Sozial Extra 6 2022: 472–478 https://doi.org/10.1007/s12054- 022- 00548-2
© Der/die Autor(en) 2023
Online publiziert: 18. Januar 2023
Einblick
Kinderschutz im Blick der
Forschung
Konstruktive Zusammenarbeit und kritische Auseinandersetzung. Eine Replik auf Bohrer et al.
(Sozial Extra 2|22, S. 118 f.)
Der in Sozial Extra 2|22 erschienene Beitrag von Bohrer et al. berichtet über erste Ergebnisse eines (DFG
finanzierten) Forschungsprojekts unter Leitung von Prof. Dr. Christian Schrapper (Universität KoblenzLandau) und Prof. Dr. Heinz Kindler (DJI), das im Zusammenwirken mit der Ärztlichen Kinderschutzambulanz
am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf (KSA) durchgeführt wurde und zu dem einige Teilstudien bereits
veröffentlicht sind. Rahmend möchten wir in diesem Beitrag die beforschte Kinderschutzeinrichtung (KSA)
vorstellen, etwas zum Zustandekommen dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit sagen und einige der
Forschungsergebnisse aus unserer Perspektive kommentieren.
H
ierbei beziehen wir uns direkt auf in Bohrer
et al. (2022) vorgestellte Ergebnisse von Teil‑
studien. Die Absicht ist nicht, Ergebnisse oder
Methodik im Detail zu hinterfragen. Wir wollen den Di‑
alog anstoßen, konstruktive Zusammenarbeit zwischen
Forschung und Praxis ermöglichen und dazu beitragen,
Kritik und Konstruktion in den Dienst der Praxis zu
stellen.
Kritik und Konstruktion im Dienst der Praxis
Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung über
Praxis, wie in Bohrer et al. (2022) berichtet, prüft nicht
Gabriele Komesker
Düsseldorf, Deutschland
*1969; Dr. med., Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und
-psychotherapie, Kinderschutzfachkraft, Kinderschutzmedizinerin, seit 2012 Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz am
Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf.
[email protected]
Eberhard Motzkau
Wülfrath, Deutschland
*1946; Dr. med., Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Kinderschutzfachkraft, ehemaliger Leiter der Ärztlichen Kinderschutzambulanz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf
(1994 bis 2012).
Zusammenfassung Der Beitrag kommentiert aktuelle
Kinderschutzforschung aus der Perspektive von Praktiker_innen.
Die Autor_innen stellen als derzeitige Leiterin (G. Komesker)
und ehemaliger Leiter (E. Motzkau) einer beforschten
Kinderschutzeinrichtung (Ärztliche Kinderschutzambulanz am
Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf) ihre Arbeitsweise vor
und kommentieren vor diesem Hintergrund und in direkter
Bezugnahme auf Bohrer et al. (2022) gerade veröffentlichte
Ergebnisse der Kooperationsprojekte ‚Kinderschutz in
Düsseldorf‘ und ‚Kinderschutzkarrieren‘ aus ihrer Perspektive
als beforschte Praktiker_innen. In diesem Zusammenhang
werden zudem Überlegungen zur Schnittstelle von Praxis und
Forschung im Kinderschutz angestellt. Die Forschung trägt,
durch Veröffentlichung und Rezeption, selbst unweigerlich zur
Konstruktion von Kinderschutzdiskursen bei. Diese beeinflussen,
wie gefährdete Kindheit, Kinderschutz und Kinderschutzpraxis
im gesellschaftlichen, medialen und politischen Kontext verstan‑
den und praktiziert werden. Dies ist unvermeidlich, sollte aber
im Dialog zwischen Forschung und Praxis reflektiert werden,
um so Kinderschutzdiskurse gemeinsam kritisch beleuchten
und formen zu können. Der Beitrag gibt Denkanstöße dazu,
wie sich die Forschung in diesem multidisziplinären und oft
spannungsgeladenen Feld konstruktiv in den Dienst der Praxis
stellen kann, und ergründet, was es für die beforschte(n) Praxis/
Praktiker_innen heißt, sich Forschungsergebnissen einer nicht
anonymen Studie offen zu stellen.
Schlüsselwörter Kinderschutzambulanz Düsseldorf,
Kinderschutz, Praxisperspektive, Kinderschutzforschung,
Kinderschutzkarrieren
[email protected]
Johanna Motzkau
Milton Keynes, Großbritannien
*1973; Dr. phil., Dipl.-Psych., Cpsychol., Senior Lecturer in
Psychology, School of Psychology and Counselling, Faculty of
Arts and Social Sciences, The Open University, UK.
[email protected]
472
die spezifische Effektivität konkreter Praxisvorgänge
(z. B. um Verbesserungsvorschläge zu machen), sondern
sie untersucht die historische, gesellschaftliche und dis‑
kursive Einbettung von Praxis; das heißt, sie analysiert
die in den Handlungen/Entscheidungen/Dokumenten
der Praktiker_innen ausgedrückten Relevanzsetzungen
und Deutungsrahmen und zeigt deren Auswirkungen
für die Beteiligten. Dennoch ist solche Grundlagenfor‑
schung über Praxis auch reflexiv und dynamisch, das
heißt, sie speist sich aus der Praxis und generiert An‑
stöße, Einsichten, Konstrukte, die sich mittelbar oder
unmittelbar auf die diskursive Einbettung solcher Pra‑
xis auswirken können, insofern sie die Diskurse, inner‑
halb derer die Praxis agiert, ändert, anreichert oder ver‑
schiebt (Motzkau 2011). Das liegt daran, dass solche
Grundlagenforschung über Praxis oft nicht nur im wis‑
senschaftlichen Rahmen rezipiert wird, sondern auch
von denen, die Praxis betreiben, lehren, finanzieren, or‑
ganisieren, nutzen, über sie in den Medien berichten
oder selbst Gegenstand/Subjekt solcher Forschung sind.
Das ist gut, denn auch diese Forschung hat den An‑
spruch, wenn auch mittelbar, zu Kritik und positivem
Wandel von Praxis beizutragen. Es ist allerdings unmög‑
lich, die Rezeption von Forschung und deren Auswir‑
kungen auf die Praxis direkt zu steuern (Motzkau 2005,
2009). Dies gilt noch viel mehr in einem so spannungs‑
reichen und komplexen Praxisfeld wie dem des Kinder‑
schutzes, wo Forschungsergebnisse nicht nur von For‑
scher_innen und Praktiker_innen, sondern auch z. B. in
den Medien und in der Politik rezipiert werden (Ruch
et al. 2014; Featherstone et al. 2014, 2018). Daher ist
es wichtig, den Beitrag, den Grundlagenforschung über
Kinderschutzpraxis explizit und implizit zur Konstruk‑
tion dessen leistet, was als Diagnostik, Expertise, ge‑
fährdete Kindheit oder Kinderschutz wahrgenommen
wird, im Auge zu behalten, denn auch sie trägt zu den
wirkmächtigen Relevanzsystemen bei, die beeinflussen,
wie Kindern zugehört wird (Motzkau und Lee 2022;
Motzkau 2007; Parton 1985; Biesel et al. 2021).
Forschung und Praxis in dem komplexen und dyna‑
mischen Feld des Kinderschutzes zusammenzubringen,
erfordert Mut, Vertrauen und Verantwortungsbewusst‑
sein auf beiden Seiten. Die Praxis/Institution muss den
Forscher_innen Zugang zu vertraulichen Daten und
Vorgängen gewähren und sich offen dem wissenschaft‑
lichen Vorgehen und den Forschungsergebnissen stel‑
len; die Forscher_innen müssen ihren methodologischen
und epistemologischen Perspektiven folgen, um die Pra‑
xis kritisch zu beleuchten, müssen aber auch sorgsam,
respektvoll und reflexiv mit den erhobenen Daten um‑
gehen, die Analyse mit Umsicht betreiben und die Re‑
zeption/Wirkung der eigenen Forschung in relevanten
Praxisfeldern reflektieren. Die Wissenschaftsphiloso‑
phin Isabelle Stengers (2008) fragt in diesem Zusam‑
menhang „cui bono?“, für wen wird geforscht? Wem
nützt die Forschung? Diese Frage kann nicht immer ein‑
deutig beantwortet werden, sollte aber immer leitend
im Vordergrund stehen. Im Spannungsfeld Kinderschutz
sind Fragen und Antworten oft komplex und flüchtig;
hier heißt es, sich der Ungewissheit gemeinsam zu stel‑
len, sie konstruktiv aushalten zu lernen. Die Feminis‑
tin und Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway hat
diese, für die Forschung über komplexe Praxis charak‑
teristische Spannung, analysiert und dieses kollabora‑
tive ‚Aushalten Lernen von Ungewissheit‘ als wesentli‑
ches Gütekriterium solcher Forschung beschrieben. Sie
nennt es ‚staying with the trouble‘ (Haraway 2016).
Die folgende Darstellung sollte in diesem Sinne gele‑
sen werden.
Die KSA Düsseldorf
Die KSA wurde im Rahmen der Stiftung Evangelisches
Krankenhaus Düsseldorf 1988 am Evangelischen Kran‑
kenhaus Düsseldorf (EVK) gegründet – in einer Zeit, in
der einerseits körperliche und später auch sexualisier‑
te Gewalt gegen Kinder immer mehr in den Fokus ge‑
sellschaftlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit
rückte, die aber andererseits durch emotionalisierte ge‑
sellschaftliche Debatten um Missbrauch und den „Miss‑
brauch des Missbrauchs“ (Rutschky 1992; Holzkamp
1994; Osterkamp 1997) geprägt war und zugleich ge‑
steigertes Forschungsinteresse an der Erinnerungsfähig‑
keit/Glaubhaftigkeit kindlicher Zeug_innen weckte, die
mutmaßliche Gewalt‑/Missbrauchsopfer sind (Volbert
und Steller 2005). Im Gegensatz dazu steht der Befund
einer Umfrage unter pädiatrisch tätigen Ärzt_innen, die
ergab, dass 1990 in 50 % der Praxen keine einzige Ver‑
dachtsdiagnose für Kindesmisshandlung gestellt wur‑
de (Jungjohann 1993). Zugleich erschwerte die Viel‑
zahl zuständiger Institutionen (z. B. juristische, soziale,
medizinische) und Fachrichtungen (z. B. Sozialarbeit,
Psychiatrie, Psychologie) das Entstehen funktionieren‑
der Kooperationsstrukturen mit klaren Zuständigkeits‑
bereichen. Entwicklungen im Kinderschutz lassen sich
nur vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlich‑histo‑
rischen Vorgänge verstehen, und mit Blick auf die KSA
bietet Heinitz (2022) hier einen guten Überblick.
Der Wechsel in der Leitung der KSA 2012 war Anlass,
nach fast 25 Jahren sich entwickelnder Praxis im Kinder‑
schutz das Praxiskonzept der KSA in seiner Wirksam‑
keit zu überprüfen, produktive Ansätze einem breiteren
Forschungs‑ und Praxispublikum zugänglich zu machen
und die Praxis zur Diskussion zu stellen. Dies sollte vor
allem auch den zukünftig an der KSA vorgestellten Kin‑
dern und Jugendlichen zugutekommen. Überlegungen,
hierfür Spendengelder einzusetzen, machten es möglich,
eine kompetente Forschungseinrichtung für das Projekt
zu gewinnen. So wurde die Anfrage an Prof. Dr. Schrap‑
per gestellt, der dankenswerterweise einen Weg zur Um‑
setzung des Forschungsprojekts u. a. als breiter ange‑
legte, DFG finanzierte Grundlagenforschung fand, auch
473
Sozial Extra 6 2022
Einblick
als sich die Hoffnung auf Spendengelder zerschlug. Von
2014 bis heute haben die Forscher_innen, angeleitet von
Prof. Dr. Schrapper und Prof. Dr. Kindler und mit der
tatkräftigen Unterstützung von KSA‑Mitarbeiter_innen,
verschiedene Teilstudien durchgeführt, die sich sowohl
auf qualitative als auch quantitative Methoden stützen
und sowohl Fallakten als auch Interviews mit Erwach‑
senen zum Gegenstand haben, die als Kinder Teil der
Klientel der KSA waren. Bohrer et al. (2022) bieten ei‑
nen ersten Überblick des Gesamtprojekts und geben ei‑
nen Eindruck davon, wie wichtig solche vielschichti‑
gen Forschungsprojekte für die Kinderschutzpraxis sind
(siehe auch Heinitz 2022 und Haase 2021). Dies gilt
vor allem in Deutschland, wo derzeit noch wenig For‑
schung existiert, die sich im Detail mit den komplexen
interdisziplinären und interinstitutionellen Vorgängen
im Kinderschutz beschäftigt, aber zugleich praxisleiten‑
de Konstruktionen und persönliche Erfahrungen von
Beteiligten untersucht. Wir beglückwünschen die For‑
scher_innen zu diesem wichtigen Projekt und sind froh,
zu dessen Anstoß und Durchführung beigetragen zu ha‑
ben. Im Folgenden möchten wir mit Kommentaren und
Erläuterungen den Dialog weiterführen.
Multidisziplinäre Kinderschutzdiagnostik als
Antwort auf komplexe Familiensysteme
In Bohrer et al. (2022) wird die Arbeit der KSA durch‑
gehend als ‚medizinisch‘ bezeichnet („medizinischer
Spezialdienst“ S. 119, mit „medizinischer Diagnostik“
S. 123), ohne dass dieser Begriff genauer definiert wird.
Unserer Einsicht nach vermittelt dies den Eindruck, die
institutionelle Anbindung, die Fachkräfte, das diagnos‑
tische Vorgehen und Selbstverständnis der KSA seien
durchweg ‚medizinisch‘. Es mag der Kürze des Artikels
geschuldet sein, dass ‚Medizin‘ hier zum Synonym der
KSA wird, wir finden dies aber problematisch, da der
Begriff ‚medizinisch‘, mangels Definition, Leser_innen
leicht eine streng somatische, auf den Körper gerichte‑
te Vorgehensweise der KSA suggerieren kann. Wie wir
im Folgenden zeigen wollen, vermittelt dies implizit ein
falsches Bild des praktizierten Kinderschutzes und ver‑
deckt wesentliche Besonderheiten der Arbeit der KSA
(die in der Teilstudie Heinitz 2022 gut erfasst sind).
Die KSA steht bis heute unter kinder‑ und jugendpsy‑
chiatrischer Leitung und kooperiert mit der Klinik für
Kinder und Jugendliche im EVK, positioniert sich aber
schon immer explizit an den Schnittstellen verschiede‑
ner Disziplinen, um das Thema Kinderschutz möglichst
vielschichtig und breit im Fachwissen der Medizin, Psy‑
chologie, Sozialarbeit, Pädagogik und Kindertherapie
zu verankern. Daher arbeiten im Team der KSA Fach‑
kräfte aus all diesen Disziplinen eng zusammen. Ziel
474
war und ist hierbei die vertrauensvolle Zusammenarbeit
mit den kinder‑ und jugendärztlichen Praxen in Düs‑
seldorf und Umgebung, aber auch die Kooperation mit
allen beteiligten Institutionen. Wo eine solche Koopera‑
tion scheitert, geraten unserer Erfahrung nach potenzi‑
ell gewaltgeschädigte Kinder und ihre Familien schnell
aus dem Fokus der Diagnostik und Hilfe. Dies geschieht
vor allem dann, wenn professionelle Vorbehalte/Berüh‑
rungsängste, unklare Zuständigkeiten oder Sorge um
personelle/finanzielle Ressourcen die Oberhand gewin‑
nen. Die Dynamik in Familiensystemen mit Gewalt ist
bekanntermaßen von Misstrauen, Interessenkonflik‑
ten, Ambivalenzen, Verwirrung, Ohnmacht, Ignorie‑
ren, Verleugnung etc. geprägt. Wenn die Zusammen‑
arbeit zwischen beteiligten Institutionen von gleichen
oder ähnlichen Gefühlen belastet ist wie ein solches Fa‑
miliensystem, kann es geschehen, dass sich das System
der Helfer_innen dieser Systemdynamik angleicht und
es ebenso dysfunktional wird wie das Familiensystem.
Ein multidisziplinäres Team ist wesentlich, um dies zu
erkennen und zu verhindern (Heinitz 2022 weist hierauf
in seinem „zweiten Entwicklungsbogen“ hin). Weiter‑
hin setzte sich die KSA zur Schaffung von Transparenz
und zunehmender Vertrautheit untereinander zusam‑
men mit anderen Institutionen für einen Prozess ein, in
dem sich die beteiligten Institutionen in ihren verschie‑
denen Sichtweisen, Problemstellungen, spezifischen Auf‑
gaben, Verantwortlichkeiten und Grenzen klarer dar‑
stellen und verorten konnten. Dies schuf Kontinuität in
der Zusammenarbeit und vereinfachte das Verhandeln
von klaren Macht‑ und Entscheidungsstrukturen in und
zwischen den beteiligten Institutionen. Dies ist wichtig
auch vor dem Hintergrund, dass Kinderschutzprozesse
häufig dringlich und mit emotionalem Druck verbunden
sind, während die familiären, persönlichen und institu‑
tionellen Konstellationen komplex und oft wenig über‑
sichtlich sind, was Entscheidungsfindungen unweiger‑
lich konflikthaft macht.
Um solchen oft spannungsvollen Interessenlagen ge‑
recht zu werden, betreiben wir Diagnostik als Team‑
prozess (der Begriff ‚medizinische Diagnostik‘ gibt das
schlecht wieder). In der KSA teilen wir die unterschiedli‑
chen Perspektiven der am diagnostischen Prozess Betei‑
ligten auf mehrere Personen des Teams auf: Jeweils ein
Teammitglied übernimmt die Kommunikation mit dem
Kind, ein weiteres die mit den Eltern – bzw. zwei weite‑
re bei getrennten Partner_innen –, ein weiteres spricht
mit den Großelternpersonen und eventuell Pflegeperso‑
nen etc., weiterhin sind eventuell beteiligte Fallführun‑
gen des Jugendamts an den rahmenden Erst‑ und Ab‑
schlussgesprächen mit den Eltern beteiligt. Eine_r der
Elternzuständigen übernimmt die Kommunikation mit
weiteren Beteiligten wie Kita, Schule, Kinderarzt/‑ärztin.
Dieses Vorgehen soll ermöglichen, dass die jeweiligen
Perspektiven von unterschiedlichen Teammitgliedern er‑
fasst und dargestellt sowie im Team reflektiert und hin‑
terfragt werden können, so dass im Prozess nicht die
Deutung einzelner Fachkräfte (oder diagnostischer Sys‑
teme) dominiert, sondern sich ein dynamisches, transpa‑
rentes und auf das spezifische Kind und die Familie fo‑
kussiertes Netzwerk von Deutungen ergibt. So können
die entsprechenden Interessenlagen der Beteiligten ver‑
handelt, reflektiert und im Sinne des Kindes einschätz‑
bar gemacht werden, wobei das Team als Gesamtheit
auch für den Gesamtblick zuständig ist.
Diese reflexive und iterative Teamarbeit sowie die
Gesprächsinhalte sind aus Ressourcengründen übli‑
cherweise nicht im Detail (z. B. Wortprotokolle oder
Aufzeichnung/Transkription von Sitzungen) zu doku‑
mentieren. Solche Details sind also nicht den Akten zu
entnehmen und somit den in Bohrer et al. (2022) be‑
richteten Teilprojekten, die Fallakten zum Gegenstand
hatten, unzugänglich. Die Abläufe dieser Teamarbeit im
Detail zu beforschen, könnte weiter Aufschluss geben
über Ursprung und Wirkung der Kinderschutzdiskurse,
in die die Praxis eingebettet ist.
Kindzentrierte Diagnostik als Beziehungsarbeit
statt Ermittlungsarbeit
Weiterhin berichten Bohrer et al. (2022) Ergebnisse ei‑
nes Teilprojektes (siehe auch Haase 2021), das basie‑
rend auf 28 Fallakten analysiert hat, „welche Stellung
den Kindern, ihrem Wohlbefinden und ihren Sichtwei‑
sen“ (Bohrer et al. 2022, S. 123) in der Diagnostik ge‑
geben wird. Das Forschungsergebnis ist die Metapher
‚Kind als Kronzeuge‘, die, so wird berichtet, als über‑
geordneter „Sinngebungsmodus“ die „Diagnostikpro‑
zesse rahmt und die Arbeitslogiken steuert“ (ebenda
S. 124), was dazu führt, dass die „Interessen und Sor‑
gen“ (ebenda S. 124) der Kinder „den Erfordernissen
der Situationsaufklärung untergeordnet“ werden, da
von den Kindern „erwartet wird, dass sie sich zu den
von den Fachkräften formulierten angenommenen Ver‑
dachtsmomenten umfassend und glaubwürdig artikulie‑
ren“ (ebenda S. 124). Dieses Ergebnis steht in direktem
Gegensatz zu unserem Anspruch, kindzentrierte Dia‑
gnostik als Beziehungsarbeit zu betreiben, und nicht,
wie hier angedeutet, dem Duktus polizeilicher Ermitt‑
lungsarbeit folgend. Wir möchten diese ‚Diagnostik als
Beziehungsarbeit‘ und ihren Gegensatz zu polizeilicher
Ermittlungsarbeit zunächst beschreiben und dann das
Forschungsergebnis kommentieren.
Im Vergleich kooperierender Institutionen ist, unserer
Erfahrung nach, der Gegensatz zwischen den Zielset‑
zungen und Arbeitsgrundlagen der Polizei und der KSA
am größten. Auf der einen Seite unterliegt die Polizei
(und leitend die Staatsanwaltschaft) der gesetzlichen
Pflicht, allen zur Kenntnis gekommenen Verdachtsfäl‑
len von Straftaten gegen Kinder nachzugehen und die‑
se bei zureichender Beweislage zur Anklage zu bringen;
unsere Aufgabe hingegen ist, streng dem Interesse und
Hilfebedarf von möglicherweise geschädigten Kindern
zu folgen; das bedeutet, zunächst die aktuelle körperli‑
che und psychische Situation des jeweiligen Kindes aus
dessen Perspektive kennenzulernen, mögliche unmittel‑
bare Gefährdungen abzuwenden und unabhängig von
etwaigen Straftatbeständen oder Gefährdungslagen Hil‑
feangebote zu vermitteln. Aufgrund von, oft aus der Si‑
tuation erklärlichen, Unsicherheiten, Defiziten, Ängsten,
Ambivalenzen und Interessenkonflikten stehen Kinder
häufig vor einem unauflösbaren Dilemma, wenn sie ihre
Einschätzungen, Wünsche und Gefühle zum Ausdruck
bringen sollen. Um Kindern dabei zu helfen, diese zu
klären, zu erklären und zu entzerren, ist unserer Er‑
fahrung nach Beziehungsarbeit erforderlich, die neben
pädiatrischen ebenso kinderpsychiatrische und ‑psy‑
chologische Kenntnisse sowie systemisches Verständ‑
nis erfordert (Wirsching und Stierlin 1982; Simon und
Stierlin 1984). Was also im Kontext der KSA oft knapp,
und scheinbar medizinisch, als Diagnostik oder etwas
treffender als diagnostischer Prozess bezeichnet wird,
ist eine langfristige, komplexe, multidisziplinäre, dia‑
gnostische Beziehungsarbeit, die nur von einem Team
geleistet werden kann. Für das Gelingen dieser diag‑
nostischen Beziehungsarbeit ist es zudem wichtig, das
Kind vor Beginn ausführlich und entwicklungsangemes‑
sen über Grund, Ablauf und Ziel der Diagnostik zu in‑
formieren. Allerdings liegt die Zuständigkeit dafür auch
bei den Sorgeberechtigten, die von uns hierzu informiert
und bei Bedarf beraten werden. Zum Ende der Diagnos‑
tik besprechen wir mit dem Kind in altersangemessener
Form, welche Informationen wir gewonnen haben, und
stimmen soweit möglich mit dem Kind ab, welche Infor‑
mationen wir an welche Personen/Stellen weitergeben.
Dabei ist es uns wichtig, den Willen des Kindes so voll‑
ständig wie möglich einzubeziehen. Dies geschieht unter
Berücksichtigung möglicher Verantwortungsgefühle des
Kindes für Erwachsene, von Ängsten, Interessenkonflik‑
ten, Ambivalenzen und möglicher Dilemmata.
Insofern sich das eingangs zitierte Forschungsergebnis
auf die persönlichen Zielsetzungen (Erwartungen) der
Fachkräfte bezieht (so lesen wir es), steht es im direkten
Widerspruch zur intendierten Zielsetzung unseres Vor‑
gehens. Dies würde bedeuten, dass wir (zumindest be‑
züglich der 28 Fallakten) unsere Zielsetzung (Diagnos‑
tik als kindzentrierte Beziehungsarbeit) entweder nicht
475
Sozial Extra 6 2022
Einblick
ernsthaft verfolgt hätten oder bei dem Versuch geschei‑
tert wären. Dies ist eine sehr ernst zu nehmende Kritik.
Wiederum ist aber anzumerken, dass auch diese kind‑
zentrierte Beziehungsarbeit nicht im Detail in den Ak‑
ten dokumentiert sein kann. Insofern sind es möglicher‑
weise die Dokumentationspraktiken (die Akten selbst),
die den Eindruck vermitteln, es werde über die Kinder
gesprochen, nicht mit ihnen (siehe Bohrer et al. 2022,
S. 124). Diese Beobachtung ist wichtig und sollte weiter
beforscht werden, denn die Akte ist ein Bedeutungsträ‑
ger, der Kinderschutzkarrieren lebenslang begleiten und
beeinflussen kann. Es könnte daher problematisch sein,
dass die in den Akten dokumentierten Ergebnisse nicht
die vollständigen Verläufe der Arbeit mit den Kindern
selbst deutlich machen. Sie geben häufig nicht wörtlich,
sondern nur mittelbar Auskunft darüber, inwiefern das
Kind als Akteur in den diagnostischen Prozess einbe‑
zogen ist. Insofern wird in der Folge weiterer wissen‑
schaftlicher Bemühungen diese Dimension – vor allem
in Hinsicht auf die aktive Beteiligung der Kinder – zu
betrachten sein.
In diesem Zusammenhang finden wir auch die Meta‑
pher der „Kinder als Kronzeugen“ problematisch. Sie
ist eingängig und euphonisch, erscheint uns aber irre‑
führend, da sie, statt einen komplexen Praxiszusammen‑
hang vereinfacht, aber griffig darzustellen, wesentliche
Aspekte der Rolle von Kindern in unserer Diagnostik in
ein falsches Licht zu setzen scheint. Der Begriff ‚Kron‑
zeuge‘ ist im juristischen Kontext gemeinhin assozi‑
iert mit jemandem, der/die selbst eine Straftat began‑
gen hat, für die er/sie im Rahmen eines Strafprozesses
aufgrund von belastenden Aussagen gegenüber Kom‑
plizen Straffreiheit oder ‑milderung erhält. Das „Kind
als Kronzeuge“ suggeriert in diesem Sinne also, dass
Kinderschutzkinder selbst Mittäter_innen seien. Dies ist
natürlich nicht der Fall, und eine solche Mittäterschaft
wird auch von Haase (2021) nicht behauptet. Weiter‑
hin ist uns bewusst, dass Metaphern in der qualitativen
Forschung nicht gegenständlich oder wörtlich gemeint
sind, und dies wird in der entsprechenden Arbeit von
der Forscherin inklusive der Einschränkungen des Me‑
tapherngebrauchs erläutert (Haase 2021, S. 228). Sol‑
cher Erklärungsbedarf macht die Metapher aber unge‑
eignet. Dies ändert zudem auch nichts daran, dass eine
solch griffige und prominent als Titel der Teilstudie si‑
tuierte Metapher für die Leserschaft – gemäß der Funk‑
tion von Metaphern, die Überzeugung, die wir in Bezug
auf das Bekannte haben (Kronzeuge), auf den sich neu
zu erschließenden Sachverhalt zu übertragen – einen
missverständlichen Deutungsrahmen schafft. Insofern
die Metapher mit ihren explizit forensisch‑juristischen
Assoziationen darauf abzielt, die Konstruktion des Kin‑
476
des als ‚Indiz‘ (Nicht‑Akteur) in einem allein auf die Be‑
weiserhebung fokussierten Prozess darzustellen, wäre
die Metapher des Kindes als ‚Corpus Delicti‘ geeigneter.
Diese ist aber unserer Ansicht nach gleichermaßen pro‑
blematisch, da auch sie einen strafprozesslichen Bedeu‑
tungsrahmen suggeriert, der auf die Reduktion des Kin‑
des zum Beweismittel hinausläuft. So geht auch diese
Metapher am Kern der in der KSA praktizierten Arbeit
vorbei, bei der das Kind gerade nicht Indiz in einer zu
erstellenden Beweiskette, sondern aktive_r Gesprächs‑
partner_in in/bei der Ermittlung von Hilfebedarf ist. Es
mag sein, dass wir diesem Anspruch in der täglichen
Praxis nicht immer vollkommen gerecht werden kön‑
nen, und hier ist weitere Forschung nötig, dennoch ist
es uns wichtig zu betonen, dass dieser Anspruch besteht
und dass die Kinder und Familien, die zu uns kommen,
sowie beteiligte Kooperationspartner_innen und invol‑
vierte Privatpersonen sich darauf verlassen können, dass
wir kindzentrierte Diagnostik nicht als Ermittlungsar‑
beit, sondern als systemische Beziehungsarbeit verste‑
hen und durchführen.
Auftragsanlass: Kindeswohlgefährdung und
allgemeiner Hilfebedarf
Die Ergebnisse der Teilstudie zu den Fallverlaufsmus‑
tern (für die in 30 Fällen KSA‑Akten und Jugendamts‑
akten zusammengeführt und analysiert wurden) be‑
leuchten interessante Muster und geben Hinweise auf
Abläufe und Charakteristiken bei guten und weniger
guten Fallausgängen. Hieraus ergibt sich für die Praxis,
an welchen Stellen nach Ursachen und Zusammenhän‑
gen geschaut werden muss, um ungünstige Ausgänge zu
vermeiden. Kritisch kommentieren wollen wir jedoch
die Tatsache, dass die vier vorgestellten ‚Falltypen‘ (sie‑
he Bohrer et al. 2022, S. 122) ausnahmslos als auf einem
zu klärenden Verdacht der Kindeswohlgefährdung ba‑
sierend dargestellt sind. Auch wenn dies sicherlich das
Fallsample akkurat wiedergibt, scheint uns dies proble‑
matisch, da es bei der Leserschaft den Eindruck erwe‑
cken kann, die KSA nehme ausschließlich Fälle an, in de‑
nen explizit die Aufklärung von Kindeswohlgefährdung
im Vordergrund steht (ebenda S. 121). Uns ist bewusst,
dass die Studie beispielhaft Verlaufsmuster identifiziert
und nicht den Anspruch hat, ein repräsentatives Bild al‑
ler vorkommenden Fallkonstellationen zu geben (was
bei einem Sample von 30 aus 5000 Akten ohnehin nicht
möglich wäre). Aber auch wenn in dem Fallsample kein
solcher Fall vorkam, finden wir es wichtig anzufügen,
dass für die KSA eine Kooperation mit dem Jugendamt
(bei vorhandenem Einverständnis der Sorgeberechtig‑
ten) vereinbarungsgemäß immer dann besteht, wenn es
ein wie auch immer geartetes Interesse des Jugendam‑
tes an der Diagnostik bzw. ihren Ergebnissen gibt. Dies
gilt nicht nur bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung
im engen Sinne (also im §8a‑Verfahren), sondern auch
dann, wenn es um die Ermittlung von Hilfebedarf im
Sinne guter Entwicklungschancen eines Kindes im Rah‑
men von Hilfen zur Erziehung geht.
Verschiedene Lesarten von Untersuchungsergebnissen
Abschließend ein Kommentar zum Fazit der Teilstudie,
die, basierend auf der quantitativen Auswertung von
registrierten Fallzahlenentwicklungen, Anmelde‑ und
Kontaktanlässe von 1984‑2014 untersucht: „Ob Bedar‑
fe und Risiken von Kindern erkannt und behandelt, ob
und wie sie und ihre Eltern unterstützt oder kontrolliert
werden, hängt wohl weniger von ‚objektiven‘ Lebens‑
umständen oder Gefährdungslagen ab. Vielmehr scheint
relevant, was jeweils politisch und fachlich diskutiert
wird und welche gesellschaftlichen Entwicklungen den
Kinderschutzdiskurs bestimmen.“ (Bohrer et al. 2022,
S. 122). Zwei Autor_innen (Komesker und E. Motzkau)
lesen dieses Fazit mit Sorge, denn aus ihrer Sicht kri‑
tisiert es die KSA‑Fachkräfte für Voreingenommenheit
und mangelnde Objektivität, wonach diese, insofern
sie sich von Politik, Medien/Fachdebatten leiten ließen
statt von den Lebensumständen/Gefährdungslagen der
Kinder, ihren Auftrag verfehlten. J. Motzkau weist da‑
rauf hin, dass eine so spezifische Praxiskritik sich aus
einer solchen Fallzahlenstudie nicht ableiten ließe. Sie
liest das Fazit als eine Erläuterung zu dem Befund, dass
Kinderschutz sich als „wandelbare soziale Konstruktion
darstellt“ (ebenda S. 122), womit die Teilstudie wich‑
tige Hinweise darauf liefert, inwiefern sich die jeweils
dominanten Kinderschutzdiskurse in den Fallzahlen,
aber auch in den dokumentierten Begrifflichkeiten wi‑
derspiegeln (was aber nichts über die Entscheidungs‑
prozesse, Kompetenz oder Objektivität einzelner Fach‑
kräfte aussagt). Es ist wichtig, solche Lesarten ernst zu
nehmen und zu klären, egal, ob es sich um unklar aus‑
gedrückte oder um missverstandene Forschungsergeb‑
nisse handelt.
Fazit
„Wer schreibt, der bleibt“ (Haase 2021, S. 242), merkt
Haase richtig an, und dies gilt sowohl für das Schrei‑
ben von Akten als auch für das Veröffentlichen von
Forschungsergebnissen. Akten und Forschung werden
von Beteiligten unweigerlich unterschiedlich rezipiert.
Solche Rezeptionen ernst zu nehmen, gibt Aufschluss
darüber, wie weiter zusammengearbeitet werden kann.
Das heißt nicht, dass Praktiker_innen bei Forschung
über Praxis Deutungshoheit haben oder diese zensieren
dürften, dass Fehler in der Praxis nicht vorkommen,
nicht ermittelt oder angemahnt werden dürften, oder
dass problematische Praxiskonstruktionen von Kinder‑
schutzkindern nicht herausgearbeitet werden sollten.
Um das gegenseitige Vertrauen, das zukünftige For‑
schung erst möglich macht, aufrecht zu erhalten, und
auch Ergebnisse von Grundlagenforschung der Praxis
zugänglich zu machen, ist es aber genauso wichtig zu
verfolgen, wie Forschung rezipiert wird, denn so wird
die gemeinsame Kritik und Konstruktion von Kinder‑
schutzpraxis möglich (Biesel et al. 2021). Das hieße,
noch konsequenter mit den Praktiker_innen und nicht
s
über sie zu forschen (Nissen 2012).
∑
Eingegangen. 26. April 2022
Angenommen. 6. Oktober 2022
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mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die
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