetektiv, die Gegenwart zu verstehen versucht, desto
energischer streckt die Vergangenheit ihre Hnde nach ihm aus.
Foto klein: Aufnahme aus Santa Barbara, CA; Foto: Bettmann/CORBIS; Foto gross: Julien Chatelin/laif
how, dont tell! Das ist die wichtigste Regel fr Romanschriftsteller. Du sollst keine langwierigen Erklrungen abgeben. Was geschieht, soll
sich aus der Handlung erschlieen. Sag
dem Leser nicht, was fr ein Mensch
eine bestimmte Romanfigur ist: Lass
ihn das Innenleben durch aufschlussreiche Gesten oder Worte erahnen.
Ein Meister dieser Kunst ist Ross
Macdonald. Kaum ein Schriftsteller
lsst seine Leser so beilufig und gekonnt ins Innere seiner Figuren blicken. Raffiniert beschrnkt Macdonald
seine erzhlerischen Kommentare auf
ein Minimum und erlaubt den Figuren
in seinen Bchern, sich selbst oder
den anderen mit Worten zu entlarven,
die sie bald einander entgegenschleudern, bald wie nebenbei fallenlassen.
Fr Krimis gilt eine weitere Regel:
Der Plot soll sich wie ein Pfeil auf sein
Ziel zubewegen. Natrlich kann der
Pfeil mit List und Tcke ein wenig von
seiner Bahn abgelenkt werden und
kleine Umwege beschreiben, doch das

Ziel darf nie aus dem Blick geraten,
stets muss es um die zugrunde liegenden Motive gehen, um den Tter, um
die Aufklrung des Verbrechens.
Auch hierin ist Macdonald mustergltig: Er ist geradezu der Wilhelm Tell
des Plots. Souvern versteht er es, den
Pfeil aus der Bahn zu lenken. Ganz
gleich, was fr Umwege seine Pfeile
machen und wenn sie zwanzig Jahre
brauchen, um ihr Ziel zu erreichen ,
stets treffen sie am Ende ins Schwarze.
Die Literaturkritik ergeht sich in
migen Spekulationen ber die literarischen Vorfahren von Schriftstellern
und weist manchen die sonderbarsten
Ahnen zu. So wurde Homer zum
Grovater nahezu aller, die eine Geschichte in chronologischer Abfolge
erzhlen, und Proust soll durch Jungfernzeugung jeden hervorgebracht haben, der seinen Figuren ins Herz oder
in den Kopf sehen kann. Macdonalds
Stammbaum lsst sich, zumindest was
das Entwerfen von Plots anbelangt, bis

zu Charles Dickens zurckverfolgen.
In Bleakhaus liegt des Rtsels Lsung
zwei Jahrzehnte in der Vergangenheit
zurck; in Groe Erwartungen wird
das Geheimnis um Pips unbekannten
Wohltter erst am Ende des Buchs gelftet, und auch hier geht es um weit
zurckliegende Ereignisse.
Wie Dickens beginnt Macdonald
seine Lew-Archer-Romane mit einem
aktuellen Ereignis: Ein Erbe ist nicht
aufzufinden, ein Testament wird angefochten, ein Erbstck wird gestohlen
Sowie aber Lew Archer den Fall bernimmt, kann man sicher sein, dass der
Pfeil des Plots, auch wenn er von der
Gegenwart in die Zukunft gerichtet ist,
den Weg ber die Vergangenheit nimmt
und das eine oder andere Opfer findet.
Er saust in der Zeit zurck, eine oder
zwei Generationen, bis er auf Ereignisse oder Personen stt, die die Gegenwart nach wie vor unheilvoll berschatten. Goyas Schreckensbilder ein
Diogenes Magazin
55
56
Diogenes Magazin
schwinden eines Gemldes aus ihrem

Haus aufzuklren, fhrt Archer eine
Privatstrae hoch, um mit den Besitzern zu sprechen, Jack und Ruth Biemeyer, und findet sie auf dem Tennisplatz neben dem weitlufigen Anwesen,
wo sie spielen wie Gefngnisinsassen
auf dem Exerzierhof.
Show, dont tell: Das gilt auch fr
die Schilderung der Schaupltze. Da
heit es dann etwa: Wir wanderten
ans andere Ende des Empfangsraums.
Und Mrs. Biemeyer macht einzig folgende Bemerkung, warum ihr das Fehlen des Bildes nicht sofort aufgefallen
ist: Ich komme nicht jeden Tag in diesen Raum. Nur fr den Fall, dass Archer noch immer nicht begriffen hat,
wie reich seine Auftraggeber sind, klagt
Biemeyer: Man wird doch wohl in einem Bau, fr den man vierhunderttausend Dollar hingeblttert hat, irgendwo seine Ruhe haben drfen.
Das Buch spielt 1976, als man fr so
einen Betrag sehr viel grere Huser
Biemeyer bezeichnet seines wohlgemerkt als Bau kaufen konnte als
heutzutage.
Foto: Fred Herzog
Vater, der seine Kinder verschlingt, vergeblich reien sie die Arme hoch, sie
knnen dem Tod nicht entgehen geben eine Ahnung von dem, was Lew
Archer aufdecken wird. Schon oft
hatte ich Flle bearbeitet, die wie durch
Risse im festen Boden der Gegenwart
zu darunter verborgenen Schichten der
Vergangenheit fhrten (1963 in Gnsehaut). Immer wieder werden Archer
aktuelle Flle anvertraut, mit deren Lsung seine Auftraggeber die Hoffnung
auf eine sicherere Zukunft verbinden.
Fast immer jedoch fllt der erste Dominostein in die entgegensetzte Richtung, Richtung Vergangenheit, gefhrdet das Ansehen der Beteiligten und
bringt alte Wahrheiten ins Wanken.
Der Geruch des Todes, den die enthllten Geheimnisse verstrmen, teilt sich
alsgleich der Zukunft mit, und es
taucht eine Leiche nach der anderen
auf.
Ross Macdonald hat so viele gute
Bcher geschrieben, dass die Wahl
schwerfllt, doch Der blaue Hammer
ist wohl sein Meisterwerk. Angeheuert
von einer reichen Frau, um das Ver-
Archer bekommt den Auftrag, das

Bild wiederzufinden, das als ein Werk
von Richard Chantry gilt, einem stadtbekannten Maler, der vor ber zwei
Jahrzehnten verschwunden ist. Die
Tochter der Biemeyers hat ein Verhltnis mit Fred Johnson, einem ewigen
Studenten, der sich leidenschaftlich fr
Chantrys Werk interessiert.
Ein klassischer Macdonald-Anfang:
Eine junge Frau schwebt in Gefahr, ihr
Geliebter hat fragwrdige Motive fr
sein Interesse an ihr, und schon drehen
sich die Zeiger der Uhr um eine Generation zurck. Je mehr Archer die Gegenwart zu verstehen versucht, desto
energischer streckt die Vergangenheit
ihre Hnde nach ihm aus.
Bald stt Archer auf das erste
Mordopfer, einen Mann, der Chantrys
Namen flstert, bevor er stirbt. Warum
aber nennt ein Sterbender Chantrys
Namen, wenn dieser seit Jahren tot sein
soll, und wie kann der Sterbende kurz
vor seinem Tod ein Bild verkauft haben,
das Chantry offenbar erst vor kurzem
gemalt hat?
Die auf dem bewussten Bild portrtierte Frau erweist sich als Mildred
Mead; vor Jahrzehnten haben sich die
Mnner um sie gerissen. Ihre Gegenwart, das Portrt und ihre Abwesenheit
prgen das Buch, viele Mnner erliegen
ihrer starken erotischen Ausstrahlung,
auch Archer, der sympathischerweise
nicht nur eine Schwche fr Frauen hat,
sondern auch deren Strken zu schtzen wei. Als er einer jungen Journalistin begegnet, heit es: Im Vorbergehen lie sie die Luft erbeben. Das
Beben setzte sich in meinem Krper
fort. Und wenig spter finden sie sich
in einem Hotelzimmer wieder. Die Art
und Weise, wie Archer sein Interesse
an Frauen bekundet, mag aus heutiger
Sicht seltsam altmodisch wirken, wobei man sich fragt, wann eigentlich
Bewunderung, Ehrerbietung und Beschtzerinstinkt aus der Mode gekommen sind. Auch sexuelle Handlungen
deutet Macdonald, dem Goldenen
Zeitalter der Kriminalliteratur treu,
zwar an, beschreibt sie aber nicht.
Archer ist kein Fanatiker auf der Suche nach sozialer Gerechtigkeit, kein
Kmpfer fr die Unterdrckten, und
doch schimmert ab und an seine Geis-
teshaltung durch: Hier und da lagen

statt toter Mnner Liebespaare im Gras,
und das war gut so. Vom Scheitern
seiner Ehe spricht er stets mit Bedauern und gibt sich selbst die Schuld daran. Er schildert die Menschen, auch die
schlechten, mit Anteilnahme, mit Verstndnis fr ihre Schwchen, und hat
unendliches Mitgefhl mit denen, die
im Leben den Krzeren gezogen haben. Ebenso deutlich ist seine Verachtung fr die Mchtigen und Hochmtigen, aber auch ihnen erlaubt er, sich
ihr Grab selbst zu schaufeln; er zeigt
sie, wie sie sind, was jeden Kommentar
berflssig macht. Jeden Tag sterben
Menschen, erwidert Jack Biemeyer
auf die Warnung, dass das Leben einer
jungen Frau auf dem Spiel stehe.
Wie bei Dickens rcht sich auch bei
Macdonald am Ende alles. Die Schurken knnen morden und verstmmeln,
so viel sie wollen, ihr Geheimnis
kommt dennoch ans Licht sobald
Archer einmal anfngt, in der Vergangenheit herumzuwhlen, deckt er Tatsachen auf, aus denen sich Vermutungen und Zusammenhnge ergeben, die
am Ende zur Enthllung fhren.
Getragen wird dies von einer Prosa,
deren Eleganz und Dichte jeden
Schriftsteller vor Neid erblassen lassen
muss. Auf jeder Seite finden sich unnachahmliche Formulierungen und
verblffende Bilder. Junge Polizisten
treten in sommerlich heller Kleidung,
aber mit winterlich finsteren Gesichtern auf. In ihren Augen blitzte Interesse auf und jenes berlegenheitsgefhl, das Lgner denen gegenber
empfinden, die sie belgen. Ein Zimmer wirkt nach einer Party vllig verkatert. Die Abendrte breitete sich
ber dem Meer aus wie ein Steppenbrand, der sich vom Wasser zu nhren
vermochte. Fast auf jeder Seite der
Archer-Romane gibt es Beispiele fr
die groe Kunst dieses Schriftstellers.
In Gnsehaut wimmelt es davon: Ein
junger Mann mit ungepflegtem Bart
und rebellischem Blick sah aus wie jemand, der alles verweigert, nicht nur
den Kriegsdienst. Kincaid war ein
verngstigter Mann, dem sein Status so
wichtig war wie frheren Generationen ihr Seelenheil. Man knnte in
Versuchung geraten, ihm solche Wen-
dungen zu stehlen; leider jedoch gehrt diese Prosa so eindeutig ihm, dass
Lew Archer den Diebstahl im Handumdrehen aufklren wrde.
Heutzutage kommt kaum ein Kriminalroman ohne drastische Sex- und
Gewaltszenen und seitenlange Beschreibungen von Obduktionen aus
umso erfrischender ist es dann, einen
Autor wiederzulesen, der wie die alten
Griechen keine Gewalt auf die Bhne
bringt, dessen Interesse nicht der Gewalt als solcher gilt, sondern der Frage,
wie es dazu gekommen ist und wie sie
das Leben all derer zerstren konnte,
die mit ihr in Berhrung kamen.
Hinter jeder Enthllung

verbirgt sich das nchste
Rtsel. Archer aber ermittelt
unerbittlich weiter.
Der blaue Hammer fhrt wie die anderen Lew-Archer-Romane in immer
grere Untiefen, je hartnckiger Archer zu ergrnden versucht, was geschehen ist und warum. Hinter jeder
Enthllung verbirgt sich das nchste
Rtsel, und oft steht am Ende ein Mord.
Ein Mann ist ertrunken, eine Leiche
wird exhumiert, und bei allen mglichen Leuten stellt sich heraus, dass sie
nicht sind, was sie zu sein scheinen
oder schienen. Archer aber ermittelt
unerbittlich weiter, ebenso getrieben
von dem Wunsch, vergangene und aktuelle Ereignisse zu verstehen, wie von
seinem Mitgefhl fr die Menschen,
die von diesen Ereignissen verfolgt und
vernichtet werden. Auf den letzten Seiten des Buchs wird das ganze abscheuliche Gespinst aus Eifersucht, Bosheit
und einer ungesunden Verquickung
von Panik und Habgier, die sich Liebe
nennt, in Fetzen gerissen und enthllt
die monstrsen Formen, die menschliche Schwche annehmen kann. Archer der ungewollt als Racheengel
herhalten musste hat fr die Trmmer dieser Existenzen nur Mitleid brig. Macdonalds Meisterschaft besteht
darin, beim Leser die gleiche Empfindung auszulsen.
Buchtipp

ISBN 978-3-257-30015-4
Lew Archer ermittelt und blickt

in die Abgrnde der amerikanischen
Gesellschaft. Ein Klassiker des
hard-boiled Krimi neu bersetzt,
mit einem eigens fr diese Ausgabe
geschriebenen Nachwort von
Donna Leon.
Der amerikanische Detektiv:
verewigt durch Hammett,
verfeinert durch Chandler, auf
dem Zenit bei Macdonald.
New York Times Book Review
336 Seiten, Leinen

ISBN 978-3-257-06858-0
Nicht nur das Wasser in den Kanlen

der Serenissima ist vergiftet
Ein toter Mann, der von niemandem
vermisst wird. Ein teurer Lederschuh
am Fu der Leiche. Brunetti muss all
seine Menschenkenntnis aufbieten,
um seinen einundzwanzigsten Fall zu
lsen, der ihn bis aufs Festland nach
Mestre fhrt.
Ein tolles, beklemmendes Buch
einer engagierten Tierschtzerin.
sterreich, Wien
Aus dem Englischen von Werner Schmitz

Diogenes Magazin
57
Serie
Lesefrchtchen
Lies viel, vergiss das meiste wieder,
und sei schwer von Begriff!
Michel de Montaigne, Denken mit
Montaigne (detebe 23497). Ein
geschickt von Mathias Ruhtenberg,
Emmendingen
Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht mglich sein,
weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob
der Ort sich selber erdacht htte. Er
ist nur. Sinnlos wie die Wirklichkeit
und unbegreiflich wie sie und ohne
Grund.
Friedrich Drrenmatt, Turmbau:
Das Hirn (detebe 23069). Ein
geschickt von Mirka Machel, Lemgo
Vielleicht muss man Menschen
manchmal aus der Ferne betrachten,
um zu wissen, wie sehr man sie liebt.
Astrid Rosenfeld, Elsa ungeheuer.
Eingeschickt von Annette Pfannenschmidt aus der Buchhandlung
Karmann, Schlchtern
Landleben
ein Lesebuch fr das
Wochenende oder
die Ferien auf dem
Land oder eine
Sehnsuchtslektre
fr alle, die in der
Stadt bleiben mssen.
Der Berg ruft

Schriftsteller schreiben darber, und wir
folgen ihnen. Bergglhen versammelt
die schnsten Berg
geschichten aus
vielen Jahrhunderten.
Wanderlust ldt ein,

ber das Wandern
zu lesen, in allen
Facetten: als Natur
erlebnis oder Pilgergang, aber auch als
Spaziergang oder
Flanieren in der Stadt.
58
Diogenes Magazin
Es gibt nichts Glcklicheres als die

Arbeit. Und Liebe, gerade weil sie das
uerste Glck ist, kann nichts anderes als Arbeit sein. Wer also liebt, der
muss versuchen, sich zu benehmen, als
ob er eine groe Arbeit htte: Er muss
viel allein sein und in sich gehen und
sich zusammenfassen und sich festhalten; er muss arbeiten; er muss etwas
werden! Rainer Maria Rilke
Und wenn du ein Buch magst,

dann merk dir einen groartigen Satz
daraus vielleicht deinen Lieblingssatz. So kannst du dir merken,
wie die Geschichte geklungen hat,
die dich zu Trnen gerhrt hat.
John Irving, In einer Person
(Diogenes Hardcover). Eingeschickt
von Florian Benedikt Schraml,
Untermeitingen
Das Leben muss noch kommen. Es
wird mir sitzen wie angegossen, wie
ein Brautkleid, das mir der allerbeste
Schneider auf den Leib geschneidert
hat.
Arnon Grnbergs, Der Heilige des
Unmglichen (detebe 24097).
Eingeschickt von Berit Kaufmann,
Hamburg
Du redest davon, dass du ein Buch

schreiben willst, aber am Ende kaufst
du dir lieber den Porsche
Woody Allen als Ike in Manhattan
(detebe 20821)
Zweifeln Sie am Leben? Fragen Sie

sich, ob es berhaupt der Mhe wert
ist? Schauen Sie in den Himmel: Er ist
fr Sie da. Schauen Sie jedem Menschen auf der Strae ins Gesicht: Diese Gesichter sind fr Sie da. Und die
Strae selbst, der Erdboden unter der
Strae und die glhende Kugel aus
Feuer unter dem Erdboden: All diese
Dinge sind fr Sie da.
Miranda July, Zehn Wahrheiten
(detebe 23938). Eingeschickt von
Franz Sieber, Bad Abbach/Peising
Absinth macht blind, sagt meine

Frau. Wie Liebe. Aber bei der Liebe
findet man erst den Rckweg nicht
mehr, mit Absinth verluft man sich
schon auf dem Hinweg.
Urs Widmer, Liebesnacht (detebe
21171). Eingeschickt von Iris Treiber,
Karlsruhe
Schicken Sie uns bitte Ihre Lieblings

stze aus einem Diogenes Buch.
Jedes verffentlichte Zitat wird mit
einem Bcherpaket im Wert von
50. honoriert. Bitte per E-Mail
an [email protected] oder auf einer
Postkarte an: Diogenes Magazin,
Sprecherstr. 8, 8032 Zrich, Schweiz
Illustration links: Carl Moos; Illustration oben: Tomi Ungerer
Bcher fr jeden
Rucksack
Das Diogenes Magazin gibt es

nicht am Kiosk, sondern nur im
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bequem frei Haus.
Das neue
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Kulturmagazin
Diogenes
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Das Diogenes Magazin erscheint 3 im Jahr (Januar/Mai/September)

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Datum/Unterschrift
Diogenes Magazin
59
Ein Autor Eine Stadt
Hamburg
mit Friedrich
Dnhoff
Fr viele Hamburger gilt: entweder westlich oder stlich der Alster.
Friedrich Dnhoff ist ein Westler, das zeigen diese Tipps. Sein Ham
burg liegt zwischen St.Pauli und Grindelviertel. Auch Seeluft, sein
neuer Krimi, spielt in der Hansestadt: Am Fischmarkt, direkt an der
Elbe, ist die Leiche eines Reeders gefunden worden ein Krimi, der
nach Meer riecht. Ein Fall fr Kommissar Sebastian Fink.
ISBN 978-3-257-30013-0
Harrys Hafenbasar
Erichstrae 56
20359 Hamburg
Telefon: +49 171 4969169
Uebel und Gefhrlich

Im Krieg rannten die Hamburger zum Hochbunker und suchten
hinter meterdicken Wnden Schutz vor den Bomben. Heute strmt
das amsierschtige Volk herein, um das Leben zu feiern. Der Musik
club Uebel und Gefhrlich befindet sich im obersten Stockwerk;
das Programm reicht von Techno ber Jazz bis zu Singer-Song
writer-Konzerten. Ballsaal, Turmzimmer und Erker bieten Platz fr
1000 Gste; von der Dachterrasse gibt es einen wunderbaren Blick
auf Hamburg, der nach einer durchtanzten Nacht, wenn die Sonne
aufgeht, am schnsten ist. Diesen Ort habe ich als Schauplatz fr
eine wilde Partynacht gewhlt, an der Kommissar Sebastian Fink in
dem Buch Der englische Tnzer teilnimmt.
Feldstrae 66
20359 Hamburg
Telefon: +49 157 38276469
60
Diogenes Magazin
Foto oben: Marvin Zilm; Foto Mitte: privat; Foto unten: privat; Foto unten klein: picture alliance/Jazz Archiv/Michael Reimers
Seit ber 800 Jahren landen Seefahrer aus aller Welt in Hamburg.
Vieles von dem, was sie aus der Ferne mitgebracht haben, ist hier
versammelt: in Harrys Hafenbasar, gegrndet vor Jahrzehnten vom
Seemann Harry Rosenberg, und zwar als Tauschbrse. Der wunder
same Basar hat sich inzwischen zu einem verwinkelten Labyrinth
ausgewachsen. Damit niemand verloren geht, weisen Pfeile auf
dem Boden den Weg durch dieses Durcheinander aus verstaubtem
Nippes und finsteren Kuriositten. Ein Rundgang kann viele Stun
den dauern wenn man sich die Zeit nimmt, den Geschichten aus
fernen Kulturkreisen nachzuspren. Achtung: Wer Angst vor Voo
doo-Puppen, Schrumpfkpfen und riesigen Spinnen hat, sollte lie
ber drauen bleiben.
Kunstkiosk
Im Kunstkiosk in St. Pauli verkaufen Knstler ihre kleinen und gr
eren Werke, die nicht nur schn zum Ansehen sind, sondern meist
auch einen praktischen Nutzen haben: handgenhte Handyta
schen, kleine Wundertten zu Themen wie Glck, Freunde, Liebe;
buntbedruckte Fahrradsattelschoner, seltsame Feuerzeuge hun
derte Sachen, die alle eines gemeinsam haben: Sie sind liebevoll
gestaltete Unikate in limitierter Auflage, die in keinem Kaufhaus
und keinem Souvenirshop zu finden sind. Das Sortiment wandelt
sich stndig. Ich komme regelmig vorbei, denn hier ist der Blick
auf die Welt immer neu, oft komisch und das macht gute Laune.
Paul-Roosen-Strae 5
22767 Hamburg
Telefon: +49 40 37429522
Planten un Blomen
Foto oben: privat; Foto Mitte: Mauritius images/ib/dbn; Foto Mitte klein: Berndt Andresen/Planten un Blomen 2012; Foto unten: privat
Wie ein langer bunter Teppich zieht sich der Park entlang der alten
Wallanlagen von der Alster fast bis zur Elbe. Hier gibt es zahlreiche
versteckte Winkel, in denen man ganz allein sein kann, umschlos
sen von dichtem Grn. Nach mhseliger Arbeit am Schreibtisch
erhole ich mich hier rasch. Mit der wandernden Sonne verndern
sich das Licht, die Farben und die Eindrcke, was etwas Magisches
hat. Viele Eingnge fhren in den Park, aber egal, wo man wieder
rauskommt man hat das Gefhl, etwas ruhiger und vielleicht so
gar ein wenig klger geworden zu sein.
St.Petersburger Strae 28
20355 Hamburg
Telefon: +49 40 42854
Caf Leonar
Am frhen Morgen ist das Caf ein beschaulicher Ort, in dem nur
die Anwohner zu verkehren scheinen. Eine Handvoll Menschen, die
hier still sitzen, vertieft in die Lektre der Zeitungen oder in eines
der Bcher, die fr die Gste im Regal bereitstehen. Spter fllt sich
der Raum, es wird gesprochen, diskutiert, gelacht, und am Abend
gibt es Lesungen oder Musik. Vielleicht ist es die Atmosphre eines
Jdischen Salons, die hier herrscht. Und genau so war es gedacht,
als die Betreiber 2007 das Caf Leonar erffneten. Das Restaurant,
das kstliche jdische Spezialitten anbietet, ist vorzglich. Und
nebenbei erwhnt: Der Kaffee ist der beste in der Stadt.
Grindelhof 87
20146 Hamburg
Telefon: +49 40 41353011
Diogenes Magazin
61
Vorschaufenster
Kino&DVD
Nagy. Mit Mia Wasikowska und Cate
Blanchett. Kinostart: 2014.
Martin Walker. Gnter Schilhan drehte die 45-mintige Fernsehdokumentation Martin Walker Mein Prigord.
Produktion ORF/3sat, 2012. Seit
Ende Mrz 2013 auf DVD in der 3satEdition erhltlich. Auerdem jetzt
auf DVD: Am Ende eines langen
Tages nach dem Roman Superhero von
Anthony McCarten und die AnnaKarenina-Verfilmung von Joe Wright,
mit Keira Knightley und Jude Law.
Gewonnen haben
men. Mit Hannelore Elsner und Nadja
Uhl in den Hauptrollen.
Patricia Highsmith. Die Dreharbeiten fr Carol/The Price of Salt sind
fr Frhjahr 2013 angesetzt. Regie:
John Crowley. Drehbuch: Phyllis
Ausstellungen
Tomi Ungerer. Anlsslich des
50.Jahrestags des Elyse-Vertrags
(22.1.2013) prsentiert die Ausstellung
Vom Duell zum Duo Werke von
deutschen und franzsischen Kari
katuristen wie F.K.Waechter und
Tomi Ungerer. Museum Tomi Ungerer,
Straburg, 12.4. bis 14.7.2013.
Chaval, Paul Flora, Jean-Jacques
Semp. Unter dem Titel Stauber
revisited werden 80 Originale Jules
Staubers ergnzt mit Zeichnungen von
Zeitgenossen wie Paul Flora, Chaval
und Semp. Cartoonmuseum Basel,
bis 26.5.2013.
so leben sie noch heute 200 Jahre
Kinder- und Hausmrchen der
Brder Grimm. Museum Strauhof,
Zrich, bis 9.6.2013.
Saul Steinberg. The Americans.
Ausgestellt werden seine Wandarbeit,
die als Collage fr die Weltausstellung
in Brssel 1958 entstand, sowie thematisch verwandte Zeichnungen und
Illustrationen. Museum Ludwig,
Kln, bis 23.6.2013.
Paul Czanne. Die Ausstellung
Wolken. Welt des Flchtigen
62
Diogenes Magazin
widmet sich den verschiedenen

Darstellungsweisen der Himmels
gebilde. Unter anderem mit Werken
von Paul Czanne. Leopold Museum,
Wien, bis 1.7.2013.
Pablo Picasso. Groe Retrospektive
Die Picassos sind da! mit Werken aus
den Bestnden des Kunstmuseum
Basel, der Fondation Beyeler und
Basler Privatsammlungen.
Kunstmuseum Basel, bis 21.7.2013.
Wilhelm Busch, Loriot, Ronald
Searle, Tomi Ungerer und
F.K.Waechter. Zum Museums
jubilum werden unter dem Titel
75 Jahre Wilhelm Busch Deutsches
Museum fr Karikatur und Zeichenkunst 200 Werke aus dem hauseigenen Bestand in Hannover ausgestellt, bis 29.9.2013.
Niklaus Meienberg. Eine Ausstellung
anlsslich des 20. Todestages (22.9.2013)
Warum Meienberg? Pourquoi
Meienberg? im Kulturraum am
Klosterplatz, St. Gallen, 16.8. bis
29.9.2013, anschlieend in der Zentralund Hochschulbibliothek Luzern,
26.11.2013 bis 15.1.2014.
Schreibtisch-Gewinnspiel aus dem Diogenes Magazin Nr. 11: Den Hauptpreis,

Gefhrliches Spiel Commissario Brunetti ermittelt von Ravensburger zusammen mit den 18 Sonderbnden 20
Jahre Commissario Brunetti, hat Michael Graf aus Neubeuern gewonnen.
Je 1 x Gefhrliches Spiel haben gewonnen: Susanne Wartenberg aus Umkirch,
Adamidis Demetrious aus Reutlingen,
Erika Lohe aus Zrich, Gottfried Lenk
aus Plauen, Karl Sonderegger aus
Urdorf, Maika Tarja von Weihe aus
Ritterhude und Brigitte Stettler-Tett
aus Bern.
Herzlichen Glckwunsch!
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21.03.2013
14:31
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SINN UND FORM

Herausgegeben von der
Akademie der Knste
NIKE WAGNER Wagner feiern? FRIEDRICH DIECKMANN Wagner und

kein Ende WOLF LEPENIES Peter Wapnewski und das Wissenschaftskolleg
I. M. LANGE Mein Freund Walter Benjamin WOLFGANG GRAF VITZTHUM
Stefan George und die Demokratie MARTIN MOSEBACH Stefan Georges
Religion HEINZ SCHLAFFER Das Panorama der Irrtmer. Flauberts
Versuchung des heiligen Antonius JRG MAGENAU Gesprch mit PTER
NDAS KORNELIA KOEPSELL Bei den Schalmeken W. SOMERSET
MAUGHAM Betrachtungen ber ein gewisses Buch KLAUS FERENTSCHIK
Miniaturen aus Kalininberg & Knigsgrad ELMAR JANSEN BarlachTheater und Suhrkamp-Kultur GEORG KLEIN Niedersachse auf Zeit
PEDRO KADIVAR Landschaften des Exils
Heft 2/2013 fr 9 Zwei Probehefte fr 10

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Illustration: Bosc
F. Scott Fitzgerald. Seit dem 16.5.2013

im Kino: 3D-Verfilmung von Der
groe Gatsby mit Leonardo DiCaprio,
Tobey Maguire, Carey Mulligan. Regie
und Drehbuch: Baz Luhrmann.
Franoise Dorner. Sandra Nettelbeck
fhrte Regie und schrieb das Drehbuch bei der deutsch-belgischen
Adaption von Die letzte Liebe des
Monsieur Armand/Mr. Morgans
Last Love. Mit Michael Caine,
Clmence Posy, Gillian Anderson.
Kinostart: Juli 2013.
Die Dreharbeiten zur Verfilmung
von Martin Suters Roman Der Koch
beginnen Ende August 2013. Regie:
Ralf Huettner. Drehbuch: Ruth Toma.
Kinostart: 2013/2014.
Doris Drrie hat zu ihrem Roman
Alles inklusive eine Drehbuchfassung
entwickelt und wird diese als Regisseurin im Sommer 2013 selbst verfil-
Schreibtisch
Wer
schrieb
hier?
Fotos: Diogenes Archiv
ein Leben ist in Perioden von

fnfzehn Tagen eingeteilt. In jeder Periode wird ein ganzer Roman
verfasst. So hat der gesuchte Autor
einmal sein Schreiben, also sein Leben,
beschrieben. Rot markierte Tage auf
seinem Wandkalender galten dem
Schreibprozess, blaue der berarbeitung. Smtliche seiner verffentlichten
Bcher aufzulisten wrde diese Rubrik
sprengen. So sei blo gesagt, dass er
nicht nur immer, sondern auch berall
schrieb: auf Reisen, vor allem in Hotelbadezimmern (der stillste Ort berhaupt, wie er sagte), an seinen Wohnorten in Europa und bersee, aber
auch an Bord seines Bootes Ginette
dort schrieb er den ersten Roman
um seine berhmteste Figur, einen passionierten Pfeifenraucher. Auch unser
Autor war Raucher, der seine Rauchebenso wie seine Schreibutensilien
pflegte: Jeden Tag spitzte ich meine 60
Bleistifte Diese Arbeit machte mir
genauso viel Spa wie das Schreiben.
Gewinnspiel
Schicken Sie die Antwort bis zum
30. September 2013 per Post oder
per E-Mail (gewinnspielmagazin@
diogenes.ch) an: Diogenes Verlag
Gewinnspiel Wer schrieb hier?
Sprecherstr. 8 8032 Zrich Schweiz
Wir verlosen zehn Mal die DVD-Box

Donna Leon Krimi Collection,
die 16 Filme enthlt. Als Hauptpreis
zusammen mit einem 250-EuroDiogenes-Bchergutschein.
Lsung Diogenes Magazin Nr. 11:
Jean-Jacques Semp
Diogenes Magazin
63
Mag ich Mag ich nicht
Laura de Weck
Vorschau
Das nchste Diogenes Magazin
erscheint Ende September 2013.
Auf dem Cover: Paulo Coelho, der
Literaturstar aus Brasilien Gastland
der Frankfurter Buchmesse 2013.
Biographie ein Spiel?
Urs Widmer, Leon de Winter, Erich
Hackl und Connie Palmen zeigen
ganz unterschiedliche Mglichkeiten,
ber sich selbst zu schreiben.
Auerdem: Donna Leon ber
die Geheimnisse der venezianischen
Gondel, Grandios-Unbekanntes
von Loriot, Ian McEwan ber
den Glauben an die Literatur
und vieles mehr.
Mag ich:
Mag ich nicht:
Spielen. Berauschende Mdigkeit.

Menschen. Harmonie ohne Langeweile. Sprache. Sinnstiftendes.
Heimat. Geheimnisse. Gschprtzte
Wysse. Drama (im Theater). Langfristiges Denken. Leute, die schnell
essen. Lust. Mittendrin sein. Einen
Tag fr mich haben. Schnee. Ferien
machen. Tun. Frische Wsche.
Kunst. Vorfreude. Silvester feiern zu
mssen. Adrenalin. Rennen. Sich
freuen, weil andere sich freuen, ohne
zu wissen, warum.
Verlieren oder gewinnen. Lhmende

Mdigkeit. Tiere. Aus Langeweile
Streit. Bse Blicke. Heiliges. Tourist
sein. Verrat. Kaffee. Drama (im Leben). Kurzsichtiges Handeln. Geizig
belegte Sandwiches. Tod. Anfangen
und beenden. Einen Abend fr mich
haben. Klte. Ferienerzhlungen.
Erklren, weshalb ich etwas tue.
Nichtraucherbars. Kunstkacke. Enttuschung. Die Schuhe ausziehen
zu mssen, wenn man in eine Wohnung reinkommt. Angst. Fliegen.
Verrgert sein, weil andere sich ber
etwas rgern, und somit ber sich
selbst verrgert sein, weil man sich
ja nun auch rgert und damit verrgerter ist als alle anderen.
Nr.14
Herbst 2014
Diogenes
Magazin
Paulo Coelho
der Literaturstar aus

Brasilien
Biographisches Erzhlen
Urs Widmer, Leon de Winter,
Erich Hackl und Connie Palmen
erzhlen aus ihrem Leben
Loriot
Sptlese. Unbekannte Zeichnungen
und Einblicke in sein Gstebuch
Ian McEwan
und sein Glaube an

die Literatur
4 Euro / 7 Franken
783257 850147
Im nchsten Magazin:
Leon de Winter
64
Diogenes Magazin
Foto by Gunter Glcklich www.guntergluecklich.com
Lieblingsmenschen ist ein

groartiges Stck, befand
Wolfgang Hbel im Spiegel.
Nun erscheint das erste Stck
vom Riesentalent und
Schweizer Versprechen fr die
Theaterzukunft (Das Magazin,
Zrich) als Diogenes Taschen
buch. Und Laura de Weck
schreibt nicht nur rasante
Theaterstcke ber Phnomene
des Zeitgeists und scheiternde
Kommunikation, sie ist auch
Kolumnistin beim Zrcher
Tages-Anzeiger und steht selbst
immer wieder als Schauspiele
rin auf der Bhne.
Man munkelt
Als Jugendlicher war Daniel Keel, der 1952 im
Alter von nur 23 Jahren den Diogenes Verlag grn
dete, in seinem Innerschweizer Heimatort Ein
finder
siedeln Redakteur der lokalen Pfad
zeitung Haarus. Die beliebteste Rubrik der
Zeitschrift, die der junge Redakteur hchstper
snlich schrieb, hie Man munkelt. Hier wur
den Interna aus der Pfadfindergruppe Einsiedeln
ausgeplaudert. Diese Tradition fhren wir nun im
Diogenes Magazin fort, versteckt hinter dem Lese
zeichen auf der letzten Heftseite. Denn die Indis
kretionen, die hier ausgeplaudert werden, sollen ja
nicht von jedem gelesen werden.
Old School
497
Druckauftrge im Jahr 2012
Die Diogenes Herstellungsabteilung,
von Res Schenk geleitet, hat mit tat
krftiger Untersttzung von Monika
Boss, Peter Frei, Karin Sirera und Vera
Zger 2012 ganze Arbeit geleistet: 497
Druckauftrge wurden vergeben, das
heit 497 Mal wurde (vor allem in
Deutschland) eine Druckmaschine fr
Diogenes in Bewegung gesetzt, um
Bcher zu produzieren. Wobei die
Auflagen bei den fast 500 Titeln
unterschiedlich ppig ausfallen: von
Kleinstauflagen von 500 Exemplaren
im Digitaldruck, um wenig nachge
fragte Juwelen aus der Backlist liefer
bar zu halten, bis zu Startauflagen von
200000 Exemplaren fr neue Roma
ne der Bestsellerautoren Paulo Coel
ho, Donna Leon oder Martin Suter.
Illustration oben links: Paul Flora; Illustration links: Tomi Ungerer; Foto unten Mitte: Benedict Wells; Illustration unten Mitte: Chaval; Fotos Mitte oben: Daniel Kampa/Diogenes Verlag; Foto rechts: Martha Schoknecht/Diogenes Verlag
Schullektre
Tomi Ungerers Kinderbcher sind

auch Schullektre, zum Beispiel die
Geschichte von Teddybr Otto, der
einen Weltkrieg berlebt. Die herzer
greifende Parabel ber Toleranz und
Freundschaft wurde krzlich in einer
franzsischen Grundschule gelesen.
Die Lehrerin bat alle Kinder, dem Au
tor zu schreiben, was sie daran am
meisten beeindruckt hat. Tomi Unge
rer freute sich besonders ber den
Brief eines neunjhrigen Jungen: Die
nackten Frauen auf den Bildern auf
der letzten Seite des Buchs.
ruch des Papiers. Und ich liebe alte

Buchhandlungen. Vielleicht wird das
alles irgendwann digitalisiert und ver
schwunden sein, aber dann will ich
mich sehr dagegen gewehrt haben.
Der mehrmals gelesene Roman mit
Eselsohren, hineingekritzelten Be
merkungen und dem Kaffeefleck auf
der Titelseite erzhlt jedenfalls selbst
eine Geschichte, er ist wie ein alter
Freund. Ein E-Book dagegen bleibt
immer nur eine Datei.
Wie lautet noch gleich die be
rhmte Einleitung der Asterix-Hefte:
Wir befinden uns im Jahre 50 v.Chr.
Ganz Gallien ist von den Rmern be
setzt Ganz Gallien? Nein! Ein von
unbeugsamen Galliern bevlkertes
Dorf hrt nicht auf, dem Eindringling
Widerstand zu leisten.
Um den widerspenstigen jungen
Autor zum E-Book zu bekehren, fuh
ren Mario Schmuki und Daniel Kam
pa (links) vom Verlag nach Barcelona.
Die Verhandlungen, die genau 90 Mi
nuten dauerten, wurden im Stadion
des F.C. Barcelona im Camp Nou
gefhrt leider ergebnislos.
E-Books
Inzwischen gibt es ber 260 Diogenes
Titel auch als E-Books, und jeden
Monat werden es mehr. Doch ausge
rechnet vom jngsten Diogenes Au
tor Benedict Wells (*1984) gibt es
keine E-Bcher, denn er weigert sich,
dass seine Romane wie Becks letzter
Sommer und zuletzt Fast genial auf
dem Bildschirm gelesen werden: Fr
mich sind Bcher mehr als nur der
Text. Gerade die Diogenes Romane
mit ihren weien Covern und dem
wunderbaren Leineneinband vermit
teln mir ein Gefhl der Vorfreude, das
ich als Leser nicht missen will. Ich
liebe das gedruckte Buch, das man
aufklappen und umblttern kann, das
man an den Strand mitnimmt oder
nach Jahren auf dem Dachboden wie
derfindet. Ganz abgesehen vom Ge
Lckenbsser
Die Zahl
Personalgesprche
Immer schon habe ich jene lockeren

Dichter bewundert, die mit den Ma
nuskripten ihrer Meisterwerke, von
denen sie keine Kopien besaen, un
bekmmert U-Bahn fuhren oder
Sauftouren durch Vorstadtkneipen
veranstalteten. Natrlich waren die
Manuskripte dann weg. So be
ginnt Urs Widmers Erzhlung Das
Paradies des Vergessens, die er 1990
seinem Verleger Daniel Keel widmete.
Ein Manuskript verloren hat Urs
Widmer noch nie whrend seiner
schriftstellerischen Laufbahn, die 1968
mit Alois begann. Und das, obwohl er
genau wie die Dichter in seiner Er
zhlung ziemlich entspannt mit sei
nen Manuskripten umgeht: Widmer,
der immer noch eine Schreibmaschine
benutzt, pflegt die schne Tradition,
dem Verleger hchstpersnlich sein
Manuskript zu berreichen, von dem
es nie eine Sicherheitskopie gibt. Zum
Glck wohnt er nur drei Straen vom
Verlag entfernt. Jahrzehntelang hat
Widmer Daniel Keel sein jeweils neu
es Manuskript gebracht; im Mrz nun
berreichte er Philipp Keel seinen au
tobiographischen Roman Reise an
den Rand des Universums, der im
Herbst bei Diogenes erscheinen wird.
Auf dem Foto wird Urs Widmer bri
gens von Susanne Dorn, der langjh
rigen Assistentin von Daniel Keel,
heute Assistentin von Philipp Keel,
begrt.
Rudolf C. Bettschart (RCB), gemein

sam mit Philipp Keel Verleger des
Diogenes Verlags, im Dialog mit Ruth
Wlti (rw), die in diesem Herbst ihren
80. Geburtstag feiert und seit 35 Jah
ren fr Diogenes arbeitet zunchst
im Vertrieb angestellt fr die Lager
buchhaltung, heute fr die Postzu
stellung im Verlagshaus zustndig.
Zrich, 1993, rw wird 60.
RCB: Du kannst hier arbeiten, bis
du 70 bist.
RCB: Dir geht es doch gesund
heitlich gut, mach einfach weiter, bis
du 80 bist.
rw: Ich arbeite bis Ende Oktober,
dann werde ich 80.
RCB: Wieso denn? Dann bleibst
du jetzt halt, bis du 90 bist. Sind wir
uns einig?
Ad infinitum
Herzlichen Glckwunsch, liebe Ruth
Wlti, und vielen Dank fr alles!
Diogenes: Immer eine gute Adresse fr

anspruchsvolle und spannende Unterhaltung.
Sddeutscher Rundfunk, Stuttgart
Foto Andersch: Mario Max/Diogenes Verlag; Foto Drrenmatt: Jutta Engel/Stadtarchiv Stadt Schweinfurt; Foto Highsmith: SLA Bern; Foto Roth: IMAGNO/Gerhard Trumler; Foto Ringelnatz: Bernd Schlsselburg, Stadt Cuxhaven; Foto Tucholsky: privat; Foto Balzac: Ignatius Wooster/Fotolia.com; Foto Chandler: Brian Williams

Diogenes Magazin Nr.13

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Nr.

Spannung mit Stil

Reportagen, Weltgeschehen im Kleinformat.

Foto Titelseite: Gaby Gerster/ Diogenes Verlag; Illustration: Posy Simmonds

Ich hatte es zu fast vollkommener Gleichgltigkeit im

Ersatz fr das leidige

Im Juli und August

Ein kleiner Reisefhrer von

Foto links: Atout France; Foto rechts: Roger Eberhard

Zum Tee berraschte Carlos Allmen

Diogenes Magazin Nr.13

Ein neues Autorenduo: Jelena Voli

Wie Der groe Gatsby 20

Mario Vargas Llosa 24

Top 20 Brunos Lieblingssongs 34

Denken mit Friedrich Hebbel 48

Wer schrieb hier? Gewinnspiel

Ein Autor Eine Stadt

Mag ich Mag ich nicht 64

Foto: Gaby Gerster/ Diogenes Verlag

Wie sein Held, Johann Friedrich

tigt hat. Das Raffles. Hat Ihre Reise

Es scheint Sie zumeist in die Ferne zu

Gibt es Orte, die Sie

Sind Sie in den Ferien aktiv, oder

Am liebsten schreibe ich unterwegs

Foto: Gregor Hohenberg Photography

Der groe Schauspieler Sebastian

tin Suter haben diesen Humor. Ich

Na ja (lacht), Martin Suter, immer wieder.

Ich sollte abends kein

geht gar nicht. Das gilt brigens

er Himmel hing tief ber dem

derwahl ist eine intuitive Entscheidung

schwerelos zu den oberen Etagen emporschwang. Die junge Rezeptionistin

Foto: DOMUSimages Alexander Rudolph

den menschenleeren Strand. Die

te er hier noch drei melancholische

Sie sind ein Detektiv?

Sie sind ein Detektiv?

Tenz nickte. Deshalb sage ich:

Es ist nicht, was Geld

Mdaillon de foie gras lancienne,

Allmen gab keine Antwort.

Tenz trank den letzten Schluck aus

Alles ber Allmen:

224 Seiten, Leinen

Mit dem Diebstahl von fnf

Im zweiten Fall wird es fr

Aus dem Duo ist ein Trio

Das Blatt von

Diogenes: Verlag des Jahres

3:2 fr Paulo Coelho

Auch bei einer Wahl, bei der nicht das

Habemus librum: Liebe Kolleginnen

Die Zeitschrift der Kultur

288 Seiten, Leinen

Elsa ist starrkpfig, widerspenstig, verletzlich und manchmal

Francis, achtzehn, wohnt mit

Ein Sommer in Spanien, nach

1) Franois Villon Karl May