»Wer Freiheit und Gleichheit sagt,
tut das, um zu lügen«
Interview mit Frank Ruda
In der Welt des Liberalismus gibt es zwei politische Vektoren:
einerseits die sich durchsetzende Freiheit und andererseits anachronistische Praktiken und Institutionen der Unfreiheit. Zweitere werden Diktaturen genannt. Dem Liberalismus, dem der Träger der Freiheit das Individuum ist, erscheint es einerlei, ob er moralische Konventionen, provinzielle Borniertheit oder eine Militärdiktatur vor sich hat: All diese Dinge
sind Blockaden der individuellen Freiheit. Was aber bleibt, wenn der
Diktator gestürzt, die Sitten gelockert und der Markt liberalisiert ist? Im
Irak schiitische Milizen, auf dem Weltmarkt oligopolitische Rackets und
im Umgang Asozialität. Wir trafen uns mit Frank Ruda, Senior Lecturer am Department for Philosophy der University of Dundee, um über die
Dialektik der Diktatur, die diktatorischen Elemente gesellschaftlicher
Emanzipation und den Wunsch nach Totalisierung zu sprechen.
lointain: Herr Ruda, es wurden einmal große Hoffnungen auf eine Diktatur
gesetzt. Diejenige des Proletariats...
Frank Ruda: Stimmt. Aber um die Rede von der ›Diktatur des Proletariats‹
genauer zu verstehen, sollten wir uns anschauen, was derjenige, der diese Rede
in entscheidender Form geprägt hat, nämlich Lenin, eigentlich zu diesem Begriff sagt. 1920 sagt er: »Diktatur ist ein heiliges Wort«. Ein Wort, das man
nicht zu oft gebrauchen sollte. Hier tritt die erste Komplikation ein. Es gibt
mehr als ein heiliges Wort. Eine Zeit lang war ›Demokratie‹ eines. Badiou hat
das einmal so gefasst, dass ›Demokratie‹ heute so etwas sei wie eine ›heilige
Kuh‹. Man darf sie nicht berühren, d.h. kritisieren. Aber ist die ›Demokratie‹
78
Interview
das gleiche wie die ›Diktatur‹ für Lenin? Vielleicht kann man zunächst festhalten: Heilig ist etwas, das darin u.a. seine Wichtigkeit besitzt, dass es dem
Gebrauch entzogen ist. Die real-existierende ›Demokratie‹ wäre dann heilig,
weil sie dem demokratischen Gebrauch (paradoxaler Weise) entzogen ist. Hier
kann man die Differenz noch genauer machen.
Es gibt für Lenin nämlich auch andere Diktaturen und Diktaturbegriffe. Alle kapitalistischen Staaten sind ihm zufolge in ihrer Erscheinungsform Diktaturen: Diktaturen der Bourgeoisie. Die Demokratie ist also auch
eine Diktatur, aber sie erscheint nicht als solche. Die Diktatur des Proletariats
zeichnet sich dagegen dadurch aus, dass sie die erste Regierungsform ist, die
als das erscheint, was sie ist: als Diktatur. Das heißt, es gibt eine Diktatur, die
verschleiert, was sie ist, und eine, die das ist, als was sie erscheint. Dazwischen
liegt ein riesiger Unterschied der politischen Form und ihrer Vollzüge.
Das heißt die Bourgeoisie etabliert eine Diktatur, aber mit dem großen Narrativ der Freiheit auf den Lippen. Wir spielen der Diktatur der Bourgeoisie also
in die Hände, wenn wir zu viel von Freiheit sprechen, indem wir ihr bei der
Etablierung ihrer Ideologie helfen?
In einem bestimmten Sinne ist Freiheit die heilige Kuh unserer Zeit – auch
wenn man Acht geben sollte, nicht gleich mit einer ganzen Kuhherde dazustehen. Wenn man Lenin glauben mag, sollte man nicht denken, dass die Rede
von Freiheit und Demokratie undiktatorisch ist. Das sind Schein-Gegensätze. Freiheit scheint heute etwas zu sein, das man verteidigen kann und muss,
n’importe quoi. Es gibt wahrscheinlich mehrere solcher Begriffe, aber Freiheit
ist in jedem Fall ein zentraler.
Ich glaube hingegen nicht, dass das in gleichem Maße für den
Gleichheitsbegriff gilt. Im bürgerlichen Recht – also unter den Bedingungen,
in denen wir leben – setzen Austauschrelationen eine bestimmte Form von
Gleichheit voraus. Formale Gleichheit. Dabei handelt es sich um eine Formgleichheit, weil absolut sichtbar ist, dass sie wesentlich nur deswegen funktioniert, weil sie auf einer ökonomischen Ungleichheit aufruht. Es gibt ein großes Interesse, Ungleiche gleich zu behandeln. Wirkliche Ungleichheit ist so
zugleich überall sichtbar und genau als sichtbare, durch die Rechtsform, verschleiert. Die einen verkaufen ihre Arbeitskraft, die anderen kaufen sie: Das
ist ein Äquivalententausch unter ungleichen Voraussetzungen. Und für diese
Ungleichheit kann man auch offen Partei ergreifen, wie das etwa Norbert
Frank Ruda
79
Bolz in seinem Plädoyer für die Ungleichheit1 getan hat. Das ist 1 Bolz, Norbert: Diskurs
unproblematisch, weil man sagen kann: »Seien wir realistisch, wir über die Ungleichheit. Ein
Anti-Rousseau. München:
sind nun mal nicht von Natur gleich, wir sehen alle anders aus Fink 2009.
usw. Wie sollen wir denn Gleichheit etablieren bei so vielen singulären Verschiedenheiten?« D.h. für den Gleichheitsbegriff scheint nicht
dasselbe zu gelten wie für den Freiheitsbegriff: Er ist keine ›heilige Kuh‹.
Aber für den Freiheitsbegriff gilt das ganz eigentümlich. Wenn
sich heute ›linke‹ oder ›emanzipatorische‹ Theorieformen bemühen, den Freiheitsbegriff zu verteidigen, dann stellen sie sich damit an die Seite von Leuten wie George W. Bush. Oder Theresa May. In gewisser Weise verfolgen diese Politiker eine Freiheitspolitik und versuchen, je ein besonderes Verständnis
von Freiheit zu realisieren. Es gibt also zunächst einmal ein Problem der Solidaritäten, das sich hier stellt. Welche Leute hat man eigentlich in seinem eigenen Lager, wenn man in unbedingter Weise den Begriff der Freiheit verteidigen will? Und – das sollte ich jetzt einschränkend sagen – ich glaube
auch, dass man den Begriff der Freiheit irgendwie verteidigen muss. Aber
nicht reflexartig und bedingungslos. Und das scheint mir ein Problem zu
sein, das sich vermehrt in der (zumindest modernen) Geschichte der Philosophie findet.
Die Verteidigung der Freiheit...?
Nein, die Ablehnung eines falschen Freiheitsverständnisses! Und damit die
Einsicht, dass es überhaupt so etwas geben kann wie falsche Freiheitsverständnisse, die zu praktischen Problemen führen.
Was unterscheidet denn genau die Diktatur des Proletariats von der Diktatur
der Bourgeoisie? Es kann jedenfalls nicht bloß darum gehen, dass sich erstere
dazu bekennt, eine Diktatur zu sein.
Diktatur heißt erstmal: gewaltförmige Herrschaft einer Klasse über eine andere. Der durchschnittliche Demokrat denkt, Demokratie und Diktatur seien
wesensverschieden. Die Frage ist aber einfach: Wer hat das Staatsmonopol,
also wer leitet den Staat und das heißt, wer hat das Eigentum an den Gewaltmitteln? Wenn das die Bourgeoisie ist, dann ist der Staat das Gewaltmittel, das
die Bourgeoisie in demokratischer Form einsetzt, um das Proletariat zu unterdrücken. Das ist Lenins These. Die andere Diktatur – die des Proletariats – ist
80
Interview
ein schwieriger Begriff. Das liegt am Gedanken, einen Staat zu schaffen, der
de facto so funktioniert als wäre er kein Staat mehr. Wie generiert man eine
Form des Gebrauchs eines Gewaltinstruments, also eines Staates, das nicht
mehr so funktioniert wie das, was sein Funktionieren ausmacht: nämlich als
Gewaltinstrument zur Niederhaltung einer Klasse zu fungieren? Lenins These lautet zugespitzt: indem man Gewalt so einsetzt, wie Benjamin sich das
vorstellt, wenn er von göttlicher Gewalt spricht. Das ist nicht recht-setzende
Gewalt, die neues Recht etabliert, und es ist auch nicht recht-erhaltende Gewalt, die einfach das bestehende Recht zu reproduzieren sucht, sondern es
muss ein anderer Typus von Gewalt sein, der aus dieser Dialektik (rechtsetzende Gewalt braucht immer auch rechtserhaltende Gewalt) aussteigt. Die
Diktatur des Proletariats muss eine Form göttlicher Gewalt darstellen, weil es
eine Gewalt sein muss, die eingesetzt wird, um Gewalt abzuschaffen. Aber
zugleich geht das nur, wenn Gewalt eingesetzt wird. Das glaubt Lenin. Warum? Weil man die Klasse, die kein Interesse an der Abschaffung des Staates
und einer anderen Gebrauchsweise desselben hat, gewaltsam niederhalten
muss. Also, simpel: Die Bourgeoisie wird ihr Zeug nicht freiwillig hergeben.
Warum sollte sie auch?
Nun trägt der Begriff ›göttliche Gewalt‹ aber einen großen philosophischen
Ballast. Ließe sich nicht einfach sagen: Sobald das Proletariat im Besitz der
Waffen des Staates ist, muss es eben so lange kämpfen bis die Bourgeoisie besiegt ist. Bis es kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr gibt. Und erst
wenn dieser Kampf endgültig gewonnen ist, kann man die Waffen weglegen.
Ich glaube nicht, dass Lenin an eine letzte Schlacht glaubt. Das klingt mir zu
Schmitt’sch. Als müsste man Bourgeoisie und Proletariat nur in eine Frontlinie bringen, Aug in Aug – so beschreibt das ja Schmitt. Darauf läuft letzten
Endes sein Modell des Politischen hinaus: Da ist der Feind, man sieht ihn.
Lenins Problem ist jedoch, dass man die Bourgeoisie nicht notwendigerweise
sieht. Warum? Weil die Bourgeoisie – und das wird dann noch wichtiger in
China während der Kulturrevolution – in uns ist. Das ist nicht nur eine externe Klasse. Mao sagt berühmterweise: »Wo ist die Bourgeoisie? Sie ist in der
kommunistischen Partei!« Sie ist überall in uns: in unseren Denkweisen, den
Gewohnheiten usw. Uns davon zu befreien ist relativ schwierig. Lenin ist mit
dem Problem konfrontiert, dass die Bürger nicht nur die Fabriken besitzen,
sondern auch Dinge, die man ihnen schlecht wegnehmen kann, etwa das
Frank Ruda
81
Wissen, wie man hochkomplexe Fabriken und Produktionsabläufe steuert.
Warum? Weil es Experten gibt, die durch bürgerliche Institutionen gegangen
sind, wie Schulen und Universitäten. Die dort erworbenen Fähigkeiten kann
man denen nicht so einfach wegnehmen. Und man kann sich auch diese Institutionen nicht so einfach aneignen, weil sie bürgerlich funktionieren; sie bilden nämlich Experten aus, die ein Eigentum an Wissen haben, das man
braucht, um die Produktion zu steuern. Gerade das muss vermieden werden.
Das sind alles Probleme, die in der Übergangsphase, die die Diktatur des Proletariats sein soll, zu lösen sind.
Stalin hingegen wird nun immer sagen, der Sozialismus sei bereits
etabliert. Das soll heißen, dass die Diktatur des Proletariats erfolgreich war.
Das halte ich für falsch und das ist das Problem: Was tun, wenn nach Aneignung der Gewaltmittel, der Produktionsmittel, der Waffenmittel usw. eben
kein Staat entstanden ist, der nichtstaatlich oder anti-staatlich funktioniert?
Wie lässt sich der Übergang auf eine Weise vollziehen, damit er wirklich eine
vollkommen neue Art und Weise des Funktionierens etabliert? Und wie begegnet man dem Problem, dass man in diesem vermeintlichen Übergang auch
steckenbleiben kann? Wenn man nämlich stecken bleibt, dann taucht – wie
Marx und Engels in Die heilige Familie schreiben – die »ganze alte Scheiße«
wieder auf. Und das ist dann ja auch de facto passiert.
Agamben sagt zu Beginn des Homo-Sacer-Projekts, die Diktatur des Proletariats sei die Klippe, an der alle kommunistischen Revolutionsversuche zerschellt sind. Vielleicht sollten wir einen anderen Weg suchen, die Aneignung
der Produktionsmittel zu bewerkstelligen?
Badiou hat vor ein, zwei Jahren in einem Interview gesagt, es sei total erstaunlich, dass eine Sache in der marxistischen Tradition seit Marx nie richtig diskutiert worden sei: nämlich die Frage, was es eigentlich heißt, dass es eine
kollektive Aneignung der Produktionsmittel gibt. Was heißt kollektive Aneignung? Heißt das Verstaatlichung? Das ist in jeder erdenklichen Hinsicht
kontraintuitiv. Zumindest wenn man die Bestimmung des Staates, die Engels
gibt und die Lenin übernimmt, teilt: Der Staat ist demnach das Gewaltmittel
einer bestimmten Klasse, um eine Trennung von politischem Leben und Sozialstruktur zu etablieren. Die Massen machen keine Politik, solange die Gewaltmittel in den Händen der Bourgeoisie sind, weil diese Trennung durch
den Staat verwaltet wird. Wie können wir uns vor diesem Hintergrund eine
82
Interview
Form kollektiver Aneignung vorstellen? Ich glaube – das ist zumindest der
Vorschlag, den Fredric Jameson2 vor kurzem gemacht hat – eine Möglichkeit
2 Jameson, Fredric:
ist universale Militarisierung. Das klingt gerade in Deutschland
An American Utopia.
natürlich erstmal so, dass man Gänsehaut kriegt. Aber das ist
Dual Power and the
durchaus eine Idee, die Lenin, ich glaube 1917, offenherzig vertritt:
Universal Army. Herausgegeben von Slavoj Žižek.
Alle kommen ins Militär, von 14 bis 65, geschlechtsübergreifend –
London: Verso 2017.
wir haben es hier also auch mit einer genderpolitischen Frage zu
tun. Das soll Geschlechtergleichheit etablieren. Es werden alle Ränge abgeschafft und das kann auf einen Schlag viele soziale Probleme lösen. Es gibt
dann große Kantinen, alles wird geteilt und wir gewöhnen uns so an eine kollektive Art der Lebensführung. Das ist der Gedanke. Ich weiß: irgendwie
schwierig zu verteidigen...
Dazu eine Nachfrage. Lenin ist ja nicht nur für die kollektive Militarisierung,
sondern auch für den Aufbau eines sozialistischen Bildungssystems. Es geht
darum, auf allen Ebenen die Macht der alten bürgerlichen Gewohnheiten zu
brechen. Inwiefern geht es also darum, die Jugend zu verändern? Und wie
können wir Bildung anders gestalten, wie kann eine neue Bestimmtheit, die
mit den alten Gewohnheiten und Privilegien bricht, aussehen?
Es ist ja eine uralte Bestimmung: Seit Sokrates ist es die Aufgabe der Philosophie, die Jugend zu verderben. Sie rauszuholen aus den eingespielten Denkformen. Ich glaube, auch Lenin ist das Problem vollständig klar: Revolution
gibt es nur als Kulturrevolution. Als Veränderung von Alltäglichkeit. Und
das sollte in China als Mittel dienen, Verknöcherungen in einem kommunistischen Staatsapparat wieder aufzulösen. Die Jugend sollte den revolutionären
Prozess tragen. Das ging allerdings nach hinten los und Mao versucht dann
ohnmächtig der Situation wieder Herr zu werden.
Das könnte vielleicht damit zu tun haben, dass es das Rote Buch gab, das als
eine Art Ermächtigungsinstrument gewirkt hat. Welche Art von ›Aktivierung‹
leistet das Rote Buch?
Das denke ich auch. Denn was dieses kleine Rote Buch mit Aphorismen über
Tiger und Papiertiger war, ist wirklich ein Hebel zur Änderung von Gewohnheiten. Es gibt etwa Debatten darüber, wie man auf materialistische Weise,
d.h. in Übereinstimmung mit dem kleinen Roten Buch, Kartoffeln anpflanzt.
Frank Ruda
83
Das ist beeindruckend. Nicht, weil es eine hübsche Anekdote ist, sondern weil
das damit zu tun hat, dass eine neue Form der Gewohnheit entsteht. Es gibt
Debatten darüber, ob bei klassischen Konzerten Cello gespielt werden darf
oder ob das zu einer Verbürgerlichung klassischer Musik führt. Und das wird
dann versucht aus Maos Sätzen herauszulesen. Jetzt kann man das natürlich
als Ermächtigung lesen usw. Interessant ist an diesem Gedanken, dass das
Rote Buch – ein bisschen wie der Hegel’sche Monarch – eine Art Projektionsfläche ist, die ermöglicht, praktisch mit Fragen konfrontiert zu werden, die
man sich andernfalls gar nicht stellen würde. Hier ändern sich potenziell gewohnte Weisen von Handlungsvollzügen. Und das hat etwas mit Passivität
und Aktivität zu tun. Woher kommen diese Aktivitäten? Daraus, dass es dieses Buch gibt, das man nicht selber geschrieben hat.
Das Rote Buch ist der große Andere?
Der Andere als psychologische Instanz in mir?
Absolut. Man ist bei der Analytikerin, und woher sollte gerade sie wissen,
was mit einem nicht stimmt? Sie kennt einen ja nicht, aber dennoch braucht
man sie. Zumindest wenn die Psychoanalyse Recht hat. Die Analytikerin
wird Projektionsfläche und psychologische Instanz. Die Funktion von Maos
Rotem Buch ist hier nicht die gleiche, aber produziert ähnliche Potenziale –
und natürlich auch einiges an Desaster, aber ich wollte hier die andere Seite
hervorheben.
Lässt sich hier nicht eine Analogie zu den Gründungsphasen der Buchreligionen herstellen? Das Buch stellt einen absoluten, vielleicht autoritären Anspruch. Gerade dadurch aber ist es hochgradig interpretationsbedürftig...
Die Frage ist, wie interpretationsbedürftig diese Texte tatsächlich sind. Das
ist die Debatte, die ich zwischen Erasmus und Luther nachzuvollziehen versuche.3 Erasmus sagt: Die Bibel muss interpretiert werden. Und 3 Ruda, Frank: Abolishing
manche Sachen sind auch unklar. Da bleibt einem nichts anderes, Freedom. A Plea for a
Contemporary Use of Fataals in Erstaunen zu verharren. Und Luther empört sich: »Was soll lism. Lincoln und London:
das heißen, etwa dass Gott nicht klar sprechen kann? Bist du ver- University of Nebraska Press
rückt? Das ist blasphemisch! Die Bibel ist absolut klar – nur kön- 2016, S. 15–39.
nen wir sie stellenweise nicht verstehen.« Das ist ein völlig anderer Punkt. Luther glaubt, dass die Schrift uns in einer Art und Weise adressiert, die uns
84
Interview
konstitutiv überfordert. Seine Deutung der Gebote ist: Sie werden uns gegeben, weil wir sie nicht befolgen können. Warum macht Gott das? Weil er Sadist ist? Vielleicht! Aber vor allem, weil er uns unsere eigene Nichtigkeit – so
übersetzt Luther ›humilitas‹ – klar machen will. Weil die Einsicht in die eigene
Nichtigkeit uns hilft, ein Gespür für Gott zu bekommen. Und dieses Gespür
ist der Anfang des Glaubens. Jemand so bedeutendes wie Erasmus ist daher
für Luther Blasphemiker! Dabei geht es für ihn nicht nur um eine hermeneutische Frage. Wenn wir uns nun einen chinesischen Luther vorstellen, würde
der sagen: Maos Wort ist absolut eindeutig. Nur manche Dinge überfordern
uns. Und es ist wichtig, diese Art von Überforderung kennenzulernen, weil
wir mit dieser nur kollektiv umgehen können. Nur das erlaubt wahrhaft kollektive Emanzipation.
Wir würden gerne noch einen weiteren Aspekt hinzuziehen. Im eigenen Lager ist Lenins Hauptfeind wohl der Spontanismus. Lenin würde sagen: das
Schlimmste, das man als Kommunistin machen kann, ist der Masse hinterher
zu laufen. Warum ist nun das ganze Projekt der Kulturrevolution nicht ein
großer Akt des Spontanismus? Ist es nicht das Programm der chinesischen KP,
die Massen als Korrektiv zur Partei zu mobilisieren, ihnen dabei auch etwas
an die Hand zu geben, sie aber dann laufen zu lassen und zu sehen, wo sie hinlaufen, um ihnen dann nachzulaufen?
Der Spontanismus ist deshalb problematisch, weil er nach Anarchismus klingt.
Und was ist das Problem mit dem Anarchismus? Er lehnt gerade das ab, was
Massen überhaupt erst in politische Prozesse einbindet, nämlich Organisation.
Und jetzt ist die Kulturrevolution gerade kein Versuch, Organisation abzulehnen, sondern eine Lösung für das Problem zu finden, das in Russland auftaucht, wenn auf einmal Organisation, die emanzipatorisch sein soll, anfängt,
reaktionär zu werden. Die Diagnose lautet zu dieser Zeit: Wir sind an der
Macht und plötzlich haben wir einen bürokratischen Apparat, der Leute mehr
knechtet und oppressiver ist als der bürgerliche Staatsapparat davor. Mao versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, was es eigentlich heißt, gegen die
interne Verbürgerlichung, gegen das interne Reaktionärwerden des von der
KP geleiteten Staatsapparates vorzugehen. Dieses Vorgehen führt China an
den Rand des Bürgerkriegs. Das Militär wechselt ständig die Seite, Arbeiter
und Studenten schließen sich zu konkurrierenden Gruppen zusammen, alles
was nach Bürgertum riecht, klingt oder aussieht wird in einem unglaublich
Frank Ruda
85
destruktiven Akt vernichtet. Wenn man jetzt hegelianisch fragt, was diese
Prozesse unabhängig von der Intention der Akteure bedeuten, lässt sich wohl
sagen: Das war der Versuch, das Problem der ins Stocken geratenen Revolution, des Reaktionärwerdens der Gewaltmittel, die zur Emanzipation genutzt
werden sollten, nochmals revolutionär zu lösen.
Ich glaube, das ist der Versuch. Und der scheitert. Das mag daran
liegen, dass wir es hier mit einem Problem zu tun haben, für das es keine einfache Lösung gibt.
Wie lässt sich dieses Problem genauer bestimmen? Geht es darum, dass man
gezwungen ist, in einen immer gleichen Zerstörungsprozess einzutreten, in
dem genau das nicht passiert, was Kulturrevolution heißen müsste: die Etablierung einer nicht-bürgerlichen Kultur? Ist das das Problem?
Das ist eine schwierige Debatte. Žižek sagt, wir haben es bei der Kulturrevolution im Bachtin’schen Sinne mit Karneval zu tun. In der brutalsten Form.
Aussetzung der Ordnung – und man weiß ganz genau, irgendwann wird sie
wieder implementiert und zwar von der KP. Man lässt also ein bisschen rauben, vergewaltigen, töten, um danach wieder Ordnung zu schaffen. Das hat
mit Kulturrevolution, ja vielleicht mit Revolution überhaupt, nicht so viel zu
tun. Das klingt tatsächlich eher, wie eine schlechte Wiederholung der französischen Revolution. Alle Formen von Bestimmtheit müssen weg, weil diese
immer schon reaktionär sind. Doch das Problem, das sich dann stellt, ist, dass
auch noch Unbestimmtheit eine Bestimmung ist und sich dann das Problem
gegen einen selber richtet: Die Revolutionäre selbst werden der Bürgerlichkeit
verdächtig...
Aus einer anderen Perspektive könnte man sagen: Die endlich gefundene politische Form – für Marx die Pariser Kommune – hat ein Problem
generiert: Wie lässt sie sich auf Dauer stellen? Wie macht man sie so stabil,
dass sie nicht einfach wieder zerstört werden kann? Lenin gibt darauf eine
klare Antwort: Partei. Aber die Parteiform bringt Probleme mit sich, die man
nicht vorhergesehen hat. Nämlich genau die Probleme, die dann in der Kulturrevolution behandelt werden. Denn die Partei tendiert dazu, wieder ein
bürgerlicher, reaktionärer Machtapparat zu werden und Staatsterror zu ermöglichen. Es stellt sich also die Frage, wie eine andere, nicht-bürgerliche Organisationsform geschaffen werden kann. Lenin kommt auf die Partei, weil
sie Dauer ermöglicht und ausdehnbar ist: Stabilität und Extensionsfähigkeit.
86
Interview
Damit hat er sicher Recht, aber die Probleme, die damit verbunden sind, sind
(ganz ähnlich wie in Freuds Beschreibung der Erfindung der Kultur) größer
als die Lösungen, die die Parteiform anbietet.
Wir haben oben schon kurz über Stalin gesprochen. Was genau passiert im
Übergang von Lenin zu Stalin? Liegt das Problem darin, dass Stalin glaubt, er
weiß, was Sozialismus heißt und dass damit das experimentelle Selbstbewusstsein der politischen Praxis verloren geht? Im Gegensatz zu Lenin glaubt Stalin
über revolutionäre Praxis verfügen zu können.
Absolut. Bei Lenin lässt sich immer wieder feststellen – gerade in den späten
Texten –, wie er permanent darauf beharrt, dass es eine harsche, umfassende
und internationale Selbstkritik revolutionärer Praxis geben muss, weil – und
das betont er immer wieder – wir nicht wissen, was wir hier machen. In ei4 Lenin, Vladimir Iljitsch:
nem seiner letzten Texte – »Vom Besteigen hoher Berge«4 – schreibt
Notizen eines Publizisten.
Lenin eine Parabel auf den revolutionären Prozess. Leute schauen
In: Werke, Bd. 33. Berlin:
von
unten (von außen!) dabei zu, während jemand versucht, einen
Dietz 1977, S. 188–190.
hohen Berg zu besteigen, aber dabei in eine Art Sackgasse gerät:
Es geht nicht weiter. Der Bergsteiger muss dann erst wieder sehr weit herunter und von dort einen neuen Weg nach oben suchen. Aber auch dann funktioniert es nicht. Die Leute von unten lachen, aber oben hört man sie zum
Glück nicht. Das Problem ist natürlich, dass der Weg noch nicht da ist. Wir
können nicht wissen, ob der Weg, den wir beschreiten, zum Gipfel führt. Das
ist, kleistisch formuliert, wie ein Verfertigen des revolutionären Wegs im
Vollzug der Revolution. Das funktioniert aber nur, wenn man glaubt, dass
man nicht weiß. Stalin aber glaubt, er weiß. In der ganz eigentümlichen Weise,
in der er sich – psychoanalytisch gesprochen – mit dem großen Anderen identifiziert. Es gibt jemanden, der das Wissen von Geschichtsprozessen hat...
… eine Garantie geben kann ….
»... und glücklicherweise bin ich, Stalin, das. Und hoffentlich passiert mir
nichts.« (lacht) Das scheint mir ein ganz anderer Prozess zu sein, unter anderem weil die Lenin’sche Perspektive das Eingeständnis des eigenen Unvermögens ermöglicht. Für Lenin ist es in gewisser Weise unmöglich, das zu machen,
was da gemacht werden muss. Aber zugleich ist es notwendig. Das scheint mir
der Anspruch zu sein. Und das ist, glaube ich, etwas, das Stalin nicht sagen
Frank Ruda
87
könnte: dass man es einfach nicht kann, bevor man es macht. Dass da nicht
bereits ein Vermögen vorhanden ist, das uns den Vollzug dessen, was da getan
werden soll, so einfach ermöglicht.
Weil wir vorher schon über die Revolution der Kultur gesprochen
haben, noch eine kleine Anekdote: Der letzte Text, den Lenin schreibt, ist an
Stalin und zwar eine Beschwerde darüber, dass Stalin Lenins Frau schlecht
behandelt hat und er beklagt sich über Stalins schlechte Manieren. Die Manieren, das soll heißen: die Kultur Stalins ist problematisch bis aufs Letzte.
Diese Perspektive der Manieren, der Macht der Gewohnheit – all das, worüber
wir geredet haben – geht unter Stalin also verloren.
Es klingt zwar sehr gut zu sagen, man sollte nicht so arrogant sein und glauben,
man könne den Weg vorgeben, egal in welcher Position man sich befindet. Aus
unserer heutigen Perspektive mag man sagen können: Man muss auch im ZK
der Kommunistischen Partei spielen, ausprobieren, neue Akteure finden und
dabei den Weg bis zum Gipfel des Bergs suchen – oder überhaupt erst schaffen.
Wenn man aber wie Stalin gerade den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und
auf der anderen Seite die USA sieht, die die sozialistische Bewegungen in Südamerika bekämpft und mit einem Atomkrieg droht: Lässt sich in dieser Perspektive, ohne zynisch zu sein, sagen, wir können nicht wissen, was zu tun ist,
alles was uns bleibt ist: auszuprobieren? Muss man in dieser historischen Situation der Bevölkerung nicht suggerieren: »Ich kenne den Weg, folgt mir!« Auch
wenn im ZK natürlich debattiert wird.
Zunächst ist es ja nicht so, dass Lenin sagt, er wisse auch nicht, was passieren
soll, und dann passiert nichts. Es gibt sehr viel Organisationsarbeit – z.B.
wird an der Einbindung der Frauen in bestimmte Arbeiterräte gearbeitet. Da
gibt es Quoten, die ausprobiert werden müssen. Von vier Personen sollen drei
Frauen sein, verordnet er 1921 oder ‘22. Ob das funktioniert, muss sich dann
aber zeigen. Aus dieser Ungewissheit folgt jedoch keinesfalls Tatenlosigkeit.
Nur weiß man vorher nicht, welche Form von Organisation sinnvoll ist. Lenin
selbst – und das ist das Modell, das ich schlagend finde – hält die Organisation
des Wettbewerbs für zentral. Das klingt erstmal seltsam, aber Lenin folgt dabei der genuin Marx’schen Intuition, dass Kapitalisten überhaupt keinen
Wettbewerb wollen. Die Pointe bei Marx ist: Kapitalisten wollen Monopole.
Es ist ein schlechtes und verlogenes Lippenbekenntnis, wenn vom kapitalistischen ›freien Wettbewerb‹ gesprochen wird. Niemand will im Kapitalismus
88
Interview
freien Wettbewerb. Zumindest nicht die Leute mit dem ganzen Geld. Und Lenin glaubt nun, dass zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit ein
wirklicher Wettbewerb etabliert werden muss. Wirklicher Wettbewerb insofern, als man postrevolutionär Prozesse so organisieren sollte, dass sich die
besten Vorschläge durchsetzen. An diesem Wettbewerb soll nicht nur das ZK
teilnehmen, sondern alle. Vielleicht hat eine Person, die seit langer Zeit in der
Fabrik arbeitet, ein viel besseres Verständnis davon, wie bestimmte Arbeitsabläufe strukturiert werden sollten, als Lenin oder irgendjemand anderes. Und
warum sollte man dann auf sie oder ihn nicht hören? So müssen wir uns Lenins Modell vorstellen. Nicht Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit, sondern: Man ist absolut gezwungen zu handeln und für die Handlungen, insbesondere auch für die eigenen Fehler, absolut verantwortlich. Dabei ist es
jedoch strukturell unmöglich zu wissen, was das Richtige ist, bevor es ausprobiert wird. Das scheint mir die Struktur dieses Gedankens zu sein.
Wir würden gerne von Ihnen wissen, wie Sie die Rolle der Philosophie einschätzen. Wie verhält sich Ihre Auseinandersetzung mit dem modernen Rationalismus zu Fragen der politischen Ökonomie? Kann uns die Philosophie bei
diesen politischen Fragen helfen?
Auf der einen Seite ist moderne Philosophie, vielleicht sogar jede Philosophie (was dann allerdings ein sehr diskriminierter Begriff von Philosophie
wäre), Ideologiekritik. Deshalb mache ich den Rationalismus so stark. Ich
versuche zu fragen: Was kritisiert der Rationalismus? Eine mythische Artikulation von Wirklichkeiten. Und diese mythische Artikulation steht immer
im Dienst eines bestimmten Interesses oder eines bestimmten Zustands. Das
heißt, sie hat eine politische Implikation. Man muss sich ja nur das Gerede
über freie Meinungsäußerung anschauen. Die Leute, die das meiste Geld haben, Fernseh- und Radiosender besitzen, schreien am lautesten nach freier
Meinungsäußerung. Offensichtlich ist die Meinungsäußerung aber immer
schon eingeschränkt: Es darf zum Beispiel nicht alles über Auschwitz gesagt
werden. Das ist ja auch nicht als solches ein Problem. Aber schon, wenn nicht
klar ist, wer eigentlich entscheidet, worüber nicht geredet werden darf. Entscheiden da alle mit, nach eingehender Diskussion? Oder ist es die Entscheidung weniger, ohne Diskussion? Es ist also nicht evident, freie Meinungsäußerung für einen Wert an sich zu halten. In einem solchen Ideal artikulieren sich
immer Eigentumsverhältnisse – was sich im Übrigen auch jeden Abend in der
Frank Ruda
89
Tagesschau zeigt. Deutlicher als dort kann man kaum sehen, wie sich Eigentumsverhältnisse in Sendezeit widerspiegeln. Donald Trump jedenfalls taucht
jedes Mal auf...
Lenin hat gegen einen solchen Begriff von Pressefreiheit eingewandt, zunächst
müsse sichergestellt werden, dass die Leute ihre Pressefreiheit überhaupt nutzen können. Das heißt: Zugang zu Papier und den Druckerpressen muss für
alle sichergestellt werden. Vorher gibt es keine Pressefreiheit...
Spätestens zum Zeitpunkt der Umbenennung der Partei wird Lenin etwas
klar: Die Partei heißt »Sozialdemokratische Partei Russlands« und alle anderen sozialdemokratischen Parteien stimmen in Europa für Kriegskredite und
verraten damit das Interesse der Arbeiter. Ab einem gewissen Zeitpunkt kann
man sich von diesen Tendenzen nicht mehr als ›linke Sozialdemokratie‹ absetzen. Wenn man dann ›Sozialdemokratie‹ sagt, sagt man etwas politisch Problematisches, woraus Lenin die Konsequenz zieht, die Partei umzubenennen.
Das lässt sich jedoch nicht unendlich häufig wiederholen, denn dieser Akt
birgt eine Reifizierungsdynamik. Daher nennt Lenin die ›Diktatur‹ ja auch
ein ›heiliges Wort‹. Erneut: Heilig ist etwas, das dem Gebrauch entzogen ist.
Man sollte einen Ausdruck wie ›Diktatur des Proletariats‹ nicht zu häufig gebrauchen, denn das Wort verdinglicht sich, wenn wir es permanent gebrauchen. Lenin spricht aber auch sehr eindeutig davon, dass man über Gleichheit und Freiheit nicht reden sollte. Er ist davon überzeugt, dass diese Begriffe
in gewisser Weise desorientierende Signifikanten sind. Man kann von Freiheit nicht reden, solange man noch unter der Macht des Kapitals steht. Und
man kann von Gleichheit nicht reden, solange man sich noch im Residuum
der bürgerlichen Ökonomie bewegt. Reformuliert: Wer Freiheit und Gleichheit sagt, tut das, um zu lügen. Oder um eine reaktionäre Politik zu betreiben. Nur unter anderen Bedingungen ließe sich überhaupt von Freiheit und
Gleichheit reden.
Sie sprechen stattdessen von Fatalismus. Was erhoffen Sie sich davon?
Genau. Das ist ein strategischer Zug, den ich da zu machen versuche. Ich glaube, dass die avancierteste moderne Philosophie – Hegel, Marx, Freud – eine
Kritik an bestimmten Freiheitsverständnissen leistet. So beschreibt auch schon
Descartes die Ausgangssituation seines eigenen philosophischen Projekts:
90
Interview
Man weiß nicht, was sicher ist. Die einen sind frei, dieses oder jenes zu behaupten, die anderen behaupten etwas anderes. Es gibt zwar eine Lehrmeinung, die anderen sind aber Freidenker. Alle sind frei, alles Mögliche zu glauben. Das ist zunächst ein Problem, das unmittelbar theoretische, aber auch
praktische Komponenten hat. Ich versuche nun zu bestimmen, wie das Problem systematisch aussieht; und meine Antwort lautet: Das Problem taucht auf,
sobald wir davon ausgehen, Freiheit sei ein Besitz. Freiheit sei ein Vermögen,
das man hat. Diese Annahme nenne ich ›aristotelisch‹. Aristoteliker widersprechen hier, aber diese Bezeichnung erscheint mir dennoch sinnvoll, weil
Descartes diese Annahme aristotelisch nennt. Aristotelismus ist die spontane
Philosophie all derjenigen, die Freiheit für gegeben halten. Descartes behauptet nun als erster, dieses falsche Freiheitsverständnis könne beseitigt werden,
indem man sich etwas bedient, das ich Fatalismus nenne: Den Glauben an eine
bestimmte Fatalität, ein vorbestimmtes Fatum. Dieser Fatalismus ist keine
Ethik und keine Handlungsanweisung, sondern funktioniert wie eine ›provisorische Moral‹. Um zu echter Gewissheit zu gelangen, müssen alle bezweifelbaren Überzeugungen aufgegeben werden. Das generiert praktische Probleme, denn so lange wir noch keine Gewissheit haben, brauchen wir eine solche
provisorische Moral für den Übergang (der übrigens ganz analog strukturiert
ist wie die Diktatur des Proletariats). Dafür gibt es dann provisorische Regeln.
Manche sind ziemlich konservativ – ich sollte nie die Gesetze des Landes, in
dem ich lebe, verletzen etwa. Diese konkrete Regel würde ich nicht teilen, aber
mir leuchtet der Gedanke einer provisorischen Moral ein. Sie soll so etwas
leisten wie die Vorbereitung auf das, was noch nicht da ist. Oder genauer: Es
ist eine Vorbereitung auf etwas, von dem man noch nicht weiß, wie es sein
wird. Anders: Sie hilft dabei, sich auf etwas vorzubereiten, worauf man sich
per definitionem nicht vorbereiten kann. Das soll der Fatalismus leisten.
Diese Haltung sollte aus der Perspektive der Philosophie immer
wieder wiederholt werden. Das heißt: Wir sollten nicht glauben, dass wir immer schon wissen, wie eine gerechte Gesellschaft eigentlich aussieht (und jetzt
ist es nur gerade schwierig, weil der Markt oder der Staat das verhindern). Man
sollte vielmehr – wie bei Lenin – mit dem Eingeständnis des eigenen Unvermögens beginnen. Und das heißt für mich in gewisser Weise, die Perspektive
umzukehren: Wir wissen nicht, wie wir die gerechte Gesellschaft einrichten
können, und es sieht so aus, als würde es eine solche Gesellschaft niemals geben. Damit machen wir uns weniger Illusionen als wenn wir glauben, dieses
oder jenes sei doch nicht so schlecht und könnte eine kleine Nische öffnen.
Frank Ruda
91
Dieser Glaube führt im Gegenteil eher zu etwas, das man mit Freud eine Abwehrreaktion nennen kann – politisch-ideologische Abwehr. Man will sich
dann nie so richtig eingestehen, wie schlecht die gegenwärtige Lage eigentlich
ist. Es handelt sich bei meinem Verständnis von Fatalismus also um einen strategischen Übergangsbegriff. Was danach mit ihm passiert, sollte es wirklich
zur Einrichtung einer Praxis der Freiheit kommen, das ist nochmal eine ganz
andere Diskussion. Wobei ich glaube, dass auch in dieser Praxis noch ein fatalistisches Element enthalten sein müsste. Das führt dann zu der Frage, wie
sich Moral und Ethik zueinander verhalten.
Das heißt, man nimmt eine Regel wegen ihrer praktischen Konsequenzen an?
Man könnte das vielleicht analog dazu bestimmen, wie Narrative in der religiösen Praxis funktionieren. Interessant ist nicht, wie die Hölle wirklich aussieht,
sondern zu was es führt, sie sich auf bestimmte Weise vorzustellen.
Genau! Luther erläutert an einer Stelle einen sehr schwierigen Gedanken: Was
ist eigentlich im starken Sinne Befreiung von all den arroganten Annahmen,
die wir haben? Zum Beispiel der Annahmen, dass Gott die Welt nur für uns
geschaffen hat. Die Antwort lautet: Man muss sich in die Position des Menschen vor seiner Schöpfung versetzen, also sich selbst als inexistent denken.
Das ist eine Heilsperspektive für Luther. Das ist noch nicht wirklicher Glaube, aber es wird uns dadurch klar, wie nichtig wir sind, d.h. wir erkennen etwas über die Mensch-Gott-Differenz. Viel mehr als man vorher erkannt hat
und viel mehr, als wenn man seine menschlichen Normen auf Gott anwendet.
Ich würde Luthers Gedanke hier als eine Art praktisch-moralischen Hinweis
verstehen. Wie bereiten wir uns auf den absoluten Glauben vor? Das geht
nicht auf Knopfdruck. Das muss etwas sein, das uns widerfährt. So beschreibt
Luther das: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« Wie bereitet man das nun
vor? Indem man sich selber in die Position der eigenen Inexistenz versetzt.
Diese – psychoanalytisch gesprochen – Phantasieperspektive macht klar, welches paradoxe Manöver notwendig ist, um irreführende Verständnisse von
Freiheit loszuwerden. Das ist Luthers These. Wenn wir sagen, dass wir frei
sind und darauf warten, dass Gott uns ein gutes Leben schenkt, dann sind wir
nicht nur blasphemisch, sondern missverstehen auch die Freiheit. Wirkliche
Freiheit gibt es nach Luther nur im Glauben. Wenn uns Glaube in diesem Sinne widerfahren muss, können wir nicht einfach so aus uns heraus frei sein,
weil wir nicht einfach so anfangen können zu glauben.
92
Interview
Wir brauchen also eine provisorische Moral, um uns auf das, was kommt, vorzubereiten. Gleichzeitig müssen wir jedoch an einer Analyse der Gegenwart
arbeiten. Welche Rolle sollte dabei ein eher klassisch marxistischer Zugang zur
Gegenwart spielen? Welche Kapitalfraktionen haben Interesse an den Kriegen
im Nahen Osten? Welche stehen hinter Trump? Wie agieren Monopole auf dem
Weltmarkt? Sollten wir uns diesen Fragen nicht wieder verstärkt zuwenden?
Fredric Jameson hat einmal gesagt, die vulgärste Anwendung des Basis-Überbau-Schemas erläutere heute viel mehr als gängige Kulturtheorien über die
Gesellschaft. Und ich glaube, er hat damit in vielerlei Hinsicht einfach Recht.
Und wenn wir eine nuanciertere, nicht-vulgäre Theorie des Basis-ÜberbauModells haben: umso besser. Aber zunächst geht es auch darum, einer bestimmten Komplexitätsideologie entgegenzutreten, die glaubt, dass es in der
globalisierten Wirtschaft so viele Verstrickungen gibt, dass man einfach nicht
verstehen kann, wo etwa die Hühner großer Fastfood-Konzerne herkommen.
Ich fand es immer sehr treffend, dass Badiou zu Beginn seines Paulus-Buchs
schreibt, dass die Welt so komplex eigentlich gar nicht ist. Und ich würde sogar sagen, dass es eigentlich immer einfacher wird: Es wird immer klarer, wie
die Welt strukturiert ist.
Das heißt aber nicht, dass wir von Marx praktische Lösungen erwarten sollten. Anders als der orthodoxe Marxismus glaube ich nicht daran,
dass man aus den wenigen, teils unpublizierten Bemerkungen eine Handlungsanweisung rekonstruieren kann. Man darf das Kapital m. E. nicht so verstehen, dass es uns sagt, was wir tun müssen. Man muss – das wissen wir von
Hegel – verstehen, was ist. Und bei Hegel steht auch, dass Zustände, die wir
verstehen können, tendenziell vorüber sind – wobei man nicht denken sollte,
dass es deswegen einen guten Ausgang nimmt. Wolfgang Streeck hat die, wie
ich finde, hübsche These, dass der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, seinem
Ende entgegengeht und uns eine noch schlimmere Zukunft erwartet. Er prognostiziert in gewisser Weise ein desozialisierendes, hyperindividualisiertes
Interregnum, so eine Art – Badiou nennt es immer wieder ›Zonage‹ – vollkommen deregulierte, von Oligarchen regierte…
Rackets!
… ja, von Rackets regierte De-Struktur. Die Streeck-These verstehe ich genau
in diesem Sinne: So wird das irgendwann potenziell überall sein. Wie wir es
Frank Ruda
93
aus Staaten wie Syrien, dem Kongo oder anderen sogenannten failed states
kennen. Das ist ein ganz gutes Paradigma dafür, wie schlimm es werden kann
oder wird.
Wir würden gern auf Ihren Punkt zu den Komplexitätsideologien zurückkommen. Hier gibt es ja nicht nur diese, sondern zugleich auch das Narrativ, dass
die Märkte unheimlich rational seien: eine Art Rationalitätsideologie. Die
Komplexitätsideologie ist animistisch, weil man sich gemäß dieser immer fragen muss, wie die Märkte wohl auf diese oder jene Entscheidung reagieren
werden. Bleibt man aber dabei, dass die Märkte rational sind, kommt man zu
einer Rationalität, die sich nicht verstehen lässt. Der Markt soll rational sein
und erscheint zugleich vollkommen kontingent und irrational...
Genau. Eine etwas triviale Kapitalismuskritik würde wohl behaupten, es gäbe
immer nur einen Zweck, der alle einzelnen Handlungen motiviert: den Profit.
Doch wenn das die einzige Ratio aller Handlungsvollzüge ist, wie verhält sich
das dann zu der merkwürdigen Irrationalität der Märkte, in denen es ja auch
nur um Profit gehen soll, die sich aber irritierenderweise nicht so recht verstehen lassen? Selbst die Leute, die den ganzen Tag nichts anderes tun als mit
Börsenkursen Geschäfte zu machen, haben letztlich keine Ahnung davon, wie
das funktioniert.
Jamesons Pointe war immer, dass sich die Kritik oder Zurückweisung des Totalitätsbegriffs lebensweltlich in den Dienst der Verdunklung des
Verständnisses der marktwirtschaftlichen Prozesse stellt. Er stellt die These
auf, dass das dazu führt, dass man kein cognitive mapping mehr hat. Cognitive mapping heißt z. B.: in einer Stadt wohnen und wissen, wo der Arzt, der
Metzger etc. zu finden sind. Und wenn man das nicht mehr weiß, dann findet
man sich nicht zurecht und ist in gewisser Weise desorientiert. Man muss sich
jetzt, bezogen auf den Markt, fragen, wie man ein solches cognitive mapping
eines keinesfalls unterkomplexen Systems hervorbringt. Jameson glaubt dann,
das sei eine ästhetische Frage und man kann zum Beispiel an die Werke von
Allan Sekula denken, der große Containerschiffe fotografiert hat. Container
über Container über Container – das drückt den Zusammenhang in seiner
Abstraktheit sehr gut aus. Denn die ganzen Waren kommen ja in Containern
hierher. Nach Jameson kann diese mapping-Funktion heute etwa von Romanen nicht mehr erfüllt werden, weil diese zunehmend selbst so komplex werden, dass sie die Komplexitätserfahrung lediglich verdoppeln. Das generiert
94
Interview
keine Überblicksperspektive mehr. Damit kommen wir zu einer wichtigen
Frage, die sich auch der marxistischen Theorie von Beginn an stellt: Was machen wir mit den Leuten, die nicht durchs Kapital kommen? Denn das ist eben
teilweise, gerade am Anfang, ein wirklich kompliziertes Werk.
Man muss ferner annehmen, dass der Totalitätsbegriff auch eine
strategisch-politische Funktion hat, also ideologiekritisch wichtig ist: Es gibt
keine Verständlichkeit ohne Totalität. Wenn man annimmt, das System sei
bloß kontingent, offen und unsystematisierbar, dann wird es schlicht unverständlich. Um Verständnis überhaupt zu ermöglichen, muss man es zu schließen versuchen...
Damit wären wir wieder bei der Philosophie.
Eben. Der frühe Hegel benutzt den Begriff der Vernunfttotalität, um den Gedanken auszudrücken, dass wir, wenn wir ernsthaft Gebrauch des Denkens
machen, gar nicht umhin können als zu totalisieren – unabhängig von der jeweiligen Intention. Wir können uns darüber täuschen, was wir da eigentlich
tun, aber Vernunft hat einen Totalitätsanspruch. Das war Adorno auch immer
klar und die gesamte Negative Dialektik handelt davon. Wenn man ohne den
Totalitätsanspruch auskäme, ihn einfach fallen lassen könnte, dann wäre es ja
nicht so schwierig.
So funktionieren übrigens auch conspiracy theory-Filme. Woher
kommt das? Was für ein gesellschaftliches Bedürfnis bedingt ihre Produktion?
Jamesons These, die ich sehr gut finde, ist, dass es sich in der ein oder anderen
Weise um figurative Repräsentationen von Paranoia handelt. Was ist die Paranoia? Nach Freud: Vor allem ein Hyperrationalismus. Der oder die Paranoide
hat einen Zugang zur Realität, aus dem nichts herausfällt: Alles hat Bedeutung.
Es gibt für alles einen Grund. Und Hyperrationalismus scheint zunächst deswegen nicht problematisch zu sein, weil er sich um absolute Verständlichkeit
bemüht (wenngleich er offensichtlich nicht mit Kontingenz umgehen kann).
Nach Jameson ist das der Totalitätswunsch des kleinen Mannes, der hier zum
Thema wird. Man kann die Welt verstehen, wenn es eigentlich nur drei Leute
sind, die alles lenken, und es reicht, diese ihrer Verbrechen zu überführen...
Dahinter steht der Wunsch nach vernünftiger Durchdringbarkeit eines Systems, das so komplex zu sein scheint, dass man es nicht mehr versteht.
Natürlich sind conspiracy theory-Filme schon strukturell falsch,
doch verweisen sie auf ein berechtigtes Bedürfnis. Denn der Wunsch nach
Frank Ruda
95
Totalisierung ist zunächst einmal richtig. Das war auch schon das Projekt Balzacs, der noch glaubte, er müsse nur genügend Romane schreiben, um die Gesellschaft seiner Zeit zu verstehen. Ab einem gewissen Zeitpunkt geht es aber
auf diese Weise nicht mehr: Elias Canetti möchte die »Comédie Humaine an
Irren« schreiben und scheitert daran. Man kann Balzacs Projekt also nicht einfach fortführen, das halte ich für entscheidend. Aber der Gedanke einer Totalisierung selbst ist nicht das Problem.
Impressum
97
lointain – Zeitschrift für Philosophie
Schwerpunkt der
Zweites Heft, November 2018
nächsten Ausgabe:
Geschichtszeichen
Redaktion lointain c/o Literaturcafé Anna Blume
Norbert-Wollheim-Platz 1, 60323 Frankfurt am Main
069 / 79833110,
[email protected]
www.lointain.de/
Redaktion und Herausgabe:
Mariska Dekker, Christina Engelmann, Alexander Kern, André Möller
Gestaltung: Marian Rupp (MatterOf)
Druck: VD Vereinte Druckwerke
Auflage: 350
Alle Rechte an den Beiträgen liegen bei den
jeweiligen Autorinnen und Autoren.