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Für einen unterstützungs-orientierten Kinderschutz

2018, Sozial Extra 42(4):50-52

https://doi.org/10.1007/s12054-018-0066-7

Sozialpädagogische Kinder-schutzarbeit ist durch Komplexität und das Agieren in Ungewissheit geprägt. Ihre professionelle Weiterentwicklung braucht sowohl die Profession als auch die Disziplin der Sozialen Arbeit und lebt aufbauend auf der Würdigung der professionellen Praxis vor allem kritische Reflexionen und Diskurse.

Sozial Extra 4 2018: 50-52 Debatte https://doi.org/10.1007/s12054-018-0066-7 Für einen unterstützungsorientierten Kinderschutz Kinderschutzpraxis zwischen Hilfe- und Kontrollauftrag, professionellen Einschätzungsprozessen und der Initiierung von Hilfs- und Unterstützungsangeboten Der Beitrag von Mark Schrödter zu den Beiträgen des Schwerpunkts „Sozialpädagogische Kinderschutzarbeit“ (Sozial Extra 2|2018) in dieser Ausgabe bedarf aus Sicht der Koordinatorinnen sowie der angesprochenen Autor_innen einer Antwort. Seine professionstheoretisch konturierten Annahmen zu den Wirklichkeiten der Sozialen Arbeit im Kontext einer sozialpädagogischen Kinderschutzpraxis wie auch die forschungsprogrammatische Kritik folgen einer ‚So ist es und nicht anders‘-Logik, die den Diskurs um sozialpädagogischen Kinderschutz in Wissenschaft und Praxis einseitig verengt. S ämtliche Beiträge“, so Mark Schrödter zum „Durchblick: Sozialpädagogische Kinderschutzarbeit“, argumentierten auf der Grundlage der normativ falschen Werner Thole *1955 Dr. phil. habil., Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Sozialpädagoge; Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit und außerschulische Bildung, Universität Kassel. [email protected] Prämisse der Koexistenz von Hilfe und Kontrolle. Dies vor allem im Kontext von Gefährdungseinschätzungen, also in Fällen von angenommenen Integritätsverletzungen von Kin- Svenja Marks *1988 B.A. Soziale Arbeit und M.A. Erziehungswissenschaft; Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Wissenschaftliche Unterstützung professioneller Handlungsfelder im Umgang mit Kindeswohlgefährdung und beim Aufbau tragfähiger Kooperationsstrukturen im Kinderschutz“, Universität Kassel. [email protected] Verena Klomann *1977 Dr. phil., Diplom-Sozialpädagogin, M.A., Supervisorin (DGSv), Professorin an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Aachen. Schwerpunkte: Theorien und Konzepte Sozialer Arbeit. [email protected] Julian Sehmer *1990 M.A. Soziale Arbeit; Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Wissenschaftliche Unterstützung professioneller Handlungsfelder im Umgang mit Kindeswohlgefährdung und beim Aufbau tragfähiger Kooperationsstrukturen im Kinderschutz“, Universität Kassel. [email protected] Regina Rätz *1970 Dr. phil, Diplom Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, Soziologin, Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendhilfe an der Alice Salomon Hochschule Berlin, u.a. wissenschaftliche Leitung des weiterbildenden Masterstudiengangs Kinderschutz - Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz. Kay Biesel *1980 Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kindesschutz an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, CH-Basel [email protected] [email protected] Reinhart Wolff *1939 Dr. phil. habil, Prof. i.R., Kronberger Kreis für Dialogische Qualitätsentwicklung e.V.; lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin im weiterbildenden Masterstudiengang „Kinderschutz – Dialogische Qualitätsentwicklung in den Frühen Hilfen und im Kinderschutz“. [email protected] 50 Heinz Messmer *1955 Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Hilfen zur Erziehung an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, CH-Basel [email protected] Abstract / Das Wichtigste in Kürze Sozialpädagogische Kinderschutzarbeit ist durch Komplexität und das Agieren in Ungewissheit geprägt. Ihre professionelle Weiterentwicklung braucht sowohl die Profession als auch die Disziplin der Sozialen Arbeit und lebt aufbauend auf der Würdigung der professionellen Praxis vor allem kritische Reflexionen und Diskurse. Keywords / Stichworte Dialogische Qualitätsentwicklung, Kinderschutz, Kinder- und Jugendhilfe, hilfeorientierte Kinderschutzarbeit, sozialpädagogische Forschung dern. Er stellt heraus: „Diese Prämisse ist falsch. Sie stimmt auch in deskriptiver Hinsicht nicht.“ Vor dem Hintergrund der formulierten Prämisse wird verständlich, warum Mark Schrödter der Ansicht ist, die „wahre“ und gültige Faktenlage der sozialpädagogischen Kinderschutzarbeit zu kennen und Autor_innen vorwirft, nicht zu verstehen, was im Kinderschutz der Fall ist. Ohne auf diesen Vorwurf im Detail einzugehen, ist zunächst daran zu erinnern, dass keineswegs alle fünf Beiträge Fragen der „Verdachtsabklärung“ – oder der Einschätzung von potentiellen Kindeswohlgefährdungen – und der Relationierungen von Hilfe- und Kontrollaufgaben im Kinderschutz erörtern. Entgegen der in der Replik durchschimmernden Annahme, dass Abklärungen eines vermuteten Verdachts von Verletzungen der kindlichen Integrität an einen spezifischen Ort und lediglich zu einem spezifischen Zeitpunkt stattfinden, ist daran zu erinnern, dass bei einer positiven Beurteilung von Verletzungen des Kindeswohls diese wiederholend von den Fachkräften durchgeführt werden. Sondierungen eines Verdachtes von kindlichen Verletzungen der Integrität sind ein über den gesamten Fallverlauf sich entfaltender Prozess. Übersehen wird zudem, dass nicht alle Beiträge explizit Fragen der sozialpädagogischen Professionalität im Kinderschutz thematisieren. Matthias Löw referiert und diskutiert die Frage, ob und mit welchem Ertrag sich ein Blick auf die regionalisierten Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik in Bezug auf Einschätzungsverfahren nach § 8a des SGB VIII lohnt. Die Entwicklung eines kinderschutzbezogenen Falleingangsteams im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes zeichnet Carmilla Eder in ihrem Beitrag nach. Sie hebt hervor, dass derartige Teams nur dann erfolgreich und gewinnbringend implementiert werden können, wenn sie in die allgemeine, auch fallbezogene Arbeit durchgehend eingebunden werden. Kay Biesel und Heinz Messmer referieren in ihrem Beitrag die Grundlagen und Motive, die in Hamburg dazu geführt haben, eine Jugendhilfeinspektion einzurichten. Sie stellen fest, dass solche Instanzen der Fachaufsicht vielleicht dann sinnvoll sein können, wenn die Fachkräfte auf die erzielten Befunde direkt zurückgreifen können und diese nicht lediglich dazu herangezogen werden, Fallbear- beitungsprozesse zu kontrollieren. Eckpfeiler einer dialogischen, demokratische Prinzipien beachtenden und die Interessen von Eltern, Kindern und Jugendlichen ernst nehmenden Kinderschutzpraxis diskutiert Reinhart Wolff in seinem Beitrag. Svenja Marks, Julian Sehmer und Werner Thole referieren zentrale Ergebnisse eines Forschungsprojektes. Lediglich in den beiden zuletzt genannten Beiträgen geht es unter anderem um Relationierungsprozesse und -praktiken zwischen Kontrolle und Hilfe und um die in den Jugendämtern anzutreffende Praxen der Initiierung von Hilfeprozessen im Kinderschutz. Abgesehen von dem Beispiel, über das Carmilla Eder berichtet, wird jedoch weder in diesen noch in den anderen Beiträgen auf Basis einer empirisch wahrgenommenen durchgehenden Trennung zwischen Hilfe- und Verdachtsabklärungs- oder Wächteramtspraxis diskutiert. Sicherlich existieren gegenwärtig vereinzelt Überlegungen in verschiedenen Jugendämtern, zwischen diesen beiden Aufgaben auch institutionell deutlicher zu trennen. Es kann aber auf Basis der vorliegenden Studien keineswegs generell davon ausgegangen werden, wie Mark Schrödter schreibt, dass Träger der Freien Kinder- und Jugendhilfe vornehmlich die Hilfe und der Öffentliche Träger Jugendamt lediglich Kontrollaufgaben im Kinderschutz wahrnehmen respektive Jugendämter den Kontrollauftrag getrennt von den Hilfeaufgaben realisieren. Die bei den örtlichen Jugendämtern liegende Fallverantwortung wird gegenwärtig weitestgehend so interpretiert, dass über die Allgemeinen Sozialen Dienste neben Prozessen der der Abklärung von vermuteten Verletzungen des kindlichen Wohls auch erzieherische Hilfen – von der Anbahnung über die Gewährung bis hin zur Umsetzung – realisiert und lediglich spezielle Aufgaben fall- und anlassbezogen an Freie Träger übertragen werden. Und sicherlich operieren Praktiker_innen im Kinderschutz auch zuweilen mit dem Modell „Bad cop/good cop“ – aber, ob Fachkräfte der Sozialen Arbeit sich dabei selbst als Polizist_innen verstehen oder lediglich ihre Möglichkeiten und Grenzen in der Zusammenarbeit mit zum Teil schwer zu erreichenden Adressat_innen austarieren, bleibt eine offene und empirisch bislang nur unzureichend beantwortete Frage. Jedenfalls sind die Fachkräfte der Sozialen Arbeit, auch wenn sie „bad-“ und „good-cop“-Praktiken im Kinderschutz anwenden, keine Polizist_innen – und das aus gutem Grund: Sie haben den gesetzlichen Auftrag zu helfen und sonst nichts. Dabei werden im Kinderschutz sicherlich auch sozialpädagogische Kontrollstrategien aktiviert, nicht jedoch, um Eltern zu diffamieren oder um – wie Mark Schrödter in Bezug auf die Kinderschutzpraxis der USA meint – die Eltern „stärker in die Verantwortung“ zu nehmen „für die Bewältigung gesellschaftlich erzeugter Probleme sozialer Deprivation“; Ziel eines solchen – auch in vielen anderen Ländern zu beobachtenden autoritären Kinderschutzansatzes – ist vielmehr ein repressives Risikomanagement (vgl. Connolly 2017). 51 Sozial Extra 4 2018 Debatte Auf Gefährdungen des Wohls von Kindern zu antworten, ist für die Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter in Deutschland keine Ermittlungs- und Verfolgungsaufgabe. Es ist in der Regel eine aufmerksame und solidarische Praxis der Konfliktklärung sowie der Beratung und Hilfe, um die jeweiligen Lebensumstände und Formen der Lebensführung, die in Notlagen und Gefährdungen geführt haben, zum Besseren hin zu verändern. Der hier diskutierte Kinderschutz ist und bleibt eine Antwort auf das Problem des partiellen und einzelfallbezogenen Unvermögens der Institution Familie, die Integrität des kindlichen Aufwachsens durchgehend zu sichern. Verantwortung für diese Sicherung übernimmt in Vertretung für die Gesellschaft die staatliche Gemeinschaft, die diese wiederum an die örtlichen Jugendämter delegiert (vgl. u.a. Thole, Marks und Sehmer 2017). Der gesetzliche Auftrag betont hierbei sehr eindeutig die enge Verbundenheit zwischen potentiellen Eingriffsbefugnissen und dem primären Auftrag, die Eltern bei der Abwendung der Gefährdung zu unterstützen – ihnen also Hilfe zukommen zu lassen. Eine professionelle Umsetzung dieses Auftrages kann ohne dialogisches Vorgehen kaum gelingen. Welche organisationale Rahmung die Jugendämter in Bezug auf die Bewältigung dieser Aufgabe für angemessen halten und welche konkrete Praxis sich darüber in den Jugendämtern entwickelt, ist unterschiedlich und keineswegs schlicht in einer „So ist es und nicht anders“-Annahme zu beschreiben. Die Praxis des Kinderschutzes kann sicherlich unter Bezug auf die von Ulrich Oevermann (2000) entwickelten strukturtheoretischen Überlegungen professionstheoretisch kontextualisiert werden. Und fraglos kann dann auch diskutiert werden, ob und inwieweit kontrollierende, eingriffsorientierte Aufgaben grundsätzlich die Annahme erzeugen, dass unter entsprechenden Bedingungen die Professionalisierung eines Handlungsfeldes nicht möglich ist. Ob dies der Fall ist, bleibt allerdings ebenso zu diskutieren wie die Frage, ob nicht Hinweise auf andere Professionalisierungsansätze andere theoretische Antworten nahelegen. Die in hochkomplexen Handlungsfeldern – nicht nur in der Sozialen Arbeit, auch in medizinischen, schulpädagogischen, sozialtherapeutischen und juristischen Arbeitsfeldern – gegebenen Antinomien zwischen Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung oder eben auch zwischen Hilfe und Kontrolle müssen immer wieder erörtert und handlungspraktisch bearbeitet werden. Die für die wissenschaftliche wie für die sozialpädagogische Handlungspraxis eingeschriebene Herausforderung besteht strukturell darin, die jeweils identifizierten Antinomien und Paradoxien in den Fällen der Praxis unter Rückgriff auf die jeweils vorliegenden Ressourcen und Wissensbestände zu reflektieren. Die damit gefundenen Antworten gilt es in der Praxis gegenüber den Adressat_innen und den organisierten Praxen des Kinderschutzes respektive in wissenschaftlichen Diskursen plausibel zu kommunizie52 ren. Der Allgemeine Soziale Dienst als zentraler Akteur des Kinderschutzes, wie auch andere Handlungsfelder des Jugendamtes und der Sozialen Arbeit, haben sich in den zurückliegenden Jahrzehnten stark von einer vornehmlich repressiv kontrollierenden hin zu einer helfenden wie präventiv ausgerichteten Praxis entwickelt, ohne dass damit alle Probleme und Konflikte abschließend hätten ausgeräumt werden können. Die Praxis des bundesrepublikanischen Kinderschutzes zu diskutieren und zu kritisieren heißt nicht, die positiven Entwicklungen zu negieren. Sie mit den selbstgesteckten konzeptionellen Ansprüchen zu konfrontieren, ist jedoch eine genuine Aufgabe empirisch fundierter, wissenschaftlicher Reflexion. In keinem der im Schwerpunkt veröffentlichten Beiträge wird der Kinderschutzpraxis „etwas vorgeworfen“, wohl aber die Praxis kritisch erörtert. Diese entwickelt selbst inzwischen durchaus differenzierte Formate, wissenschaftliche Befunde kritisch zu kommentieren. Die Einwände von Mark Schrödter können gleichwohl als Anregung verstanden werden, den wissenschaftlichen Diskurs zum Kinderschutz zu intensivieren und bestehende Kontroversen zu diskutieren. Sie motiviert uns, in Wissenschaft und Praxis noch intensiver für einen unterstützungsorientierten Kinderschutz s einzutreten. ∑ Literatur CONNOLLY, MARIE (HRSG.) (2017). Beyond the Risk Paradigm in Child Protection. London: Palgrave OEVERMANN, ULRICH (2000). Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis. In: Kraimer, Klaus (Hrsg.), Die Fallrekonstruktion. Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung (S. 58-156). Frankfurt am Main: Suhrkamp THOLE, WERNER, MARKS, SVENJA, UND SEHMER, JULIAN (2017). Praktiken des Kinderschutzes im empirischen Blick. Einleitung in den Themenschwerpunkt. In: Sozialer Sinn 18 (2), 167-178