Hannah: Das Böse ist unendlich
Von Jan Trouw
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Über dieses E-Book
Jan Trouw
In den Geschichten von Jan Trouw geht es düster und skurril zu. Er versetzt seine Leser gern in Angst und Schrecken. Dabei schlägt der Autor im realen Leben eher ruhige Töne an. Er trällert gern seine Lieblingssongs, schaltet in der Natur einen Gang runter und hat eine Vorliebe für Baseball.
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Buchvorschau
Hannah - Jan Trouw
www.jantrouw.de
Instagram: @jantrouw.writer
Erschreckend ist, dass
Drachen, Monster, Geister und Dämonen
nur erfunden sind –
der Mensch hingegen real.
-Jan Trouw-
Inhaltsverzeichnis
Videoaufzeichnung HanSol-1952-013
Die Welt ist grausam
Die Insel in Greenwood
Der Ort verändert sich
Der Mississippi
Die Journalistin
Mr. Aden
Zeugenaussage: Schuldirektor Tanner
Lincoln Memorial
Zeugenaussage: Trevor Banks
Greenwood
Üben, üben, üben
Zeugenaussage: Trevor Banks
UFO-sation
Die Komplizen
Zeugenaussage: Mr. Aden
St. Louis
Der Köder
Die Eintrittskarte
Die Fahrt ins Ungewisse
Zeugenaussage: Mr. Pukowski
Isolation
Das Erwachen
Die ersten Schritte in der neuen Welt
Der Beauty Shop
Patientenakte Hannah HS-1952-01
Patientenakte Hannah HS-1952-01
Baseball
Die erste Nacht im Trakt
Ein neuer Tag
Der Generalschlüssel
Zeugenaussage: Mr. Pukowski
Im Trakt
Gestatten, Inspektor Garnier
Greenwood
Wie geht es uns heute?
Patientenakte Hannah HS-1952-01
Priscilla
Zurück im Hotel
Der Hauptverdächtige
Zeugenaussage: Mr. Pukowski
Auf der Wache in St. Louis
Ausnüchterungszelle
Hannah: Die zweite Nacht
Kaffee?
Der Besuch
Der Anruf
Beim Sheriff
Das Tonbandgespräch
Die Brandruine
Zeugenaussage: Trevor Banks
Video HS-1952-002
Schmerz
Die Hand mit dem Lächeln
Was ist real, was nicht?
Der Empfang
Doktor Friedgeist
Ab in die Höhle
Die Lehrstunde
Betty
Beim Sheriff
Der Abgang
Incendium
Winterliches Greenwood
Videoaufzeichnung HanSol-1952-013
Ich weiß nicht, was erschreckender ist. Die Tatsache, dass Menschen zu so etwas in der Lage sind und dies auf einem Film festhalten, oder die Tatsache, dass Menschen sich solch einen Film anschauen (können).
So wie ich damals.
Das Abspielen der stummen Schwarzweißaufnahme erzeugte ein lautes und monotones Knattern, welches den leeren Vorführraum füllte.
Am Anfang stellt die Kameralinse die Schärfe ein und erfasst dabei eine junge hübsche Frau mit kurzgeschorenen Haaren und einem Klebestreifen über dem Mund. Die Achtzehnjährige sitzt in der Ecke eines kahlen Raumes, gefesselt auf einem Stuhl. Sie trägt nichts weiter als einen Slip. Ihr Körper ist mit Flecken übersäht. Ob blaue Flecken oder Blut verrät die Schwarzweißaufnahme nicht. Ihr Erscheinungsbild macht deutlich, welche Tortur sie erleidet; und zuvor erleiden musste.
Stunden.
Tage.
Hinter den Augäpfeln, die apathisch in die Kamera blicken, ist keine Regung zu erkennen.
Ein Mann in einem weißen Kittel und mit lichtem Haar taucht vor der Kameralinse auf, geht auf die junge Frau zu und gleitet mit seiner Hand über ihre glatten Beine, dann weiter bis zu ihrem Slip, um dort zu verweilen. Der Auftrag des Mannes sollte es sein, Menschen zu helfen. Doch er scheint seine Mission aus den Augen verloren zu haben. Oder er hat sich einer Neuen verschrieben. Statt ärztlicher Fürsorge spielt er seine Macht eiskalt aus.
Die gequälte Seele hinter den glasigen Augen verkriecht sich, die Augenlider fahren herunter. Wer weiß, ob die Frau bei Bewusstsein ist, wer weiß, ob sie miterlebt, was ihr gerade widerfährt.
Als der Klebestreifen vom Mund gerissen wird, zeigt sie keine Regung. Selbst wenn sie geschrien hätte, die Kamera wäre nicht in der Lage gewesen, den Schrei einzufangen. Stattdessen nur das monotone Knattern der sich abmühenden Filmrolle in meinen Ohren. Wer weiß, ob ihr überhaupt jemand zur Hilfe geeilt wäre?
Die Hemmschwelle des Schänders sinkt. Seine Hand fährt weiter über den verführerischen Körper der jungen Frau, streichelt ihr Gesicht, ihre Haare, knetet ihre festen Brüste. Dann greift er zur Schere, die mit anderen folterähnlichen Instrumenten auf einem Beistelltisch liegt, und schneidet den Slip an der Seite auf.
Seine Hand kreist zwischen den Schenkeln des Opfers hin und her. Der Kittel, der als Symbol für Lebensrettung und Genesung steht, ein Stück Stoff, den Menschen tragen, die als weiße Engel gefeiert werden, fällt zu Boden. Das bloße Berühren der Frau reicht ihm nicht mehr.
Bei Beginn der körperlichen Vereinigung schaltete ich den Film ab. Die regelmäßig vor sich hin knarrende Filmrolle blieb nach einem Klacken stehen. Ich hatte genug gesehen, unabhängig davon, was noch folgen sollte. Auf dieser Aufnahme war die Frau der Engel, dem Peiniger schutzlos ausgeliefert. Für den Mann fallen mir keine passenden Worte ein – bis heute.
Regungslos in die Leere starrend, saß ich eine Zeit lang auf dem Stuhl. Erschreckend zu wissen, zu was der Mensch in der Lage ist, denn der Film war kein Spielfilm, sondern eine Aufzeichnung aus einer Anstalt in Illinois. Der Name der jungen Frau: Hannah Soldtobury.
Ich nahm die Filmrolle heraus und packte sie in einen amtlich nummerierten Karton, in dem sich weitere Beweismittel befanden. Das Durchsichten dieser war erdrückend: Hannahs Patientenakte, Videoaufzeichnungen, auf denen sie misshandelt wurde, Tonbandaufzeichnungen mit Gesprächen zwischen dem Doktor und ihr sowie Aussagen von Augenzeugen. Während dieser Zeit habe ich einiges über Hannah erfahren.
Obwohl der Fall mittlerweile abgeschlossen und der Karton mit dem Beweismaterial im Archivkeller gelandet ist, wird mich der Fall bis an mein Lebensende begleiten. Ich kann das Geschehene nicht vergessen.
Es ist erschreckend, festzustellen, wie grausam ein Mensch sein kann, wenn er sich sicher fühlt. Wenn er davon ausgeht, unbestraft davon zu kommen. Für mich ist der Mensch das grausamste Wesen, das ich kenne. Wer glaubt, dass der Mensch sich zu einem Wesen der Vernunft entwickelt, indem die Gesellschaft ihm ein Korsett aus Werten und Normen überstülpt, der irrt. Nichts kann seine inneren Triebe austreiben und in Schach halten. Der Mensch ist egoistisch. Er manipuliert die Umwelt zu seinen Gunsten, er gestaltet sie nach seinen Wünschen.
Manchmal wünsche ich mir, dass Monster, Drachen, Geister und Dämonen real sind, und der Mensch nur eine erfundene Bestie.
Wer kann schon sagen, was der Wahrheit entspricht und was angedichtet wurde. Niemand kann bis heute sagen, was die junge Hannah dazu angetrieben hat, sich in diese bizarre Welt zu begeben. Eine Welt, die ein Mensch unter normalen Umständen meidet. Niemand würde solch einen Ort freiwillig aufsuchen.
Es gibt so viele Vermutungen, Möglichkeiten und Spekulationen über Hannahs Beweggründe, denen es allen an fundamentaler Beweiskraft mangelt. Dabei lassen sich solche bizarren Phänomene durchaus in der Natur beobachten.
Wie Wildlachse in Kanada und Alaska etwa. Sie schlüpfen in den klaren und sauerstoffreichen Flüssen und Seen – meist in bergigen Regionen – und wandern flussabwärts Richtung Meer. Im fortpflanzungsfähigen Alter kehren sie zu ihrer Geburtsstätte zurück. Der Weg flussaufwärts ist oft steil; und der eine oder andere Wasserfall stellt sich ihnen in den Weg. Schwimmen ist hier unmöglich, daher springen die Lachse den Fluss hinauf. Einige von ihnen schaffen den anstrengenden und kräftezehrenden Weg jedoch nicht. Sie sterben vor Erschöpfung oder springen unbeabsichtigt in die Tatzen, Pfoten, Krallen, Mäuler und Schnäbel der auf sie wartenden Bären, Wölfe und Seeadler.
Müde und abgekämpft gelangen die Überlebenden an ihr Ziel. Und obwohl sie in ihren letzten Atemzügen liegen, beginnen sie zu laichen. Dann sterben auch sie. Sie machen Platz für die nächste Generation, die in ihre Fußstapfen treten, oder besser gesagt, in ihren Flossenspuren schwimmen wird. Ein wiederkehrender Kreislauf.
Wie Lachse folgen viele Tiere ihren Trieben. Auch wenn sie realisieren, dass das, was sie machen, kräftezehrend ist, wie etwa Trauer, Reproduktion oder lange Wanderungen, so setzen sie sich diesem Stress aus. Sie vernachlässigen die Nahrungsaufnahme, schlafen kaum – oder gar nicht – und verlassen sogar den Schutz der Herde. Für den Erhalt der eigenen Spezies geben sie ihr Leben auf.
So auch der Mensch. Auch er ist in der Lage, sich selbst zu belügen und zu richten, indem er seinen eigenen Untergang ansteuert. Aber nicht zur Aufrechterhaltung der Menschheit, sondern, weil bei ihm oder ihr mindestens eine Schraube nachjustiert werden müsste.
Wir sind alle Kapitäne unserer eigenen Schiffe.
So auch Hannah.
Mit ihren achtzehn Jahren stand sie in ihrer vollen Blüte. Ihre makellose Haut und ihre langen schlanken Beine waren seidig zart. Die glattgebügelten blonden Haare verdeckten ihre schmalen Schultern. Ihr perfekt symmetrisches Gesicht glich dem eines Engels. Die Augen funkelten in einem hypnotisierenden Diamantengrün. Sie war wie von einem anderen Stern, von einem leidenschaftlichen Künstler erschaffen. Und weil sie so schön war, lagen die Menschen ihr zu Füßen. Sie hätte alles machen können, und alles werden können. Die Welt stand ihr offen.
Und dennoch …
Angehörige, die etwas über Hannah erzählen konnten, gab es nur wenige, und diese kannten Hannah nur flüchtig. Einige Augenzeugen konnten oder wollten sich nicht äußern. Vermutlich aus Angst, ihre Aussagen könnten als Geständnis gewertet und gegen sie verwendet werden.
Der Journalist Trevor Banks, der Hannah sehr gut kannte, sprach hingegen offen darüber und schrieb die Geschichte in einem Buch nieder, und zwar so, wie das Ereignis seiner Meinung nach stattgefunden haben soll.
Wer weiß schon, wie es sich tatsächlich zugetragen hat. Ich mache Mr. Banks keinen Vorwurf. Es war seine Art, mit der Geschichte umzugehen und sie zu verarbeiten. Zugegeben, er hat mit seinem Buch viel Geld gemacht. Hannahs Schicksal bedeutete seinen Aufstieg als Journalist und Autor. Er wurde in den Staaten schlagartig bekannt. Für die Offenlegung wurde er aber auch von vielen kritisiert; besonders für die intimen Details. Von ihm stammen also die meisten Informationen.
Und natürlich von mir. Auch ich bin ein Bestandteil dieser Story.
Wer ich bin?
Oh, verzeihen Sie mir bitte meine Manieren. Ich verliere mich allzu oft in meinen Gedankengängen, dass ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Mr. Garnier, Inspektor Garnier, und ich habe in diesem Fall ermittelt.
Wenn Sie mögen, erzähle ich Ihnen die Geschichte von Hannah Soldtobury, aber bitte seien Sie gnädig mit meiner sprunghaften Erzählweise. Ich bemühe mich, nicht abzuschweifen oder allzu große Gedankensprünge zu machen. Außerdem hoffe ich, dass der Mix aus Zeugenaussagen, Videoaufzeichnungen und Auszüge aus Mr. Banks Buch Sie nicht irritieren. Die vorliegende Erzählung ist wie ein Teppich, der aus verschiedenen Einzelteilen zusammengeflickt wurde. Oder wie ein bedürftig zusammengeklebtes, mosaikartiges Gebilde.
Wo beginne ich denn am besten? Ah ja, ich weiß schon ...
Die Welt ist grausam
Hannah kam in Jahre 1934 zur Welt. Beinahe jeder dritte Amerikaner war arbeitslos; und die Regierung bemühte sich, den gewaltigen Schaden zu reparieren, den der große Bankencrash 1929 verursacht hatte. Sie mussten das Vertrauen der Wähler wiedergewinnen.
Doch es wurde nicht besser. Auf internationaler Ebene führten die jahrelangen, oft undurchsichtigen und wechselhaften Bündnisse zwischen den Nationen zu einem weltweiten Zerfleischen. Der Zweite Weltkrieg brach aus. Von Amerika über Europa bis nach Asien blitzte es am Himmel. Bomben fielen aus Flugzeugen. Menschen wurden verschleppt, vergewaltigt, vergast, verbrannt und erschossen. Ein Krieg, der die geballte Grausamkeit des Menschen zeigte und zugleich offenbarte, dass der Mensch aus all den vergangenen Kriegen zuvor nichts gelernt hatte – und wohl auch nie lernen würde.
Hannah war noch zu jung, um die komplexen und ambivalenten Zusammenhänge der Menschheit zu verstehen, doch sie begriff sehr früh, wie grausam Menschen untereinander sein konnten. Selbst im Alltag, fernab von Krieg und Terror. Das musste sie als kleines Mädchen am eigenen Leib erfahren. Sie lernte, dass selbst die nettesten Menschen eine Gefahr darstellen und ihr wehtun konnten. Sehr weh sogar. Danach war Hannahs Welt nicht mehr dieselbe. Die körperlichen Narben mochten irgendwann verheilt sein, nicht jedoch die seelischen. Und das Schicksal ließ nicht nach. Statt Hannah nach dem grausamen Ereignis zu verschonen, zeigte das Schicksal ihr immer wieder sein schreckliches und grausames Gesicht. Es schien, als ob das Schicksal Gefallen daran fand, Hannah zu quälen.
Die Insel in Greenwood
1941. Nach einem Sonntagsgebet verließen die siebenjährige Hannah und ihre Großmutter die Kirche von Greenwood. Sie gingen händchenhaltend die Hauptstraße hinunter, direkt am Mississippi River entlang.
Großmutter fiel das Gehen mit der steifen und schmerzenden Hüfte schwer, und plötzlich spürte sie einen Ruck in ihrem Arm, der von ihrer Hand aus blitzartig nach oben schoss. Hannah war aus unerklärlichen Gründen abrupt stehen geblieben. Was auch immer das siebenjährige Mädchen sah und bestaunte, Großmutter sah es nicht.
Bereits sehr früh, im Grundschulalter, fühlte Hannah sich von diesem einen Ort stark angezogen. So, als ob er nach ihr verlangte. Als ob er danach strebte, sie zu sich zu holen. Um jeden Preis. Wenn sie bei ihren Großeltern zu Besuch war, versuchte der Ort sich jedes Mal in ihr jungfräuliches und wissbegieriges Gehirn zu brennen. Er wollte sich in ihren Erinnerungen und Gedanken festigen.
Mit Erfolg.
Das Verlangen, den Ort einmal von innen zu sehen, blieb in ihr all die Jahre bestehen. Egal, wo sie sich später in ihrem Leben aufhielt, und egal, was sie machte.
Der Ort lag auf einer kleinen Insel, unweit vom Haus ihrer Großeltern in Greenwood, Illinois. Eine kleine verschlafene Gemeinde mit wenigen hundert Einwohnern, umringt von einem großen, dichten Wald; genau an der Stelle, an der der Illinois River im Mississippi River mündete und sich in diesem auflöste. Auf der Insel lebten besondere Menschen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hatte; und auch nicht haben wollte.
Hannah konnte die Insel von der Hauptstraße als auch vom Haus ihrer Großeltern aus sehen. Auf der Insel stand ein furchteinflößendes Gebäude. Mit dem Turm in der Mitte und den beiden seitlich anhängenden Trakten wirkte es wie eine riesige Fledermaus mit aufgespannten Flügeln, eingesperrt hinter einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun.
Der regelmäßig auftauchende Nebel stieg auch an diesem Tag auf und tanzte wie eine Ansammlung verlorener Seelen langsam um die architektonische Fledermaus herum.
So furchteinflößend der Ort auch war, auf der Insel lebte ein Mädchen im gleichen Alter wie Hannah, welches hinter dem Zaun stand und vor dem geflügelten Monster keine Angst zu haben schien. Das Mädchen war allein. Keine anderen Kinder oder Erwachsene umgaben es. Und es trug nichts weiter als ein dünnes weißes Kleid, dessen Saum stellenweise rot befleckt war.
Hannah bekam eine Gänsehaut. Sie schaute auf ihre eigene Kleidung hinunter und stellte erleichtert fest, dass diese frei von roten Flecken war.
Sie winkte dem Mädchen zu.
Ihre Blicke kreuzten sich.
Daraufhin bewegte das Mädchen auf der Insel den Mund, ohne dabei einen Laut von sich zu geben. Als ob es nach dem Buchstaben A schnappte und es sodann wieder losließ, nur um gleich wieder danach zu schnappen. Es wiederholte zwei Silben.
HAN-NAH!
HAN-NAH!
Sagt sie meinen Namen?
Hannahs Arme kribbelten. Irgendetwas zuckte kurz und durchfuhr ihren gesamten Körper. Auch Großmutter, die noch immer Hannahs Hand hielt, spürte das Zucken.
„Alles in Ordnung?", fragte eine männliche Stimme. Sie gehörte Sheriff Baxter, der Mitte fünfzig war. Er schaute aus dem offen stehenden Beifahrerfenster seines Streifenwagens.
Hannah stand wie hypnotisiert da. Starr. Die Insel im Fokus. Die Anwesenheit des Sheriffs hatte sie nicht registriert. Sie war in einer anderen Welt. Auch Großmutter hatte ihn nicht heranfahren gehört. Erschrocken drehte sie sich zu ihm um.
„Guten Morgen, Arthur, sagte sie. „Alles in Ordnung, denke ich, auch wenn ich nicht weiß, was sie gerade hat.
Die beiden Erwachsenen blickten in die gleiche Richtung wie Hannah, doch sie sahen nichts. Zumindest nichts, was so faszinierend sein konnte, dass es einen in den Bann zog. Das Gebäude stand – wie jeden Tag – auf der Insel. Und wie jeden Tag befand sich niemand auf der Außenanlage.
„Vielleicht sieht sie ein Tier?", rätselte Großmutter.
Beide lächelten, ohne zu wissen, warum.
HAN-NAH!
HAN-NAH!
Wer ist sie? Wer ist dieses Mädchen?
Die Fledermaus erhob sich. Sie breitete ihre Flügel aus und fokussierte Hannah. „Kooomm zuuu miiir, Hannah, flüsterte sie. „Ich weeerde michh um dichh kümmern.
Das Tier macht mir Angst! Warum hat das Mädchen keine Angst?
Hannah riss sich von dem Ungetüm und dem Mädchen los und wandte sich ihrer Großmutter und dem Sheriff zu. Sie ließ sich nicht anmerken, was soeben geschehen war.
„Kann ich euch beide mitnehmen?", fragte Sheriff Baxter.
„Danke, Arthur, aber das kleine Stück schaffen wir zu Fuß, ist ja nicht mehr weit."
Der Sheriff lächelte ihnen zu, bevor er gemächlich davonfuhr.
„Grandma, was ist das für ein komisches Haus da auf der Insel?", fragte Hannah ihre Großmutter. Das war das erste Mal, dass sie ihr Interesse für diesen Ort gegenüber anderen Menschen signalisierte.
„Da kommen Menschen hin, die ungezogen sind und nicht hören wollen, antwortete Großmutter. „Sie können sich der Welt, in der wir leben, nicht anpassen. Also pass schön in der Schule auf und lerne. Solange du ein artiges Mädchen bist, wirst du diesen Ort nie besuchen müssen.
Großmutters Hoffnung, mit der Beantwortung das Thema beendet zu haben, hielt nur wenige Sekunden.
„Wenn da Kinder leben, fragte Hannah weiter, „dann ist es da drin bestimmt sicher, oder? Ich möchte gern mit dem Mädchen drüben auf der Wiese spielen. Können wir da mal rübergehen? Ich will sehen, wie es dort aussieht.
Großmutter scannte mit zugekniffenen Augen und schwachem Augenlicht den sichtbaren Inselabschnitt ab, ohne jemanden zu entdecken. Und auch Hannah, die sich wieder der Insel widmete, stellte fest, dass das Mädchen verschwunden war. Niemand hielt sich im Freien auf.
„Was hast du bisher in deinen Schulferien gemacht?, fragte Großmutter, um das Thema zu wechseln. Die Schmerzen beim Gehen spiegelten sich in ihrem Gesicht. „Gefällt dir die Schule?
„Schule ist doof. Die Lehrer sagen mir ständig, was ich machen soll. Ich mag das nicht. Keiner soll mir befehlen. Ich bin doch schon groß."
Hannah, die mit ihren Eltern in Washington, D. C., lebte, saugte die Umwelt mit all ihren Sinnen intensiv auf. Bereits im Kindergarten festigte sich ihr Wille, selbstständig zu sein. Wehe man half ihr bei etwas, dann wurde sie bockig und verkroch sich.
Großmutter stimmte das traurig. Ihr begabtes und intelligentes Enkelkind musste mit fünf Jahren eine Erfahrung machen, die seelisch und körperlich sehr schmerzhaft gewesen war. Die Erfahrung ließ das Kind schneller erwachsen werden. Die kindliche Naivität diente nur noch dem Selbstschutz. Vor der rauen und erbarmungslosen Welt der Erwachsenen, in die sie zu schnell und auf eine grausame Art und Weise geworfen worden war.
Der Ort verändert sich
Sommer 1944: Hannah war zehn.
Die Großeltern hingen an ihrer Heimat, aber sie merkten, dass sie den Alltag ohne fremde Hilfe nicht länger bewältigen konnten. In Greenwood gab es nur einen kleinen Laden, alles andere musste außerorts erledigt und herbeigeschafft werden. Der nächstgrößere Ort war jedoch zu weit weg und nur mit dem Auto erreichbar. Großvater, der zehn Jahre älter war als Großmutter, baute bereits körperlich und geistig ab. Schon bald würde er nicht mehr in der Lage sein, zu fahren. Und Großmutter setzte sich nicht mehr ans Steuer, nachdem sie vor ein paar Jahren einen Riesenpudel überfahren hatte, der dabei draufgegangen war. Und dann waren da noch