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Krieg in Europa. ZEIT ONLINE 28 2 22

2022, ZEIT Online

Krieg in Europa. Gendersterne, Schweiß und Tränen. Die deutsche Friedensgesellschaft überwindet ihre Geringschätzung der Landesverteidigung. Das ist gut, doch wenn sie dafür ihre Diskurse aufgibt, hat Putin doch gewonnen, in: ZEIT Online, 28.2.2022

02.03.22, 21:49 Krieg in Europa: Gendersterne, Schweiß und Tränen | ZEIT ONLINE Krieg in Europa Gendersterne, Schweiß und Tränen Die deutsche Friedensgesellschaft überwindet ihre Geringschätzung der Landesverteidigung. Das ist gut, doch wenn sie dafür ihre Diskurse aufgibt, hat Putin doch gewonnen. Von Hedwig Richter 28. Februar 2022, 17:47 Uhr / 92 Kommentare / ARTIKEL HÖREN Immer wieder heftig umstritten, aber vielleicht gehören Bundeswehr und Reichstag doch – wie hier bei einem Großen Zapfenstreich im Jahr 2015 – auf ein Bild. © imago images Unzählige Expertinnen haben vor der Gewalt gewarnt. Vor aller Augen hatte Putin längst den Krieg angefangen, hat sich wie ein Fürst des 18. Jahrhunderts mit der Krim ein Stück Land geraubt. In Tschetschenien hat er zerstört, geschändet und eine Schar bestialischer Milizen und Folterknechte herangezüchtet. Er ist ein Mörder, ein Zyniker, ein Verächter. Analysten haben es eins ums andere Mal gesagt: Diese Gewalt lässt sich nicht mit Worten und Mikrosanktionen stoppen. Und doch: Es war nicht vorstellbar. Es lag nicht auf der Hand, dass ein Gewaltherrscher über Europa herfällt und alles zerstören will, was uns lieb und heilig ist: Toleranz, Selbstrelativierung, Rücksicht, die Utopie der Gleichheit, den freien Alltag mit Zeitung und Dialektik und liebevollen Kinderbüchern, https://www.zeit.de/kultur/2022-02/krieg-europa-ukraine-russland-demokratie/komplettansicht 1/5 02.03.22, 21:49 Krieg in Europa: Gendersterne, Schweiß und Tränen | ZEIT ONLINE Begreifen, Freundlichsein, Abwägen – Demokratie. Dass er es wirklich in diesem Ausmaß tun und nicht nur mit der Drohung, es zu tun, kleinere Ziele erreichen würde. HEDWIG RICHTER ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Im August 2020 erschien von ihr Demokratie. Eine deutsche Affäre. Wir wussten es. Und doch wussten wir es nicht. Es ist zu einfach, "dem Westen" vorzuwerfen, weiter auf Frieden und Diplomatie gesetzt zu haben – dem Westen, diesem merkwürdigen Konstrukt, von dem plötzlich so ziemlich alle wissen, was damit gemeint ist und dass es wertvoll sei. Der Vorwurf ist wohlfeil, weil unsere Welt denkbar weit entfernt ist von Gewalt und Krieg. Europa ist ein Kind eines fast achtzigjährigen sehr weitreichenden Friedens. Der ganze Habitus steht dem Krieg entgegen, und das ist ein kostbares Gut, das nun niemand verdammen und verhöhnen sollte. Denn diese Welt des Friedens und der Freiheit ist filigran. Der Himmel über uns ist bedeckt mit Gendersternen und die Luft flirrt von empfindlichen und zerbrechlichen Schneeflöckchen [https://www.zeit.de/kultur/201911/pressefreiheit-northwestern-university-illinois-campuszeitung-generationsnowflake]. Nie hatten die Menschen in Europa so viel Freizeit, nie so viel Wohlstand. Die Sorge in dieser Welt gilt der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit, die weiter unvollkommen ist. Dass es die Töchter und Söhne nicht noch besser haben als ihre Eltern, war Anlass zorniger Empörung. Die Sorge gilt aber auch der Schuld, die sich dieser Westen in seiner Geschichte aufgeladen hat, der Frage nach geraubten Gütern in Museen, der Erinnerung an die Opfer. In dieser Friedenswelt kann endlich über Rassismus geredet werden, über die Zerbrechlichkeit von sexuellen und sonstigen Identitäten. Kriege fanden auf Netflix und bei Starwars statt. Zugleich weist man unermüdlich auf die Konflikte weltweit hin und auf die eigene Schuld, die der Westen in dieser globalisierten Welt an allen Kriegen trägt. Berlin - Mehr als 100.000 Teilnehmende bei Friedensdemo Die Kundgebung stand unter dem Motto "Stoppt den Krieg. Frieden für die Ukraine und ganz Europa!". Auch in Frankfurt am Main und in Hamburg gab es Demonstrationen. Als Lehre aus seiner Gewaltgeschichte hat Europa gezogen: Suchet den Frieden und jagt ihm nach. Und das ist richtig. Gewalt ist der denkbar größte Gegensatz zur Demokratie, die vom Wort lebt, vom Nachdenken, Überzeugen und Nachgeben. In Deutschland war die Friedenslektion drängender als in anderen Ländern. Es hat lange gedauert, bis sich die deutsche Bevölkerung mit den Naziverbrechen näher auseinandergesetzt hat. Dagegen war den Deutschen https://www.zeit.de/kultur/2022-02/krieg-europa-ukraine-russland-demokratie/komplettansicht 2/5 02.03.22, 21:49 Krieg in Europa: Gendersterne, Schweiß und Tränen | ZEIT ONLINE Das Beste aus Z+ Russland-Krise Wladimir Putins Attacke und die Schwäche des Westens [h ps://www.zeit.de/2022/09/russland-krise-krieg-weltpolitik-ukraine] eins direkt nach der Niederlage klar: Dass der Krieg ein Ende haben muss. Fast verwundert es da, dass es überhaupt gelang, 1955 die Bundeswehr zu gründen. Der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung in den spießigen Fünfzigerjahren war erbittert. Diese Gegnerschaft erwies sich freilich als das schlichteste Eingeständnis. Die deutsche Armee hatte verloren, und die Verlierer wollten mit dem Krieg nichts mehr zu tun haben. Doch wer so schändlich zwei Weltkriege verloren hat und am Boden liegt, für den ist der Verzicht auf Krieg eine leichte Übung. Das Ende der schichtspezifischen Arroganz Die Konsequenz ist ein herausragend distanziertes Verhältnis zur eigenen Landesverteidigung. Die bundesrepublikanische Armee wurde an den Rand gedrängt, und die Wertschätzung des Dienstes an der Waffe wirkte immer etwas ridikül. Die Politik zeigte sich gleichwohl realistisch: Ohne militärische Abschreckung wäre Willy Brandts Annäherung nicht möglich gewesen. Annegret Kramp-Karrenbauer, eine der ganz wenigen in der deutschen Politik mit sicherheitspolitischem Sachverstand, erklärte zuletzt auf Twitter: "Wir haben die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, dass Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann." Tatsächlich ist die Wehrhaftigkeit der Demokratie die zweite Lehre aus den Weltkriegen – neben dem Frieden. Europa schien diese Lektion weitgehend vergessen zu haben und Deutschland hat sie seit den Achtzigerjahren systematisch verdrängt. Das hat auch damit zu tun, dass diese zweite Lehre moralisch widersprüchlicher und ästhetisch weniger ansprechend ist. Zunehmend verzichteten die deutschen Söhne insbesondere bürgerlicher Familien darauf, den Wehrdienst zu leisten; die Verachtung gegenüber dem Militär wurde unverhohlen. Der Hass, den Soldatinnen und Soldaten immer wieder erleben, zeugt nicht nur von einer schichtspezifischen Arroganz, sondern auch von einer Unfähigkeit, sich der blanken Wahrheit zu stellen: Auch im 21. Jahrhundert müssen wir die Demokratie mit militärischer Gewalt verteidigen. Die Bundeswehr war lange Zeit wie das Klosett der Nation: Nicht hinschauen, aber ohne geht's ja auch nicht. Zwar konnte nur eine geschichtsvergessene https://www.zeit.de/kultur/2022-02/krieg-europa-ukraine-russland-demokratie/komplettansicht 3/5 02.03.22, 21:49 Krieg in Europa: Gendersterne, Schweiß und Tränen | ZEIT ONLINE Partei wie die Linke behaupten, wir kämen ohne eine Armee aus, und die Nato sei der eigentliche Hort der Finsternis. In der Bevölkerung ist das Ansehen der Bundeswehr in den letzten Jahren gestiegen, doch viele in politischer Verantwortung hegten lieber ihre Ressentiments. Russland-Ukraine-Krieg - Olaf Scholz kündigt umfangreichen Ausbau der Bundeswehr an Der Bundeskanzler reagiert damit auf die russische Invasion der Ukraine. Ziel sei eine "leistungsfähige, hochmoderne Bundeswehr", 100 Milliarden Euro soll dies kosten. Krieg in der Ukraine Russische Invasion Krieg in der Ukraine Ukraine fordert Feuerpause in Charkiw zur Evakuierung von Zivilisten [h ps://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/liveblog-krieg-ukraine-russland-news] Krieg in der Ukraine EU will über Aufenthaltsgenehmigung für Flüchtlinge beraten [h ps://www.zeit.de/politik/ausland/2022-01/krieg-ukraine-russland-news-liveblog] Russland-Ukraine-Krieg "Die einzigen Gewinner dieser Krise sind die Waffenhersteller" [h ps://www.zeit.de/arbeit/2022-03/russland-ukraine-krieg-sanktionen-auswirkungen-oekonomiedeutschland] Weitere Beiträge [h ps://www.zeit.de/thema/krieg-in-ukraine] Es ist an der Zeit, gerade auch für Linke, sich an den Krieg im Kosovo und an die zweite Lehre aus den deutschen Verbrechen zu erinnern, die doch mindestens ebenso auf der Hand liegt: Nur Gewalt hat Hitler und sein Volk gestoppt. Angesichts der Ukraine schreit diese Wahrheit zum Himmel: Die Namen der Städte und Landschaften stehen für diese Verantwortung, dort haben unsere Groß- und Urgroßväter gewütet und gemordet und den Tod organisiert, von Babyn Jar bis Lemberg. Viele ukrainische Juden dienten in der Roten Armee, um der deutschen Gewalt Einhalt zu gebieten. Lange genug hat Deutschland seine Verantwortung als Verantwortungslosigkeit interpretiert. Spätestens seit den – zum Symbol für Feigheit gewordenen – fünftausend Helmen, die Deutschland an die Ukraine lieferte, und spätestens seit die Ampel-Regierung die Freiheit ganz offen gegen den niedrigen Gaspreis feilbot, liegt es zutage. https://www.zeit.de/kultur/2022-02/krieg-europa-ukraine-russland-demokratie/komplettansicht 4/5 02.03.22, 21:49 Krieg in Europa: Gendersterne, Schweiß und Tränen | ZEIT ONLINE Nach langem Zögern und einem wirklich atemberaubenden und in seiner Schnelligkeit auch Respekt heischenden Lernprozess hat der Bundeskanzler im Parlament nun allerdings eine "Zeitenwende" angekündigt. Die bittere Einsicht wird durch zwei schmerzliche Entwicklungen bestärkt und unumgänglich. Die kleinere davon ist die Tatsache, dass die USA schon bald wieder von Trump geführt werden kann, dem die Demokratie keine fünfzig Helme wert ist. Europa muss sich selbst verteidigen können, so unrealistisch das noch klingt. Doch noch mehr geht die Einsicht einher mit der ökologischen Transformation. Die Veränderungen und die Zumutungen müssen kommen, damit nicht der Planet und mit ihm jede Menschlichkeit und Demokratie zugrunde gehen. Die Regierung muss jetzt ehrlich sein und nicht nur Zahlen präsentieren, sondern, ja, Blut, Schweiß und Tränen in den bundesrepublikanischen Horizont rücken. Die Idee kann nicht mehr sein, dass es die Kinder noch besser haben, sondern, dass irgendwie ein Leben in Frieden, Demokratie und Sicherheit weiterhin möglich ist. Und doch sollte jetzt nicht die andere Lehre aus den Weltkriegen in Vergessenheit geraten: Der Frieden ist kostbar – und mit ihm sein Klima der Gendersterne und Schneeflöckchen. Wenn wir diese Friedenswelt vergessen, wenn wir ihre Diskurse dekadent nennen, hätte Putin, der Freiheitsfeind, in vielerlei Hinsicht gewonnen. Es ist nicht ganz einfach, den Friedenswunsch und den Verteidigungswillen in Einklang zu bringen. Und es ist absolut verständlich, dass sich nach vielen Generationen des Friedens die Menschen damit schwertun. Aber es ist notwendig. Wir wussten es. Und doch wussten wir es nicht, jetzt aber sollten wir uns den Tatsachen stellen und bereit für einen schmerzlichen Aufbruch sein. Deutschland muss kritisch bleiben, wenn es ums Militär geht, Waffen nicht an Despoten liefern, den Frieden lieben, Nazis in der Bundeswehr verhindern – was übrigens umso leichter wird, je weniger sich die Gesellschaft von ihr abwendet. Die nüchterne Demokratie und Distanz zum Kriegerischen sind nobel. Doch beides gehört zusammen, es muss zusammengehören: die diverse, freie Welt des Friedens und die rohe militärische Verteidigung. https://www.zeit.de/kultur/2022-02/krieg-europa-ukraine-russland-demokratie/komplettansicht 5/5