Dmytro Myeshkov
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten
1917‒1920
Die auf die Abdankung Nikolajs II. folgenden Ereignisse unterschieden sich in den
Randgebieten des früheren Russischen Reiches nicht selten radikal von den in den
Hauptstädten und in den zentralen Gouvernements des Landes ablaufenden Prozessen. Der Unterschied bestand vor allem darin, dass die revolutionären Ereignisse in
den überwiegend nichtrussischen Randgebieten in enger Wechselbeziehung zu den
Prozessen des nationalen und staatlichen Aufbaus standen. In der modernen Geschichtswissenschaft wird die Geschichte der ukrainischen Lande zwischen 1917 und
1920 im Kontext der komplizierten Verlechtung zuweilen höchst widersprüchlicher
Prozesse der sozialen und der nationalen Revolution betrachtet. Auch wenn die Anfang der 1920er Jahre unternommenen Versuche zur Gründung eines unabhängigen
ukrainischen Staates letztlich scheiterten, ist das stürmische nationale Erwachen der
ukrainischen Mehrheit in diesen von einer einzigartigen ethnischen und konfessionellen Vielfalt geprägten Regionen von herausragendem Forschungsinteresse.
Nach dem Fall der russischen Autokratie begann sich in Kyïv parallel zur Provisorischen Regierung in Petrograd die Macht der Ukrainischen Zentralrada zu etablieren.
Die im März 1917 auf Initiative vor allem von Vertretern diverser sozialistisch ausgerichteter ukrainischer Parteien gegründete Ukrainische Zentralrada bestand bis April
1918 und durchlief in diesem ereignisreichen Jahr den Weg von einem ursprünglich
vor allem kulturell-aufklärerischen Zielen dienenden Koordinationszentrum zivilgesellschaftlicher nationaler Organisationen und linker ukrainischer Parteien zum
zentralen Organ der Staatsmacht und Vorparlament, das im Entstehungsprozess des
ukrainischen Staats eine entscheidende Rolle spielte. Die wichtigsten Etappen dieser
Entwicklung schlugen sich in den Dokumenten der Ukrainischen Zentralrada und
insbesondere in deren programmatischen Dokumenten, den sogenannten Universalen nieder: Während das erste Universal der Ukrainischen Zentralrada im Juni 1917
noch die Forderung nach national-territorialer Autonomie der Ukraine im Rahmen
eines föderalen Russland stellte, verkündete das vierte und letzte Universal im Januar
1918 bereits die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik.1
Die Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litovsk durch eine Delegation der Ukrainischen Volksrepublik in der Nacht vom 26. auf den 27. Januar (9. Februar) 1918 bedeutete die faktische Anerkennung des neuen Staates von Seiten der
Mittelmächte und leitete eine neue Etappe der Geschichte des ukrainischen Staates
1 Peršyj Universal Ukraїns’koї Central’noї Rady [Das erste Universal der Ukrainischen Zentralrada],
10.6.1917. CDAVO [Zentralarchiv der obersten Staatsorgane der Ukraine], f. 1115, op. 1, spr. 4, ark.
5-8; Četvertyj Universal Ukraїns’koї Central’noї Rady [Das vierte Universal der Ukrainischen Zentralrada], 9.1.1918. Ebd., f. 3866, op. 1, spr. 228, ark. 2.
Jahrbuch des BKGE 25 (2017), S. xx –xx
2
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ein. Zur gleichen Zeit begann der Vormarsch der Truppen des bolschewistischen
Russlands in Richtung Kyïv, der mit der Einnahme der Stadt endete. Erst im März
1918 konnte die Regierung der Ukrainischen Volksrepublik dank der Ofensive der
deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen nach Kyïv zurückkehren. Die
Stationierung der insgesamt 450.000 Mann starken deutschen und österreichischungarischen Truppen auf dem Gebiet der Ukrainischen Volksrepublik wurde in den
Monaten März-November 1918 zum entscheidenden Faktor der innen- und außenpolitischen Entwicklung. Auch wenn dies auf Bitten der ukrainischen Regierung erfolgte, stellte die bis Ende 1918 währende Anwesenheit der deutschen und
österreichischen Truppen angesichts der Schwäche der Kyïver Regierung de facto eine Besatzung dar.2 Motiviert war das Hilfsgesuch der ukrainischen Regierung durch
die Sorge, die staatliche Souveränität angesichts der vorrückenden prosowjetischen
Kräfte nicht bewahren zu können (Erster Sowjetisch-Ukrainischer Krieg). Die Deutschen wiederum verfolgten vor allem das Ziel, die Ausfuhr von Lebensmitteln und
einiger anderer Waren sicherzustellen. Wolhynien, Podolien sowie die Gouvernements Cherson und Katerynoslav waren von österreichischen, die übrigen Regionen
einschließlich Kyïvs von deutschen Truppen besetzt, deren Kommando auch das
Transportwesen auf dem gesamten Territorium des Landes kontrollierte.
Die Unterstützung der deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen half
zwar, die sowjetrussischen Truppen aus dem Gebiet der ukrainischen Gouvernements zu verdrängen, konnte aber den Autoritätsverlust der Ukrainischen Zentralrada sowohl in den Augen der ukrainischen Bevölkerung als auch des deutschen
Kommandos nicht mehr abwenden. So waren die Tage der Zentralrada im Frühjahr 1918 gezählt. Unter aktiver Mitwirkung des deutschen Kommandos gelangte
im April 1918 der den Deutschen nahestehenden Pavlo Skoropads’kyj durch einen
Staatsstreich an die Macht und leitete die nächste Etappe der Existenz des ukrainischen Staates ein, der nun oiziell als „Ukrainischer Staat“ (ukr.: Ukraїns’ka deržava)
bzw. Hetmanat bezeichnet wurde. Der Hetman entfernte einen Großteil der Vertreter der linken Parteien von der Macht und verfolgte eine vor allem an den Interessen
der Großindustriellen und Großgrundbesitzern orientierte Politik. Mitte November
1918 machte er per Erlass die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik rückgängig und verkündete die Rückkehr der Ukraine in den Bestand eines föderalen
Russland. Nach der Niederlage Deutschlands im Krieg konnte sich der Hetman ohne die Unterstützung seiner deutschen Verbündeten nicht an der Macht halten und
wurde durch einen von den linken Oppositionsparteien organisierten Aufstand ge-
2 Die Tatsache, dass es eine offizielle Bitte der ukrainischen Regierung gab, dient auch als Erklärung
dafür, dass in der ukrainischen Geschichtswissenschaft gewöhnlich nicht von einer Besatzung, sondern von der „Kontrolle“ der österreichisch-deutschen Truppen über das Territorium der Ukraine
die Rede ist. Oleksij Ihorevyč Lupandin: Avstro-nimec’kych vijs’k kontrol’ nad terytorieju Ukraïny
1918 [Die österreichisch-deutsche militärische Kontrolle über dem Territorium der Ukraine 1918].
In: Encyklopedija istoriï Ukraïny. Red. Valerij Andrijovyč Smolij [u.a.]. T. 1. Kyïv 2003, S. 19f.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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stürzt. Es folgte die Wiedererrichtung der Ukrainischen Volksrepublik, deren
höchstes Exekutivorgan nun das Direktorium war.
Auch wenn das Direktorium formal länger existierte als seine beiden ukrainischen Vorgängerregierungen, verfügte es in der Realität doch über deutlich weniger
Macht: Bereits im Frühjahr 1919 stand ein erheblicher Teil des ukrainischen Territoriums unter der Kontrolle entweder der Bolschewiki oder der Truppen Denikins,
während es im Westen lange Zeit Kriegshandlungen gegen polnische Truppeneinheiten gab. Die Bedingungen, unter denen die letzte Regierung der Ukrainischen
Volksrepublik arbeiten musste, charakterisierte Orest Subtel‘nyj folgendermaßen:
„In 1919 total chaos engulfed Ukraine. Indeed, in the modern history of Europe no
country experienced such complete anarchy, bitter civil strife, and total collapse of
authority as did Ukraine at this time. Six diferent armies – those of the Ukrainians,
the Bolsheviks, the Whites, the Entente, the Poles, and the anarchists – operated on
its territory. Kyïv changed hands ive times in less than a year… Ukraine was a land
easy to conquer but almost impossible to rule […]“.3 Vor diesem Hintergrund ist bei
der Betrachtung der in den Jahren 1917‒1920 von der Regierung der Ukrainischen
Volksrepublik gegenüber den einzelnen ethnischen Gruppen verfolgten Innenpolitik immer mitzudenken, über welche Legitimität die jeweilige Regierung verfügte
und auf welches Territorium sich ihre Kompetenz überhaupt erstreckte.
Die Frage der Legitimität ist vor allem für das Verständnis der Rolle der Ukrainischen Zentralrada in den ersten Monaten der Revolution von großer Bedeutung,
zumal die unterschiedlichen Beteiligten der damaligen Ereignisse und die breite Öffentlichkeit diese höchst unterschiedlich interpretierten. In den ersten Monaten ihres Bestehens setzte die im März 1917 als städtische zivilgesellschaftliche Organisation gegründete Ukrainische Zentralrada vor allem auf die kulturell-aufklärerische
Arbeit im Geiste einer national orientierten ukrainischen sozialistischen Bewegung.
Eine wichtige Etappe für ihren Bedeutungszuwachs im politischen Leben der ukrainischen Lande markierte der vom 6.-8. April 1917 in Kyïv abgehaltene Allukrainische Nationalkongress, an dem mehr als tausend Repräsentanten unterschiedlicher gesellschaftlicher, kulturell-aufklärerischer, militärischer, gewerkschaftlicher
und sonstiger Vereinigungen teilnahmen.
Es wird allgemein davon ausgegangen, dass sich die Ukrainische Zentralrada just
auf diesem Kongress in eine vor allem politisch orientierte gesamtukrainische Organisation verwandelte. Auf den zwei auf den Nationalkongress folgenden Kongressen
der Soldaten bzw. der Bauern manifestierte sich die zunehmende Unterstützung für
sie, in die nach dem Territorialprinzip Vertreter entsandt wurden. Kurz nach Herausgabe des ersten Universals gründete die Zentralrada am 15. Juni in Form des
Generalsekretariats ein eigenes Exekutivorgan, das nach einigem Zögern schließlich
auch von der Provisorischen Regierung in Petrograd anerkannt wurde. Der Zentralrada selbst allerdings, die im Mai 1917 eine Delegation in die russische Hauptstadt
entsandte, um die Anerkennung der territorialen Autonomie der Ukraine zu for3 Orest Subtelny: Ukraine. A History. 3rd ed. Toronto [u.a.] 2000, S. 359f.
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dern, verweigerte die Provisorische Regierung die Anerkennung, da sich nicht aus
allgemeinen Wahlen hervorgegangen war.4
Auf diese Weise war die Handlungsfähigkeit des Generalsekretariats als
wichtigsten Organs der ukrainischen Exekutivmacht stark eingeschränkt, da es zwar
organisatorisch und ideologisch eng mit der Ukrainischen Zentralrada verbunden
war, die auch seine personelle Zusammensetzung bestimmte, de jure aber der Provisorischen Regierung in Petrograd unterstellt war. Zusätzlich behindert wurde die
Arbeit des Generalsekretariats auch durch den Umstand, dass sich seine faktische
Kompetenz auf ein Territorium erstreckte, das deutlich kleiner war als jenes, das die
Zentralrada als ukrainisch ansah. So erwies sich das Generalsekretariat in vielen Fällen schlicht als nicht handlungsfähig.
Der bereits erwähnte, Anfang April 1917 abgehaltene Allukrainische Nationalkongress widmete der territorialen Frage große Aufmerksamkeit. Dem Aufbau staatlicher Strukturen musste zunächst einmal die Festlegung der Staatsgrenzen vorausgehen, da die Ukraine wie auch Polen und Georgien in der Zarenzeit nicht als
eigene territoriale Einheit innerhalb des Reiches existiert hatte. In den Augen der
breiten Öfentlichkeit wurde die Ukraine als ethnisch deiniertes Territorium wahrgenommen, das sich nicht durch klar gezogene Grenzen eingrenzen ließ. Die ukrainischen politischen Kreise favorisierten zur Zeit des April-Kongresses das ethnograische Prinzip: Als ukrainisches Territorium wurden gemeinhin jene Regionen des
Russischen und des Österreich-Ungarischen Reiches angesehen, in denen Ukrainer
die Bevölkerungsmehrheit stellten. Außer den neun russischen Gouvernements Wolhynien, Katerynoslav, Kyïv, Podolien, Charkiv, Cherson, Taurien (ohne Krim) und
Černihiv waren das einige Kreise der Gouvernements Chelm, Bessarabien, Voronež
und Stavropol’ sowie Kuban’s und des Gebiets der Donkosaken.
Mit Verweis auf die unzureichende Legitimität der Ukrainischen Zentralrada zögerte die Provisorische Regierung soweit es nur ging die Entscheidung der territorialen Frage hinaus. Unter dem Druck des konservativen Teils der Minister (die
Vertreter der Kadetten-Partei wollten grundsätzlich nicht über eine ukrainische Autonomie verhandeln) begrenzte die Provisorische Regierung schließlich die Vollmachten des Generalsekretariats auf lediglich fünf der von der Ukrainischen Zentralrada für ethnisch ukrainisch erklärten Gouvernements – nämlich Kyïv, Wolhynien,
Podolien, Poltava und Černihiv. Im August 1917 sah sich die Zentralrada gezwungen, sich mit diesem Vorschlag einverstanden zu erklären, um wenigstens auf einem
solch begrenzten Territorium die Blockade des Staatsaufbaus zu überwinden.5 Nur
durch den Oktoberumsturz von 1917 in Petrograd und den darauf folgende Machtkampf in Kyïv bot sich der Ukrainischen Zentralrada doch noch die Möglichkeit,
die Ukrainische Volksrepublik eigenmächtig in allen neun früher russischen Gouvernements auszurufen, in denen Ukrainer die Bevölkerungsmehrheit stellten. Dies
4 Olena Bojko: Formuvannja terytoriï Ukraïns’koï nezaležnoï deržavy v časy Ukraïns’koï revoljucii
(1917–1921 rr.) [Die Formierung des Territoriums eines unabhängigen Ukrainischen Staates während der Ukrainischen Revolution (1917-1921)]. Kyïv 2007, S. 9.
5 Ebd., S. 12f.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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erfolgte durch das dritte Universal am 7. November 1917. Ausgehend vom Prinzip
der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung betrachteten die in der Zentralrada
dominierenden Sozialisten die Krim lange Zeit nicht als Teil des ukrainischen Territoriums. Nur zur Zeit der Regierung Skoropads’kyjs erhob der Ukrainische Staat mit
Einverständnis des deutschen Kommandos Ansprüche auf die Krim.6
Nach Angaben von 1914 stellten in den von den ukrainischen Machthaber als
ukrainisch angesehenen Territorien des Russischen und des Österreich-Ungarischen
Reiches Ukrainer knapp über 70%, Russen fast 12%, Juden über 8%, Polen 4,5%
und Deutschen fast 2% der Bevölkerung.7 In vielerlei Hinsicht handelte es sich dabei allerdings um abstrakte Daten, da z.B. weite Teile der kompakten deutschen
Siedlungsgebiete im nördlichen Schwarzmeergebiet (Gouvernements Katerynoslav,
Taurien und Cherson einschließlich Odessas) nur für eine kurze Zeit im Jahr 1918
der Zuständigkeit der ukrainischen Behörden unterstanden. Die Wolhyniendeutschen wiederum waren zu dieser Zeit mehrheitlich noch nicht aus ihren Verbannungsorten in den inneren russischen Gouvernements zurückgekehrt.
Nachdem die Zentralrada den Oktoberumsturz und die neue Regierung in Petrograd nicht anerkannt hatte, rief der Erste Allukrainische Kongress der Arbeiter- und
Soldatenräte im Dezember 1917 in Charkiv die Sowjetische Ukrainische Volksrepublik aus, die Teil eines föderalen Sowjetrussland sein sollte. Der Sowjetkongress
war bestrebt, seine Macht auf das Gebiet aller ukrainischen Gouvernements auszudehnen und erklärte alle von der Ukrainischen Zentralrada erlassenen Gesetze für
ungültig. Außerdem riefen die Bolschewiki am Vorabend des Einmarsches der deutschen Truppen Anfang 1918 die Sozialistischen Sowjetrepubliken Donec’k-Krivyj
Rih und Taurien aus (nach dem zwischen Sowjetrussland und dem Vierbund geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litovsk unterlag die Krim als Teil Russlands
nicht der deutschen Besatzung), die allerdings angesichts der deutsch-österreichischen Besatzung nur kurze Zeit existierten.
Mit dem Ende der vergleichsweise stabilen Regierungszeit des Hetmans
Skoropads’kyj brachen an vielen Ecken der Ukraine Kriegshandlungen aus. Zunächst aber verkündete das Direktorium am 22. Januar 1919 die Vereinigung der
Ukrainischen Volksrepublik und der Westukrainischen Volksrepublik zu einem einigen unabhängigen Staat. Die Westukrainische Volksrepublik war im November
1918 nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns in Ostgalizien, in der Bukovina und in Transkarpatien entstanden und erstreckte sich über ein Territorium
mit sechs Millionen mehrheitlich ukrainischen Einwohnern. Eine breite Bevölkerungsmehrheit dieser neuen Republik strebte die Vereinigung mit der „großen Ukraine“ an. Zum Zeitpunkt der Ausrufung der Vereinigung war die Ukrainische Galizische Armee bereits gezwungen, die von der rumänischen Armee eingenommene
6 Vjačeslav Zarubin: Proekt „Ukraina“. Krym v gody smuty (1917-1921 gg.) [Projekt „Ukraine“. Die
Krim in den Jahren der Wirren]. Char’kov 2013, S. 144-179.
7 Mykola Vasyljovyč Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady doby nacional’no-vyzvol’nych zmahan’ 1917–1921 rokiv: komparatyvnyj analiz [Die ukrainische Ethnopolitik in der Zeit des nationalen
Befreiungskampfes: Eine vergleichende Analyse]. Ternopil’ 2013, S. 182.
6
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Bukovina, L’viv und die von den vorrückenden Polen besetzten Teile Ostgaliziens
zu räumen. 1919 emigrierte der Diktator der Westukrainischen Volksrepublik E.
Petruševyč aus dem unter der Kontrolle der Ukrainischen Volksrepublik stehenden
Territorium nach Wien, und nach der endgültigen Übergabe Ostgaliziens an Polen
verkündete die Regierung der Westukrainischen Volksrepublik 1923 schließlich ihre Selbstaulösung.
Neben den probolschewistischen Kräften waren auch die für die Wiedererrichtung eines einigen Russland eintretenden Vertreter der Weißen Bewegung Gegner
der Unabhängigkeit der Ukraine. Zwar bestand zur Zeit des Hetmanats in der Ukraine, wo es einige Zehntausend ehemalige Kriegsdienstleistende der Zarenarmee gab,
eine inoizielle Vertretung der Freiwilligenarmee, doch auf eine ofene Zusammenarbeit mit dem „Ukrainischen Staat“ im Kampf gegen die Bolschewiki wollte sich
General Denikin nicht einlassen, um nicht auf diesem Weg zumindest indirekt die
Unabhängigkeit des neuen Staates anzuerkennen. Im Zuge des Vormarsches der Freiwilligenarmee in Richtung Moskau stand 1919 ein großer Teil des Territoriums der
ukrainischen Gouvernements unter deren Kontrolle. Am 24. Juni wurde Char’kiv,
am 31. August Kyïv eingenommen. Anfang September kontrollierte Denikin die
gesamte Ostukraine, während mit Podolien und Wolhynien nur ein vergleichsweise kleines Territorium auf dem rechten Ufer unter der Kontrolle der Ukrainischen
Volksrepublik verblieb. Bevor die Bolschewiki der Freiwilligenarmee eine Niederlage
beibrachten, attackierte Denikin auch Einheiten der Armee der Ukrainischen Volksrepublik. Angesichts des von den Bolschewiki ausgehenden Drucks sahen sich die
Denikincy und die Galizische Armee gezwungen, eine Kooperationsvereinbarung zu
schließen, während zugleich die Armee der Ukrainischen Volksrepublik mit der polnischen Armee kooperierte. Ende 1919 – Anfang 1920 zog sich die Denikin-Armee
in den Süden zurück, am 16. Dezember 1919 wurde Kyïv von den Bolschewiki eingenommen. 1920 kontrollierten die Weißgardisten unter dem Kommando Vrangel’s
die Halbinsel Krim und die an diese angrenzenden Festlandskreise, wurden aber im
Zuge der Gegenofensive gezwungen, sich ganz auf die Krim zurückzuziehen und
Ende 1920 schließlich in die Türkei auszuschifen.
Ein nicht weniger wichtiger Faktor war die Aufstandsbewegung, die ihre schier
unerschöplichen menschlichen Ressourcen aus den unter dem Eindruck der revolutionären Propaganda von der Front desertierenden Soldatenmassen und der 85% der
ukrainischen Bevölkerung stellenden Bauernschaft schöpfte, für die die Landfrage
im gesamten Verlauf der ukrainischen Revolution von 1917‒1921 hochaktuell blieb.
Bei ihren Versuchen, in den Jahren 1917‒1921 einen ukrainischen Staat zu errichten, waren sich die politischen Akteure der Tatsache bewusst, dass die ukrainische
Nationalbewegung angesichts der polyethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung insbesondere in den Städten und unter der Intelligenz nur über eine begrenzte
soziale Basis verfügte. Deshalb sahen alle Regierungen ihre vorrangige Aufgabe darin,
den Rechten und Anliegen der nationalen Minderheiten Rechnung zu tragen und in
diesem Bereich eine aktive Politik zu betreiben.
Keine der politischen Partei konnte sich leisten, die nationale Frage zu übergehen.
Die Aufmerksamkeit für die „ukrainische Frage“ hatte bereits seit Mitte des 19. Jahr-
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hunderts die Kyïver Intelligenz und die Mitglieder der Aufklärungsbewegungen in
der rechtsufrigen Ukraine beschäftigt, die unter dem Eindruck des Kampfes der Slawen im Osmanischen Reich für eine breite Föderation gleichberechtigter slawischer
Völker einschließlich des ukrainischen eintraten.
Ungeachtet aller sonstigen Unterschiede enthielten die Programme fast aller Parteien die Forderung nach Einführung einer national-territorialen Autonomie. Viele
Parteien wurden zudem als nationale Parteien gegründet, die sich die Idee des Schutzes ihrer eigenen ethnischen Gruppe auf die Fahnen schrieben. Sowohl die ukrainische Autonomie innerhalb einer russischen Föderation als auch später die selbständige Ukraine sollten sich nicht allein auf die ukrainische ethnische Mehrheit, sondern
auch auf loyale, an einem Erblühen neuen Staates interessierte Minderheiten stützen. Die in diesem Bereich ergrifenen Maßnahmen waren für die Zeit sehr progressiv (einige ukrainische Autoren vertreten die hese, die Ukraine habe als erstes Land
in der Welt eine kulturell-territoriale Autonomie eingeführt), aber in vielerlei Hinsicht eine Wette auf die Zukunft, die von dem Wunsch diktiert war, sich der Unterstützung einlussreicher Minderheiten zu versichern, zu denen in erster Linie die
Russen und Polen gehörten, die sich nach Osten bzw. Westen orientierten.
Die erste Phase der Revolution auf den ukrainischen Territorien stand unter dem
starken Einluss der links orientierten Parteien und Vereinigungen und der national bewussten Elemente. In der Zentralrada spielten die Ukrainische Partei der Sozialisten-Föderalisten, die Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei und die
Ukrainische Partei der Sozialrevolutionäre eine herausragende Rolle. Die russischen
Minister aus den Reihen der Kadetten-Partei sprachen sich strikt gegen eine Anerkennung des Generalsekretariats durch die Provisorische Regierung aus und schlossen es kategorisch aus, Fragen der Autonomie der Ukraine vor Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung zu erörtern. Aus Protest gegen die Deklaration der
Provisorischen Regierung verließen die Kadetten-Minister die Regierung und provozierten so eine Regierungskrise.8
Die Programme der Parteien in den westukrainischen Landen, wo erste Anzeichen eines politischen Erwachens bereits nach der Revolution von 1848 spürbar
waren, entwickelte sich in den Bahnen der österreichischen Politik und war darauf
ausgerichtet, die Rechte der Ukrainer durch deren höhere Repräsentanz in Organen
wie dem Galizischen Sejm, dem Landtag der Bukovina sowie im Wiener Parlament
zu schützen. Außerdem traten Vertreter der National-Demokratischen Partei dafür
ein, die zwischennationalen Beziehungen gesetzlich zu regeln.
Mychajlo Hruševs’kyj und sein Umfeld erkannten sehr früh, wie wichtig es war,
die aufstrebenden nationalen Bewegungen für sich zu gewinnen und erklärten bereits im Frühjahr 1917 an diese gewandt, dass die Ukrainer eine freie, auf der Gleichberechtigung aller ethnischen Gruppen basierende Ukraine anstrebten. Mit Bezug
auf diese von den politischen Parteien und zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen (der Frauen, der Soldaten usw.) getragene weitgehende Einigkeit in der Frage
8 Bojko: Formuvannja terytoriï Ukraïns’koï (Anm. 4), S. 11.
8
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der Minderheitenrechte sprach Hruševs’kyj von einer „nationalen Verbrüderung in
den revolutionären Flitterwochen“.9 Eine der Bedingungen der Provisorischen Regierung für die Anerkennung des Generalsekretariats (die von einer von Kerenskij
geführten Delegation Ende Juni in Kyïv ausgehandelt und Anfang Juli umgesetzt
wurde), bestand darin, innerhalb der Ukrainischen Zentralrada Vertretungen der nationalen Minderheiten einzurichten.
In der revolutionären Phase standen die Minderheitenrechte im Mittelpunkt der
Aufmerksamkeit und fanden nicht nur in deklarativen Dokumenten Niederschlag
(Beschlüsse des Nationalen Kongresses, Artikel und Aufrufe von Politikern in der
Presse), sondern wurden auch nach und nach gesetzlich geregelt. Einer der zentralen
den Minderheitenschutz betrefenden Gesetzgebungsakte war das Gesetz der Ukrainischen Volksrepublik „Über die personale Nationalautonomie“ – ein Gesetz mit
Verfassungsrang, das (ofenbar aus rein organisatorischen Gründen) zeitgleich mit
dem IV. Universal vom 22. (9.) Januar 1918 verabschiedet wurde. Der Gesetzesentwurf wurde von dem Vertreter der Vereinigten jüdischen sozialistischen Arbeiterpartei Mojżesz Zil’berfarb ausgearbeitet und im Dezember 1917 – Januar 1918 auf
mehreren Sitzungen des Generalsekretariats und der Ukrainischen Zentralrada aktiv
diskutiert.
Das Gesetz erkannte automatisch das Recht der auf dem Gebiet der Ukraine lebenden Russen, Polen und Juden auf personale Nationalautonomie an. Die anderen ethnischen Gruppen, zu denen im einzelnen Deutsche, Weißrussen, Tschechen,
Moldawier, Tataren u.a. gerechnet wurden, sollten zur Gewährung dieser Rechte einen von mindestens 10.000 Bürgern der entsprechenden Nationalität unterstützten
kollektiven Antrag an das Generalgericht der Ukrainischen Volksrepublik stellen.
Das Gesetz garantierte jeder nationalen Gruppe das Recht auf selbständige Organisation ihres nationalen Alltags. Entsprechend dem Gesetz „Über die personale Nationalautonomie“ hatten die Bürger der Ukrainischen Volksrepublik das Recht auf
Mitgliedschaft in nationalen Verbünden (zu diesem Zweck sollten gesamtnationale
Listen geführt werden), die proportional zum Bevölkerungsanteil vom Staat inanziert wurden und das exklusive Recht auf Vertretung der Minderheit in den Machtorganen hatten. Das höchste Organ der Verwaltung der Verbünde sollte die nationale Verfassungsgebende Versammlung sein, das Exekutivorgan – der Nationalrat. Am
29. April 1918 ging das Gesetz in Form eines eigenen VIII. Abschnitts in die Verfassung der Ukrainischen Volksrepublik ein.
Eine der Schwächen des Gesetzes bestand in der unklaren Deinition der Kompetenzen der nationalen Verbünde, was einigen Vertretern der Minderheiten die Möglichkeit bot, nicht nur im Kultur- und Bildungsbereich, sondern auch im Wirtschaftsbereich, im Gesundheitswesen usw. Führungsansprüche geltend zu machen.10
Die Kritiker des Gesetzes aus den Reihen der führenden Mitglieder der Ukrainischen
Zentralrada zeigten sich mit den weitreichenden Zugeständnissen an die Minder-
9 Zit. nach Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 186.
10 Ebd., S. 276.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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heiten im Bereich der Dezentralisierung unzufrieden und merkten an, dass sogar
die den nationalen Minderheiten durch das Gesetz gewährten weitgehenden Rechte
viele ihrer Vertreter nicht überzeugen konnten, in der Zentralrada für die Annahme
des die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik verkündenden IV. Universals zu stimmen.11
Die die nationalen Minderheiten betrefende Politik des Hetmanats (bis zum 14.
Dezember 1918) basierte nicht auf dem ethnischen, sondern auf dem Territorialprinzip und forderte von den Minderheiten Ergebenheit gegenüber der Ukraine als
Staat. Aus diesem Grund trat der Schutz der Minderheitenrechte in dieser Phase in
den Hintergrund, was u.a. auch Aulösung der entsprechenden staatlichen Ämter
nach sich zog. Die Aktivierung und Unterstützung der nationalen Bewegungen betrachtete die einen starken zentralen Apparat propagierende Macht in dieser Phase
als potentielle Bedrohung der territorialen Integrität des „Ukrainischen Staats“.12
Nach der Ablösung Skoropads’kyjs setzte das Direktorium der Ukrainischen
Volksrepublik das zwischenzeitlich von der Regierung des Hetmanats abgeschafte
Gesetz „Über die personale Nationalautonomie“ per Erlass vom 10. Dezember 1918
erneut in Kraft. Durch den gleichen Erlass wurde innerhalb des Direktoriums auch
erneut eine Abteilung für Angelegenheiten der nationalen Minderheiten eingerichtet, die bis zur Wiedereinrichtung der entsprechenden nationalen Ministerien agieren sollte. Die Führung dieser Abteilung wurde Salomon Gol’del’man übertragen.13
Zu einem seiner vorrangigen Anliegen erklärte das Direktorium der Ukrainischen
Volksrepublik die Verringerung der von seinen Vertretern vor Ort registrierten zwischennationalen Spannungen und insbesondere der antijüdischen, antipolnischen
und antirussischen Stimmungen. In diesem Zusammenhang bestätigte die ukrainische Regierung am 24. Januar 1919 das Gesetz über die Einführung des Straftatbestands der Beleidigung der nationalen Ehre und Würde. Die für diese Art von
Vergehen vorgesehene Strafe war Freiheitsentzug in Höhe von drei Monaten bis zu
anderthalb Jahren.14
Über die gesetzgeberische Tätigkeit hinaus waren die ukrainischen Behörden bestrebt, dem Schutz der Minderheitenrechte dienende Institutionen und Verfahren
11 Ebd., S. 278.
12 Ebd., S. 188f.
13 Solomon Izrailevič Gol’del’man (1885 – 1974) war ukrainischer Politiker. Während des Ersten
Weltkrieges lehrte er im Kyïver Kommerzinstitut und arbeitete in den Zemstva. Zwischen Juni
1917 und April 1918 vertrat er in der Ukrainischen Zentralrada die Jüdische Sozialdemokratische
Arbeiterpartei „Poale Zion“. In den Monaten des Hetmanates lebte er in Odessa und redigierte
dort die zionistische Zeitung Unser Leben. Seit Dezember 1918 war er Arbeitsminister und
stellvertretender Staatssekretär für die Angelegenheiten der nationalen Minderheiten in der
Regierung der Ukrainischen Volksrepublik. Er nahm an der Vorbereitung der Gesetze zu
nationalen Minderheiten aktiv teil, emigrierte 1920 nach Wien, in den 1920er Jahren verschiedene
Lehrtätigkeiten an ukrainischen Hochschulen in der Tschechoslowakei. 1939 emigrierte er nach
Palästina. Vladyslav Antolijovyč Hrynevyč: Gol’del’man, S. I. In: Ėncyklopedija istoriï Ukraïny. Hg.
V. M. Lytvyn [u.a.]. Kyïv 2004, Bd. 2, S. 152. Siehe auch seine Memoiren: Solomon I. Goldelman:
Jewish National Autonomie in Ukraine 1917 – 1920. Chicago 1968.
14 Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 190f.
10
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zu etablieren. In der kurzen Zeit ihres Bestehens richtete die Ukrainische Zentralrada
(März 1917‒April 1918) ein eigenes Ministerium für die Angelegenheiten der nationalen Minderheiten ein. Dieses wurde zeitgleich mit der Bildung des Exekutivorgans
der Zentralrada, dem Generalsekretariat, am 15. Juni 1917 gegründet und hieß zunächst Generalsekretariat (Ministerium) für zwischennationale (zwischenvölkische)
Angelegenheiten. Die Hauptaufgabe dieses Ministeriums bestand darin, den autonom-föderalen Aufbau und die friedliche Koexistenz der Vertreter der Titularnation
und der Minderheiten zu gewährleisten. Vom Tag seiner Gründung an wurde das
Ministerium von dem Politiker, Aktivisten, Publizisten und Literaturwissenschaftler
Serhiy Efremov geführt.15
Innerhalb dieses Ministeriums arbeiteten neben dem Minister für den Schutz der
nationalen Minderheitenrechte drei Stellvertreter für russische, jüdische und polnische Angelegenheiten. Sie alle waren mit allen Vollmachten von Regierungsmitgliedern ausgestattet und trugen auch den Titel eines Generalsekretärs bzw. Ministers. In
jedem Fall standen sie ihren Status betrefend über den Stellvertretenden Ministern
anderer Ministerien und arbeiteten als autonome strukturelle Unterabteilungen des
Generalsekretariats (Ministeriums) für zwischennationale Angelegenheiten Bei jedem
der Stellvertretenden Minister wurden aus Vertretern der nationalen Parteien bestehende Räte eingerichtet. Das Sekretariat für jüdische Angelegenheiten führte Moisej
Zil’berfarb.16 Nach der Einrichtung des Direktoriums im November 1918 wurde die
größtenteils aus Vertretern der sozialistischen Parteien bestehende neue Regierung bestätigt. Ihr gehörte zu diesem Zeitpunkt ein einziger aus den Reihen der nationalen
Minderheiten stammender Minister an – der Minister für jüdische Angelegenheiten.17
15 Serhiy Efremov (1876 – 1939) war einer der führenden Persönlichkeiten der Ukrainischen Revolution
1917 – 1920. Er stammte aus einer Familie von Geistlichen, studierte Jura an der Universität
zu Kyïv: seit seiner Studienzeit war er politisch aktiv. Er war Mitbegründer der Ukrainischen
Demokratischen Partei und der Ukrainischen Radikalen Partei, seit Juni 1917 der Vorsitzende der
Ukrainischen sozialistisch-föderalistischen Partei und einer der Organisatoren der Ukrainischen
Zentralrada und ihr stellvertretender Vorsitzender. Nach dem Umsturz von Hetman 1918 verließ
er die Politik und konzentrierte sich auf die Arbeit in der Akademie der Wissenschaften, wo er bis
zu seiner Verhaftung 1929 wegen angeblicher Zugehörigkeit zur „Organisation der Befreiung der
Ukraine“ arbeitete. Er wurde zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und starb in der Haft. O. D.
Bojko: Efremov, Serhij. In: Ėncyklopėdija istoriï Ukraïny. Red. V. A. Smolij [u.a.]. Bd. 3. Kyïv 2005,
S. 133f.
16 Moisej Isakovič Zil’berfarb (1876 – 1934) war Politiker und Schriftsteller, Mitbegründer der
Sozialistischen Jüdischen Arbeiterpartei, Mitglied der Ukrainischen Zentralrada; seit dem 27. Juli
1917 war er stellvertretender Generalsekretär und seit dem 2. Januar 1918 Generalsekretär für
jüdische Angelegenheiten. Er war einer der Autoren des Gesetzes der Ukrainischen Volksrepublik
„Über die personale Nationalautonomie“. Vgl.: Vladyslav Anatolijovyč Hrynevyč: Zil’berfarb,
Moše. In: Ėncyklopėdija istoriï Ukraïny. Red. V. A. Smolij [u.a.]. Bd. 3. Kyïv 2005, S. 360. Tamara
Petrivna Makarenko: Dijal’nist‘ Heneral’noho Sekretarstva (Ministerstva) z mižnacional’nych
(mižnarodnych) sprav UNR [Die Tätigkeit des Generalsekretariats (Ministeriums) für
interethnischen (internationalen) Angelegenheiten der Ukrainischen Volksrepublik (UNR)]. In:
Problemy istoriï Ukraïny XIX – počatku XX st. Vypusk X [Probleme der Geschichte der Ukraine
im 19. und im frühen 20. Jh. H. 10]. Kyïv 2005, S. 168-174.
17 Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 190.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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Eine der wichtigsten im April 1917 auf dem Allukrainischen Nationalkongress
getrofenen Entscheidungen war die Integration von Vertretern der nationalen Minderheiten in die Ukrainische Nationalrada, auf der auch die Provisorische Regierung
– als einer der wesentlichen Vorbedingungen einer Anerkennung der Legitimität des
Generalsekretariats – bei ihren Verhandlungen mit den Vertretern der Ukrainischen
Zentralrada in Kyïv bestanden hatte.
Zur Erklärung des Ersten Universals (10. Juni 1917) schrieb Mychajlo Hruševs’kyj
als Antwort auf die von einigen Vertretern der nationalen Minderheiten angesichts
der Autonomiebestrebungen der Ukrainer geäußerten Befürchtungen, dass die Ukrainische Zentralrada keinerlei Anspruch auf irgendeine Macht über nichtukrainische Völker, sondern nur über das ukrainische Volk erhebe, solange dieser (der Zentralrada) keine Vertreter andersethnischer Gruppen der ukrainischen Bevölkerung
angehörten.18 Ein Anlass für die Einbeziehung von Vertretern der nationalen Minderheiten ergab sich schnell: Ende Juni wurde entschieden, die Kommission zur
Ausarbeitung des Statuts der ukrainischen Autonomie durch die Einbeziehung von
Vertretern der Minderheiten nach dem Proporzprinzip von acht auf 100 Personen
zu erweitern. Neben 71 Ukrainern sollten der Kommission elf Russen, acht Juden,
jeweils zwei Deutsche und Polen sowie jeweils ein Weißrusse, Tatare, Moldawier,
Tscheche, Grieche und Bulgare angehören. Auf diese Weise sollte die Zahl der nichtukrainischen Mitglieder der Kommission bei 29 von 100 liegen.19 Nach der Bestätigung des Statuts des Generalsekretariats wurden im Juli 1917 in dieses Vertreter
der drei zahlenmäßig größten Minderheiten – Russen, Polen und Juden – aufgenommen.20
Ungeachtet der positiven Erfahrung der Zusammenarbeit der Vertreter der ukrainischen Mehrheit und der nationalen Minderheiten in den entstehenden Machtorganen zeigten sich hinsichtlich ihrer Vorstellungen bezüglich der Zukunft Russlands
und der ukrainischen Lande große Unterschiede und Diferenzen. So ließen z.B.
die von den Vertretern der nationalen und gesamtrussischen Parteien ofen geäußerten Befürchtungen angesichts des von der Ukrainischen Zentralrada eingeschlagenen Kurses in Richtung einer umfassenden Autonomie und später in Richtung Unabhängigkeit gegenseitiges Misstrauen entstehen und boten alten Stereotypen und
Vorurteilen Nahrung. Auf Seiten der ukrainischen Mehrheit wuchs das Misstrauen gegenüber den Vertretern der in den Machtorganen vertretenen Minderheiten,
nachdem viele Vertreter der nationalen Parteien im Januar 1918 im von den Bolschewiki eingenommenen Kyïv geblieben waren, statt zusammen mit ihren ukrainischen Kollegen nach Žytomyr auszuweichen. Den größten Schaden fügte der
gemeinsamen Arbeit aber wohl die Abstimmung über die Bestätigung des IV. Universals zu, das die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik ausrief. Auch
wenn der Text des Universals erneut die Rechte und Freiheiten der andersethnischen
18 Mychajlo Serhijovyč Hruševs’kyj: Chto taki ukraїnci i čoho vony chočut’ [Wer sind die Ukrainer
und was sie wollen]. In: Ders.: Mychajlo Serhijovyč Hruševs’kyj. Kyïv 1991, S. 23f.
19 Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 190.
20 Ebd., S. 226f.
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Dmytro Myeshkov
Bevölkerung der Ukraine bestätigte, weigerten sich deren Vertreter, für die Unabhängigkeit der Ukrainischen Volksrepublik zu stimmen. Die Gründe dafür lagen
zum einen im Parteiprogramm der unterschiedlichen nationalen und gesamtrussischen Parteien und zum anderen in taktischen Überlegungen und der Unmöglichkeit, die Schwäche der ukrainischen Macht zu ignorieren.
Besonders eng und langandauernd war die Zusammenarbeit der Machtorgane des
ukrainischen Staats mit den politischen Vertretern der jüdischen Minderheit. Dies
erklärte sich durch die Tatsache, dass es keinen jüdischen Staat gab, an dem sich die
Juden hätten orientieren können. In den Jahren des Direktoriums erlangten sie viele
Vorteile, über die andere Minderheiten nicht verfügten. Das drückte sich nicht nur
darin aus, dass von den drei Ministerien für Angelegenheiten der nationalen Minderheiten nach Aufstand gegen das Hetmanat nur das jüdische wiedererrichtet wurde.
Ein wichtiger Schritt wurde im Bereich der Selbstverwaltung der jüdischen Minderheit getan: Im April 1919 wurde nicht nur ein Gesetz über die Kehillah-Verwaltung
verabschiedet, sondern auch die Entscheidung über die Subordination der jüdischen
Schulen (dort, wo nur Juden lernten) unter das Ministerium für jüdische Angelegenheiten getrofen.
Ungeachtet der den Minderheiten einschließlich der Juden im Rahmen der wiedererrichteten personalen Kulturautonomie gewährten umfassenden Rechte muss
die Geschichte der ukrainischen Juden gerechterweise durch das Prisma der die ukrainischen Territorien ergreifenden antijüdischen Pogrome gesehen werden. Eine Zunahme der Pogromstimmungen ließ sich unmittelbar nach der Abdankung des Zaren verzeichnen, ihre Anstifter waren oft „Schwarzhundertschafter“. So erinnerte die
Lage in der ersten Hälfte des Jahres 1917 an die erste große Pogromwelle nach der
Ermordung Alexanders II. 1881. Im Herbst 1917 verschlechterte sich die Lage allerdings um ein Vielfaches. Die treibende Kraft der antijüdischen Exzesse waren in
den ukrainischen Landen erstens die bewafneten Soldatenmassen, die die sich aulösende Front verließen und alles raubten, was sie auf ihrem Weg in die inneren Gouvernements in die Hände kam. Von dieser Orgie der Anarchie wurde auch die örtliche Bevölkerung mitgerissen. Zweitens ging die antijüdische Agitation von Seiten
monarchistischer Kreise weiter. Und drittens leisteten auch von den Bauernmassen
falsch verstandene Entscheidungen der Zentralrada und des Generalsekretariats ihren Beitrag, etwa die im Dritten Universal der Ukrainischen Volksrepublik verkündete Rückgabe des Landes in die Hände des Volkes.21 Die Pogromwelle rollte von
September bis Dezember 1917 über das frühere Kyïver Generalgouvernement. Der
Vormarsch der bolschewistischen Truppen in Richtung Kyïv, an dem auch viele jüdische Arbeiter aktiv beteiligt waren, sorgte für eine weitere spürbare Verschlechterung
der ukrainisch-jüdischen Beziehungen. Unter den an Pogromen Beteiligten waren
immer öfter Soldaten und Oiziere der Armee der Ukrainischen Volksrepublik, Haidamaken und freie Kosaken. Ihren Höhepunkt erreichten die antijüdischen Exzesse im März 1918 bei der mit mehrtägigen Pogromen einhergehenden Rückkehr der
21 Ebd., S. 289.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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Armee der Ukrainischen Volksrepublik nach Kyïv. Die Welle vereinigte sich mit der
Front im Zuge des Vormarsches der Truppen der Ukrainischen Volksrepublik und
der deutschen Armee in Richtung Osten. Dabei wurde die jüdische Bevölkerung des
linksufrigen Ukraine und des nördlichen Schwarzmeergebiets zu Opfern beider Seiten.22 Nach einer gewissen Beruhigung im Jahr 1918 zur Zeit der deutschen Besatzung stieg die Zahl der Pogrome zur Zeit des Direktoriums der Ukrainischen Volksrepublik unter der Losung des Kampfes gegen den jüdischen Bolschewismus erneut
abrupt an. Die Feindseligkeit, die den ukrainischen Soldaten in einigen Städten mit
nichtukrainischer Bevölkerungsmehrheit entgegenschlug, wurde vielfach zum Auslöser von Gewaltausbrüchen, zu deren traurigen Beispielen die Niederwerfung eines
Aufstands in Proskurov (heute Chmel’nyc’kyj) gehört, die schließlich in ein Pogrom
mit über 1.500 Opfern mündete. Schätzungen der Gesamtzahl der Opfer schwanken zwischen 60.000-70.000 und bis zu 200.000 jüdischen Zivilisten.23
Die Geschichte der Pogrome der Jahre 1917 bis 1920 und die Versuche der Konliktparteien, sich gegenseitig die Verantwortung für die begangenen Gewalttaten
zuzuschieben und auf dieser Weise den politischen und militärischen Gegner zu
kompromittieren, fanden ihre Fortsetzung nach der Ermordung Petljuras in Paris,
als im Prozess der Eindruck erweckt wurde, der Antisemitismus sei eine immanente
Eigenheit der ukrainischen Befreiungsbewegung.
Die Widersprüchlichkeit der Jahre 1917‒1921 spiegelt sich auch darin, dass sich
die Zusammenarbeit der ukrainischen Machtorgane mit den Vertretern der jüdischen nationalen politischen Parteien ungeachtet von Misstrauen, Verurteilen und
gegen die jüdische Bevölkerung gerichteter ethnischer Gewalt als höchst erfolgreich
erwies. Zum linken politischen Spektrum gehörten die Parteien des Bunds (Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland), die Jüdische Sozialdemokratische Arbeiterpartei „Poale Zion“ (Arbeiter Zions) sowie die Vereinigte jüdische sozialistische Arbeiterpartei (OESRP). Darüber hinaus existierten einige
Parteien zionistischer Ausrichtung. Viele Juden waren aktive Mitglieder und exponierte Vertreter der gesamtrussischen politischen Parteien – von den Bolschewiki
bis zu den Kadetten. Bemerkenswert ist, dass es in den ukrainischen Parteien mit
seltenen Ausnahmen kaum Juden gab. Die meisten Parteien traten dafür ein, die
Rechte der jüdischen Bevölkerung auf Basis einer Kulturautonomie innerhalb einer
einigen demokratischen Republik Russland zu gewährleisten. Da die Unabhängigkeit der Ukraine die Einheit der russisch-jüdischen Diaspora gefährdete, waren die
jüdischen Parteien allen Programmpunkten, die über eine Autonomie der Ukraine
innerhalb Russlands hinausgingen, gegenüber abwartend und zum Teil ofen ablehnend eingestellt.
22 Ebd., S. 294 – 296. Die Gesamtzahl der Pogromopfer 1918 – 1921liegt nach verschiedenen
Schätzungen zwischen 30.000 und 200.000. Etwa eine Hälfte davon geht auf Rechnung der UNRArmee und der zu ihr nahe gestandenen Aufständischen. Ebd., S. 320f.
23 In seinem Artikel zu dem Thema beziffert Stanislav Kul’čyc’kyj die Opferzahl mit 70.000
Menschen. Ders.: Antysemityzm v Ukraïni [Antisemitismus in der Ukraine]. In: Encyklopedija
istoriï Ukraïny (Anm. 2), S. 96f., hier S. 96.
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Dmytro Myeshkov
1917 folgten die Deutschen in Odessa dem Aufruf der Provisorischen Regierung
an die Völker Russlands, sich am Aufbau eines neuen demokratischen Russlands zu
beteiligen, und begannen sich auf die Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vorzubereiten. Auf Versammlungen wurde im März 1917 ein Vorbereitungskomitee gewählt. Eine der dringlichsten von den Deutschen verfolgten Aufgaben
war die endgültige Abschafung der Geltung der sog. Liquidationsgesetze. Ungeklärt
blieb auch das Schicksal eines Teils des Landbesitzes, der gemäß den Liquidationsgesetzen in den Besitz der Zemel’nyj Bank (Landbank) übergegangen war. Auf der zweiten Sitzung des Vorbereitungskomitees wurde am 28. März die Entscheidung getroffen, einen Allrussischen Verband der russischer Deutscher (russ.: Vserossijskij sojuz
russkich nemcev) mit Vertretungen an den Orten kompakter Siedlung zu gründen.
Es wurde entschieden, ein eigenes Presseorgan herauszugeben und für den 14. Mai
1917 in Odessa einen Allrussischen Kongress der Vertreter der Russlanddeutschen
einzuberufen.24 Der Mai-Kongress erkannte zwar das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung an, verlieh aber auch seiner Überzeugung Ausdruck, dass die Nationen
und Völker Russlands ihre Zukunft in einem einigen demokratischen Staat sehen.
Zur Verbesserung der Organisationsarbeit auf dem Gebiet des ganzen Landes sollten Zentralkomitees des Bunds gegründet werden, nach Ansicht eines der Führer
sollten es 17 sein. Eines von diesen – das Süd-Russische ZK in Odessa – sollte die
Siedlungsgebiete in den Gouvernements Cherson, Bessarabien und einem Teil des
Gouvernements Podolien erfassen. Später wurde entschieden, in Odessa ein Zentrum für alle auf dem Gebiet der Ukraine lebenden Deutschen zu gründen.
Der im Mai zusammengekommene Kongress entsandte eine Delegation nach Petrograd, um die mit der fortdauernden Diskriminierung der Deutschen zusammenhängen Fragen zu klären. Besonders hartnäckig hielten sich die Vorstellungen, die
deutschen seien illoyal, im Kriegsministerium. Auf der Tagesordnung des für den 1.3. August angesetzten zweiten Kongresses stand die Vorbereitung auf die Wahlen zur
Verfassungsgebenden Versammlung von über 7.000 Mitgliedern des Bunds. Dafür
wurde eine auf demokratischen Prinzipien des Staatsaufbaus basierende Plattform
ausgearbeitet. Im Bereich der nationalen Entwicklung und des nationalen Aufbaus
wurden Maßnahmen zur Einführung des Deutschen als Verwaltungs- und Unterrichtssprache vorgeschlagen. Auf dieser Grundlage bereitete sich das Süd-Russische
ZK auch auf die Zemstvo-Wahlen vor. Aber nicht einer der deutschen Kandidaten
schafte den Einzug in die Verfassungsgebende Versammlung, und nach deren Aulösung beschleunigte sich der Zerfall des Staates. Das südrussische ZK wurde in „Bund
der deutschen Kolonisten des Schwarzmeergebiets“ umbenannt. Alfred Eisfeld vertritt die Ansicht, dass der Grund dafür, dass die Idee der Vereinigung der Deutschen
nicht umgesetzt werden konnte, darin lag, dass die ländliche Bevölkerung in der Re-
24 Alfred Eisfeld: Deutsche Autonomiebewegungen in der Ukraine und in Westsibirien 1917 – 1918.
In: Ders., Victor Herdt, Boris Meissner (Hg.): Deutsche in Rußland und in der Sowjetunion
1914 – 1941. Berlin 2007, S. 127 – 144, hier S. 128f.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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gel passiv blieb und die Initiative nicht unterstützte.25 Auf dem August-Kongress
waren auch Vertreter der ukrainischen Parteien vertreten, und ein Teil der Delegierten sprach sich für einen föderalen Umbau Russlands aus. Aber ihr Standpunkt fand
keine Unterstützung der Mehrheit der Beteiligten, und der Führer des Bunds trat in
eine ofene Diskussion mit dem anwesenden und für seine antideutschen Ausfälle
bekannten Serhij Šeluchin, Mitglied der Zentralrada und Autor des Buches Deutsche
Kolonisation in der Ukraine, ein. Im Ganzen nahm die deutsche Gruppe der auf ukrainischem Gebiet lebenden Bevölkerung eine Position der Neutralität hinsichtlich
der Tätigkeit der ukrainischen Regierungen ein. Alle Versuche der Zentralrada, die
Deutschen zur Mitarbeit heranzuziehen, erwiesen sich als erfolglos, sodass die drei
für ihre Repräsentanten vorgesehenen Plätze unbesetzt blieben.26
Vor dem Hintergrund des abnehmenden Interesses für die Minderheitenrechte nach der Machtübernahme des Hetmans Skoropads’kyj fallen die Schritte seiner
Regierung zur Wiederherstellung der Rechte der Deutschen besonders auf. Bereits
Ende April 1918 wandte sich das deutsche Außenministerium mit der Bitte an seinen Botschafter in Kyïv Mumm, der ukrainischen Regierung vorzuschlagen, einen
Sonderkommissar für den Schutz der Rechte der in der Ukraine lebenden deutschen
Kolonisten zu berufen. Und auch wenn der Posten eines solchen Kommissars nicht
bestätigt wurde, kam es im Leben der Deutschen zur Zeit der Anwesenheit deutscher Truppen zu erheblichen Veränderungen. Im Juni richtete der Ministerrat des
„Ukrainischen Staats“ beim Justizministerium eine Kommission zur Kompensation
jener Schäden ein, die Personen deutscher oder österreichisch-ungarischer Herkunft
in den Jahren des Ersten Weltkriegs zugefügt worden waren, wobei es in erster Linie
um Opfer der Deportationen ging. Im August des gleichen Jahres wurde auf dem
Gebiet des „Ukrainischen Staats“ die Geltung der „Liquidationsgesetze“ aufgehoben, sowie eine spezielle Regierungskommission für Angelegenheiten der deutschen
Kolonisten eingesetzt. Zudem arbeitete die Ukrainisch-deutsche Genossenschaft zur
kulturellen und ökonomischen Annäherung. Die Unterstützung von Seiten der Besatzungstruppen führte zur Entstehung des Plans einer autonomen Verwaltung der
sich auf dem Gebiet der Ukraine beindenden deutschen Siedlungen, der weit über
den Rahmen einer Kulturautonomie hinausging und den ökonomischen, juristischen und militärischen Bereich bestimmter auf ukrainischem Territorium liegender Territorialeinheiten regulierte. Es wurden Selbstschutzbrigaden gegründet, deren Bewafnung und Ausbildung das deutsche Kommando übernahm.27
25 Al’fred Aisfel’d: Vserossijskij sojuz russkich nemcev [Allrussischer Kongress der
Russlanddeutschen]. In: Ėl’vira Grigor’evna Plesskaja-Zebol’d: Odesskie nemcy. 1803 1920 [Die
Odessaer Deutschen 1803-1920]. Odessa 1999, S. 347-353.
26 Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 437, 456. Der Beschluss des Büros der
Moločnaer Mennonitenorganisation, in dem die Mennoniten den Kurs der Zentralrada in Kyïv
unter Bedingung der Einhaltung ihrer Besitzrechte unterstützt haben, betrachtet Lazarovyč als eine
Ausnahme.
27 Nach Angaben von Tetjana Gorban’, wurden den deutschen Grundbesitzern im Sommer 1918 ca.
186.000 Desjatinen früher konfisziertes Land zurückgegeben. Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï
vlady (Anm. 7), S. 221, 232f. Bewaffnete Selbstschutzeinheiten wurden vom „Bund der deutschen
16
Dmytro Myeshkov
Die Zusammenarbeit der deutschen Kolonisten mit den den ukrainischen Bauern besonders verhassten Regimen – den deutschen und österreichischen Besatzern,
den Denikincy und den Machtorganen der Hetman-Zeit – hatten für viele Deutsche
tragische Folgen. Insbesondere im Aktionsgebiet der Armee Machnos, das im Wortsinn zu einem „wilden Feld“ wurde, waren die deutschen Kolonien mehrfach Angriffen ausgesetzt, und die Versuche der Einwohner, ihre Familien und Besitztümer zu
schützen, provozierten nur noch grausamere Maßnahmen.28
Die Beteiligung der russischen Minderheit an der Arbeit der Machtorgane sowie
ihre politische Repräsentanz waren im Vergleich zu den Polen und Juden gering.
Die Zahl der auf ukrainischem Gebiet lebenden Polen war in den Jahren des 1.
Weltkriegs durch Flüchtlinge und Evakuierte gestiegen. Nach unvollständigen Angaben lag die Zahl der Flüchtlinge bei 250.000 Personen. Unter dem Einluss der
Wiedererrichtung der Unabhängigkeit des polnischen Staates zeigte diese Gruppe
vor allem nationale statt Klassensolidarität. Die politischen Strömungen im polnischen Milieu wurden durch das vor allem an den Interessen der wohlhabenden polnischen Schichten orientierte Polnische Exekutivkomitee in Rus’ (poln.: Polski Komitet Wykonawczy na Rusi) und das die polnischen Sozialdemokraten vereinende
Polnische Demokratische Zentralkomitee repräsentiert. Im Unterschied zum Polnischen Exekutivkomitee, das schon im Sommer 1917 jegliche Zusammenarbeit mit
der Ukrainischen Zentralrada einstellte, war das Polnische Demokratische Zentralkomitee den Versuchen des Aufbaus eines ukrainischen Staats gegenüber deutlich loyaler eingestellt.
Eine in vielerlei Hinsicht ähnliche Situation ergab sich auch in der Westukrainischen Volksrepublik. Dort stimmte die Ukrainische Nationalrada (gesetzgebendes
Organ) im November 1918 dem Vorschlag des Vorsitzenden des Exekutivorgans
(Staatssekretariat) zu, drei Sekretariate einzurichten – jeweils ein deutsches, polnisches und jüdisches, an dessen Spitze Vertreter der entsprechenden Minderheiten stehen sollten. Nach dem Gesetz über die Staatssprache vom 15. Februar 1919 wurde
den drei Hauptminderheiten erlaubt, im Umgang mit den staatlichen Organen ihre Muttersprache zu verwenden. Um aber Vertreter der Minderheiten in die Organe
der Macht zu integrieren, mussten zunächst politische Vertretungen der ethnischen
Gruppen gegründet werden. Nichtsdestotrotz reagierte keine der Minderheiten auf
die mehrfachen Aufrufe der Ukrainischen Zentralrada, sich am organisatorischen
Aufbau der staatlichen Strukturen zu beteiligen. Aus diesem Grund bestanden die
Machtorgane in der Westukrainischen Volksrepublik nahezu ausnahmslos aus Ukrainern. Während die Polen keinen Kompromiss mit den neuen ukrainischen MachtKolonisten des Schwarzmeergebietes“ auf der Basis des Beschlusses organisiert, der von dem
Vertreter der ukrainischen Regierung bei den österreichischen und deutschen Armeekommandos am
18. November 1918 bestätigt wurde. Eisfeld: Deutsche Autonomiebewegungen (Anm. 24), S. 139.
28 Ausführlicher siehe Aleksandr Innokent’evič Beznosov: Zur Frage der Beteiligung der deutschen
Kolonisten und der Mennoniten am Bürgerkrieg im Süden der Ukraine (1917 – 1921). In: Eisfeld,
Herdt Meissner: Deutsche in Rußland (Anm. 24), S. 145-158; Lawrence Klippenstein: The
Selbstschutz: A Mennonite Army in Ukraine 1918 – 1919. In: Svetlana Bobyleva (Red.): Voprosy
germanskoj istorii: Sb. Nauč. Trudov. Dnepropetrovsk 2007, S. 175 – 205.
Der ukrainische Staat und seine nationalen Minderheiten 1917‒1920
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habern eingehen wollten, zogen es Juden und Deutschen vor, sich nicht in den sich
immer mehr zuspitzenden ukrainisch-polnischen Konlikt einzumischen. Erst nach
der Vereinigung der Ukrainischen und der Westukrainischen Volksrepublik gelang
es in gewissem Umfang, die jüdische Minderheit in den Machtorganen heranzuziehen – es wurden jüdische Dezernate gegründet, Brigaden der jüdischen Polizei bekamen Wafen und kümmerten sich um die Aufrechterhaltung der Ordnung in den
westukrainischen Städten.
Die Ukrainische Zentralrada wurde vor allem als ukrainische Organisation wahrgenommen. Zur Ausweitung ihres Einlusses auf das Gebiet der ukrainischen Gouvernements suchte sie die Zusammenarbeit mit den Vertretern der nationalen Minderheiten. Politischer Pragmatismus, das Wissen um die eigene Schwäche und das
Bestreben, die eigene Legitimität in der Augen der gesamten Bevölkerung steigern,
zwang die Ukrainische Zentralrada ihre Aufmerksamkeit auf die drei zahlenmäßig
größten Gruppen zu richten – Russen, Polen und Juden. Die Ukrainische Zentralrada zeichnete sich durch die größte Konsequenz in der Sache des Schutzes der nationalen Minderheitenrechte aus, verkündete die Gleichberechtigung jeder von diesen,
schenkte die größte Aufmerksamkeit aber den beiden zahlenmäßig größten Gruppen der Juden und Polen.
Die Deutschen waren nicht Objekt der vorrangigen Aufmerksamkeit der Ukrainischen Zentralrada, des Generalsekretariats und später der Regierung der Ukrainischen Volksrepublik. Der Grund dafür war, dass das Siedlungsgebiet der Schwarzmeerdeutschen 1917 nicht zu jenen Territorien gehörte, die unter der Kontrolle der
ukrainischen Regierung standen. Auf der anderen Seite hielt sich die Mehrheit der
Wolhyniendeutschen – also der anderen zahlenmäßig großen deutschen Bevölkerungsgruppe – noch an ihren Verbannungsorten auf bzw. war noch auf dem Weg in
ihre früheren Siedlungsgebiete.
Und auch die traditionellen politischen Sympathien der in Wolhynien und im
Schwarzmeergebiet lebenden deutschen Bevölkerung galten nicht den sozialistisch
orientierten Parteien, sondern dem eher rechten Parteienspektrum. Deshalb konnten
selbst die progressiven Maßnahmen der Ukrainischen Volksrepublik (Gesetz über die
personale Nationalautonomie) die deutsche Bevölkerung nicht auf ihre Seite ziehen.
Zur Zeit der Regierung des Hetmans Skoropads’kyj galt aus politischen Gründen
die gesteigerte Aufmerksamkeit der russischen und deutschen Gruppe. In dieser Zeit
wuchs in Kyïv im Umfeld des Hetmans der Einluss der für die Bewahrung enger
Bande zu einem umgebauten Russland eintretenden ukrainischen Parteien sowie der
russischen Geschäfts-, Militär- und politischen Kreise. Die Anwesenheit der deutschen Truppen sowie die Umorientierung der Regierung des Hetmans auf eine Unterstützung der Landbesitzer (einschließlich der polnisch- und deutschstämmigen)
machte die Regierungspolitik für die deutsche Minderheit attraktiver. Für ihre Beteiligung in den staatlichen Machtorganen eröfneten sich auch günstigere Perspektiven,
da in der Hetman-Regierung mit den Kadetten auch eine Partei vertreten war, der die
Schwarzmeerdeutschen traditionell nahestanden. Aber in ihrer Mehrheit orientierten
sich die Nachkommen der deutschen Kolonisten nicht auf die ukrainischen Behörden vor Ort und im Zentrum, sondern auf das Kommando der Besatzungstruppen.
Das Gesetz über die personale Nationalautonomie war höchst fortschrittlich, was
fast allen politischen Akteuren bewusst war. Sein progressiver Charakter erklärte sich
einerseits dadurch, dass sich die Vertreter der ukrainischen Sozialisten in vielen Parteien die heorie-Erfahrung der ausländischen sozialistischen Bewegung angeeignet
hatten (insbesondere das Programm der nationalen Kulturautonomie der österreichischen Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Bauer), und andererseits durch
die relative Schwäche der Zentralmacht, die zu Zugeständnissen an die organisierten
Minderheiten bereit war, um deren Unterstützung beim Aufbau des neuen Staats zu
gewinnen. Zugleich stand die Entwicklung im Rahmen des allgemeinen Trends auf
dem Gebiet des Russischen Reiches – so wurden ähnliche politische Projekte in den
inneren Gouvernements Russlands auch gegenüber den Moslems oder den kleinen
Völkern Sibiriens realisiert.29
Der progressive Charakter der ukrainischen Gesetzgebung ging in der Praxis mit
einem wachsenden Misstrauen der Ukrainer gegenüber den Vertretern der nationalen Minderheiten einher, das nach den „Flitterwochen“ im Frühjahr und Sommer
1917 anstieg und von ukrainischer Seite durch die abwartende (passive) Position der
Vertreter der nationalen Minderheiten erklärt wurde, die diese nicht selten in dramatischen Momenten einnahmen, so etwa beim Vormarsch der bolschewistischen
Truppen auf Kyïv unter dem Kommando Murav’ëvs im Winter 1917/1918. Das
Misstrauen gegenüber den Russen (insbesondere jenen, die für ein unteilbares Russland eintraten) und Polen wiederum erklärte sich durch die Existenz der mächtigen
Nachbarstaaten.
Die moderne ukrainische Geschichtsschreibung stellt die Ereignisse der Jahre
1917‒1920 als ukrainische nationale Revolution dar. Der ukrainische Blick auf die
hundert Jahre zurückliegenden Ereignisse bereichert ohne Zweifel die Vorstellung
über die revolutionären Ereignisse in den Randgebieten des Russischen Reichs, dort,
wo die gängige Literatur nicht selten unter Vereinfachung leidet. So wird z.B. nicht
selten der Einluss der Bolschewiki auf die Massen der ukrainischen Bauern ignoriert oder die Schärfe der interethnischen Konlikte gemildert. Zugleich zeugen die
Resultate der nur teilweise stattgefundenen Wahlen zur ukrainischen Verfassungsgebenden Versammlungen vom 27. Dezember 1917 vom Gegenteil: Die meisten Sitze
hätten, wenn die Wahlen oiziell als durchgeführt anerkannt worden wären, die Sozial-Revolutionäre und Bolschewiki gewonnen.30 Die Aufmerksamkeit für die Programmatik der nationalen Minderheiten erlaubt, sich einen ausgewogeneren Blick
auf die schwierige Zeit zu bilden.
29 Irina Nam: Nacional’no-personal’na (kul’turna) avtonomija v istoriï ta sučasnosti [Die nationalpersonelle (kulturelle) Autonomie in der Geschichte und Gegewart]. In: Volodymyr Evtuch,
Arnol’d Zuppan (Red.): Ėtnični menšyny Schidnoï ta Central’noï Evropy: komporatyvnyj analiz
stanovyšča ta perspektyvy rozvytku [Nationale Minderheiten Mittel- und Osteuropas: Eine
vergleichende Analyse ihrer Lage und Perspektive ihrer Entwicklung]. Kyïv 1994, S. 138 – 148.
30 Lazarovyč: Ėtnopolityka ukraïns’koï vlady (Anm. 7), S. 280. Zu den Wahlergebnissen siehe Dmytro
Dorošenko: Istorija Ukraїny 1917 – 1923 [Die Geschichte der Ukraine 1917 – 1923]. Bd. 2. Kyïv
2002, S. 7f.