Leseprobe
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Ausgewählt von Jörg Baberowski, Bernd Greiner und
Michael Wildt
Das 20. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Genozids,
der Lager, des Totalen Krieges, des Totalitarismus und Terrorismus, von Flucht, Vertreibung und Staatsterror – gerade
weil sie im Einzelnen allesamt zutreffen, hinterlassen diese
Charakterisierungen in ihrer Summe eine eigentümliche Ratlosigkeit. Zumindest spiegeln sie eine nachhaltige Desillusionierung. Die Vorstellung, Gewalt einhegen, begrenzen und
letztlich überwinden zu können, ist der Einsicht gewichen,
dass alles möglich ist, jederzeit und an jedem Ort der Welt.
Und dass selbst Demokratien, die Erben der Aufklärung, vor
entgrenzter Gewalt nicht gefeit sind. Das normative und ethische Bemühen, die Gewalt einzugrenzen, mag vor diesem
Hintergrund ungenügend und mitunter sogar vergeblich erscheinen. Hinfällig ist es aber keineswegs, es sei denn um den
Preis der moralischen Selbstaufgabe.
Ausgewählt von drei namhaften Historikern – Jörg Baberowski, Bernd Greiner und Michael Wildt – präsentieren die
»Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts« die Forschungsergebnisse junger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Monografien analysieren am Beispiel von
totalitären Systemen wie dem Nationalsozialismus und Stalinismus, von Diktaturen, Autokratien und nicht zuletzt auch
von Demokratien die Dynamik gewalttätiger Situationen, sie
beschreiben das Erbe der Gewalt und skizzieren mögliche
Wege aus der Gewalt.
Christian Teichmann
Macht der Unordnung
Stalins Herrschaft in Zentralasien 1920 –1950
Leseprobe
Hamburger Edition
Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 3 6
20148 Hamburg
© 2016 by Hamburger Edition
Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Redaktion: Sigrid Weber
Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras
Satz aus der Minion Pro von Dörlemann Satz, Lemförde
Karte: Peter Palm, Berlin
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Germany
Printed in Germany
ISBN 978-3-86854-298-1
1. Auflage März 2016
Inhalt
1
2
3
4
5
Rotes Land, Weißes Gold – Künstliche Bewässerung,
Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat
7
Koloniale Revolutionen – Zentralasien zwischen Zaren
und Sowjets, 1885–1922
Land der Wüsten und Oasen: Ein wirtschaftsgeografischer Überblick
Amerikanische Träume: Der Baumwollboom in Turkestan, 1885–1914
In der Hungersteppe: Erste Experimente im Wasserbau
Kolonisierung: Russische Siedler in Turkestan
Kriege und Revolutionen, 1914–1920
Safarows »wilde« Landreformen, 1921–1922
22
24
29
36
37
42
47
Grenzen ziehen, Wasser teilen –
Moskau und die indigenen Eliten, 1923–1929
»Dekolonisierung der Kolonie«: Ein politisches Programm
Die Schaffung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken, 1924–1925
Grenzkonflikte, Wasserkonflikte
Revolution ohne soziale Basis: Die Landreformen in Usbekistan
Zwischen Intrige und Ideologie: Die »Parteisäuberungen«, 1928–1929
52
54
57
61
69
77
Fußvolk mit Eigensinn – Ingenieure und Bolschwiki, 1923–1929
Im Wandel: Wahrnehmungen der »traditionellen« Bewässerung
Vor Ort: Arbeit und Alltag der russischen Ingenieure
Ein Revolutionär als Bürokrat: Michail Rykunow
und die Zentralasiatische Wasserbehörde
Scheitern im Wasserbau: Das Fiasko am Usboj
Politik der Zerstörung: »Rationalisierung« und ein Schauprozess
gegen »bourgeoise Spezialisten«
Eine Zeit der Wirren – Forcierter Baumwollanbau
und Kollektivierung, 1929–1932
Von der Getreidekrise zur Kollektivierung, 1928–1929
Stalins »Baumwolloffensive«, 1929
Widersprüchliche Befehle: Kollektivierung in Usbekistan, 1930
Despotismus und Gewalt in der Baumwollzone, 1931–1932
84
85
90
95
102
107
114
116
121
127
135
6
7
8
9
Utopie im Ausnahmezustand –
Ein Großbau in Tadschikistan, 1930–1937
Baumwollgarten in der Wüste: Das Wachsch-Tal und die
sowjetische Staatswerdung
Chaotische Anfänge: Mangel, Flucht, Gewalt
Strategien in der Krise: Die Macht der stalinistischen Direktoren
Zwischen Erfolg und Vernichtung: Ein »alter« Ingenieur
in einer »neuen« Welt
Feindliche Natur: Die Folgen technischer Fehlplanung
Landschaft der Unordnung: Terror, Deportationen und
ein fragiler Staat, 1934–1937
Planerfüllung ohne Plan – Baumwollwirtschaft
und Staatsterror, 1933 –1937
Medien der Macht: Statistik und Ressourcenallokation
Institutionen der Gewalt: Politische Abteilungen,
Beschaffungskampagnen, Trojkas
Wirkungen der Willkür: »Traditionalismus« und »Rückständigkeit«
Improvisieren statt Planen: Deichbau am Amudaria, 1937
Der Staat als Spektakel: »Großer Terror« in Usbekistan
und der Moskauer Schauprozess, 1937–1938
142
144
147
151
156
162
165
173
176
183
191
195
204
Kriegslandschaften – »Volksbaustellen«
und der Zweite Weltkrieg, 1937–1950
Massenmobilisierung: Usman Jusupow
und der Große Ferghanakanal, 1937–1939
Die Grenzen des Mobilisierungsregimes, 1939–1941
Krieg an der Heimatfront: Usbekistan in der Krise, 1941–1943
Keine Wende, keine Flexibilität: Baumwolle, Terror und Hunger,
1943–1945
Bleierne Jahre: Die Nachkriegszeit, 1945–1950
231
237
Macht der Unordnung – Ein Resümee
240
Anhang
Begriffe, Namen, Archive
Glossar
Quellen und Literatur
Namens- und Ortsregister
Dank
211
214
220
224
259
263
264
284
287
1 Rotes Land, Weißes Gold –
Künstliche Bewässerung, Baumwollwirtschaft und der sowjetische Staat
Kein Land setzte im zwanzigsten Jahrhundert so vehement auf künstliche Bewässerung als Mittel zur Ausbreitung staatlicher Herrschaft wie
die Sowjetunion. Dämme, Kanalanlagen und Stauwerke veränderten im
Land des Sozialismus das Zusammenleben der Menschen, ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten und ihren Umgang mit der Natur. Das sowjetische Wasserbauprogramm begann mit Lenins »Plan zur Elektrifizierung« des Landes in den frühen 1920er Jahren und gipfelte in Stalins
»Plan zur Umgestaltung der Natur« Ende der 1940er Jahre. Schon die
Fertigstellung des Dnjepr-Staudamms 1931 und die Eröffnung des Weißmeer-Kanals 1933 sorgten für internationale Aufmerksamkeit. Die Eröffnung des Moskau-Wolga-Kanals im Juli 1937 übertraf diese glänzende
Außenwirkung noch. Das Bauprojekt zeigte, dass der sowjetische Staat
»Berge versetzte« und es ihm so gelang, »ein Riesenland zu einem Gesamtorganismus« zusammenzubinden.1 In Italien eiferte Benito Mussolini dem Vorbild des sowjetischen Erzfeindes mit der Kolonisierung der
Pontischen Sümpfe ebenso nach wie Franklin Delano Roosevelt in den
Vereinigten Staaten, auf dessen Initiative im Rahmen des New Deal etliche wasserbauliche Großprojekte entstanden.2 Die Nationalsozialisten
ließen vom Reichsarbeitsdienst, von Häftlingen und Zwangsarbeitern
Moore trockenlegen, Kanäle bauen und Talsperren errichten.3
In der Sowjetunion gab es jedoch im Vergleich zu den Vereinigten
Staaten und den faschistischen Diktaturen im Europa der 1930er Jahre
einen markanten Unterschied: Die Umgestaltung der Natur war nicht nur
ein Mittel zur inneren Kolonisation, sondern auch ein Instrument zur
grundlegenden Umgestaltung bestehender Gesellschaften. Die sowjetischen hydrotechnischen Großbauten in den Jahren zwischen Lenins Tod
1924 und Stalins Tod 1953 sollten die Menschen und ihre ökonomischen
1
2
3
Schlögel, Terror und Traum, S. 371.
Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft, S. 129–132.
Blackbourn, Conquest of Nature, S. 228–231, 248–249, 283–284.
7
8
9
Beziehungen revolutionär verändern. Der Zweck der sowjetischen Wasserbauten bestand in der Expansion staatlicher Herrschaft in alte Landschaften und traditionelle Gesellschaften. Lenin machte diesen
Zusammenhang deutlich, als er 1921 feststellte, dass für die sowjetischen
Kommunisten »Bewässerung nötiger ist als alles andere«, weil sie »das
Land mehr verändert als alles andere, zu seiner Wiedergeburt führt, die
Vergangenheit begräbt und den Übergang zum Sozialismus forciert«.4
Aus Lenins Sicht war der Staat das Instrument, um die Revolution
aus den großen Städten der Sowjetunion in die weitläufigen ländlichen
Regionen Russlands und die multiethnischen Peripherien zu tragen.5
Doch nach dem Abklingen des Bürgerkriegs in Russland und der
Ukraine im Herbst 1920 verfügten die Bolschewiki über keinen Staatsapparat, der dieser Aufgabe gewachsen gewesen wäre. Daher bedeutete
der Bau von Kanälen, Dämmen und Schleusen zwischen 1920 und 1950
weit mehr als die technische Erschließung und wirtschaftliche Nutzbarmachung von natürlichen Räumen. Die Bauprojekte griffen tief in die
vorhandenen sozialen und landschaftlichen Texturen ein: Veränderungen im Wasserhaushalt zerstörten die Landschaften, Massendeportationen und Umsiedlungskampagnen im Zuge von Bewässerungsprojekten
veränderten nachhaltig das soziale Gefüge. Darüber hinaus rückte die
Ausbreitung der künstlichen Bewässerung aber vor allem und deshalb
ins Zentrum staatlicher Handlungsmacht, weil sie die industrialisierte
Erzeugung nachwachsender Rohstoffe erlaubte. Wasserbau und revolutionäre Staatswerdung verwuchsen zu einer Einheit. Wie sich dieser Prozess in Zentralasien6 vollzog und zu welchen Reibungen es dabei kam, ist
Gegenstand des vorliegenden Buches.
Die Bolschewiki hatten die Weltrevolution vor Augen. Nach Zentralasien
kamen sie jedoch nicht als Revolutionäre, sondern als koloniale Eroberer. Mit militärischer Übermacht bekämpften die Rote Armee und die
Tscheka den zähen und gut organisierten Widerstand von lokalen Guerillaverbänden, parastaatlichen Rebellengruppen und antisowjetischen
4
5
6
Lenin, Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 43, S. 200.
Lenin, »Die nächsten Aufgaben«, S. 231.
Zur geografischen Nomenklatur vgl. die Ausführungen im Anhang unter »Begriffe, Namen, Archive«.
10
Armee-Einheiten.7 Die Bolschewiki bombardierten Städte, marodierten, massakrierten und verbreiteten, wo immer sie hinkamen, Angst und
Schrecken. Im Oktober 1919 marschierte die Rote Armee in Taschkent
ein, im Februar 1920 besetzte sie das Chanat von Chiwa und im September 1920 stürzte sie den Emir von Buchara. Noch im Frühjahr 1922 planten Moskaus Emissäre in Taschkent einen Eroberungszug in die Nordprovinzen Afghanistans. Doch stieß die Weltrevolution im muslimisch
dominierten Zentralasien an ihre Grenzen. »Wir wissen aus der Erfahrung von Buchara und Chiwa (und ebenso aus Turkestan)«, resümierte
1922 der sowjetische stellvertretende Außenminister Lew Karachan in
einem Brief an Joseph Stalin, »dass die Loyalitätsbekundungen der Bevölkerung gegenüber den neu gebildeten Regierungen direkt von der
Anzahl der russischen Truppen abhängig ist, die sich in diesen Republiken befinden.«8
Von Beginn an erkoren die Bolschewiki die künstliche Bewässerung
zu ihrer »operativen Kampfaufgabe« in Zentralasien. »Alle technischen
Kräfte sind auf das Bewässerungswesen zu konzentrieren«, tönte ein
Propagandist des neuen Regimes 1922. »Zwar ist die Erfahrung der einheimischen Bevölkerung groß«, schrieb er, »aber die Bewässerung ist unwirtschaftlich organisiert: Es gibt keine Intensivwirtschaften, sondern
nur eine kolossale Verschwendung von Wasser und physischer Arbeitskraft.«9 Das Pathos und die Emphase, die die europäischen Eroberer ausgerechnet auf die künstliche Bewässerung als Herrschaftsinstrument legten, waren weder überraschend noch innovativ. Denn damit verbunden
war die Produktionssteigerung des begehrten Rohstoffs Baumwolle – ein
Ziel, das die revolutionären Bolschewiki mit ihren zaristischen Vorgängern teilten. Dennoch unterschieden sich die Mittel und Wege, wie sie
dieses Ziel erreichen wollten, vor und nach 1917 ebenso markant voneinander wie die Ansichten und Absichten, die hinter dem machtpolitischen Interesse an der künstlichen Bewässerung standen.
7
8
9
Penati, »The Reconquest of East Bukhara«.
Bol’ševistskoe rukovodstvo, S. 248. Vgl. Volodarsky, The Soviet Union and Its
Southern Neighbours, S. 34–44.
Subbota, »K voprosam irrigacii«, S. 25–26.
1
1
In den alten Oasen Zentralasiens war jedes Dorf ein Kosmos für sich und
lebte nach seinen eigenen Regeln. Der Schriftsteller Sadriddin Ajni, geboren 1878, verbrachte seine Kindheit in zwei Dörfern, die beide wenige
Dutzend Kilometer entfernt von der Stadt Buchara lagen. Zehn Jahre vor
Ajnis Geburt war das Emirat von Buchara von russischen Truppen erobert und zum Protektorat des Zarenreichs erklärt worden. Doch Saktar,
das Dorf seines Vaters, blieb von der großen Politik äußerlich unberührt.
Es lag unweit des Flusses Serafschan, der die Oasen zwischen Samarkand
und Buchara mit Wasser versorgte. Ein Kanal, der durch das Dorf führte,
sorgte »für einen Überfluss an Wasser«, wie Ajni sich erinnerte, und bot
der Bevölkerung die Möglichkeit, »Obsthaine, Weinberge und Gemüsegärten anzulegen, wo alles reichhaltig wuchs, angefangen bei verschiedenartigen Früchten und Obstsorten bis hin zum wasserliebenden Reis«.
Zur Moschee gehörten eine Elementarschule und eine kleine Medrese,
»nirgends im ganzen Bezirk gab es so viele schriftkundige und gebildete
Leute wie in Saktar«.
Ganz anders war das Dorf seiner Mutter: In Machallai Bala »reichte
das Wasser nie«. Das Dorf bestand aus »armseligen Lehmhäusern«, und
an den wenigen Obstbäumen wuchsen nur »saure Äpfel«. Weil nicht genügend Wasser zur Verfügung stand, baute die Bevölkerung Trockenkulturen wie Weizen, Gerste, Hirse und Bohnen an. »Baumwolle wuchs so
schlecht, dass man von den grauen Sträuchern nur eine oder zwei Kapseln ernten konnte.« Niemand in Machallai Bala lebte von der Landwirtschaft allein. »Einige hüteten die Herden der Reichen, andere verdingten
sich bei ihnen, und wieder andere sammelten Brennstoff. Im Winter waren fast alle mit der Reinigung der Rohbaumwolle beschäftigt, die sie von
Kaufleuten erhielten. Mit dieser Arbeit verdienten sie sich ein paar Groschen dazu.«10
Die Bolschewiki, denen sich auch Sadriddin Ajni in den 1920er Jahren anschließen sollte, wollten bedrückende Verhältnisse wie die in Machallai Bela verändern. Für ihre revolutionäre Staatsbildung eignete sich
die künstliche Bewässerung als ideales Einfallstor in die heterogenen und
partikularen Oasengesellschaften Zentralasiens: Die Umverteilung von
Wasser- und Landrechten bot die Möglichkeit, in den Oasen die soziale
10 Ajni, Buchara, Bd. 1, S. 3–5. Zu Ajnis kulturellem Umfeld und politischen Ansichten vgl. Khalid, »Society and Politics in Bukhara«.
12
Revolution auszulösen, mit der die Bolschewiki die Welt verändern wollten. Insbesondere mussten die Bewässerungssysteme aber instand gesetzt werden, wenn man an die boomende Baumwollerzeugung der Vorkriegsjahre anknüpfen wollte, als Russland der fünftgrößte Baumwollproduzent weltweit gewesen war. Vor allen revolutionären Zielen galt es
daher, wieder Baumwolle zu produzieren, deren Erzeugung in Zentralasien aufs Engste mit einem funktionstüchtigen Bewässerungswesen
verbunden war.
1923 erkannte Stalin in Zentralasien eine »Achillesferse der Sowjetmacht«, zeigte sich gleichzeitig aber überzeugt, dass die Region in eine
»sowjetische Musterrepublik« und einen »Vorposten der Revolution im
Orient« verwandelt werden könne. »Wir müssen diese Aufgabe lösen,
egal was es kostet«, meinte er, »wir dürfen keine Mühen scheuen und vor
Opfern nicht zurückschrecken.«11 In den Oasen des zentralasiatischen
Zweistromlands zwischen den Flüssen Amudaria und Syrdaria sorgte die
Ausrichtung des Sowjetstaats auf den Baumwollanbau jedoch von Beginn an für Widerspruch. Dieser schlug den Bolschewiki nicht allein als
zäher bewaffneter Widerstand entgegen. Eine größere Herausforderung
war, dass sich der Großteil der Landbevölkerung gleichgültig und passiv
gegenüber den Ambitionen des neuen Regimes verhielt.12 Auch diejenigen Zentralasiaten, die sich auf die Seite der russischen Revolutionäre
geschlagen hatten, konnten wenig mit den Plänen der Moskauer Parteiführung anfangen, ihr Land in einen Rohstofflieferanten für die Textilfabriken in Russland zu verwandeln. Zu sehr, so schien es ihnen, war die
Baumwollproduktion mit der »kolonialen« Herrschaftsordnung des untergegangenen Zarenreichs verbunden. Stattdessen träumte die junge
zentralasiatische politische Elite, die ihre Macht den Eroberern aus Moskau und ihrer Armee zu verdanken hatte, von der »Dekolonisierung der
Kolonie«.
Moskaus Emissäre und die zentralasiatischen Kommunisten formulierten sich jeweils widersprechende Ziele und Zukunftsvorstellungen.
Sie teilten jedoch die Ansicht, die Bewässerungssysteme schnellstmög11 Tajny nacional’noj politiki, S. 261.
12 Sovremennyj kišlak, Bd. 3: Kitabskaja volost’, S. 18. Vgl. Spittler, »Passivität statt
sozialer Bewegung«.
13
lich instand zu setzen, sie mithilfe staatlicher Investitionen auszubauen
und zu modernisieren. Darüber hinaus nutzten sie die Regulierung
von Wasserrechten, die Schlichtung von Wasserstreitigkeiten zwischen
Oberliegern und Unterliegern oder den Kampf gegen Ü berschwemmungen und Dürren als eine willkommene »Gelegenheit zu Interventionen
von oben«. Diese Vorgehensweise war, wie der Historiker Joachim Radkau feststellt, keineswegs neu und einmalig, sondern alt und tausendfach
durchlebt. »Wasserbelange führten überall auf der Welt zu Regulierungsformen, die über die Hauswirtschaft hinausgingen«, und bildeten schon
in den alten Hochkulturen die »Eckpfeiler der Staatenbildung«. »Oft«,
schreibt Radkau, »kommen ökologische Notwendigkeiten mit Chancen
zu Machtausübung zusammen. Beim Wasserbau hängt in vielen Fällen
eins am anderen.«13
Damit in einer alten Oasenlandschaft ein revolutionärer Staat entstehen konnte, mussten utopische politische Intentionen in konkrete
Handlungen umgesetzt werden. Abstraktes technisches Wissen musste
in der unberechenbaren Ökologie der zentralasiatischen Flüsse bestehen. Menschen mussten ständig mobilisiert werden, weil die Wartung
und der Ausbau der Bewässerungssysteme dies erforderten. An den Kanälen und Schleusen, beim Dammbau und beim Hochwasserschutz
konnte man dem sowjetischen Staat »bei der Arbeit« zuschauen und
beobachten, wie die »lokale Präsenz des Staates« die wirtschaftlichen
Handlungsbedingungen und das soziale Gefüge in den Oasen veränderte.14 Am Beispiel des Wasserbaus ist auch zu sehen, wie sich der sowjetische Staat durch die Aufgaben, die er sich stellte, und die Lösungen,
die er fand, selbst veränderte. Wie die Ereignisse der 1930er und 1940er
Jahre zeigen, prägten Hunger, Gewalt und Krieg nicht nur das Zusammenleben in den Gesellschaften Zentralasiens, sondern bedrohten auch
immer wieder den Kern der sowjetischen Staatlichkeit.
Das Buch behandelt den Zeitraum zwischen 1920 und 1950 nicht als Erfolgsgeschichte, in der Stalins Stern immer heller erstrahlte und die Sowjetunion von einem rückständigen Agrarland zu einer Supermacht auf-
13 Radkau, Natur und Macht, S. 107.
14 Bierschenk/Olivier de Sardan, »Studying the Dynamics«.
14
stieg, sondern als eine fragmentierte und in sich widersprüchliche
Epoche. In diese Jahre fielen die koloniale Eroberung Zentralasiens
durch die Rote Armee, die Integration der neuen zentralasiatischen Eliten in den entstehenden sowjetischen Staatsapparat, die »Baumwolloffensive«, der Terror der 1930er Jahre und die Katastrophe des Zweiten
Weltkriegs. Es waren drei Jahrzehnte andauernder sozialer Konflikte und
schwerster wirtschaftlicher Verwerfungen. Man könnte an dieser Stelle
argumentieren, dass der sowjetische Staat unter Stalins Führung die vielen wissentlich herbeigeführten, aber ebenso die nicht intendierten Krisen dazu nutzte, sich gegenüber den Gesellschaften in der Sowjetunion
Machtvorteile zu verschaffen, dass also Chaos und Leid gezielt als Instrumente benutzt wurden, um eine staatliche Herrschaftsordnung aufzubauen und mit brachialen Gewaltmitteln durchzusetzen. Die »Gesellschaft« wurde, so gesehen, vom »Staat« mit allen Mitteln bekämpft und
schließlich unterworfen. Gerade wenn man die Perspektive auf die sowjetische Geschichte eng führt und sich auf die Sicherheitsorgane, die Armee und die Parteielite konzentriert, liegt es nahe, Staat und Gesellschaft
einander gegenüberzustellen und zu betonen, wie ungleich Machtvorteile und Gewaltmittel verteilt waren.15
Der Historiker Christopher Bayly hat jedoch zu Recht davor gewarnt,
den »modernen Staat als homogenes und allwissendes Wesen« zu verklären. Oft beschreiben Historikerinnen und Historiker Staatsbildungsprozesse aus Sicht der Machthaber. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache
geschuldet, dass nur die Bürokraten, Kolonialherren und Militärbefehlshaber Archive hinterlassen haben, die aufbewahrt und gepflegt werden.
Weil Geschichtsschreibung deshalb notgedrungen vor allem auf staatliche Quellenüberlieferungen zurückgreift, meint Bayly, sei es »sehr
leicht anzunehmen, dass Staaten für jeglichen und jedweden sozialen
Wandel verantwortlich« seien. Spätestens an diesem Punkt würden die
Argumente der Historiker »zirkulär«.16 In der Geschichtsschreibung zur
Sowjetunion ist diese »zirkuläre« Arbeitsweise, sicherlich auch aufgrund
der besonderen Archivlage, nach wie vor verbreitet. Vorschub leisteten
ihr unter anderem die Arbeiten des Soziologen James Scott. Er sah die
Sowjetunion der 1920er Jahre als ein »niedergewalztes und planiertes Ge-
15 Baberowski, Verbrannte Erde, S. 23–27, 215–221.
16 Bayly, Birth of the Modern World, S. 252.
15
lände, von dem Staatsgründer nur träumen können«. Die »Pioniere der
ersten sozialistischen Revolution« konnten insofern »bei null anfangen«;
weswegen »fast alles, was sie planten, monumental« gewesen sei.17 Scotts
These von den »hochmodernen autoritären Regimes« bietet eine einfache Erklärung für eine historische Konstellation, die sich nicht einfach
erklären lässt.
Für seine schematischen Vereinfachungen wurde Scott vielfach kritisiert.18 Im Wesentlichen ging es dabei um seine eindimensionale Analyse der technischen Rationalität, seine künstliche Gegenüberstellung
von »modernem Staat« und »entmündigter Zivilgesellschaft« sowie um
seinen Begriff des Staates, den er als eine homogene Superstruktur beschreibt, die Gesellschaften und Naturräume »lesbar« und damit »beherrschbar« macht. Ob denn der »angeblich moderne Herrschaftsapparat« nicht selbst von »partikularistischen Mechanismen durchzogen«
gewesen sei, fragte der Historiker Frederick Cooper und forderte, Begriffe klarer zu definieren und Differenzen genauer zu beschrieben,
statt wie Scott »das Systemische zu verdammen und das Chaotische zu
feiern«.19
Auf diese Kritik hat James Scott mit einer Studie über Südostasiens
vormoderne Sonnenmonarchien reagiert, in der er Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer Peripherien und nicht aus der Perspektive
ihrer politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zentren beschreibt.
Es geht ihm um die »Bruchzonen« und »Fluchtzonen« an den Rändern
staatlicher Herrschaftsbereiche, die »unvermeidliche Nebenprodukte
von gewaltsamen Staatswerdungsprozessen« waren, weil Menschen sich
angesichts der Steuerlasten, Arbeitspflichten und Militärdienste, die die
Zentralisierung von Herrschaft mit sich bringt, in benachbarte Gebirgsregionen, Steppengebiete und Flussdeltas zurückzogen, auf die der
Zentralstaat keinen regelmäßigen Zugriff hatte.20 Indem Scott Staatsbildungsprozesse aus der Perspektive ihrer geografisch isolierten und
schwer zugänglichen Peripherien porträtiert, kann er die Grenzen staatlicher Handlungsmacht genauer bestimmen. Im Zuge dieser Grenzvermessung fordert Scott, die »tatsächliche Macht des Staates von sei17
18
19
20
Scott, Seeing Like a State, S. 193–194.
Li, »Beyond ›the State‹ and Failed Schemes«.
Cooper, Colonialism in Question, S. 141–142.
Scott, Art of Not Being Governed, S. 24.
16
nem wirtschaftlichen und symbolischen Einfluss zu unterscheiden«. Die
»kosmologischen Geltungsansprüche und ideologische Reichweite« von
Staaten waren »viel größer als ihre praktische Kontrolle über Arbeitskräfte und Getreide«.21 Diese Überlegungen Scotts können auch das Bild
der Sowjetunion verändern, deren »moderne« Staatlichkeit an den Peripherien trotz aller ideologischen Einflussnahme brüchig und begrenzt
blieb.
In der streng hierarchisierten politischen Geografie der Sowjetunion gehörte Zentralasien zu den Peripherien im wortwörtlichen Sinn.22 Aus
Moskauer Sicht verkörperte es »Rückständigkeit« schlechthin.23 Als Stalin Anfang der 1920er Jahre die Nationalitätenpolitik der Bolschewiki
neu ausrichtete, ordnete er die Völker der Sowjetunion anhand einer
Skala von »Entwicklung« und »Kultiviertheit«, die sich am Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung maß. Demnach belegten Georgien und
Armenien die ersten Plätze, während Zentralasien ganz hinten lag. Die
Situation sei hier »äußerst ungünstig« und »äußerst beunruhigend«. Stalin bemängelte die »kulturelle Rückständigkeit«, die »miserablen Alphabetisierungsraten« und das »furchtbar langsame Entwicklungstempo«.
Es sei aber »kein Geheimnis«, wie eng »Kultur« und »Staatlichkeit« zusammenhingen. »Je alphabetisierter und kultivierter ein Land, eine Republik oder ein Gebiet ist«, behauptete er, »desto näher ist der Parteiund Regierungsapparat am Volk, an seiner Sprache und an seinem Alltag.« Stalin fasste diese Ansicht zu einer einfachen Regel zusammen: »Du
möchtest dein Land im Sinne einer Verbesserung seiner Staatlichkeit
fortschrittlich machen? Dann steigere die Alphabetisierungsrate der Bevölkerung und hebe die Kultur deines Landes.«24
Mit den einfachen Mitteln, die Stalin empfahl, konnte man in Zentralasien keinen revolutionären Staat errichten. Es gab dort weder Nationen noch Klassen, weder standardisierte Schriftsprachen noch eine allgemein verbindliche Lebensweise. Selbst das Band des Islam wirkte
21
22
23
24
Ebenda, S. 35.
Abashin, »Soviet Central Asia on the Periphery«, S. 361–363.
Northrop, »Nationalizing Backwardness«.
Tajny nacional’noj politiki, S. 260. So argumentierte Stalin schon 1919, vgl. Stalin,
Werke Bd. 4, S. 209–211.
17
weniger vereinheitlichend, als man annehmen könnte, weil trotz sunnitischer Dominanz unterschiedliche Auslegungen, Riten und Glaubenspraktiken oft unverbunden nebeneinander existierten. Was das Zusammenleben der Bevölkerungen Zentralasiens verband, war das Ineinander
sesshafter und nomadischer Lebensweisen und damit die Symbiose zwischen iranischen und türkischen Lebenswelten, die sich wirtschaftlich
ergänzten und ökonomisch aufeinander angewiesen waren.25 Basare
und Markttage bildeten die wichtigsten Knotenpunkte, an denen Austausch stattfand und Konflikte ausgetragen werden konnten. Die sozialen Kategorien des »modernen« Staates wie »Klassen« und ethnische
»Nationen«, mussten in einer Region kultureller Vielheit und ökonomischer Spezialisierung erst hergestellt werden, um gesellschaftliche Geltung zu erlangen.26
Deshalb wirkten die »kosmologischen Geltungsansprüche« des
Staates in Zentralasien andersartig als in vergleichbaren Gebieten der
sowjetischen multiethnischen Peripherie, was unmittelbare Folgen für
den Handlungsradius des Staates und die Stabilisierung seiner Herrschaft hatte. Dabei spielten nicht nur die »Verschlossenheit« der Oasengesellschaften und die schmalspurige Infrastruktur eine ausschlaggebende Rolle.27 Es gab auch keine engen persönlichen Verflechtungen
zum Zentrum des Parteistaats in Moskau. Ein kurzer Vergleich zu einer
anderen sowjetischen »Peripherie«, dem Kaukasus, kann diesen entscheidenden Unterschied illustrieren: Nach den langjährigen Eroberungskriegen im 19. Jahrhundert nahm der Kaukasus einen herausgehobenen Platz in der Selbstimagination der russischsprachigen Eliten des
Zarenreichs ein.28 Nicht nur Stalin, sondern zahlreiche andere sowjetische Führer, die in den 1920er und 1930er Jahren die Macht im Kreml
eroberten, stammten aus dem Kaukasus und waren dort politisch sozialisiert worden. Aus ihren Heimatländern brachten sie eine politische
Kultur mit, die den sowjetischen Staat tief prägte.29 Mit dem Aufstieg
Stalins verwandelte sich der Kaukasus in ein »Experimentierfeld« für
25
26
27
28
Subtelny, »The Symbiosis of Turk and Tajik«.
Martin, Affirmative Action Empire, S. 125–129.
Safarov, Kolonial’naja revoljucija, S. 16.
Jersild, Orientalism and Empire, S. 110–125; Khodarkovsky, Bitter Choices,
S. 66–91.
29 Rieber, »Stalin, Man of the Borderlands«.
18
den »Gewaltstil«, mit dem die Bolschewiki dann »den Rest der Sowjetunion heimsuchten«.30
Obwohl es in Zentralasien weder an Experimenten noch an Gewalt
mangelte, lagen die Dinge in vielerlei Hinsicht anders als im Kaukasus.
Zentralasien blieb peripher und schwach integriert. Die Eroberung der
Region in den 1860er und 1870er Jahren hatte die russische Öffentlichkeit
kaum wahrgenommen. Bevor der Baumwollanbau um die Wende zum
20. Jahrhundert zu einem einträglichen Geschäft wurde, erfüllte die
Region im Zarenreich allenfalls die Funktion einer militärischen Pufferzone zwischen den russischen und englischen Einflusssphären.31 Als
während des Ersten Weltkriegs die russische Südfront unter der Last des
türkisch-armenischen genozidalen Konflikts fast zusammenbrach, reagierte die hauptstädtische Öffentlichkeit Russlands besorgt; den gleichzeitig stattfindenden Nomadenaufstand in Zentralasien, der exorbitante
Opferzahlen mit sich brachte, konnte die russische Regierung dagegen
erfolgreich geheim halten.32 Zu Beginn der 1920er Jahre kamen mit Buchara und Chiwa Gebiete in den sowjetischen Staatsverband, die nie unter direkter Herrschaft des russischen Zarenstaats gestanden hatten. Ihre
territoriale und politische Integration forderte einen erheblichen Preis.
In Zentralasien bildete die künstliche Bewässerung eine entscheidende
Relaisstation für die Bolschewiki, an der ihre staatliche Herrschaftsbildung ansetzen konnte, um den Baumwollanbau wiederzubeleben und
im großen Stil auszuweiten. Viele Historikerinnen und Historiker folgern aus diesem Umstand, die sowjetische Staatsführung unter Lenin
und Stalin habe in Zentralasien eine Politik der Emanzipation und Entwicklung verfolgt. Diese Entwicklungspolitik sei Teil einer genuin »sowjetischen Moderne« gewesen. Die sowjetische Elite habe Technologie
und Ideologie kombiniert, um das heterogene Imperium in einen homogenen, hierarchischen und bürokratischen Staat zu verwandeln, der
immer besser dazu in der Lage war, seine Bevölkerungen zu mobilisieren, zu disziplinieren und zu kontrollieren. So habe sich das durch Revolution und Bürgerkrieg verwüstete Land allmählich in eine moderne
30 Baberowski, Der Feind, S. 537, 773.
31 MacKenzie, »Turkestan’s Significance«.
32 Central’naja Azija v sostave, S. 291–292.
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Diktatur verwandelt, in der Bürokratie, Technologie und Ideologie eine
machtvolle Allianz eingingen.33
Solcherlei Erfolgsgeschichten sind eingängig und leicht nachvollziehbar, weil sie die weitläufige Grundannahme bestätigen, dass menschliches Handeln auf Fortschritt und Entwicklung abzielt. Doch muss
diese teleologische Herangehensweise von vornherein viele widersprüchliche Entwicklungen der vergangenen Wirklichkeit ausblenden,
weil sie nicht in den engen Rahmen der Modernisierungsgeschichte passen. Hier soll der Versuch unternommen werden, die Geschichte von
Stalins Herrschaft in den Rahmen alternativer Analysekategorien zu
stellen.
Am Beispiel der künstlichen Bewässerung und des Baumwollanbaus
in Zentralasien soll gezeigt werden, wie Unordnung zum wichtigsten Instrument der Herrschaftssicherung im sowjetischen Staat wurde und wie
die Macht der Unordnung die staatliche Herrschaftsausübung gleichzeitig fortwährend unterminierte und destabilisierte.34 Um diesen paradoxen Zusammenhang zu verstehen, muss gefragt werden, wie staatliche
Herrschaft funktioniert, wenn sie an der »Stabilität der Lebensverhältnisse keinen Gefallen« findet und sich »in der unablässigen Terrorisierung der Bevölkerung, in der Zerstörung von Ordnung« gefällt.35
Unordnung ist ein Ermöglichungsraum für Gewalt, und Gewalt ist
eine Quelle von Unordnung.36 Versteht man unter Unordnung aber auch
die Abwesenheit von geregelten Verfahren, von Verlässlichkeit und Sicherheit, dann umfasst sie neben Gewalt und Terror auch andere Instrumente
der staatlichen Herrschaftssicherung. Dazu zählten in der Sowjetunion
Stalins die Willkürpraktiken des Parteistaats und seiner untergeordneten
Verwaltungsapparate ebenso wie die permanenten Krisen der »Planwirtschaft«, die Zerstörung von Landschaften durch Großbauprojekte und
die stetige Unberechenbarkeit der ideologischen »Generallinie«. Willkür
33 Stellvertretend für viele: Shearer, »Stalinism«; Kotkin, »Modern Times«; Plaggenborg, Experiment Moderne; Obertreis, »Infrastrukturen«; Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 14–16.
34 Die Formulierung »Unordnung als politisches Instrument« stammt von Chabal/
Daloz, Africa Works, S. 155–162, die den Begriff in anderem Zusammenhang benutzen und mit anderer Bedeutung füllen.
35 Baberowski, Der Feind, S. 15.
36 Reemtsma, »Brachiale soziale Gestaltung«, S. 83–85.
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und Gewalt strukturierten die Herrschaftsausübung und untergruben
sie gleichzeitig. Darum war die Macht der Unordnung, statt sich auf
staatliche Institutionen und bürokratische Verfahren verlassen zu können, immer wieder darauf zurückgeworfen, was Macht nach Niklas Luhmann in ihrem Kern ausmacht: nämlich eine »Einflussform« zu sein, die
sich auf »negative Sanktionen stützt« und die »über Drohung kommuniziert oder schlicht antizipiert« wird, bis es »einer expliziten Drohung
gar nicht mehr bedarf«. Der »Staat« ist in dieser Machtkonstellation
nicht mehr und nicht weniger als ein Instrument der Selbstbeschreibung, um Herrschaftsausübung zu legitimieren.37
Es geht auf den folgenden Seiten darum, die Gewalt der Staatswerdung und ihre Dynamik nicht nur »in der Perspektive einer Ordnung
zu betrachten«, wie es in den historischen Sozialwissenschaften häufig
getan wird, sondern darum, Gewalt mit der Grundannahme zu beschreiben, dass sie »keine Ordnung kennt«.38 In der brüchigen nachrevolutionären Ordnung, die infolge des sowjetischen Kolonialkriegs in Zentralasien entstanden war, setzten der wirtschaftliche Zusammenbruch und
die ubiquitäre Gewalt den Intentionen der bolschewistischen Machthaber enge Grenzen. In dieser flüchtigen und ungewissen Situation
wurde Unordnungstiften zu ihrer dominierenden Handlungsweise. Unordnung diente als Mittel, um aus dem Chaos heraus politische Macht zu
manifestieren. Unordnungschaffen hatte zum Ziel, traditionelle soziale
und politische Strukturen zu vernichten, um die sowjetische Herrschaft
als einzigen Sanktionsmechanismus durchzusetzen. Die Macht der Unordnung konnte sich dabei aber ebenso gegen die eigenen Adepten und
Vollstrecker richten. Paradoxerweise kannte die sowjetische Herrschaftsausübung in Zentralasien nach außen und nach innen keine Routine, die
feste Verfahrensweisen, anerkannte Normen und Regeln schuf: Die sowjetische Herrschaftsroutine kennzeichnete die Machtausübung durch
Unordnung. Es ist dieses Paradox, dem dieses Buch am Beispiel von Stalins Herrschaft in Zentralasien nachgeht.
37 Luhmann, Politik der Gesellschaft, S. 45–46.
38 Riekenberg, »Einführende Ansichten«, S. 10, 12.
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Z u m A uto r
Christian Teichmann, Dr. phil., ist Osteuropahistoriker und wissenschatlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaten der
Humboldt-Universität Berlin. Er hat Germanistik und Geschichte an
den Universitäten Leipzig und Warschau studiert, war 2002/2003 Lektor
an der Staatlichen Universität Samara, Russland und hält sich seitdem
regelmäßig zu Forschungsaufenthalten in Russland, Zentralasien und
den Vereinigten Staaten auf.