Eckart Bomsdorf /Walter Krämer
Lenin und die Volkszählung in Russland 1920
Zusammenfassung
Wir nehmen den hundertjährigen Geburtstag der Deutschen Statistischen Gesellschaft und
die gegenwärtig stattfindende Volkszählung in Deutschland zum Anlass eines historischen
Rückblicks: Wie ist man in einem anderen Land und in einer anderen Wirtschaftsordnung
vor 90 Jahren mit der Amtsstatistik umgegangen? Was können wir für heute daraus lernen,
und welche Fehler wurden seinerzeit gemacht? Unsere Ausführungen fokussieren sich auf
die Person von Wladimir Iljitsch Uljanow (Lenin), der als Erster Vorsitzender des Rates
der Volkskommissare der RSFSR weit intensiver mit statistischen Affären befasst war, als
man das gemeinhin von Personen in solchen Stellungen glaubt.
1. Einleitung
Wie ging man zu anderen Zeiten, in anderen Ländern und unter anderen weltanschaulichen
Rahmenbedingungen mit Fragen der amtlichen Statistik um? Die vorliegenden Ausführungen
adressieren dieses Thema im Kontext der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik
(RSFSR) um das Jahr 1920, so wie es in Briefen, Zeitungsartikeln, Ratsdirektiven und
Telefonnotizen des seinerzeitigen Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare Lenin, d.h.
gleichsam des Regierungschefs, festgehalten wurde. Unsere wichtigste Quelle ist dabei das von
N.G. Gratschow im Jahr 1968 zusammengestellte Kompendium einschlägiger Äußerungen des
Diktators, so wie von der staatlichen Zentralverwaltung für Statistik der DDR unter Federführung
des Direktors Arno Donda im Jahre 1971 in deutscher Übersetzung herausgegeben. Diese deutsche
Ausgabe wird im Folgenden mit Lenin/Donda 1971 zitiert. Sie gewährt nicht nur tiefe Einblicke in
die Denk- und Arbeitsweise kommunistischer Diktatoren, sie zeigt auch, welche Rolle diese der
Statistik bei ihren Weltverbesserungsphantasien zumaßen und welche große Wertschätzung speziell
Lenin den eher handwerklichen Aspekten der Statistik entgegenbrachte (von Stochastik und
mathematischer Statistik verstand er nichts, soweit aus einschlägigen Dokumenten ersichtlich).
Die überschwängliche Begeisterung des deutschen Herausgebers für die Werke des Diktators mutet
heute eher seltsam an: „Diese Sammlung von Hinweisen Lenins zu Fragen der Arbeit der Statistik
und ihrer Organe stellt ein unmittelbares Arbeitsinstrument dar, daß in die Hände eines jeden gehört,
der auf dem Gebiet von Rechnungsführung und Statistik arbeitet.“ (Lenin/Donda 1971, S. 12).
Historisch etwas begründeter und verständlicher erscheinen die folgenden Sätze aus dem Vorwort
der russischen Ausgabe, in der Lenin gewissermaßen als Geburtshelfer der sowjetischen Statistik
erscheint (Lenin/Donda 1971, S.13): „Die Organisation und Entwicklung der sowjetischen Statistik
ist untrennbar mit der Tätigkeit des großen Lenin – des Begründers des ersten sozialistischen
Staates der Welt – verbunden. Unter seiner unmittelbaren Anleitung und Teilnahme vollzogen sich
die Geburt und das Werden der jungen sowjetischen Statistik und der staatlichen statistischen Ämter
[…] W.I. Lenin schätzte die sozial-ökonomische Statistik als eines der mächtigsten Waffen der
sozialen Erkenntnis ein und wertete die Ergebnisse der von den statistischen Ämtern durchgeführten
1
Untersuchungen als ein Instrument des sozialistischen Aufbaus und der staatlichen Leitung. Deshalb
sind die Hinweise W.I. Lenins zur Methodik der sowjetischen Statistik und zur Organisation der
Arbeit der staatlichen statistischen Organe von unschätzbarer Bedeutung für die Weiterentwicklung
der statistischen Theorie und Praxis.“
Was aus den gesammelten Texten deutlich wird, ist, dass Lenin die Statistik vor allem als
Datensammelstelle und Zuarbeiter der bolschewistischen Staatsverwaltung begriff. „Die Statistiker
müssen unsere praktischen Helfer sein und keine Scholastiker.“ (Lenin/Donda 1971, S. 130). Wann
immer also Lenin von Statistik sprach, meinte er das, was wir heute Wirtschaftsstatistik nennen, und
diese schätzte er wie fast alle großen Machtmenschen sehr.1 Obwohl er sich zuweilen auch zur
Stichprobenproblematik äußerte, wird gerade aus diesen Äußerungen mehr als deutlich, daß ihm
stochastische Überlegungen völlig fremd gewesen sind.
2. Die generelle Rolle der Amtsstatistik in der RSFSR
Ein Grundkonstruktionsprinzip der aktuellen deutschen Amtsstatistik ist die faktische und
administrative Unabhängigkeit von der exekutiven Staatsgewalt. Davon konnte in der Russischen
Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik natürlich keine Rede sein. "Sie [die statistische
Zentralverwaltung] darf kein 'akademisches' und kein 'unabhängiges' Organ sein, wie sie das jetzt
nach altem bürgerlichen Brauch zu 9/10 ist, " formuliert Lenins Verordnung über die Arbeit der
Stellvertreter aus dem Jahr 1922 (Lenin/Donda 1971, S. 150) und fährt fort:
sie muß vielmehr ein Organ des sozialistischen Aufbaus sein, der Prüfung,
Kontrolle und Erfassung dessen, was ein sozialistischer Staat jetzt, sofort, in
erster Linie wissen muß. Der Widerstand der alten Gewohnheiten wird auch hier
unweigerlich sehr hartnäckig sein, aber um so hartnäckiger muß auch der Kampf
sein.
Ansonsten ähnelten die Aufgaben der Statistischen Zentralverwaltung denen der amtlichen
statistischen Ämter in anderen Ländern, z.B. auch in Deutschland. Sie sind teilweise stärker vom
Zeitgeist geprägt, so umfassen sie auch besonders hervorgehoben die Militärstatistik, die – zufällig
oder absichtlich – quasi in einem Atemzug mit der Bildungsstatistik genannt wird. Interessant ist
das Extraaufführen der demographischen Statistik, in dem von Lenin Ende Juli 1918
unterzeichneten Dekret des Rats für Volkskommissare, das wie alle hier zitierten Dekrete in der
Iswestija veröffentlicht wurde (Lenin/Donda 1971, S.21).
Der Statistischen Zentralverwaltung obliegt:
I. Die allgemeine Pflege der Entwicklung einer richtigen Stellung der Statistik im Staat und
der Erweiterung der statistischen Kenntnisse.
II. Die Bestätigung der Pläne und Programme aller Art für statistische Untersuchungen und
Zählungen, die von Verwaltungseinrichtungen durchgeführt werden, sowie die Bestätigung
der jährlich von den Institutionen aufzustellenden statistischen Arbeitspläne,
Organisationspläne und Instruktionen.
III. Die Durchführung der demographischen Statistik.
1
Anderslautende Aussagen anderer Staatsmänner sind nachweislich falsch. So ist etwa das
Winston Churchill zugeschriebene Zitat "Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht
habe" auf eine Intrige von Joseph Goebels zurückzuführen, der Churchill im zweiten Weltkrieg den
deutschen Medien als Lügner darstellen wollte (siehe Barke 2004). Churchill selbst war stets ein
großer Freund der Statistiker gewesen und hatte immer Statistiker in seinem engen Beraterstab.
2
IV. Die Durchführung der Statistik des öffentlichen Gesundheitswesens und der Hygiene.
V. Die Durchführung der Moralstatistik.
VI. Die Durchführung der Statistik der Bodennutzung.
VII. Die Durchführung der Statistik des Verbrauchs und des Warenaustauschs.
VIII. Die Durchführung der Statistik der landwirtschaftlichen Produktion.
IX. Die Durchführung von Arbeiten zum Kataster.
X. Die Zusammenfassung der gesamtstaatlichen Industriestatistik.
XI. Die Durchführung der Arbeits-, Militär- und Bildungsstatistik.
XII. Die Durchführung der Transportstatistik.
Ferner hebt Lenin immer wieder die Bedeutung und die Aufgabe einer statistischen
Zentralverwaltung hervor; er ist sich offenbar der Macht der Zahlen voll bewusst, wie auch aus
einem Dekret des Rats für Volkskommissare vom Mai 1919 hervorgeht (Lenin/Donda 1971, S.
30f.).
Die Werke und Betriebe sind verpflichtet, Angaben zu Fragen der Industriestatistik nur an:
1) die Statistische Zentralverwaltung und ihre örtlichen Organe;
2) die Abteilung für Betriebs- und überbetriebliche Statistik des Obersten
Volkswirtschaftsrates;
3) die entsprechenden Hauptverwaltungen und Zentren über ihre Zweige
vorzulegen.
Alle übrigen Institutionen und Organisationen, die Angaben über Werke und Betriebe
benötigen, erhalten diese von der Statistischen Zentralverwaltung und der Abteilung für
Betriebs- und überbetriebliche Statistik des Obersten Volkswirtschaftsrates …
Auch die internationale Vernetzung wird angemahnt, wobei Lenin in dem bereits zitierten Dekret
des Rats für Volkskommissare vom Juli 1918 insbesondere auf das Internationale Statistische
Institut verweist (Lenin/Donda 1971, S.22f.):
Um die Arbeiten der russischen Statistik mit den Arbeiten anderer Staaten auf dem Gebiet der
Statistik abzustimmen, nimmt die Statistische Zentralverwaltung in Person ihrer Vertreter an
den Arbeiten des Internationalen Statistischen Instituts, an Kongressen und anderen
internationalen Einrichtungen und Versammlungen zu Fragen der internationalen Statistik teil.
Der Begriff „Stichproben“ tritt bei Lenin vor allem im Kontext von Erfolgskontrollen auf, wenn
auch ohne praktische Vorschläge zu deren konkreter Ausgestaltung, wie aus einem Entwurf zu
Verordnungen und Richtlinien über die Genossenschaften vom Januar 1920 sowie Ergänzungen
zum Beschluss des Rats der Volkskommissare über die statistische Erfassung der Aussaatflächen
der Landbevölkerung vom Juli 1919 hervorgeht (Lenin/Donda 1971, S. 47 und S. 45):
Die Statistische Zentralverwaltung wird beauftragt, in einer Frist von … nach Übereinkunft
mit dem Zentralverband der Konsumgenossenschaften, dem Volkskommissariat für
Ernährungswesen und dem Obersten Volkswirtschaftsrat ein Programm auszuarbeiten, nach
dem draußen im Lande die Methoden und Ergebnisse der Lebensmittelbeschaffung, und zwar
der Beschaffung mit und ohne Beteiligung der Genossenschaften, an Hand von Stichproben
überprüft werden.
Zur Erfassung der Aussaatflächen, des Viehs, des Inventars und der Bevölkerung in den
bäuerlichen Wirtschaften und in den Sowjetwirtschaften hat der Rat der Volkskommissare
beschlossen:
[…] Auf dem Territorium der Sowjetrepublik eine [stichprobenweise] Zählung von nicht mehr
als 10 % der bäuerlichen Wirtschaften und eine Gesamtzählung der Sowjetwirtschaften,
3
Kommunen und Artels [landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften] durchzuführen
sowie monographische Beschreibungen der ihrer ökonomischen Struktur nach
unterschiedlichen bäuerlichen Wirtschaften anzufertigen.
Und dann hatte die sowjetische Amtsstatistik auch didaktische Aufgaben zu übernehmen, wie Lenin
schon im April des Jahres 1918 in seiner Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ schrieb
(Lenin/Donda 1971, S. 80):
… Die Statistik war in der kapitalistischen Gesellschaft ein Gegenstand, der
ausschließlich von "Amtspersonen" oder auf ihr Fachgebiet beschränkten
Spezialisten bearbeitet wurde – wir aber müssen sie in die Massen tragen, sie
popularisieren, damit die Werktätigen allmählich selbst verstehen und sehen
lernen, wie und wieviel man arbeiten muß, wie und wieviel man sich erholen
kann, damit die Vergleichung der praktischen Wirtschaftsergebnisse
der einzelnen Kommunen zum Gegenstand des allgemeinen Interesses und
Studiums werde, damit die hervorragenden Kommunen sofort belohnt werden
(durch Verkürzung des Arbeitstages für eine bestimmte Periode, durch Erhöhung
des Lohns, durch Gewährung einer größeren Zahl von kulturellen oder
ästhetischen Leistungen und Werten usw.).
Dieser Linie hatte sich auch das Publikationsorgan der sowjetischen Amtsstatistik, die Zeitschrift
"Ekonomitscheskaja Shisn", anzupassen (Lenin/Donda 1971, S. 138).
Die Umwandlung der "Ekonomitscheskaja Shisn" in das Organ des Rats für
Arbeit und Verteidigung darf keine einfache und leere Formalität bleiben.
Die Zeitung muß zu einem Kampforgan werden, das nicht nur regelmäßig
wahrheitsgetreue Nachrichten über unsere Wirtschaft bringt, dies zum ersten,
sondern das diese Nachrichten auch analysiert, sie wissenschaftlich verarbeitet,
damit richtige Schlußfolgerungen für die Leitung der Industrie u.a. gezogen
werden können (dies zum zweiten), und das schließlich alle an der
Wirtschaftsfront Arbeitenden anspornt, sich für pünktliche
Rechenschaftslegung einsetzt, erfolgreicher Arbeit Beifall zollt und nachlässige,
rückständige, unfähige Mitarbeiter bestimmter Betriebe, Institutionen,
Wirtschaftszweige usw. an den Pranger stellt, dies zum dritten.
So Lenin in einem Brief an die Redaktion der Zeitschrift vom 1. September 1921. Und um diese
Funktion als Ansporner und Zuchtmeister durchzusetzen, mischte sich Lenin sogar in die
redaktionelle Tagesarbeit ein (Lenin/Donda 1971, S. 138f.):
Der Artikel "Das Moskauer Kohlenbecken im Juli" (Nr. 188) gehört zu den
besten Artikeln, denn er enthält eine Analyse der Angaben, die sowohl mit den
Angaben der vergangenen Zeit als auch nach Betrieben verglichen werden. Aber
die Analyse ist unvollständig. Es fehlt eine Erklärung der Ursachen, warum der
eine Betrieb (die Towarkowoer Grube) die Aufgabe gelöst hat, die von den
anderen nicht gelöst wurde. Es fehlen praktische Schlussfolgerungen. Es fehlt
ein Vergleich mit Jahresangaben.
In Nr. 190 findet sich auf Seite 2 eine Unmenge statistischer Einzelheiten, wie
sie in der Zeitung ständig anzutreffen sind, aber sie sind völlig "unverdaut",
zufällig, roh, ohne die Spur einer Analyse, ohne Vergleich (weder mit der
vergangenen Zeit noch mit anderen Betrieben) usw.
Damit die Zeitung tatsächlich und nicht nur in Worten zum Organ des Rats für
Arbeit und Verteidigung werde, bedarf es folgender Änderungen:
4
1. Strenger auf den unpünktlichen oder unvollständigen Eingang der Berichte bei
den entsprechenden Institutionen achten und die Unverbesserlichen öffentlich
bloßstellen, gleichzeitig aber (über das betreffende Volkskommissariat oder die
Geschäftsstelle des Rats für Arbeit und Verteidigung) eine akkurate
Berichterstattung anstreben.
2. Alle veröffentlichten statistischen Angaben viel strenger, d.h. umsichtiger,
sorgfältiger systematisieren, stets für Vergleichsdaten sorgen, stets Angaben für
frühere Jahre (Monate usw.) anführen, stets Material zusammenstellen für die
Analyse, für die Erklärung der Ursachen eines Mißerfolgs, für die
Hervorhebung dieser oder jener Betriebe, die erfolgreich oder wenigstens
besser als die übrigen arbeiten usw.
Lenin machte schließlich im selben Brief sogar Vorschläge zur Schaffung eines Index, der fast als
Vorläufer von Konjunkturindizes angesehen werden kann (Lenin/Donda 1971, S. 140).
[…] bitte ich, die Frage der Ausarbeitung eines index-number (Zahlenindex) zur
Feststellung des allgemeinen Zustands unserer Volkswirtschaft zu erörtern.
Dieser “Index“ soll monatlich veröffentlicht werden.
Auch in anderen Dingen kümmerte Lenin sich in einem Ausmaß um Details, speziell um
Anschaulichkeit, wie man das bei Regierungschefs ansonsten nur ganz selten sieht. Beispielhaft
hierfür stehen Briefe an den Genossen Smoljaninow vom Dezember 1921 und vom Januar 1922
(Lenin/Donda 1971, S. 108 und S. 109f):
Gen. Smoljaninow!
Ich bitte, alles über den Zentralverband der Konsumgenossenschaften durchzusehen und zu
sammeln.
Man muss mehrere Diagramme für ihre monatlichen Berichte ausarbeiten ((dgl. Für das
GUM = Staatl. Warenhaus)).
Etwa:
(1) Umsatz
gekauft nach den wichtigsten
(2) nach Gouvernements verkauft Erzeugnisgruppen
(3) % der Gouvernements, die in der Berichterstattung
nachlässig sind.
Unbedingt (4) Die nachlässigen Gouvernements kommen an das schwarze Brett, und eine
Liste von ihnen wird veröffentlicht usw.
Lenin kritisierte auch die ihm vorgelegten Entwürfe von grafischen Darstellungen und machte
Vorschläge- auch im Hinblick auf die Vergleichbarkeit von Ergebnissen.
An Gen. Smoljaninow
Nach Durchsicht eines Teils der Diagramme schlage ich vor:
1. monatlich stets die absoluten Zahlen (in Tausenden oder Millionen) mit der Feder in
kleiner Schrift deutlich hinzuzufügen (wie in Tabelle V, 4).
2. Ebenfalls immer neben der Tabelle
den Vorkriegswert (1913 oder 1916 usw.)
soundso viel (absolute Zahl).
3. Der ganze Wert dieser Diagramme liegt in ihrer Anschaulichkeit und Vergleichbarkeit.
Deshalb müssen die Tabellen für 36 Monate: 1920 – 1921 – 1922 in der gleichen Größe
angefertigt werden (so daß auf einer Tabelle alle 36 Monate von 1920 bis 1922 enthalten
sind).
…
5
4. Anstelle solcher Würste […] genügen Linien […]: es ist einfacher, klarer, leichter zu
zeichnen und erfordert weniger Arbeitskräfte.
5. Könnte man nicht überlegen, alle Diagramme zu einem (2, 3, falls es sehr dick wird) Heft
zusammenzuklammern, damit das Umblättern erleichtert wird?
Und anhand konkreter Fragestellungen verdeutlicht Lenin in einem Brief vom Juli 1919, welche
Bedeutung er der Statistik als Planungsinstrument beimisst (Lenin/Donda 1971, S. 115).
An Miljutin und Popow
Ich bitte zu errechnen, wieviel Milliarden wir monatlich etwa brauchen, wenn
1. die Getreidepreise verfünffacht werden;
(verdreifacht)
2. die Preise für Industrieerzeugnisse für die Bauern nicht fixiert und so weit wie möglich,
bis zu dem vom Bauern gezahlten Höchstpreis erhöht werden;
3. den Arbeitern und Angestellten Brot und Industrieprodukte zu den alten Preisen verkauft
werden;
4. man sowohl mit der Ukraine als auch dem Ural, dem Transwolgagebiet, einem teil
Westsibiriens und dem Don rechnet;
5. die Getreidepreise gebietsweise festgelegt werden;
6. es ist zu errechnen, wieviel Milliarden etwa notwendig sind, wenn Löhne und Gehälter
um 10% erhöht werden.
3. Die Volkszählung 1920
Per Dekret des Rates der Volkskommissare vom 2. April 1920, veröffentlicht in Nr. 93 der Iswestija
vom 1. Mai 1920, wurde für den August des Jahres die erste gesamtrussische Volkszählung nach
dem ersten Weltkrieg angeordnet. Von einem derart kurzen Vorlauf können heutige Amtsstatistiker,
speziell in Deutschland, nur träumen. Die Verordnung zur Durchführung dieser Zählung
konkretisiert die Antwortpflicht und die Maßnahmen zu deren Durchsetzung werden in der
betreffenden Verordnung angesprochen: Sie dehnt zugleich in weiser Voraussicht – die Sowjetunion
wurde erst am 30. Dezember 1922 gegründet – das Erhebungsgebiet auf weitere Republiken neben
der „Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ (RSFSR) aus (Lenin/Donda 1971,
S.48f.):
Zur Ermittlung der Bevölkerungszahl der RSFSR, der Anzahl der Arbeiter und der
vorhandenen ökonomischen Kräfte des Landes beschließt der Rat der Volkskommissare:
1. Im Jahre 1920 wird auf dem gesamten Territorium der RSFSR eine Volkszählung (Volksund Berufszählung) und eine Landwirtschaftszählung unter kurzer Berücksichtigung der
Industriebetriebe durchgeführt.
2. Mit den Regierungen der Ukrainischen, Turkestanischen, Baschkirischen und Kirgisischen
Sowjetrepublik ist umgehend eine Übereinkunft zu erzielen über die Organisation der auf
ihrem Territorium festgesetzten Zählungen mit den Formblättern und zu den Terminen, die für
die Zählung in der RSFSR angesetzt wurden.
3. Die Volkszählung (Volks- und Berufszählung) registriert für jede Person den Familienstand,
das Geschlecht, das Alter, die Schulbildung, die Stellung zur Militärpflicht, die
Arbeitsfähigkeit, die Haupt- und Nebenbeschäftigung, berufliche Fertigkeiten und die soziale
Stellung. Aufgabe der Landwirtschaftszählung ist es, sowohl für jede Einzelwirtschaft als
auch für die kollektiven Landwirtschaftsbetriebe folgendes zu ermitteln: a) arbeitender und
verbrauchender Teil der mit der Wirtschaft verbundenen Bevölkerung; b) gesamte Aussaatund Gemüseanbaufläche und Aussaatflächen für Getreidekulturen, Gräser, Gemüse und
6
andere technische Kulturen; c) Viehbestand nach Arten und Alter, Bestand an Geflügel und
Bienen; d) Menge des Inventars.
Für jeden Industriebetrieb oder jede industrielle Einrichtung werden registriert: a) die Art des
Betriebes, die Bezeichnung der wichtigsten von ihm hergestellten Erzeugnisse, die
gewöhnliche Arbeitszeit des Betriebes oder der Einrichtung, die vorhandenen Räumlichkeiten,
die Anzahl, Art und Leistung der Motoren, die Anzahl der Arbeiter und Arbeiterinnen. Um die
rechtzeitige terminliche Durchführung der Zählung zu gewährleisten und homogenes Material
zu erhalten, wird die Zählung nach einheitlichen, für alle Gebiete des Staates verbindlichen
Programmen durchgeführt.
4. Die Durchführung der Zählung obliegt der Statistischen Zentralverwaltung und ihren
örtlichen Organen – den statistischen Gouvernements- und Kreisbüros.
Anmerkung:
In den Gebieten, in denen keine örtlichen Organe
gebildet wurden, organisiert die Statistische
Zentralverwaltung vorübergehend spezielle
Einrichtungen für die Durchführung der Zählung.
5. Als Beginn der Durchführung der unter §1 genannten Zählung wird der Monat August
festgelegt. Die Statistische Zentralverwaltung legt in einer gesonderten Verordnung den
genauen Tag des Beginns und der Beendigung der Zählungen sowie den Tag fest, bis zu
welchem die Volkszählung terminlich abgestimmt sein muß.
6. Die Statistische Zentralverwaltung und die ihr unterstellten Organe beginnen unverzüglich
mit den Vorbereitungsarbeiten für die Zählung.
7. Alle Bürger der RSFSR sind verpflichtet, wahrheitsgetreue und genaue Angaben zu allen
Fragen der Zählung zu machen. Personen, die sich weigern, Angaben zu machen, oder die
bewußt Falschmeldungen abgeben, werden vor dem Volksgericht zur Verantwortung gezogen.
8.Um die notwendigen Kader für die Durchführung der Zählungen bereitzustellen, wird der
Statistischen Zentralverwaltung das Recht zuerkannt, in Übereinstimmung mit dem
Hauptausschuss für allgemeine Arbeitsdienstpflicht im Rahmen der Mobilisierung und
Arbeitspflicht für die gesamte Zeit der Arbeiten an der Zählung - sowohl im Stadium der
vorbereiteten organisatorischen Arbeiten als auch während der Durchführung der Zählung und
der Ergebnisermittlung – Statistiker sowie in Übereinstimmung mit dem Kommissariat für
Bildungswesen Lehrkräfte, in Übereinstimmung mit dem Kommissariat für Landwirtschaft
Agronomen und in Übereinstimmung mit anderen Behörden und Institutionen Angestellte
dieser Behörden für die Arbeit an der Zählung hinzuzuziehen.
Auch ein genauer Zeitplan fehlte nicht, der in Telegrammen u.a. an die
Gouvernementsexekutivkomitees bekanntgegeben wird: (Lenin/Donda 1971, S.62f.):
Als Beginn der Volks-, Berufs- und Landwirtschaftszählung wird der 28.August 1920
festgesetzt.
In den Städten dauert die Volks- und Berufszählung eine Woche. In den ländlichen Gegenden
zwei Wochen. Die Landwirtschaftszählung anderthalb Monate, beginnend mit dem 28.
August. Der Erfolg der Zählung, die große Bedeutung für den Aufbau der Sowjetrepublik hat,
hängt voll und ganz davon ab, ob die Statistischen Gouvernementsbüros planmäßig arbeiten
und gut auf die Zählung vorbereitet sind, ob sie mit Hilfe von Dienstverpflichtungen
genügend Mitarbeiter für die Volkszählung haben, ob organisiert ist, daß die Mitarbeiter sowie
die Materialien der Zählung rasch und rechtzeitig innerhalb des Gouvernements befördert
werden, ob für entsprechende Räume, Beleuchtung, Lebensmittel und Geld gesorgt ist, sowie
von anderen Hilfsmaßnahmen seitens aller Sowjetinstitutionen.
Die Verpflichtung zur aktiven Beteiligung an der Volkszählung auf der Seite der Zählenden geht
einher mit der indirekten Androhung von harten Strafen bei einer Verweigerung dieser Tätigkeit. In
Zusammenhang mit der Zählung sind tätige Fachstatistiker praktisch unabkömmlich, d.h. sie
7
können nur sehr eingeschränkt zum aktiven Wehrdienst einberufen werden, wie in dem Beschluss
des Rats für Arbeit und Verteidigung über die obligatorische Registrierung für statistische Kräfte in
der RSFSR geregelt wird. Es ließe sich in diesem Zusammenhang fast von einer Art Ersatzdienst
sprechen (Lenin/Donda 1971, S.60f.).
Alle zum aktiven Dienst für Arbeiten auf dem Gebiet der Statistik einberufenen Personen sind
verpflichtet, die ihrer Fachrichtung und Erfahrung entsprechende Arbeit auszuführen, die sie
von der Statistischen Zentralverwaltung oder von den durch sie ermächtigten Organen
übertragen bekommen. Die Verweigerung der übertragenen Arbeit ohne stichhaltige Gründe
wird gemäß der Verordnung über die Arbeitspflicht als Desertion geahndet.
[…] Alle zum aktiven Dienst für Arbeiten auf dem Gebiet der Statistik einberufenen
Fachstatistiker […] können zum aktiven Wehrdienst nur mit Zustimmung der Statistischen
Zentralverwaltung und jener Einrichtungen, denen sie unterstehen, einberufen werden.
Das für die Volkszählung nötige Personal wurde nicht nur vom Militärdienst frei-, sondern sogar
den Militärbehörden in vieler Hinsicht gleichgestellt wie aus einem Telegram Lenins an den
Vorsitzenden des Ukrainischen Rats der Volkskommissare, Rakowski, vom 28. Juli 1920 hervorgeht
(Lenin/Donda 1971 S. 62f.):
Das Gouvernementsexekutivkomitee, die Gouvernementslandabteilung, das
Gouvernementskomitee für Ernährungswesen, die Gouvernements-Tscheka, die
Gouvernementsvolksbildungsabteilung, die Gouvernementsfinanzabteilung, das
Gouvernementskomitee für Arbeit und die Verwaltungsabteilung werden
verpflichtet, die Statistische Zentralverwaltung und deren örtliche Organe mit
allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Die Volkszählung
ist nicht die Angelegenheit der Behörde, sondern Sache der Republik, Sache
aller Sowjetinstitutionen. Ungenügende Unterstützung, Nachlässigkeit,
Schlamperei werden mit der ganzen Strenge der Revolutionszeit wie schwerste
Amtsvergehen geahndet, ganz gleich, wer sich ihrer schuldig macht.
Leider fehlte es aber dennoch an allen Ecken und Enden an geeigneten Personen, um diese
Volkszählung durchzuführen. Der bereits zitierte Beschluss des Rates für Arbeit und Verteidigung,
wie immer unter Lenins Vorsitz, vom 21. Mai 1920 legte daher fest, dass alle für statistische
Arbeiten geeigneten Sowjetbürger ohne Unterschied von Rang, Geschlecht und Alter, für die
Mitarbeit einer Volkszählung zwangsverpflichtet werden konnten. Zu melden und sich zur
Verfügung zu halten hatten sich (Lenin/Donda 1971, S. 58):
a) Personen, die sich mit wissenschaftlicher und Lehrtätigkeit auf dem Gebiet
der Statistik als Professoren, Lektoren, Dozenten, Instrukteure usw.
beschäftigen;
b) Personen, welche russische und ausländische Hochschulen abgeschlossen
haben und während des Lehrganges oder danach an praktischen Seminararbeiten
teilnahmen und Arbeiten über Statistik vorlegten;
c) Personen, die an statistischen Lehrgängen des ehemaligen Ministerium des
Inneren und an Lehrgängen der Statistischen Zentralverwaltung auf zentraler,
Distrikt- oder Landkreisebene teilgenommen haben;
d) Personen, die gedruckte Arbeiten über Statistik besitzen;
e) Personen, die Funktionen als Leiter oder Leitungsassistenten von statistischen
Organisationsabteilungen, -unterabteilungen oder Zweigstellen von Regierungs8
und gesellschaftlichen Institutionen ausüben oder ausübten;
f) Personen, die Funktionen als Leiter statistischer Arbeit sowohl bei örtlichen
statistischen Untersuchungen als auch bei der Aufbereitung der erhaltenen
statistischen Materialien innehaben;
g) Personen, die Funktionen als Organisatoren und Instrukteure auf dem Gebiet
der Statistik ausüben oder ausübten;
h) Personen, die zum statistisch-technischen Personal gehören und deren
Funktion nicht unter der eines Statistikers 3. Ordnung lag oder liegt;
i) Personen, die bei der Gesamtbeschäftigungszeit während eines Jahres
Funktionen ausübten, die nicht unter der eines Kontrolleurs oder Instrukteurs für
Rechenarbeiten lagen;
j) Personen, die in den vergangenen 10 Jahren in nicht weniger als 2 Perioden
die Funktion von Instrukteuren oder Registratoren bei örtlichen Geschäftsstellen
statistischer Untersuchungen ausübten.
Diese Liste ist wörtlich dem Ratsbeschluß entnommen; aus heutiger Sicht überrascht besonders,
dass man in Lenins Russland bereits durch den Besitz von gedruckten Arbeiten über Statistiken zum
Statistiker werden konnte.
Auch über die Konsequenzen der Volkszählung ließ Lenin wenig Zweifel offen: Sie hatte dem
Klassenkampf zu dienen, sie sollte die Massen mobilisieren und die „Faulenzer“ aussortieren. Das
folgende Dokument, der von Lenin unterzeichnete Entwurf einer Direktive des Rats für Arbeit und
Verteidigung an die örtlichen Sowjetinstitutionen vom Mai 1921 entscheidet sogar brutal:
„Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“ (Lenin/Donda 1971, S. 90).
… In jedem großen Verbraucherzentrum (Großstadt, mittlere Stadt, militärische Einrichtungen
in besonderen Siedlungen usw.) ernähren wir viele überflüssige Esser, Beamte, die sich
angebiedert haben, Bourgeois und Spekulanten, die sich verstecken, usw. Man muss
systematisch solche „überflüssigen“ Esser „herausfischen“, die das Grundgesetz verletzen:
„Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“. Dazu muss an jedem solchen Ort ein
verantwortlicher Statistiker bestimmt werden, der verpflichtet ist, die Angaben der
Volkszählung vom 28. VIII. 1920 und die Angaben der laufenden Statistik zu studieren und
alle zwei Monate über die überflüssigen Esser eigenverantwortlich Bericht zu erstatten.
Auch für die Organisation des Militärs erhoffte sich Lenin durch die Volkszählung eine große Hilfe.
Ein Beschluss des Rats für Arbeit und Verteidigung vom 6. Dezember 1920, also nach Abschluß der
Zählung, legte fest (Lenin/Donda 1971, S.67):
Angesichts der außerordentlichen staatlichen Bedeutung der Angaben aus der Zählung der
Roten Armee und der Flotte sowie der Notwendigkeit, die Materialien der genannten Zählung
kurzfristig für die Durchführung von Berechnungen zu nutzen, die bei der Realisierung
dringender Maßnahmen benötigt werden, hat der Rat für Arbeit und Verteidigung beschlossen:
1. Die Auswertung der Materialien der Zählung in der Roten Armee und der Flotte als Aufgabe
von militärischer Dringlichkeit anzusehen und die Statistische Zentralverwaltung zu
beauftragen, mit der Auswertung der genannten Materialien an Hand der nachfolgend
dargelegten Bedingungen zu beginnen. Die Auswertung muss für das a) bereits angegangene
Material innerhalb von zwei Wochen zur Ermittlung der zahlenmäßigen Stärke der Armee
nach den Hauptkategorien (reguläre Truppen, nichtreguläre Truppen, rückwärtige Truppen,
9
Fronttruppen) und innerhalb eines Monats nach Alters- und Berufsmerkmalen erfolgen; b) im
Hinblick auf das übrige Material (das noch eingehen soll) erfolgt die Auswertung zu den
gleichen Terminen, gerechnet vom Zeitpunkt des Materialeingangs in der Statistischen
Zentralverwaltung.
2. Als vorrangige Arbeit wird die Auswertung des Materials aus der Zählung der Roten Armee
und der Flotte zur Ermittlung der zahlenmäßigen Stärke der Armee und Flotte, zur
Bestimmung der altersmäßigen Zusammensetzung sowie zur Aufstellung einer Liste konkreter
(beruflicher) Tätigkeiten in Kombination mit zwei Altersgruppen angesehen. Ein detailliertes
Programm für die Auswertung ist von der Statistischen Zentralverwaltung im Einvernehmen
mit dem Revolutionären Kriegsrat der Republik festzulegen.
Ferner sollte die Volkzählung auch der Planung der Zentralverwaltungswirtschaft dienen. Dies
führte sogar dazu, dass mit durchaus kapitalistischen Argumenten die Ergebnisse der Volkszählung
für die Belohnung von hervorragenden Kommunen bzw. die Schließung von Betrieben einzusetzen
waren. Letzteres fordert Lenin in seinem Entwurf einer Direktive des Rats für Arbeit und
Verteidigung an die örtlichen Sowjetinstitutionen vom Mai 1921 (Lenin/Donda 1971, S. 70, S. 80
und S. 91).
Die Statistischen Gouvernementsbüros werden beauftragt, vorrangig in einer bestimmten Frist
die Materialien der Volkszählung von 1920 auszuwerten mit dem Ziel, die klassenmäßige
Zusammensetzung der Bevölkerung der Republiken, die Gruppierung der Bevölkerung nach
Produktions- und Berufsmerkmalen festzustellen, die landwirtschaftlichen Betriebe nach
Größe, Typen und Formen zu untersuchen, die geographische Verteilung der Industrie
festzustellen und die Betriebe nach Typen, Formen und organisatorischen Merkmalen zu
gruppieren, die Volksbildung und die Organisation anderer Arbeiten zu untersuchen. … Die
Materialien der Zählungen werden von den Republiken benötigt zur planmäßigen
Organisierung sowohl der Produktion als auch der Sowjetapparate.
[…] wir aber müssen sie [die Statistik] in die Massen tragen, sie popularisieren, damit die
Werktätigen allmählich selbst verstehen und sehen lernen, wie und wie viel man arbeiten
muss, wie und wie viel man sich erholen kann, damit die Vergleichung der
praktischen Wirtschaftsergebnisse der einzelnen Kommunen zum Gegenstand des
allgemeinen Interesses und Studiums werde, damit die hervorragenden Kommunen sofort
belohnt werden (durch Verkürzung des Arbeitstages für eine bestimmte Periode, durch
Erhöhung des Lohns, durch Gewährung einer größeren Zahl von kulturellen oder ästhetischen
Leistungen und Werten usw.).
Besonders wichtig ist die Frage der Schließung von Betrieben, die nicht unbedingt notwendig
sind (aussichtslos; solche, die geschlossen werden könnten, wobei die Arbeit an eine kleinere
Zahl von größeren Betrieben zu überweisen wäre usw.) und die statistische Erfassung solcher
„überflüssigen“ Betriebe, ihre Zahl und die Reihenfolge, in der die Republik von ihnen befreit
werden sollte.
Angesichts dieser Vorbereitung ist es eher überraschend, aber auf der anderen Seite wiederum auch
fast schon tröstlich, zu erfahren, dass die so akribisch geplante und totalitär verordnete
Volkszählung dennoch total missriet, wovon natürlich in den Lenin-Dokumenten keine Rede ist.
Nur rund knapp drei Viertel der Bevölkerung wurde überhaupt erfasst. Mehr als zwei Dutzend
Zähler wurden umgebracht und "das Gros der dennoch erzielten Ergebnisse ging verloren“
(Oschlies 2006).
Zwei weitere Versuche 1926 und 1937 scheiterten ebenfalls, zum Teil unter dramatischen
Umständen. Zwar war die erste Zählkarte der 1937er Zählung auf „Stalin, Josif, 59 Jahre, Moskau,
Berufsrevolutionär“ ausgestellt und vorläufige Ergebnisse lagen einem kleinen Kreis bereits nach
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einem aus heutiger Sicht überraschend kurzen Zeitraum, nämlich fünf Monate nach der Zählung vor
(Schlögel 2008, S. 166), aber dem Lenin-Nachfolger war es offensichtlich peinlich, die durch die
Zwangskollektivierung der Bauernschaft verursachten demographischen Millionenverluste der
Hungerjahre 1932-1934 dokumentiert zu sehen. Zudem wurden seine positiven
Wachstumsprojektionen durch die Ergebnisse Volkszählung nicht nur nicht bestätigt sondern
geradezu widerlegt (Oschlies 2006, Schlögel 2008, S. 166ff). Der Stalin-Biograph Souvarine (auch
Suvarin) stellt in seiner im Wesentlichen 1939 abgeschlossenen Biographie fest (Souvarine 1980, S.
599): "Die Volkszählung ist […] weit davon entfernt "die Siege des Sozialismus widerzuspiegeln"“,
im Gegenteil "sie spiegelt dafür […] die Niederlagen des Bolschewismus […] klar wider". Die
Organisatoren der 1937er Volkszählung wurden ermordet, die Ergebnisse erst ein halbes
Jahrhundert später (Anfang der 1990er Jahre) veröffentlicht (Schlögel 2008, S. 153).
Erst im Januar 1939 kam es auf Grund von „verbesserten“ Fragebögen zur ersten „offiziellen“
Bevölkerungszahl von 170 Millionen Seelen der damaligen UDSSR (Oschlies 2006). Nach
Angaben von Souvarine eine Zahl, die von Stalin offenbar im voraus festgesetzt wurde (Souvarine
1980, S. 599) und die zudem rund 66 Millionen geringer war als ohne den jahrzehntelangen
Kommunisten-Terror in diesem Jahr in Russland hätten leben können, wie Souvarine in dem seiner
Stalin-Biographie 1977 hinzugefügten Nachwort den russischen Wissenschaftler Kurganow zitiert
(Souvarine 1980, S. 657).
.
Auch und gerade in Diktaturen möchten die Regierenden genaue Informationen aus Volkszählungen
erhalten. Diktatoren stehen aber in dem Zwiespalt, dass die wahren Zahlen häufig nicht die Ziele,
sondern die Mängel ihrer Politik widerspiegeln und letztlich kommt es dadurch zu einem
Manipulieren oder einem Unterdrücken von Zahlen. Diktatoren versuchen, sich die Statistik
untertan zu machen. Nur allzu oft gilt in diesem Zusammenhang, was Souvarine (1980, S 597)
schreibt: "Stalin befiehlt eben den Elementen genauso wie den Menschen und zwingt seinen Willen dem
Boden, dem Saatgetreide und der Meteorologie auf, vor allem aber der Statistik.“
Literatur
Barke, W. (2004): „Ich glaube nur der Statistik, die ich selbst gefälscht habe ...“. Statistisches
Monatsheft Baden-Württemberg Heft 11, S. 50-53.
Lenin,W. I. (1968): ОБ ОРГАНИЗАЦИИ СОВЕТСКОЙ СТАТИСТИКИ, „СТАТИСТИКА“,
Moskau. Zusammengestellt von N. G. Gratschew. Deutsche Ausgabe 1971: Über die Organisation
der sowjetischen Statistik, (Oschlies 2006)herausgegeben von A. Donda, Berlin.
Oschlies, W. (2006): „Russen sterben schneller.“ Eurasisches Magazin Heft 11.
http://www.eurasischesmagazin.de/artikel/?artikelID=20061109&marker=russen%20sterben%20sc
hneller (Zugriff 22. 1. 2011).
Schlögel, K. (2008): Terror und Traum, Moskau 1937. München.
Souvarine, B. (1980): Stalin. Anmerkungen zur Geschichte des Bolschewismus, München.
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