Versuche der Grenzüberschreitung
Zur Rolle der Empathie in der Interspezies-Interaktion
Heike Rettig
1.
Einleitung
In der aktuellen Diskussion wird das Verhältnis von Mensch und Tier zunehmend
als ein graduelles bestimmt. Tieren werden, gerade auch im Licht neuer verhaltensbiologischer Forschung, immer öfter Merkmale wie Kultur, Sprache und die Fähigkeit, die mentalen und emotionale Zustände anderer zu verstehen, zugesprochen.
Viele Tiere besitzen solche Fähigkeiten mindestens teilweise (vgl. Monsó/BenzSchwarzberg/Bremhorst 2018; Benz-Schwarzburg 2012).
Vor diesem Hintergrund steht deshalb hier nicht die Bestimmung von Grenzen und die Abgrenzung des Humanen und des Tierlichen im Fokus, sondern das,
was man – in konkreten Interaktionskontexten – als verbal explizierte Versuche
und Praktiken der interspezifischen ›Grenzüberschreitung‹ seitens der beteiligten
Menschen verstehen kann. Es geht also nicht um eine Perspektive, die davon ausgeht, dass menschliche und tierliche Lebewesen grundsätzlich nur in ihren eigenen, füreinander vollständig opaken Welten leben, denn es zeigt sich immer wieder, dass interspezifische Interaktion und komplexe Kooperation prinzipiell – trotz
unterschiedlicher artspezifischer Kommunikationsressourcen – nachweislich und
beobachtbar möglich sind.
Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Mensch-Pferd- und
Mensch-Hund-Interaktionen, denn Pferde, Hunde und Menschen befinden sich
schon seit Jahrtausenden in einer Lebensgemeinschaft und haben Interaktionspraktiken herausgebildet, die es z.B. ermöglichen, dass Pferd und Mensch sich
gemeinsam beim Reiten fortbewegen und dabei komplexe Bewegungsmuster ausführen und dass Hunde zusammen mit ›ihren‹ Menschen anspruchsvolle Aufgaben
etwa als Rettungs- oder Therapiehund bewältigen oder als sogenannter Begleithund eng mit dem Menschen zusammenleben.
Empathie spielt dabei, wie im Folgenden gezeigt werden soll, eine zentrale
Rolle und erweist sich als »Brückenpraktik« (Steen 2020) in der Artgrenzen überschreitenden Interaktion und Kommunikation. Empathie wird hierbei – im Sinne
des aktuellen wissenschaftlichen Empathiediskurses – nicht als ein einfaches Mit-
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Heike Rettig
fühlen verstanden, sondern wird vieldimensional und -funktional verortet (s. dazu
Abschnitt 2).
Empathie als inneres Erleben ist der Beobachtung nicht direkt zugänglich. Es
finden sich jedoch verschiedenste Formen der verbalen Darstellung des Empathisierens und der Indexikalisierung von Empathie, die in jüngerer Zeit Gegenstand
der linguistischen Forschung geworden sind (vgl. dazu Jacob/Konerding/Liebert
2020; Kupetz 2014, 2015; Pfänder/Gülich 2013). Die linguistische Betrachtungsebene erweist sich als relevanter Zugang sowohl im Kontext der Empathieforschung
und als auch der Interspezies-Kommunikation.
Ein solcher linguistische Zugang zum Empathisieren mit Pferden und Hunden
erfolgt in der vorliegenden Analyse über die Beobachtung von Trainings-, Lernund Ausbildungssituationen im Bereich Reitunterricht/Pferdausbildung und Hundetraining. In solchen Lehr-Lern-Kontexten ist nämlich zu beobachten, dass Reitlehrer*innen, Pferdeausbilder*innen und Hundetrainer*innen ihr eigenes Empathisieren mit dem an der Interaktion beteiligten tierlichen Lebewesen für die Lernenden versprachlichen. Diese Verbalisierungen, die aus Sicht der Expert*innen
offensichtlich relevant für die Gestaltung der Interspezies-Interaktion sind, verstehe ich als ›lehrende Praktiken des Empathisierens‹: Sie werden eingesetzt, um
den Lernenden ein besseres Verstehen ihrer tierlichen Interaktionspartner und der
aktuellen Interaktionssituation zu vermitteln. Zugleich sensibilisieren die Trainer*innen durch ihr lehrendes Empathisieren die Reiter*innen und Hundehalter*innen für die eigenständige empathische Erkundung der Tiere.
Datengrundlage für die hier gezeigten Analyseausschnitte sind transkribierte
Videos von Reitunterricht und kommentierter Pferdausbildung sowie von TVSendungen und Internetvideos, in denen professionelle Hunde-Trainer*innen
Hundeverhalten für Hundehalter*innen erklären und mit Halter*in und Hund
trainieren. Dass sich das lehrende Empathisieren mit tierlichen Lebewesen als
Praktik bei der Schulung von Menschen in Interspezies-Interaktionen beobachten
lässt, stützt empirisch das Verständnis von Empathie als Brückenpraktik.
Die Erkenntnisse zur Reiter*in-Pferd-Interaktionen wurden an anderer Stelle
(Rettig 2020) bereits ausführlich behandelt, sie werden hier zusammenfassend als
Voraussetzung für die darauf aufbauenden Betrachtungen vorausgestellt. Ziel der
Analysen im zweiten Teil ist es, anhand von exemplarischen Analysen zu untersuchen, ob und inwiefern auch für die Hund-Mensch-Interaktion lehrende Praktiken des Empathisierens eine Ressource für das Verstehen und die interspezifischen Verständigung darstellen. Vorausgeschickt werden im Folgenden zunächst
die konzeptuellen Grundlagen hinsichtlich der Bedingungen und zentralen Dimensionen des Empathisierens im Kontext von Mensch-Tier-Verhältnissen (vgl. ausführlicher dazu Rettig 2020).
Versuche der Grenzüberschreitung
2.
Bedingungen des interspezifischen Empathisierens
Können wir überhaupt mit tierlichen Lebewesen empathisieren, die über ganz andere Wahrnehmungs- und Ausdrucksressourcen verfügen? Können wir mit einem
Pferd, einem schnellen Fluchttier auf vier Beinen mit einer nahezu 360 Grad umfassenden Rundumsicht oder mit einem Hund, der feinste Geruchspuren aufnimmt
und ›liest‹, überhaupt empathisieren, ohne dass dies ein reines Phantasma oder
eine grobe Anthropomorphisierung darstellt? Ich möchte diese Frage ausdrücklich mit ›ja‹ beantworten. Zwar ist unbezweifelbar, dass wir durch Empathisieren
nicht die Welt als Pferd oder als Hund erleben können (vgl. Nagel 2007). Empathie
wird aber in dem Augenblick zur unverzichtbaren Ressource für Verstehen und
Verständigung, in dem wir sie im Sinne von Liebert (2020) als ein exploratives Verfahren verstehen, um die Lebenswelt des Anderen (ob menschlich oder tierlich) zu
erkunden und sie, wie (Breyer 2013b: 7, Hinzufügung H.R.) es formuliert, als eine
»interessierte Eigenaktivität, [die auf] das Verstehen des Zustandes ausgerichtet
[ist], in dem sich der Andere befindet«, auffassen. Es geht nicht um ein tatsächlich erlangbares Wissen, sondern das »Wissen-Wollen«, was der Andere fühlt und
denkt (vgl. Pfänder/Gülich 2013: 433) – und dieser Andere kann auch ein Lebewesen
einer anderen Spezies sein.
Voraussetzung für das menschliche Empathisieren mit Tieren ist es dabei, Tiere generell oder ein ganz bestimmtes Tier – in der Begegnungssituation oder typisierend – als Subjekt zu konstituieren, dem ein Innenleben zugeschrieben wird,
unabhängig von tatsächlichen Emotionen und Kognitionen auf Tierseite (vgl. Steen 2020). Diese Voraussetzung ist in aller Regel bei Pferden und Hunden, die im
Status von Haustieren (im Gegensatz zu sog. Nutztieren) in Gesellschaft von Menschen leben, erfüllt.
3.
Empathie-Dimensionen
In der Forschung werden verschiedene Dimensionen und Formen von Empathie
differenziert und bestimmt (Breyer 2013b; Hermanns 2008; Steen 2020). Für den
hier betrachteten Kontext ist, wie schon eingangs erwähnt, zentral, dass Empathisieren nicht ausschließlich nur als Einfühlen verstanden werden sollte, d.h. Empathie betrifft nicht nur die affektiv-emotionale, sondern auch die kognitive und
leiblich-körperliche Dimension (vgl. Breyer 2020). Ich will im Folgenden vor allem
etwas genauer auf einige Aspekte eingehen, die für den Pferd-Mensch- und den
Hund-Mensch-Kontext zentral sind.
Seitens des Menschen ist für eine erfolgreiche Interspezies-Interaktion insbesondere allozentrisches, wissens- und erfahrungsgestütztes Empathisieren nötig.
Die »allozentrische Transposition« beinhaltet eine »Sensitivität für die Andersheit
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Heike Rettig
des Anderen« (Breyer 2013b: 27) und ein Bewusstsein für die prinzipielle Begrenztheit des empathischen Erkundens. Wissen über die Gleich- und Andersartigkeit
des empathisierten Tieres sind hierbei zentral. Dies betrifft bei den hier im Fokus
stehenden Mensch-Tier-Interaktionen sowohl generalisiertes Wissen über Reiten
bzw. Hundeausbildung sowie artspezifisches Pferde- bzw. Hundewissen als auch
Wissen/Erfahrungswissen über das individuelle Pferd/den individuellen Hund.
Empathisieren umfasst auch das Ausdrucksverstehen: In der Interaktion bleibt
uns – trotz aller grundsätzlichen Fremdheit und des konstruktiven Charakters empathischer Zuschreibungen – das lebendige Gegenüber nicht völlig verschlossen.
So manifestieren sich in Mensch-Mensch-Interaktionen im leibkörperlichen Ausdruck – z.B. in Form von Tränen oder einem zornigen Gesichtsausdruck – zumindest typisierend (vgl. Breyer 2013b: 28) innere Zustände. Der »Zugang zum Andern
besteht also auch im »im direkten Wahrnehmen und Verstehen expressiver Qualitäten« (Breyer 2013b: 28). Dies kann auch in Bezug auf Pferde oder Hunde gelten,
allerdings braucht es bei einem nicht-menschlichen Lebewesen zum Teil Wissen
und Erfahrung, um körperbasiertes Ausdrucksverhalten als unmittelbare Manifestation von Innerlichem artangemessen zu deuten. So wird z.B. das sogenannte
Flehmen des Pferdes, bei dem es witternd die Oberlippe hochzieht und dabei seine
Zähne zeigt, oft fälschlicherweise als ›fröhliches‹ Lachen aufgefasst und jede Form
des Wedelns mit der Rute beim Hund als ›freundliche‹ Gestimmtheit des Tieres
missverstanden.
Empathie ist aber auch eine Reaktion auf den Anderen, die »darin besteht,
dass ähnliche Gefühle usw. sich in ihm ausbilden wie der andere sie hat« (Hermanns 2007: 132f.), sie besteht im »Haben (Aktiviert-Sein) oder Sich Ausbilden
(dem Aktiviert-Werden) sehr ähnlicher Emotionen usw.« (Hermanns 2007: 133).
Bei körperbasierter Empathie (s. unten) geschieht dies, wie beim Reiten, wechselseitig zwischen Pferd und Reiter durch den direkten leiblichen Kontakt der
beteiligten Lebewesen. Wie die Analysen zeigen, sensibilisieren Trainer*innen
aber in Mensch-Pferd- und in Mensch-Hund-Interaktionen die Lernenden für
diesen – sowohl im Pferde- als auch im Hundediskurs zweifelsfrei als existent
vorausgesetzten – Prozess. Eine bislang unveröffentlichte Studie von Kowasch
an der niederländischen Van Hall Larenstein Universität spiegelt dies auf physiologischer Ebene für Pferde: Durch Experimente konnte gezeigt werden, dass
die Herzfrequenzen von Mensch und Pferd in einer Wechselbeziehung stehen:
Je ruhiger der Mensch war, desto entspannter war auch das Pferd (vgl. dazu
den Bericht in ReiterRevue 2018: 12). Verschiedene verhaltenswissenschaftliche
Studien (D’Aniello et al. 2018; Semin et al. 2019) zeigen auch für Hunde, dass diese
emotional z.B. auf menschlichen Geruch reagieren. Semin et al. (2019: o.S.) fassen
zusammen, dass »experiments with dogs have demonstrated that human body
odors produced under emotional conditions of happiness and fear led dogs to
manifest corresponding emotions to those experienced by humans.«
Versuche der Grenzüberschreitung
Gerade in der Tier-Mensch-Interaktion spielt körperbasierte Empathie häufig eine Rolle. Dabei kann der Körper im Empathieprozess eine unterschiedliche Rolle
einnehmen: Empathie kann verstanden werden als durch Körperkontakt unwillkürlich ausgelöstes (auch hier reaktives oder wechselseitiges) direktes Miterleben
innerer Zustände des anderen Lebewesens, die man als »instinktive empathische
Bewegung« im Sinne von Breyer (2013b) bezeichnen könnte. Ein ›ängstlich‹ verkrampfter Menschenkörper auf seinem Rücken ist zum Beispiel für das Pferd – im
Sinne Breyers – empathisch sichtbar.
Empathie kann gefasst werden als mit dem eigenen menschlichen Körper nachgeahmte, mitgemachte, gespiegelte oder antizipierte Bewegungsabläufe des tierlichen Lebewesens: Das Einnehmen einer »investigatory posture« stellt nach Shapiro
(1990) als »kinästhetische Empathie« ein Verstehensverfahren in Bezug auf das Gegenüber dar: »[T]he investigator attempts to directly sense the motor intention or
attitude or project of the animal.« (1990: 186, Hinzufügung H.R.).
Empathie kann auch ein unmittelbar bedeutungsvoller körperbasierter wechselseitiger Austausch von Gefühlen und Wünschen im Sinne von Brandt (2006)
sein. Dies setzt – wie beim Reiten – einen direkten leiblichen Kontakt der Interaktionspartner*innen voraus, so können Mensch und Pferd mittels ihrer Körper
Gefühle und Wünsche kommunizieren. Dies ist nicht nur im Sinne einer sensorisch wahrnehmbaren Response des Pferdes bezüglich einer einzelnen reiterlichen
Hilfe verstehbar. Embodied empathy im Sinne Brandts (2006: 145) ist eine leibliche
Empfindung der Gefühle des Anderen und stellt ein verkörperlichtes Mitfühlen und
darüber hinaus einen gestalthaften, unmittelbar bedeutungsvollen verkörperlichten Austausch über die wechselseitigen Befindlichkeiten dar, der eben gerade nicht
auf der Wahrnehmung bestimmter Signale beruht. In körperbasierten Empathiekonzepten werden also der menschliche und der tierliche Körper als Weg zum Innenleben eines lebendigen Gegenübers thematisiert.
Generell hat das Empathisieren gegenüber Tieren häufig sekundäre Intentionen,
z.B. im Sinne instrumenteller oder manipulativer Empathie (vgl. Steen 2020). Empathisieren mit dem Pferden oder Hunden stellt zwar ein Verstehensverfahren im
Sinne eines empathischen Erkundungsversuchs dar, ist aber – sowohl bei Pferden
als auch bei Hunden – klar funktional auf die Erfüllung bestimmter Aufgaben und
allgemein auf menschliche Zwecke ausgerichtet. Zudem ist Empathie selektiv, d.h.
ist an situative, soziale, motivationale, moralische und kommunikative Regulatoren geknüpft (vgl. Liebert 2020, Steen 2020). Sowohl in der Pferde- als auch der
Hundeausbildung (und entsprechend der Ausbildung von Reiter*innen und Hundehalter*innen und -trainer*innen) liegen sich tradierende und z.T. kodifizierte
Leitlinien vor, die auch in Bezug auf das Empathisieren mit dem Pferd/Hund vorstrukturierend wirken.
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4.
Lehrendes Empathisieren in der Mensch-Pferd-Interaktion
Das allozentrische Empathisieren mit dem Pferd stellt im aktuellen reiterlichen
Diskurs in Deutschland und anderen Ländern häufig eine explizit geforderte reiterliche Fähigkeit – über verschiedenen Reitweisen und Schulen hinweg – dar (vgl.
Rettig 2020). Exemplarisch sei hier auf ein Kernelement des Diskurses zur sogenannten »englischen Reitweise« hingewiesen, nämlich auf die vom Dachverband
Deutsche Reiterliche Vereinigung (FN) herausgegebenen – in regelmäßiger Neuauflage seit mehr als fünfzig Jahren erscheinenden und in elf Sprachen übersetzten –
Richtlinien für Reiten und Fahren (im Folgenden mit Richtlinien abgekürzt). Die Richtlinien dienen als Grundlage für die Ausbildung von Pferden, Reiter*innen, Fahrer*innen, Ausbilder*innen, Auszubildenden und Turnier-Richter*innen. Hier finden sich immer wieder regelrechte ›Empathisierungsanweisungen‹: »Neben vielfältigen Erfahrungen muss der Reiter ein sicheres Gespür für das Wesen und die
Verhaltensweisen der Pferde haben. Er muss ständig in das Pferd ›hineinhorchen‹«
(Richtlinien Bd. 2: 25f.).
Als Anforderung wird in den Richtlininen ein eindeutig allozentrisches Empathisieren formuliert, das sich explizit an der »Natur« des Pferdes orientieren soll:
Ist der Reiter in der Lage, sich in das Pferd und sein Verhalten hineinzufühlen, kann
er nachvollziehen, wie er vom Pferd wahrgenommen wird und welche Handlungsweise in der jeweiligen Situation angemessen ist. Der Reiter muss sich in seinem
Verhalten an der Natur des Pferdes orientieren – nicht an der Natur des Menschen.
(Richtlinien für Reiten und Fahren Bd. 1: 19.)
Empathisieren ist aber in der Mensch-Pferd-Interaktion (und, wie später thematisiert wird, auch in der Hund-Mensch-Interaktion) wechselseitig möglich. Pferde
deuten z.B. nachweislich menschliche Gesichtsausdrücke, wie die verhaltenswissenschaftlichen Experimente von Proops et al. (2018) zeigten. Pferde ›erkennen‹
menschliche Emotionen und passen ihr anschließendes Verhalten entsprechend
an (vgl. genauer Rettig 2020).
Empathisieren mit dem Pferd dient beim Reiten nicht nur einem VerstehenWollen der Pferdewelt, sondern ist funktional in menschliche Zwecke eingebunden. Im reiterlichen Diskurs wird Empathiefähigkeit von verschiedenen Richtungen und Schulen als eine wesentliche Kompetenz angesehen und vom Reiter gefordert. Empathiefähigkeit lässt sich in der Mensch-Pferd-Interaktion aber auch negativ (z.B. bei der wirkungsvollen Bestrafung oder Einschüchterung eines Pferdes)
oder als eine subtile – unter Umständen sogar ungewollte – Form der Machtausübung einsetzen.
Versuche der Grenzüberschreitung
4.1
Die Rolle der Trainer*innen als ›interpreters‹
Als Basis für die Reit-Interaktion erlernen sowohl Pferde als auch Reiter*innen –
in den verschiedenen Reitweisen jeweils spezifische – überwiegend körperbasierte
Zeichen. In der englischen Reitweise nennt man diese Zeichen ›reiterliche Hilfen‹,
sie umfassen Gewichts-, Schenkel-, Zügel- und Stimmhilfen. In der konkreten Interaktion findet jedoch ein komplexes, gestalthaftes Zusammenspiel von Pferd und
Mensch statt. Jede Interkation ist performativ ein individuelles Ereignis – und keinesfalls eine auf singulären Signalen beruhende und beschränkte behavouristische
Reiz-Reaktionskette.
Brandt bezeichnet das Reiten als Kommunikation und die Trainer*innen als
»interpreters« (2004: 307), die den Reiter*innen zeigen »how to use their »aids«
[…] to communicate their intentions to their horse. Conversely, the trainer helps
the rider to understand what the horse is communicating so that ultimately, when
working together, the horse-rider combination can be united. (Brandt 2004: 307).
Wie im Folgenden gezeigt wird, bezieht sich diese Rolle der Trainer*innen als ›interpreter‹ auch auf verschiedenen Dimensionen auf die inneren Zustände des Pferdes.
In ähnlicher Weise erlernt ein Hund i.d.R. ein Zeichen-Repertoire, die sog.
›Kommandos‹, in Form von Stimmkommandos oder auditiven Zeichen (wie Pfeiftöne mit der Hundepfeife oder Klicken) sowie körperbasierte visuelle Zeichengestalten (z.B. in Form von Handgestik, Körperpositur oder Gangmodalität). Für den
Verlauf einer konkreten, spezifisch-individuellen Hund-Mensch-Interaktion gilt
aber dasselbe wie das oben zur Reit-Interaktion Gesagte. Auch Hundetrainer*innen können – analog zu den Reittrainer*innen – als ›interpreter‹ des Interaktionsteilnehmers Hund verstanden werden, und auch hier erstreckt sich deren Rolle
auch auf innere Befindlichkeiten des Hundes, wie in Abschnitt 5 gezeigt werden
kann.
Zudem gilt natürlich für Pferde, Hunde und Menschen, dass sie unabhängig
von Hilfen oder Kommandos vielfältiges (kommunikatives) Verhalten auf verschiedenen Ebenen in jeder Interaktionssituation zeigen – und hier ist der*die Trainer*in ebenfalls durch Experten- und Erfahrungswissen ein wichtiger ›interpreter‹.
4.2
Analysebeispiel: Lehrendes Empathisieren im Reitunterricht
Im folgenden Transkriptausschnitt wird beispielhaft verdeutlicht, wie durch die
Trainerin ein Sich-Eindenken und -Fühlen in das Pferd zu Lehrzwecken erfolgt und
verbalisiert wird. Es werden hier die Praktiken Dem Pferd zugeschriebenes Empathisieren mit der Reiterin und Dem Pferd direkt zugeschriebenes inneres Erleben (vgl. Abschnitt
4.3) erkennbar.
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Die Trainerin erklärt in dem nachfolgenden, transkribierten Videoausschnitt
während des Reitunterrichts ihrer Reitschülerin durch Empathisieren mit dem
Pferd, wie deren Zügelhilfen beim Pferd ›ankommen‹. Die Trainerin empathisiert
hier rückblickend auf die unmittelbar vorangegangene Reitinteraktion mit dem
Pferd im Sinne allozentrischer Empathie und gibt das Ergebnis dieser Einfühlung
verbalsprachlich zu Lehrzwecken für die Reitschülerin wieder.
Die Transkription erfolgte hier (wie auch in den nachfolgend präsentierten
Transkripten) nach GAT2/Basistranskript (Seltling et al. 2009). Die Transkripte
wurden jedoch ggf. durch Einfügung zusätzlicher Zeilen für das para-/nonverbale Verhalten aller beteiligten Lebewesen und notwendige Situationsbeschreibungen an den fokalen Stellen ergänzt. In der unten transkribierten Sequenz läuft
das Pferd die ganze Zeit über in der langsamen Gangart Schritt und bewegt sich
am Rand der Reitbahn entlang, während die Reitlehrerin in der Mitte steht und
spricht.
T1: o_a_sie WILL ja
Titel: Reitunterricht am 15.11.; Einsteller: Tessy1179;
Quelle: youtube.com/watch?v=22WQd7_m0vM;
Datum: 16.11.2015; letzter Abruf: 14.3.2018;
ab Minute 4.38
01 T: wenn du auch INnen festhängst02 R: [nickt mit dem Kopf]
03 R: [mhm]
04 T: und ER (0,1) nicht ÄHRlich ist vorne;
05
WIRD er auch mal sagen-=
06 T: [wendet Kopf nach links und zurück
]
07
[=o_a_sie [WILL ja nach innen stellen-=]
08 T: [Arme parallel nach links und wieder zurück ]
09 T: [=aber ich bin nicht richtig WEICH im Körper-]
10 T: [Arme parallel nach links und wieder zurück]
11
[dann will ich GERN die hinterbeine nach
AUßen schmeißen;
]
12 R: mhm
Versuche der Grenzüberschreitung
Die Reitschülerin hat nach Ansicht der Trainerin den inneren (d.h. hier den linken)
Zügel zuvor zu unflexibel geführt, die Anlehnung des Pferdes an den Zügel war
nicht korrekt. Der Ausdruck »nicht ehrlich« in Zeile 4 ist hier nicht auf einen Gemütszustand zu beziehen, sondern auf das – hier offenbar noch nicht erreichte Ziel
– dass das Pferd durch gutes Reiten dazu veranlasst werden soll, von hinten über
den schwingenden Rücken an das Gebiss heranzutreten. Die ›ehrliche‹ Anlehnung
kann nicht durch Gegenhalten oder Ziehen am Zügel erreicht werden.
Die verbale Empathie-Darstellung erfolgt hier durch Sprechen für das Pferd. Dabei beschreibt die Trainerin in Form einer fiktiven Redewiedergabe zunächst, wie das
Pferd mit der Reiterin empathisiert: Das Pferd hat die Intention der Reiterin, ihm
mittels Druck auf dem linken Zügel zu vermitteln, dass es den Kopf nach links
leicht abkippen soll, erkannt, denn es ›sagt‹: »o_a_sie WILL ja nach innen stellen«
(Zeile 7, ›innen‹ ist im gegebenen Kontext links). Dies stellt ein – von der Trainerin durch Empathisieren zugeschriebenes – volitives Empathisieren des Pferdes
gegenüber der Reiterin dar.
Anschließend schildert die Trainerin die Motive des Pferdes, warum es dieses –
von ihm durchaus erkannte – Begehren der Reiterin nicht erfüllt: Das Pferd fühlt
sich körperlich nicht wohl (»aber ich bin nicht richtig WEICH im Körper«, Zeile
9) und daraus resultiert sein Bedürfnis nach einer Art Ausweichverhalten (»dann
will ich GERN die Hinterbeine nach AUßen schmeißen«, Zeile 11). Durch die fiktive
Redewiedergabe wird das Pferd bewertend charakterisiert: Es erscheint als prinzipiell kooperativer, aufmerksamer Interaktionspartner. Die Ich-Perspektive der
Darstellung fordert auch von der Reitschülerin eine Rezeptionshaltung des SichHineinversetzens ins Pferd.
Durch Kopf- und Handbewegungen der Trainerin erfolgt zudem synchron mit
der Verbalisierung auf körperlicher Ebene eine Angleichung an die – in der fiktiven
Redewiedergabe thematisierten – Pferdebewegungen: Wenn die Trainern »nach
innen stellen« sagt, wendet sie den Kopf nach links, wenn sie vom »Nach-außenSchmeißen« der Hinterbeine spricht, macht sie mit parallel geführten Armen eine Bewegung von rechts nach links (s. Darstellung im Transkript). Man könnte
hier von einer »fiktionalen« transmodalen Synchronisation (s. Abschnitt 3.3) als einer
gleichzeitig mitlaufende Form des Empathisierens sprechen.
Mit der Redewiedergabe geht auch durch die Formulierungsgestaltung eine
Bewertung der Reitschülerin einher: So drückt die dem Pferd zugeschriebene Interjektion »o_a« in Zeile 7 so etwas wie Unbehagen aus, das das Pferd angesichts
der Reitweise der Reiterin empfindet – und damit ist indirekt auch eine negative
Bewertung der Reitschülerin durch die Trainerin erschließbar. Damit spricht die
Trainerin in gewisser Weise auch durch das Pferd (vgl. Steen 2020).
Die Basis für das allozentrische Empathisieren bilden der Ablauf des Trainings
und das Ausdrucks- und Bewegungsverhalten des Pferdes im Zusammenspiel mit
der Hilfengebung der Reiterin. Für ihre Reitschülerin verbalisiert die Trainerin ein
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empathisches Deutungsangebot des Pferdeverhaltens, indem sie über den inneren
Zustand des Pferdes spricht. Sie lehrt die Reiterin damit, das beim Reiten Gefühlte
und Erfahrene mit einem inneren Zustand des Pferdes in Verbindung zu bringen.
Solche mit dem Pferd empathisierenden Zuschreibungen zeigen der Reiterin Möglichkeiten eines einfühlenden Umgangs mit ihrem Pferd auf.
4.3
Überblick: Praktiken in Reitinteraktionen
Im Überblick erbrachten die bisherigen Analysen von Reitunterricht und kommentierter Pferdausbildung die im Folgenden beschriebenen Formen der verbalen Praktik
des lehrenden Empathisierens (ausführlicher dazu vgl. Rettig 2020):
1. Dem Pferd direkt zugeschriebenes inneres Erleben
Dies geschieht im Reitunterricht für die Reitschüler*innen durch die Trainer*innen, wie oben in der Beispielanalyse 4.1 gezeigt. Diese Praktik findet sich auch
in Lehrvideos, in denen professionelle Reiterinnen über ein am Körper getragenes
Mikrophon ihr Reiten für die Zuschauer*innen des Lehrvideos kommentieren. So
empathisiert die bekannte Dressur- und Vielseitigkeitsreiterin Ingrid Klimke mit
ihrem Pferd im Sinne von embodied empathy (vgl. Abschnitt 2), während Pferd und
Reiterin auf ein Gebüsch zugaloppieren und verbalisiert eine Art Denk- und Gefühlswiedergabe aus Pferdeperspektive, sie sagt: »´O: jetz wieder die geFAHrenquelle,˚h da könnte einer aus_m BUSCH kommen« (vgl. Rettig 2020: 312f.). Dies
zeigt bereits der verwendete Ausdruck ›Gefahrenquelle‹, denn eine Gefahr geht ja
von dem Gebüsch nur in der Welt des Pferdes aus. Die prosodische Realisierung
des O-Lautes kann ebenfalls als Empathisieren in Bezug auf Emotionen des Pferdes
gedeutete werden. Das erste, ansteigend realisierte [o] erweckt beim Hören den
Eindruck, dass dadurch erhöhte Aufmerksamkeit angesichts der nahenden »Gefahrenquelle« zum Ausdruck kommt. Der sehr gedehnte, gleichbleibende zweite
O-Laut erweckt beim Hören den Eindruck von angespannter Erwartungshaltung –
Klimke ›übersetzt‹ hier prosodisch den inneren Zustand des Pferdes. In der nächsten Äußerung empathisiert sie ebenfalls auf emotional-affektiver Ebene im Sinne
allozentrischer Empathie (vgl. Abschnitt 2) mit ihrem Pferd aus der Perspektive eines Flucht- und Beutetieres: Das Gebüsch ist potentielles Versteck für bedrohliche
Lebewesen.
2. Dem Pferd zugeschriebenes Empathisieren mit der Reiterin/dem Reiter
Trainer*innen empathisieren auch dergestalt mit dem Pferd, dass sie verbalisieren, wie das Pferd seine Reiterin in Bezug auf ihr Denken, Wollen und Fühlen
wahrnimmt. Es wird damit vorausgesetzt, dass nicht nur die Menschen, sondern
auch die Pferde empathiefähig sind. Wie in der Beispielanalyse in 4.1 gezeigt hat,
empathisiert die Reitlehrerin – auf Basis ihrer Wahrnehmung der Reiterin-Pferd-
Versuche der Grenzüberschreitung
Interaktion – mit dem Pferd und stellt für die Reitschülerin verbal dar, wie das
Pferd mit der Reitschülerin empathisiert.
3.
Dem Pferd durch Empathisieren zugeschriebenes Antizipieren der Absichten
der Reiter*innen
Dem Pferd wird nicht nur die Fähigkeit zum Empathisieren mit dem Denken, Wollen und Fühlen des*der Reiter*in zugeschrieben, sondern auch die Fähigkeit, zukünftige Absichten des*der Reiter*in zu antizipieren. So verbalisiert die Dressurreiterin Uta Gräf, wiederum über das Körpermikrophon, die durch embodied empathy wahrgenommenen Antizipationen des Pferdes hinsichtlich der Absichten seiner Reiterin. Dies geschieht an einer Stelle, an der Gräf von einem – für das Pferd
gewohnten – Ablauf bewusst abweicht. Sie sagt: »er war jetzt !SICHER!, dass der
nächste WEchsel kommt« (vgl. Rettig 2020: 314f.). Einen ›Wechsel reiten‹ bedeutet,
dass die Reiterin dem Pferd durch ihre Hilfengebung zu verstehen gibt, dass dieses
vom Rechts- in den Linksgalopp (oder umgekehrt) wechseln soll.
4.
In-situ-Aufforderung an die Reitschüler*innen, die eigene Antizipationsfähigkeit
hinsichtlich der Antizipationen des Pferdes zu schärfen:
Entsprechend der durch Empathisieren wahrgenommenen Fähigkeit von Pferden
zum Empathisieren in Form von Antizipation versuchen Trainer*innen, die Reitschüler*innen in der Fähigkeit zu schulen, dieses Form des pferdischen Empathisierens ebenfalls zu antizipieren. Sie weisen im Interaktionskontext darauf hin und
fordern, dass die Reitschüler*innen dies entsprechend beim Reiten berücksichtigen.
Dies zeigt sich z.B. in einem Training des Reiters, Turnierrichters und Ausbilders Ralf Isselhoff. Hier soll die Reitschülerin die Antizipationen ihres Pferdes
Rocce erspüren lernen. Rocce war – ungewollt von der Reiterin – angaloppiert. Isselhoff weist nun zum einen auf die empathische Fähigkeit von Pferden (und damit
auch von Rocce) hin, indem er sagt: »dann wissen die gleich kommt ANgaloppieren« (Rettig 2020: 316f.) und fordert seine Schülerin zur Antizipation der Antizipation auf: »lass ihn nicht selbst eh tätig irgendwas MAchen« (Rettig 2020: 316f.).
Isselhorst verlangt also von der Reiterin, ihre Antizipationsfähigkeit hinsichtlich
der Antizipationen des Pferdes (›was die Reiterin als nächstes wollen wird‹) zu entwickeln, indem er fordert, dass sie ihr Pferd nicht ohne initiierende reiterliche Hilfe
angaloppieren lassen soll.
5.
Zuschreibung emotionaler Auswirkungen der eigenen reiterlichen Handlungen
auf das Pferd während des Reitens
Trainer*innen empathisieren mit dem Pferd, indem sie ihren eigenen reiterlichen
Handlungen Auswirkungen auf die inneren Zustände des Pferdes zuschreiben.
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Dies zeigt z.B. ein Videoausschnitt mit Uta Gräf, die, wieder über Körpermikrophon, die emotionalen Auswirkungen einer – vom Pferd nach ihrer Einfühlung
unerwarteten – Hilfengebung verbalisiert: Sie macht, aus der Erlebensperspektive
des Pferdes gesprochen, »was GANZ gemeines« (Rettig 2020: 314), ihr Verhalten ist
»n bisschen FIES« (Rettig 2020: 314) da das Pferd in seiner Erwartung enttäuscht
wird. Diese Erwartungsenttäuschung, diese Überraschung ist Bestandteil ihres didaktischen Verfahrens (das Pferd soll dadurch lernen, stets auf die reiterlichen Hilfen zu warten) und ist nicht als Bestrafung des Pferdes gedacht – dass dies auch
vom Publikum im Kontext so verstanden wird, zeigt sein amüsiertes Lachen. Sie
zeigt damit den Zuschauer*innen eine auf (instrumentellem) Empathisieren mit
dem Pferd basierende Ausbildungsmethode auf.
6. Dem Pferd und dem*der Reiter*in zugeschriebene wechselseitige Gefühlsübertragung
Wie in Abschnitt 2 dargelegt, kann Empathie auch als ein Prozess der wechselseitigen Angleichung von inneren Zuständen der Interaktionspartner*innen verstanden werden (i.S.v. Hermanns (2007: 133) als Sich-Ausbilden sehr ähnlicher Emotionen). Für diesen Prozess sensibilisieren die Trainer*innen ihre Reitschüler*innen,
wie das folgende Beispiel zeigt: Die Reitlehrerin empathisiert mit ihrer Reitschülerin und dem Pferd und verbalisiert einen von ihr zugeschriebenen Prozess der
Gefühlsübertragung von der Reiterin auf das Pferd. Sie sagt im Anschluss an ein
nicht ganz gelungenes Angaloppieren: »du wurdst n bisschen UNsicher- und dann
wurde ER unsicher auch« (vgl. Rettig 2020: 322f.).
7.
Aufforderung/Anleitung zur Beeinflussung des Pferdes durch
empathische Gefühlssynchronisation
Trainer*innen verbalisieren nicht nur die wechselseitige Gefühlsübertragung, sondern leiten auch an zu einer bewussten Schulung der Fähigkeit zur ›Gefühlssynchronisation‹ mit dem Pferd. Dies wird im folgenden Beispiel deutlich: Nachdem
das Pferd Roja im Unterricht mehrfach versucht hatte, wegzuspringen, fordert die
Trainerin zu einem Zeitpunkt, an dem das Pferd ruhig trabt, dass die Reiterin ein
bestimmtes Gefühl ›aufrufen‹ soll. Sie sagt: »ver!TRAU! ihr« und fordert »reiten wie
!YOga!« (Rettig 2020: 323f.). ›Vertrauen‹ bezieht sich vermutlich in diesem Kontext
darauf, dass Roja die begonnene Lektion zu Ende ausführen und nicht wegspringen wird. Generell bedeutet Empathisieren des*der Reiter*in mit dem Pferd beim
›Vertrauen‹ in ungefähr so etwas, wie dem Pferd gute Absichten und Kooperationswillen zuzuschreiben. Dieses Vertrauen soll beim Reiten also aktiv als Empathiefähigkeit geschult und eingeübt werden. Der*die Reiter*in soll dadurch in der
Lage sein, das Pferd zur Gefühlssynchronisation mit dem Vertrauen ins Pferd ausstrahlenden Reiter gezielt anzuregen. Wie die Vertrauensaufforderung umgesetzt
werden soll, beschreibt die Reitlehrerin im Beispiel auch durch eine Analogie: »rei-
Versuche der Grenzüberschreitung
ten wie !YOga!« (Rettig 2020: 324) und wählt anschließend Beschreibungsausdrücke für innere Zustände des Reiters: »konzentriert«, »ruhig« und »nicht hektisch«
(Rettig 2020: 323f.), die zum alltagsweltlichen Konzept, der ›Geisteshaltung‹, beim
Yoga passen.
8.
Mitfühlen mit dem Pferd durch die Trainer*innen durch transmodale Synchronisation
sowie Anleitung zur transmodalen, körperbasierten Synchronisation zwischen Reiter*in
und Pferd
Empathie kann als Prozess der transmodalen Synchronisation verstanden werden
(vgl. Abschnitt 2). Dies findet in prosodischer Hinsicht statt, wenn etwa die Trainerin Ingrid Klimke im Reitunterricht durch prosodisch auffälliges, weil sehr lang
gedehntes »!JA!:::- » zeitlich synchron das (angestrebte) Hals-Fallenlassen des Pferdes, das die Entspannung des Tieres signalisiert, begleitet (vgl. Rettig 2020: 319ff.;
zum Konzept der transmodalen Synchronisation vgl. Pfänder/Herlinghaus/Scheidt
2017).
Es konnten zudem die folgenden (verbalen/prosodischen) Darstellungsformen des
lehrenden Empathisierens rekonstruiert werden:
1. Reden über das innere Erleben des anwesenden Pferdes in dritter Person, Beschreibung seiner inneren Verfasstheit;
2. Reden über das innere Erleben von Pferden in generalisierter Form (als typisierendes Empathisieren), mit durch den Kontext hergestelltem Bezug auf das anwesende
Pferd;
3. fiktive Rede- bzw. Denkwiedergaben als Sprechen für das Pferd, die ggf. durch verba
dicendi/cogitandi metapragmatisch gerahmt sind;
4. verbale Darstellung der Wirkung auf das innere Erleben des Pferdes, die durch das
eigenen Handelns beim Pferd eintritt.
5.
Lehrendes Empathisieren in der Mensch-Hund-Interaktion
Betrachtet man nun mit dem für das lehrende Empathisieren in der MenschPferd-Interaktion geschärften Blick Lehr-Lern-Kontexte in der Mensch-HundInteraktion, so zeigt sich schnell, dass die verbale Darstellung des Empathisierens
bezüglich Denkvorgängen, Stimmungen, Absichten, Wünschen und Emotionen
des Hundes ebenfalls eine gängige Praktik von professionellen Hundetrainer*innen – in ihrer Funktion als lehrende Vermittlerfiguren zwischen Hund und
Mensch – darstellt. Im Gegensatz zu den Reitinteraktionen spielt in den hier
betrachteten Mensch-Hund-Trainingsinteraktionen jedoch der direkte leibliche
Kontakt (und somit das Empathisieren im Sinne von embodied empathy) i.d.R. keine
Rolle.
207
208
Heike Rettig
Auch bei den Hunde-Expert*innen ist davon auszugehen, dass a) erlerntes kodifiziertes, fachliches Wissen (das kulturell-historisch geprägt ist und je nach Fachrichtung/Schule verschiedenartig sein kann), b) die eigene Erfahrung sowie c) alles
direkt in der Situation Wahrnehmbare (v.a. auch das Ausdrucksverhalten des Hundes im Kontext der Interaktion mit dem Menschen) die Basis für das Empathisieren bilden. Die Zuschreibung innerer Zustände des Hundes durch den*die Hundetrainer*in erfolgt zum einen individuell und kontext-/situationsbezogen und zum
anderen liegt – wie auch in den Verbalisierungen deutlich erkennbar wird – generalisiertes Wissen über Hunde zugrunde.
5.1
Empathie im Hundediskurs und Empathiefähigkeit von Hunden
Haushunde leben seit ca. 15000 Jahren in Gemeinschaft mit dem Menschen. Sie
sind ›besondere‹ Haustiere, da sie von ihrem Sozial- und Ausdrucksverhalten her
in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten zum Menschen zeigen. Sie leben in dieser langen Beziehungsgeschichte mit Menschen in »einer ›gemischten sozialen Gruppe‹
mit zwischenartlicher Appetenz, dem Bedürfnis zur zwischenartlichen Geselligkeit sozusagen, und sozialer Attraktion anzugehören« (Feddersen-Petersen 2008:
26). Dass Hunde in der Lage sind, mit Menschen zu empathisieren, zeigt z.B. ihre Fähigkeit, sich als Therapiehund in die Stimmungen des Menschen einzufühlen.
Eine aktuelle verhaltenswissenschaftliche Studie von Sandford/Burt/Meyers-Mano
(2018) an der John Hopkins Universität Baltimore erbrachte sogar Evidenz dafür,
dass Hunde (und zwar unabhängig davon, ob es sich um ›normale‹ Begleithunde
oder ausgebildete Therapiehunde handelte) nicht nur mit dem Menschen empathisieren, indem sie dessen Emotionen wahrnehmen, sondern der betroffenen Person
auch im Sinn eines prosozialen Verhaltens zu Hilfe kommen wollen, wenn diese in
Not sind. Die Fähigkeit, sich auf die Menschenperspektive einzulassen, zeigt sich
bei Hunden (individuell und auf Artebene) auch nicht zuletzt im Ausdrucksverhalten: Hunde haben eine so weitgehende Anpassung an den Menschen geleistet,
dass sie in der Lage sind, menschliche Verhaltensweisen menschlich-artgerecht zu
deuten und ihre eigenen Kommunikationsressourcen entsprechend zu modifizieren. Dies wäre im Sinne eines Empathisierens als unmittelbarem Ausdrucksverstehen
(vgl. Abschnitt 2) fassbar. Die Ethologin und Fachtierärztin für Verhaltenskunde
Feddersen-Petersen fasst zusammen:
Das Sozialverhalten von Hunden veränderte sich in der Anpassung an die jeweiligen sozialen Belange des Menschen, insbesondere im Ausdrucksverhalten entwickeln sich Besonderheiten, die nicht zufällig der menschlichen Kommunikation
geradezu kongruent wurden: so etwa die Zunahme der Vokalisation über das Bellen in unterschiedlichsten sozialen Bezügen […] das als Anpassung an den sich
vorrangig verbal verständigenden Menschen zu sehen ist. […] Hunde sehen Men-
Versuche der Grenzüberschreitung
schen in die Augen […]. Hunde, die uns mehr oder weniger lange ansehen, provozieren nicht, drohen nicht, sie sehen uns an, wie es auch unter Menschen üblich
ist, begrüßen uns etwa […]. Und Hunde ›lächeln‹. (Fedderson-Petersen 2008: 32f.)
Insbesondere das Lächeln ist eine sehr auffällige Übernahme menschlicher Ausdrucksformen. Hierbei wird unterschieden zwischen dem beschwichtigenden
hundlichen ›submissive grin‹ und dem nahezu ausschließlich gegenüber Menschen verwendeten sozialen Lächeln (vgl. Feddersen-Petersen 2008, Wardeck-Mohr
2016), über das Wölfe nicht verfügen. Das soziale Lächeln ist ein kurzfristiges,
mehrfaches Zähne-Entblößen in entspannter Situation, z.B. in einer Begrüßungssituation, begleitet von intensivem Blickkontakt zum Menschen. Wardeck-Mohr
(2018) deutet es als Ausdruck von Freude und Zuneigung.
Der Hundetrainer und Sachbuchautor Martin Rütter spricht dem mit dem
Menschen interagierenden Hund in diesem Sinn die Fähigkeit eines allozentrischen,
der menschlichen Art angemessenen Empathisierens zu, bei dem sich der Hund in den
Menschen einfühlt und -denkt. In der WDR-Sendung »Mein Hund und ich«
erläutert er eine solche hundliche Perspektivenumkehr im Kontext einer Lehr/Lernsituation sehr anschaulich für das Publikum und soll deshalb hier zitiert
werden. Hier ist auf linguistischer Ebene bei Rütter die Praktik-Form des typisierenden lehrenden Empathisierens mit ›dem Hund‹ zu erkennen: Im Sinne kognitiver
Empathie denkt er sich in ›den Hund‹ ein (»also er weiß« Zeile 9) und wählt die
Darstellungsform des Sprechens fürs den Hund, d.h. spricht aus Hundeperspektive in
Form einer fiktiven Redewiedergabe (s. Zeile 11-16).
T1: des is FREUNDlichkeit
Titel: Mein Hund und ich – Tipps von Martin Rütter.
TV-Sendung vom 17.10.2018; Quelle: www.planet-wissen.de/
video-mein-hund-und-ich--tipps-von-martin-ruetter-100.html;
letzter Abruf: 15.9.2020; ab Minute 47.37
01 R: der Hund hat eine Eigenschaft die kein
ANDderes TIER hat-=
02
=der kann einen Menschen als VOLLwertigen
Sozialpartner betrachten;
03
also der Hund WEISS,
04
ich bin KEIN HUND;
05
aber er findet mich geNAUso wichtig,
06
vielleicht sogar wichtiger ehm wie
ARTgenossen;
07
und das ist GANZ spektakulär,
08
deshalb n hund ist auch in der lage09
zwei SPRAchen zu sprechen;
209
210
Heike Rettig
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16
also er WEISS,
wenn ein anderer hund über mir steht
und die ZÄHne zeigthab ich n PROblem;
wenn sich ein MENSCH über mich beugt
und die ZÄHne zeigthab ich überHAUPT keins;
des is FREUNDlichkeit;
Rütter mit seinen Hundetrainings, TV-Sendungen, Shows und Veröffentlichungen ist Bestandteil des aktuellen, vielgestaltigen und historisch verankerten
Hunde-Diskurses. Gegenwärtig gibt es hinsichtlich der Mensch-Hund-Interaktion
unterschiedliche Methoden und Ansätze, wie man Hunde ›erziehen‹, wie man
mit ihnen zu kommunizieren und wie man sie ›verstehen‹ kann. Wie beim Reiten und der Pferdeausbildung ist insgesamt (etwa in vielen europäischen und
US-amerikanischen Kulturräumen) ein Paradigmenwandel erkennbar, der Hunde
weniger in einem Dominanz-Unterwerfungsparadigma positioniert und innerhalb dessen Hundeerziehung nicht länger mit verbal aggressivem Verhalten und
körperlicher Gewaltanwendung einhergeht. Die Kommunikation mit dem Hund
und das Verstehen des Hundes spielt in diesem Kontext im aktuellen Diskurs eine
große Rolle, wie z.B. Buchtitel wie Mit den Augen der Hunde: So denken und kommunizieren Hunde von Barbara Wardeck-Mohr veranschaulichen. Ähnlich wie im
Reitdiskurs ist auch im Hundediskurs die Fähigkeit des Empathisierens, wie die
nachfolgenden Analysen zeigen, eine Anforderung, die in Lehr-/Lernkontexten an
den*die Hundehalterin*in gestellt wird. Und auch die Ethologin stellt im Umgang
mit Hunden das Empathisieren als sinnvolles exploratives Verfahren (ganz im
Sinne von Liebert 2020) dar:
Der Weg muss von uns zum Tier gehen. Was macht Hunde aus, wie könnte es sein,
ein Wolf oder ein Hund zu sein? Wenn wir uns in Hunde hineinversetzen, so gut
es eben jeweils geht, sie verstehen wollen, müssen wir sie genau beobachten. Wir
empfinden Empathie, fühlen mit ihnen, und übertragen unsere Gefühle nonverbal, über unser Ausdrucksverhalten. Und so finden wir Zugang zum hundlichen
Verständnis. (Feddersen-Petersen 2008: 53)
Wie bei Pferden ist auch bei Hunden – als domestizierten Haustieren – das
menschliche Empathisieren häufig instrumentell in menschliche Zwecke eingebunden. Interaktionsformen und -ziele (wie z.B. gemeinsames Spazierengehen
mit einem Hund, der sich der Leinenführung des Menschen kooperativ anpasst)
sind vom Menschen vorgegeben. Es gibt aber, wie auch bei Pferden, ebenfalls das
Bedürfnis, den tierlichen Interaktionspartner im Sinne nicht-zweckgerichteter
empathischer Erkundung besser ›verstehen‹ zu wollen.
Versuche der Grenzüberschreitung
5.2
Exemplarische Analysen
Bestandteil des umfangreichen Lehr-Lern-Diskurses in Bezug auf den Umgang mit
Hunden ist – neben dem individuellen Training von Hund und Hundehalter*innen mit dem*der Hundetrainier*in – eine Vielzahl wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen, Ratgeberliteratur, (Online)-Zeitschriften
zum Thema ›Hund‹, TV-Sendungen, Videos, Foren, Blogs und Podcasts. Anders
als beim Reiten sind im Bereich Hundetraining die Professionalisierung und der
Expert*innen-Status der Trainer*innen kaum institutionell geregelt. Während es
beim Reiten im Bereich des englischen Reitstils die staatlich anerkannte Ausbildung zum Pferdewirt/zur Pferdwirtin und die Weiterqualifikation als Pferdewirtschaftsmeister*in gibt, existiert kein anerkannter Ausbildungsberuf ›Hundetrainer*in‹.
Für die Analyse von Lehr-Lern-Interaktionen ist deshalb insgesamt die Einschätzung bezüglich des Expertenwissens der Hundetrainer*innen relativ schwierig. Für die im Folgenden gezeigten explorativen Analysen wurden filmische Ausschnitte von Hundetrainingsendungen von drei erfahrenen und bereits jahrelang
aktiven Hundetrainern, nämlich Martin Rütter, Andreas Ohligschläger und Mirko
Tomasin, herangezogen. Solche Sendungen sind aufgrund ihrer große Reichweite Kernelemente des Diskurses und deshalb für die Untersuchung relevant, weisen aber natürlich medialen Inszenierungscharakter auf, der sich z.B. in VoiceOver, Schnitt-Technik und Musik zeigt. Für die Analyse werden deshalb Ausschnitte
verwendet, in denen auf filmisch direkt gezeigtes Hundeverhalten und MenschHund-Interaktionen Bezug genommen wird.
5.2.1
Analyse 1: der ruft um HILfe
Im Folgenden wird ein Ausschnitt aus der Sendung »Der Hundeprofi« betrachtet,
in der filmisch gezeigt und inszeniert wird, wie der Hundetrainer Martin Rütter
(im Transkript R) Hundehalter*innen und ihre Hunde berät und trainiert. In der
Sendung wird vorab immer die Ausgangssituation vorgestellt. Im Folgenden geht
es um Juno (im Trankskript J), einen eineinhalb-jährigen Hund, der, wenn er allein
gelassen wird, bellt und heult. Der Hund wird gefilmt, während er sich einige Minuten allein in der Wohnung aufhält. Danach wird gezeigt, wie die Hundehalterin
Simone (im Transkript S) zusammen mit Rütter in die Wohnung zurückkommt.
Juno begrüßt Simone lebhaft und springt an ihr hoch. Als Simone sich auf die
Couch setzt, drängt Juno sich an ihre Beine und legt die rechte Pfote auf ihren
Oberschenkel. Die Halterin schiebt die Pfote weg.
211
212
Heike Rettig
T2:ordentlich geLITten
Titel: Der Hundeprofi Folge 2. Datum: 8.2.2020. Letzter Abruf:
12.8.2020; Quelle: www.tvnow.de/shows/der-hundeprofi-178/202002/episode-2-heute-u-a-mit-simone-und-juno-2960592?utm_source=
VOX&utm_medium=teas-er&utm_campaign=Ganze_Folgen&utm_term=derhundeprofi; ab Minute 5.32
Rütter in Halbtotale, frontal
01 R: EIgentlich is anspringen n zeichen von
resPEKTlosigkeit;
02
also n hund der MENschen anspringt03
der PÖbelt die an;
04
hier SEH ich aber,
05
dass juno an frauchen !HOCH!klettert;
06
der hat den KOPF seitlich,
07
die Ohren sind zurück08
der !BETTELT! regelrecht um ZUneigung;
09
also ich hab den Eindruck der ist richtig
erLEIchtert,
10
dass ENDlich jemand zuRÜCKkommt;
11
also meine verMUtung is schon,
12
dass er ordentlich geLITten hat-=
13
=als er Allein war;
Für die Zuschauer*innen und für die Hundehalterin deutet Rütter das zuvor sichtbare Ausdruckverhalten des Hundes. Rütter empathisiert mit Juno und beschreibt
durch Sprechen über den Hund einen inneren Zustand: »der !BETTELT! regelrecht
um ZUneigung« (Zeile 8). Juno wird also ein emotionales Bedürfnis zugeschrieben.
Auch die Beschreibung von Junos Aktivität als ›an Frauchen hochklettern‹ empathisiert volitiv und affektiv mit dem Hund, denn sie weckt die Vorstellung, dass das
Motiv für das Verhalten des Hundes in dem dringenden Bedürfnis nach körperlicher Nähe zu seiner Halterin besteht. Auf dieses – von Rütter durch Empathisieren
zugeschriebene – Bedürfnis von Juno nach Zuneigung ist Simone, wie zuvor beobachtbar, nicht eingegangen.
Wie auch bei den Reittrainer*innen erfolgt bei dem Hundeexperten das allozentrische Empathisieren im Sinne von expertenhaftem Ausdrucksverstehen (vgl. Abschnitt 3)
z.T. auf der Grundlage seiner spezifischen Kenntnisse der artspezifischen hundlichen Ausdrucksverhaltens, das er hier auch konkret benennt: »der hat den KOPF
seitlich, die Ohren sind zurück-« (Zeile 6-7). Im Folgenden empathisiert Rütter wei-
Versuche der Grenzüberschreitung
ter mit dem Hund, verbalisiert seine Gefühlslage bei der Rückkehr von Simone
durch Sprechen über den Hund als ›erleichtert‹ und fasst zusammen, dass er ›gelitten‹ habe. Es werden hier Bezeichnungen für menschliche Emotionen verwendet,
damit wird impliziert, dass Juno auf gleiche oder ähnliche Art empfindet wie ein
Mensch. Auch hier zeigt der Hundetrainer im Sinne lehrenden Empathisierens seine Einfühlung in den Hund und ermöglicht der Hundehalterin und den Zuschauer*innen, seine empathische Deutung – mit dem konkreten Aufzeigen einzelner
Elemente des Ausdrucksverhaltens von Juno – nachzuvollziehen.
Danach schauen sich – so die filmische Inszenierung – Rütter und Hundehalterin Simone die Filmaufnahme von Juno an. Beide sitzen auf der Couch, Juno sitzt
neben Simone.
T4: der ruft um HILfe
Angaben s. T3, ab Minute 6.06
01 J Aufnahme: [schnüffelt jaulend an der Tür]
02 R:
[SCHNÜFfelt; ne;
]
03 J Aufnahme: [läuft jaulend den Flur entlang]
04 R:
[der checkt auch AB]
05 J Aufnahme: [läuft jaulend herum
]
06 R:
[bist du noch irgendwo in der NÄhe;]
07 J Aufnahme: [läuft jaulend herum
]
08 R:
[das ist auch ganz ganz TYpisch-]
09 J Aufnahme: [bleibt stehen, heult laut
]
10 Schwenk S: [frontal, verzieht das Gesicht]
11 S:
[ach !!GOTT!!- O:: oh_hm;
]
12 J Aufnahme: [bleibt stehen, heult laut]
13 S:
[EI jei jei jei;
]
14 J Aufnahme: [bleibt stehen, heult laut]
15 R:
[das das HEUlen is ja ne
kommunikationsform]
16 J Aufnahme: [läuft heulend herum
]
17
[die hunde/ auch hunde WÄHlen,]
213
214
Heike Rettig
18 J Aufnahme: [läuft heulend herum]
19
[em im SINne von- h0]
20 J Aufnahme: [läuft heulend herum
]
21
[ich versuche auf mich
AUFmerksam zu machen ne;]
22 Schwenk R: [R in Halbtotale, Profil
]
23 R:
[und vielleicht hab ich
ne chance auf RÜCKmeldung;]
24 Schwenk:
25 S:
26 R:
[R, S, J frontal im Bild
]
[S streicht J über den Rücken
]
[also der is im grunde (.)geDANKlich
ständig mit dir in kontakt.
]
[…]
27 J Aufnahme: [läuft heulend herum ]
28 R:
[der ruft um HILfe ne;]
29 J Aufnahme: [läuft heulend herum]
30 S:
[JA:;
]
31 R, S, J:
32 S:
33 R:
[frontal im Bild
]
[S streicht J über den Rücken]
[der is WIRKlich so]
34 R, S, J:
35 S:
36 R:
[frontal im Bild
]
[S streicht J über den Rücken]
[also wo seid IHR denn jetzt-]
37 R, S, J:
38 S:
39 R:
[frontal im Bild
]
[S streicht J über den Rücken]
[versucht auf sich AUFmerksam
[zu machen]
Rütter beschreibt zunächst das beobachtbare Verhalten volitiv empathisierend: Das
Herumlaufen des Hundes deutet er als Suche (»checkt ab«, Zeile 4) nach der abwesenden Simone. Danach gibt er fachliche Informationen und bezeichnet das Heulen als typische Kommunikationsform von Hunden. Dies impliziert, dass auch Junos Heulen ein Kommunikationsverhalten ist. Sehr deutlich beschreibt er darauf
aufbauend im Folgenden Junos inneren Zustand: Im Sinne kognitiver Empathie
Versuche der Grenzüberschreitung
schreibt er ihm zu, er sei »geDANKlich« (Zeile 16) ständig in Kontakt mit Simone.
Im Wechsel zwischen der Beschreibung des inneren Zustandes des Hundes und Sprechen
für den Hund in Form fiktiver Redewiedergabe verbalisiert Rütter sein Empathisieren
auf affektiv-emotionaler Ebene: Er fühlt sich in Juno ein und beschreibt ihren Zustand als einen Art Verzweiflung, sie »ruft um HILfe« (Zeile 28) und sie »fragt«
»wo sein IHR denn jetzt« (Zeile 36). Damit setzt Rütter zugleich Junos vokales Ausdrucksverhalten, nämlich eine bestimmte Art des Heulens, in unmittelbaren Bezug
zu seinem innerem Zustand.
Hier wird zudem auch im Rahmen der filmischen Inszenierung erkennbar, wie
Simone mit ihrem Hund empathisiert: Als sie in der Aufnahme ihren Hund heulend
durch die Wohnung laufen sieht, stellt sie mittels der Interjektionen »ach !GOTT!«
und »O::« (Zeile 11) und »EI jei jei jei« (Zeile 13) ihr Mitleiden mit Juno (im Sinne
mitfühlenden Sprechens nach Kupetz 2014) verbal dar. Zudem zeigt die Kamera ihren ›leidenden‹ Gesichtsausdruck. Simone lernt die empathische Erkundung ihres
Hundes sozusagen vor den Augen der Zuschauer*innen. Auch als Zuschauer*in
kann man zudem sehr leicht mit dem heulenden Juno empathisieren und den Prozess selbst mitvollziehen.
Rütter wird anschließend wieder im Gespräch mit Simone gezeigt und er
beschreibt Junos Gefühlslage erneut empathisierend (Minute 7.06) durch die
Äußerung: »der hat (.) !ECHTE! !ECHTE! Trennungsängste- dem gehts wirklich
SCHLECHT;«.
Durch das verbalisierte Empathisieren mit Juno wird der Stellenwert des
Alleingelassen-Werdens in der Welt des Hundes für die Halterin (und die Zuschauenden) durch Rütter deutlich gemacht. Durch die empathische Deutung von
Junos Verhalten als Angst- und Leiderfahrung ergeben sich aus Sicht des Hundetrainers notwendige Konsequenzen für die zukünftigen Interaktionen: Juno kann
nicht von Simone allein gelassen werden – ob ihm dies überhaupt zuzumuten ist,
lässt Rütter zunächst offen. Im weiteren Verlauf der Sendung wird ein wochenlanger Trainingsprozess mit Simone und Juno nachverfolgend inszeniert, in dem die
Halterin sich mehr mit Juno beschäftigt, ihm mehr Gelegenheit für körperliche
Auslastung bietet und das Alleinlassen mit Juno in sehr kleinen Schritten übt. Am
Ende, so wird filmisch inszeniert gezeigt, bleibt Juno eine gewisse Zeit – trotz
Abwesenheit von Simone – ruhig und ohne Angst allein in der Wohnung.
In der Sendung realisiert der Hundetrainer die Praktik des lehrenden Empathisierens in Form von empathischem Deuten von hundlichem Ausdrucksverhalten.
Dabei werden innere Zustände (auf kognitiver, volitiver und emotional-affektiver
Ebene) von Juno durch Beschreibung der inneren Zustände des Hundes in dritter Person
und Sprechen für den Hund in Form fiktiver Redewiedergaben von Rütter verbalisiert. Die
– aus Expertensicht angemessene – Deutung des inneren Zustandes von Juno wird
für den Zuschauer*innen exemplarisch vorgeführt und filmisch so inszeniert, dass
die Zuschauenden selbst ebenfalls mit Juno empathisieren können. Das lehrende
215
216
Heike Rettig
Empathisieren eröffnet – wie in den Reitinteraktionen – die Möglichkeit, die Hundehalterin und die Zuschauer*innen zur Erkundung der inneren Zustände des tierlichen Gegenübers auf Basis ihrer Wahrnehmung anzuregen, deren Fähigkeit zum
allozentrischen Empathisieren zu fördern und dies handlungsrelevant für weitere
Mensch-Tier-Interaktion werden zu lassen.
5.2.2
Analyse 2: sie WILL nischt
In dem analysierten Ausschnitt aus der WDR-Sendung Hunde verstehen wird gezeigt, wie Hundetrainer Andreas Ohligschläger (O im Transkript) mit Hündin Nelly (N im Transkript) und Hundehalterin Katharina (K im Transkript) trainiert. Das
gemeinsame Spazierengehen von Katharina und Nelly gelingt nicht, da Nelly anderen Hunden häufig bellend und aggressiv begegnet. Der Hundetrainer übt in
dieser Folge mit Halterin und Hund, konfliktfrei an anderen Hunden vorbeizugehen. Hierbei ist für den Trainer (ähnlich wie für Reitinteraktionen gezeigt, vgl.
Abschnitt 4.3) auf Seiten der menschlichen Interaktionspartnerin Empathie im Sinne
einer Antizipation der Absichten des tierlichen Partners sowie die Anleitung zur Beeinflussung des Hundes durch empathische Gefühlssynchronisation (vgl. Abschnitt 4.3) zentral
für das Gelingen.
Nachdem filmisch eine erste friedliche Begegnung mit einem anderen Hund
und gemeinsames Gehen mit beiden Hunden unter der Anleitung von Ohligschläger gezeigt wird, gibt der Trainer eine explizite Erklärung für das Gelingen dieser
Interaktion. Ohligschläger hatte zuvor die Hundehalterin angewiesen, sich während des Gehens mit der anderen Hundehalterin über Alltägliches zu unterhalten:
»und dann unterhaltet ihr EUCH, über karTOFfelbrei oder so irgendwas; aber nicht
über die HUNde.« (ab Minute 7.28, weitere Angaben s. folgendes Transkript). Den
friedlichen Verlauf der Interaktion erklärt Ohligschläger anschließend dann wie
folgt.
T5: Hunde MERken ob wir stress haben
Titel: Hunde verstehen Folge 4, WDR-TV-Sendung;
Quelle: www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/tiere-suchenein-zuhause/video-hunde-verstehen-106.html
Datum: 27.1.2020; letzter Abruf: 15.9.2020; ab Minute 7.28
01 T: hunde MERken das ob wir Stress haben oder
nischt;
02
und wenn WIR uns dann !NORMAL! unterhalten03
und !FREUND!lich miteinander sind;
04
dann werden die hunde auch RUHiger
Während beim Reiten v.a. durch wechselseitige sensorische Wahrnehmung über
den körperlichen Kontakt von Reiter*innen und Pferd ›Gefühlssynchronisation‹
Versuche der Grenzüberschreitung
von den Trainer*innen angeregt wird (s. dazu Abschnitt 4.3/Praktik 7, Beispiel »reiten wie !YOga!«) wird hier vom Ohligschläger offenbar die Art des Sprechens als empathisierend gesehen: »wenn wir !FREUND!lich miteinander sind; dann werden
die hunde auch RUHiger« (Zeile 3-4) erklärt er. Hier und in den nachfolgend gezeigten Sequenzen geht der Trainer offensichtlich von einer empathischen Beeinflussbarkeit von Nelly (im Sinne von Empathie als Reaktion, vgl. Abschnitt 2) durch
Katharina aus.
Im Anschluss wird eine weitere friedliche Annäherung von Nelly an andere
Hunde unter Anleitung des Trainers gezeigt. Anschließend wird der Trainer in einer Art Lehrgespräch mit Katharina gezeigt, in dem als ›Lernziele‹ das Vertrauen
zum Hund und das ›Gefühl‹ für den Hund expliziert werden.
T6: das ge!fÜHL! für den hund
Angaben s. Transkript T4; ab Minute 17.59
01 T: DU (.) darfst (.) wieder lernen
mehr VERtrauen zu bekommen;
[…]
02
d/also das ge!FÜHL! für den hund zu bekommen,
03
Das ist !ESCHT! !WIRK!lisch richtisch
wischtisch für eusch BEIdeÄhnlich wie beim Reiten (vgl. dazu Abschnitt 4.3 und ausführlicher die Analyse bei
Rettig 2020) ergeht seitens des Trainers eine ›Vertrauensaufforderung‹ und auch
hier – wie in Reitinteraktionen scheint ›Vertrauen‹ zu bedeuten, dem Hund in der
jeweiligen Interaktionssituation Kooperationswillen und ›gute Absichten‹ empathisierend zuzuschreiben und dadurch – in einem Wechselprozess – wiederum
empathisierend im Sinne einer Gefühlssynchronisation auf den Hund einzuwirken. Ähnlich wie in den Reitinteraktionen wird eine Fähigkeit zur Antizipation der
Absichten und Gefühle des tierlichen Interaktionspartners angestrebt, eingefordert und
eingeübt. Katharina soll ein »ge!FÜHL! für den hund« (Zeile 2) bekommen.
Danach wird filmisch wieder eine Trainingssequenz gezeigt, in der erneut eine
Begegnung mit Trainingshund Lucky und einem Mitarbeiter Ohlighausens geübt
wird. Katharina soll nun ihr ›Gefühl für den Hund‹ weiter schulen.
T7: sie !Will! nischt
Angeaben s. Transkript T3, ab ab Minute 17.57
Trainer, Katharina und Nelly laufen bis zum in Zeile 14
beschriebenen Moment in schräger Linie auf den angeleinten
Lucky und den Mitarbeiter zu. Nelly wird an lockerer, langer
Leine geführt. Nelly läuft ganz rechts, auf der dem Hund
217
218
Heike Rettig
Lucky zugewandten Seite. Links von Nelly läuft Katharina und
links von ihr wiederum der Trainer.
01 O: lass uns noch mal rüber zu LUCKY gehen;
02 K: [nimmt Leine kürzer]
03 K [oKEJ;
]
04 O: leine LOcker,
05
du hat DIRrekt wieder06
MERKST du?
07 K: ja ja,
08
weil du en ja ihr nicht mehr verTRAUST09 O: [nimmst du die leine sofort AUTOmatisch- ]
10 K: [ja das stimmt ich verTRAU der nich mehr;]
11 O: ds is automaTISsmus;
12
dass du sie KÜRzer nimmst;
13 O: nimmt während des Gehens die Leine am
oberen Ende, K lässt los
14 O: lässt im Gehen die Leine länger
15 N: stoppt in größerem Abstand vor Lucky
16 O: [reicht K. Leine wieder, führt
weiter mit am oberen Ende
]
17 O: [du kannst ruhig MIT anfassen;]
18 O: damit du son GEfühl dafür bekommst19 O: [WANN GEHTS und wann gehts nisch; ]
20 O: [geht auf Lucky zu, N bleibt zurück]
21 N: [wechselt rasch hinter Ks Beinen
auf die linke Seite, weg von Lucky ]
22 O: [jetz gehst du einfach dran vorBEI;]
23 N: [überholt K
]
24 O: [!ZWING! sie nischt da DA rüber,]
25 N: [läuft weit voraus
]
Versuche der Grenzüberschreitung
26 O: [weil sie !WILL! nischt zu ihm;]
27 N: [Nelly läuft weit voraus ]
28 O: [und wenn sie nicht WILL-]
29 N: [Nelly läuft weit voraus]
30 O: [ZWING sie nicht;
]
Zunächst empathisiert der Trainer mit Katharina und hier zeigt sich wieder eine
Parallele zu den Reitinteraktionen: Als Katharina mit ihrem Hund losläuft, nimmt
sie die Leine kürzer. Dieses Verhalten wird durch Ohligschläger gedeutet. Er empathisiert mit Katharina hinsichtlich deren Empathisierens mit Nelly und verbalisiert, dass Katharina ihrer Hündin Nelly unklare, möglicherweise nicht-friedliche
Absichten zuschreibe: »weil du en ja ihr nicht mehr verTRAUST;« (Zeile 8). Diese
Deutung bestätigt Katharina nachdrücklich in Zeile 10. Es handelt sich hier um eine
Art spezifisches, erfahrungsgeleitetes Ausdrucksverstehen, insofern als das Kurznehmen der Leine im Kontext der Mensch-Hund-Interaktion für Ohligschläger in
dieser Situation als Ausdruck eines angespannten emotionalen inneren Zustands
von Katharina deutbar ist. Umgekehrt kann über das körperliche Gefühl, an der
Leine festgehalten zu werden, das Verhalten von Katharina auch Nelly zu einer
empathisierenden Reaktion veranlassen. Einen ganz ähnlichen Prozess beschreibt
die Reitlehrerin, wenn sie zu ihrer Reitschülerin im Reitunterricht sagt: »du wurdst
n bisschen UNsicher- und dann wurde ER unsicher auch« (vgl. Abschnitt 4.3).
Nachdem Katharina die Leine weiterhin kurz hält, nimmt ihr der Trainer die
Leine ab. In dem Augenblick, als Nelly zögert und abstoppt, fordert er Katharina
auf, die Leine wieder anzufassen und sagt: »du kannst ruhig MIT anfassen; damit
du son GEfühl dafür bekommst- WANN GEHTS und wann gehts nisch;« (Zeile
17-19). Hier scheint offenbar ein – im weitesten Sinn – auch körperlich basiertes
Empathisieren eine Rolle zu spielen. Ein spür- und fühlbarer Kontakt zum sich
bewegenden Hund erfolgt nur vermittelt über die Leine, der aber – nach Ansicht
des Trainers – dazu beiträgt, in diesem Augenblick ein Empathisieren mit Nelly
zu ermöglichen, das deren inneren Zustand antizipiert: Katharina soll die Leine
anfassen, damit sie ein »GEfühl« (Zeile 18) dafür bekommt, ob eine Annäherung an
den anderen Hund problemlos möglich ist.
Als Nelly der direkten Begegnung mit Lucky ausweicht, empathisiert der Trainer im Sinne volitiver Empathie: Nelly »!WILL!« nicht (Zeile 16). Dies ist eine empathische Deutung des beobachtbaren schnellen Seite-Wechselns des Hundes. Die
Halterin wird in dieser Situation dafür sensibilisiert, diesen inneren Zustand des
Hundes zu erkennen. Aufgrund seiner empathischen Deutung des Hundes gibt der
Trainer eine verallgemeinerte Anweisung, wie sich Katharina zukünftig verhalten
soll: »und wenn sie nicht WILL- ZWING sie nicht;« (Zeile 28, 30).
219
220
Heike Rettig
5.2.3
Analyse 3: Krieg es doch
Im reiterlichen Diskurs wird in den Richtlinien gefordert, dass der*die Reiter*in
allozentrisch empathisieren und die Perspektive des Pferdes einnehmen können
sollte: »Erfahrene Reiter sind in der Lage, jede Situation aus der Sicht des Pferdes
wahrzunehmen.« (Richtlinien Bd. 1, 15-16, Hervorh. H.R.) und dies wird durch
das lehrende Empathisieren auch im Lehr-Lern-Diskurs angeregt. Analog zeigen in
Hundetrainingssituationen Hundetrainer*innen den Halter*innen durch ihr lehrendes Empathisieren mit dem Hund sehr deutlich, wie der Hund ›seinen‹ Menschen erlebt und wollen die Fähigkeit zum allozentrischen Empathisieren bewusst
schulen. Dies will ich im folgenden Beispiel exemplarisch vorführen.
Betrachtet wird die WDR-Sendung »Richtig spielen mit dem Hund«, in der
Hundetrainer Mirko Tomasin (im Transkript T) in einer Sequenz zeigt, wie Menschen mit ihren Hunden spielen können. Er verortet zunächst das Spiel als wichtige
Interaktion zwischen Mensch und Hund. Er führt aus: »weil das was wir BINdung
nennen- oder beZIEHungsarbeit- das findet vor allem im SPIEL statt;« (ab Minute
0.11, weitere Angaben s. Transkript T8). Tomasin formuliert dabei als Aufgabe explizit die Gewinnung der Fähigkeit zum allozentrischen Empathisieren (vgl. Abschnitt
2) aus: »die größte Herausforderung für den MENschen is- sich das Spiel aus Sicht
des HUNdes bewusst zu machen; (ab Minute 0.35, weitere Angaben s. Transkript
T7).
In der nachfolgenden Filmsequenz wird genau dies an einem Spielversuch gezeigt. Die Hündin Gina (im Transkript G) hüpft um ihren Halter Andreas (im Transkript A) herum, der sich gebeugt, mit nach vorne gestreckten Armen bewegt. Im
Anschluss stehen sich Trainer und Hundehalter gegenüber und Tomasin kommentiert die gerade stattgefundene Interaktion in einer Art Lehrgespräch für Andreas
und die Zuschauer*innen.
T8: ich überleg mal grade
Titel: Richtig spielen mit dem Hund. WDR-Sendung;
Datum: 30.6.2016; Quelle: www.youtube.com/watch?v=l Fde1rzop4;
letzter Abruf: 12.9.2020;ab Minute 1.14
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T: ds sieht spielerisch AUS,
is aber EIgentlich nur rumgehopse;
vieles von dem was ich GEsehen habe;
warn keine SPIELreaktionen des HUNDes,
A: hm
T: und das lag an EIner KLITZE kleinigkeitdu hast ihr n ANgebot gemachthast aber ihre ANTwort nicht abgewartet;
A: ehe;
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T: du hast sie geFRAGTsolln wir miteinander SPIElen?
A: ja.
T: und sie hat geSAGTMOment (.) ich überLEG mal gradeund in dem Moment kamen deine HÄNnde schon;
A: ah SO;
Hier empathisiert der Trainer mit Gina, um Andreas nachvollziehbar zu machen, wie Gina die Interaktion erlebt hat. Zunächst wird Andreas’ körperliches
Ausdrucksverhalten – aus der Sicht des Hundes – als Spielangebot gedeutet, der
Trainer beschreibt Ginas Wahrnehmung und Deutung von Andreas‹ Ausdrucksverhalten im Sinne kognitiven Empathisierens durch fiktionale Redewiedergabe als »wollen
wir miteinander spielen« (Zeile 10). Ginas anschließendes Verhalten wird dann,
wiederum durch Empathisieren im Sinne kognitiver Empathie, als »ich überleg mal«
(Zeile 12) gedeutet. Das Vorgehen mit den Händen und das lenkende Anfassen des
Hundes durch Andreas (»und in dem Moment kamen deine HÄNnde schon;« Zeile
13) wird vom Trainer aus Sicht von Gina als vorschnelle, unerwünschte Aktion
gedeutet; er empathisiert mit der Hündin im Sinne volitiver Empathie, indem er
Gina die Absicht des Antwortens zuschreibt. In der konkreten Interaktion sensibilisiert der Trainer hier Andreas für die Hundeperspektive auf ihn selbst – die dem
Hundehalter bisher völlig verschlossen schien.
Im Anschluss an dieser Sequenz betont Tomasin die Rolle der Ruhe im Spiel,
um einen Spannungsbogen aufzubauen. Dies trainiert er mit Daniela (D im Transkript) und ihrem Hund Diego (H im Transkript). Der Hund läuft auf der Wiese
mit einem Stock im Maul herum. Zu Beginn wird Daniela gezeigt, sie steht leicht
gebeugt, in angespannter Körperhaltung und man sieht nur sie, wie sie einen langsamen Schritt vorwärts macht.
T9: KRIEG es doch
Angaben s. Trankript 7, ab Minute 2.21
01 T: jetzt n !GANZ! kurzen angriff02
!!JETZT!!;
03 D: [macht zwei schnelle Schritt auf Diego zu ]
04 H: [Diego läuft auf Daniela zu, wendet dann ab]
05 T: [das war SUper,
]
06 D: [macht wieder zwei Schritte zurück]
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Heike Rettig
07 T: [und jetzt wieder AUFlauern]
08 D: [steht wieder gebückt und angespannt]
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D:
T:
H:
D:
H:
T:
macht einen Schritt nach vorne
NO:CH langsamer;
Diego läuft mit dem Stock im Maul auf D zu
macht einen langsamen Schritt vorwärts
Diego wendet ab und läuft weg
JAwoll;
und !JETZT! fängt der hund an und sachtT: <<singender Tonfall <!KRIEG! es doch,>>
<<singender Tonfall <!KRIEG! es doch,>>
Hier zeigt Tomasin Daniela ganz konkret, wie sie durch ihr körperliches Ausdrucksverhalten für den Hund als Spielpartnerin wahrnehmbar und erkennbar
wird. Als der Hundetrainer durch empathisierendes Ausdrucksverstehen schließt,
dass dies geglückt ist und Diego mit Daniel interagiert, verbalisiert er im Sinne
des lehrenden Empathisierens den inneren, ›spielbereiten‹ Zustand des Hundes
für Daniela in Form einer fiktiven Redewiedergabe: Diego ruft ihr auffordernd
zu: »!KRIEG! es doch« (Zeile 16, 17). Der singende Tonfall, in dem Tomasin Diego
›sprechen‹ lässt, erinnert an die Art, wie Kinder beim Fangenspielen ›Krieg mich
doch‹ rufen und verdeutlicht dadurch auch prosodisch Diegos freudige Stimmung.
An der Stelle der Interaktion, an der der Hund seine Spielfreude zum Ausdruck
bringt und echte Interaktionsbereitschaft zeigt, macht Tomasin Daniela zielgenau
(»!JETZT! fängt der hund an«, Zeile 15) durch das lehrende Empathisieren darauf
aufmerksam und sensibilisiert sie dafür.
5.2.4
Analyse 4: Angst oder REspekt?
Im letzten Ausschnitt will ich zum Einen zeigen, dass Empathisieren mit dem
Hund auch eine von Hundehalter*innen initiativ im Kontext der Lehr-/Lernsituation verwendete Verstehensmethode ist, und zum Anderen eine bisher noch nicht
beschriebene Realisationsform des Empathisierens, die ich als ›Gefühlsanalogie‹
bezeichne, vorstellen.
Die Hündin Ronka soll, ähnlich wie Nelly in der vorherigen Analyse, an den aggressionsfreien Kontakt mit anderen Hunden gewöhnt werden. Die Filmsequenz
zeigt, wie die Halterin Britta (im Transkript B) auf Anweisung des Trainers Ohligschläger (im Transkript O) mit Ronka an der Leine durch ein Tor geht, das zu
einem umzäunten Gelände mit mehreren anderen Hunden führt. Ronja geht dicht
an den Zaun heran, hinter dem die anderen Hunde stehen, streckt die Nase zu
den anderen Hunden und wedelt mit halb abgesenkter Rute. Danach dreht sie sich
um und geht zu ihrer Halterin zurück, entfernt sich dann von ihr und schnüf-
Versuche der Grenzüberschreitung
felt während des im Folgenden transkribierten Ausschnitts rechts und links an der
äußeren, dem Hundegehege abgewandten Seite herum. Die Halterin versucht erkennbar, den inneren Zustand von Ronja empathisch zu erkunden, ist dabei aber
unsicher, sie wendet sich deshalb an den Trainer:
T10: Angst oder Respekt?
Titel: Hunde verstehen Folge 4, WDR-TV-Sendung
Quelle: www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/tiere-suchenein-zuhause/video-hunde-verstehen-106.html
Datum: 27.1.2020; letzter Abruf: 10.5.2020; ab Minute 25.27
01 B: oke hat die jetzt ANGST,
02
(.) oder REspekt oder so?
03 O: res!PEKT!,
04
KEIne Angst;
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REspekt;
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kuck die kommt hier AN07
du kommst auf ne PARty;
08
da SIND schon einige leute09
die sind schon länger DA10
und du SAgst;
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oKE;
12
WART ich erst mal;
Der Trainer greift die empathischen Deutungsangebote der Halterin auf und beschreibt im Sinne emotional-affektiven Empathisierens den aktuellen inneren Zustand der Hündin mit den Ausdrücken »Respekt« und »keine Angst« (vor den anderen Hunden). Um Britta den inneren Zustand von Ronja emotional nachvollziehbar
zu machen, ruft er – im Sinne einer Art ›Gefühlsanalogie‹ eine menschlichen Begegnungssituation und die damit verbundenen Gefühle im Rahmen einer zwanglosen Zusammenkunft (»Party«) mit unbekannten ›Artgenossen‹ auf. Im Gegensatz
zur Beschreibung der inneren Zustände des Tieres wird hier also eine andere Praktik des lehrenden Empathisierens erkennbar, nämlich die (hier typisierende) Beschreibung des inneren Zustands eines Menschen. Dadurch, dass die menschliche
Gefühlswelt der Halterin Ronja zugänglich ist, soll offenbar Mitempfinden mit der
Hündin leichter möglich werden. Damit wird allerdings vorausgesetzt, dass sowohl
die sozialen Situationen ›Treffen von einander unbekannten Menschen‹ und ›Treffen von einander unbekannten Hunden‹ als auch die dabei entstehenden Gefühle
für Hund und Mensch hinreichend ähnlich sind. Hier handelt es sich im Grunde
nicht mehr um allozentrisches, sondern um eine vom Trainer gezielt eingesetzte,
spezielle Form von egozentrischem Empathisieren.
223
224
Heike Rettig
6.
Fazit
Die hier erfolgte Erweiterung des Fokus’ auf das lehrende Empathisieren in der
Hund-Mensch-Interaktion erbrachte, dass sich Praktiken und Formen analog zu
den bereits untersuchten Reitinteraktionen wiederfinden lassen. Bei Hunden ist
auffällig, dass das Sprechen für den Hund aus Hundeperspektive in Form einer
fiktionalen Redewiedergabe offenbar – zumindest in medial im Fernsehen oder
Netz vermittelten und inszenierten Hundetrainingssituationen – eine häufige
Form der lehrenden Praktik der Hunde-Experten darzustellen scheint. Zudem
umfasst das lehrende Empathisieren bei den Hundetrainern auch eine direkte
Schulung des empathisierenden Ausdrucksverstehens: Die verbale Darstellung
und Fokussierung eines konkreten Ausdrucksverhaltens des Hundes wird direkt mit der empathischen Zuschreibung verknüpft (wenn z.B. eine bestimmte
Vokalisation oder Ohrenstellung des Hundes als Ausdruck eines bestimmten
inneren Zustandes empathisch gedeutet wird). Eine ebenfalls wiederkehrend zu
beobachtende Praktik ist die verbale Darstellung der Wahrnehmung von Menschen aus Hundeperspektive, auch hier wählen Trainer die Form der verbalen
Darstellung durch fiktionale Redewiedergabe. Werden, wie im letzten Analysebeispiel, als lehrende Praktik explizite Gefühlsanalogien der hundlichen und
menschlichen Empfindungen hergestellt, verschwimmt auch die Grenze zwischen
allozentrischem und egozentrischem Empathisieren.
Herauszuarbeiten, inwiefern das lehrende Empathisieren (oder spezifische
Formen davon) in Pferd-Mensch und Hund-Mensch-Kontexten an bestimmte
Kulturräume gebunden ist und wo sich solche Praktiken auch in historischer
Perspektive aufzeigen lassen, bleibt eine spannende Aufgabe für zukünftige
Untersuchungen.
Sicherlich ist es insgesamt ein schmaler Grat beim Empathisieren mit tierlichen Lebewesen zwischen unangemessener Anthropomorphisierung oder vorschneller Zuschreibung und ›echter‹, bestenfalls von Fachkenntnis und Erfahrung
gekennzeichneter, explorativer Erkundung des tierlichen Interaktionspartners.
Das Empathisieren ist aber generell kein sicherer Weg zum Gegenüber, sondern ein
immer wieder neuer Versuch, die innere Welt des Anderen suchend – und irrend
– zu erkunden. Insbesondere die Fähigkeit zum allozentrischen Empathisieren,
die in besonderem Maß als Brückenpraktik geeignet erscheint, braucht Wissen
über die Ausdrucksressourcen und Kommunikationsmodalitäten des tierlichen
Gegenübers sowie Sensibilität für die multimodalen, artspezifischen tierlichen
Formen des Ausdrucks, der Initiative und der Response (z.B. durch Körperhaltung,
Raumverhalten, Ohrenspiel, Mimik). Es braucht ein Bewusstsein für die Relevanz
des leiblichen Interaktionsgeschehens und eine Deutungsoffenheit, die Situation
und Kontext berücksichtigt.
Versuche der Grenzüberschreitung
Interessanterweise ist andererseits jedoch sogar die Anwendung der ›Menschenperspektive‹ im Sinne eines egozentrischen Empathisierens bei der empathischen Deutung des tierlichen Anderen nicht zwangsläufig unangemessen:
Das Pferd, das flehmend seine Zähne zeigt, lacht nicht – der Hund, der dies tut,
lächelt jedoch in bestimmten Situationen tatsächlich den Menschen freundlich
an. Feddersen-Petersen sieht sogar die anthropomorphisierende Betrachtung als
Grundlage für das Gefühl der Verbundenheit mit dem Tier an und spricht von
einer möglichen »tiergerechten Form der Vermenschlichung« (2008: 67). Sie weist
nachdrücklich darauf hin, dass »Anthropomorphismus sich nicht zu der einfachen
und falschen Formel subsumieren lässt, dass Tiere sich wie Menschen verhalten,
dass die bewusst anthropomorphe Betrachtung vielmehr zur Folge hat, Tieren
Gefühle und kognitive Fähigkeiten zuzuerkennen« (Feddersen-Petersen 2008: 68).
Mit Pferden und Hunden (und anderen tierlichen Lebewesen) zu empathisieren
(und dies zu verbalisieren), ist also nicht per se ein naives Unterfangen gefühlsseliger Tierfans. Dies gilt umso mehr, als dass offenbar auch Tiere – ebenfalls mit
ihren arteigenen Ressourcen – den Menschen empathisch erkunden können und
dies Auswirkungen auf ihr Interaktionsverhalten in Mensch-Tier-Konstellationen
hat. Lächeln wir also gemeinsam mit den Hunden über die human-tierliche Grenze
hinweg, die sich zunehmend als hinterfragungswürdiges Konstrukt erweist.
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