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Einführung und Kongressnotizen

Karlheinz Dietz, Christian Hannick, Carolina Lutzka u. Elisabeth Maier (Hrsg.): Das Christusbild. Zu Herkunft und Entwicklung in Ost und West. Würzburg 2016, 27‒64

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In der Tat setzt sie etwas, und zwar manches, als Wahrheit voraus und stützt darauf ihre Bedenklichkeiten und Konsequenzen, was selbst vorher zu prüfen ist, ob es Wahrheit sei.“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel Die Frage nach Herkunft und Ursprung des (materiellen) Christusbil‐ des ist eng mit der Geschichte der christlichen Bilder verbunden, sie ist aber ihr extremer Sonderfall. Es geht um nicht weniger als um die Be‐ dingungen der Möglichkeit, unter denen die Darstellung des mensch‐ gewordenen Gottes gelingen kann. Die anthropomorphe Darstellung von Göttern aus dem polytheistischen Pantheon war um die Zeiten‐ wende eine alltägliche Tatsache, sogar bei den ursprünglich solchen Bildern abgeneigten Römern. Ganz unumstritten war dieser Usus zwar auch nicht, er änderte sich aber grundlegend erst mit der Christianisie‐ rung des Römerreiches. Ein völliges Novum war hingegen die Abbil‐ dung des dauerhaft fleischgewordenen Sohnes des einzigen Gottes, der von den Mitmenschen auf brutalste Weise ermordet wurde und von den Toten ins Leben zurückkehrte.2 Die Frage nach dem Christusbild hat außer der materiellen Seite zuerst also eine theologische Dimension und sodann im Jahrhunderte währenden Ringen um das religiöse Sy‐ stem, das wir – als handele es sich um eine vom Himmel gefallene erra‐ tische Einheit – Christentum nennen, eine eminent religionsgeschichtli‐ che Dimension. Der theoretische Diskurs um das nicht materielle Christusbild, d. h. um das Wesen der Inkarnation, bestimmt – von nai‐ ver Frömmigkeit abgesehen – die Ausprägung des künstlerischen Chri‐ stusbildes, ja notwendigerweise von Christusbildern. Christliche Kunst hat sich – so viel steht bei allen Kontroversen in Details fest – langsam und keineswegs isoliert, sondern in einer ständi‐ gen, bewussten oder unbewussten Interaktion mit der religiösen 1 2 Der folgende Text gibt ausschließlich die Meinung des Verfassers wieder. Im interreligiösen Vergleich betont von J. Ratzinger [Benedikt XVI.], Unter‐ wegs zu Jesus Christus. Augsburg 2005, 11‒30. 28 Karlheinz Dietz Themenwelt des Judentums, der Gnosis und des Polytheismus entwik‐ kelt.3 Eine ikonophobe oder gar ikonoklastische Grundhaltung kann man den frühen Christen pauschal nicht unterstellen. Sie würde die spezifischen Intentionen christlicher Apologetik mit der Pluralität der Lebenswirklichkeiten in den kleinräumigen Gesellschaften des Römer‐ reiches verwechseln und diesen eine anachronistische großkirchliche Dimension überstülpen. Die Emanzipation einer selbständigen „Christ‐ lichen Kunst“ konnte überhaupt erst nach der Anerkennung der Kirche durch Kaiser Konstantin d. Gr. gelingen. Aber selbst dann war sie kei‐ neswegs autonom.4 Vor der angedeuteten Beeinflussung durch die pa‐ gane und jüdische Welt verbreiteten sich christliche Bilder seit wenig‐ stens 200 langsam in der Kleinkunst, in den Wandmalereien der – wohl auf jüdische Anfänge zurückgehenden – Katakomben oder auf Sarko‐ phagen und im Laufe des 4. Jahrhunderts auch in Mosaiken von Kir‐ chen. In zentralen christlichen Kultorten entstanden nicht nur Apsis‐ bilder, sondern ganze Bilderzyklen zur Stärkung der Memoria, zur dekorativen Erbauung der Gebildeten und nicht zuletzt zur Unterwei‐ sung der Ungebildeten. In diesen, vor allem im Westen nachweisbaren Kunstwerken wird Christus zum einen als bartloser Jüngling, nicht selten in der Funktion des Guten Hirten oder des jugendlichen Unterweisers oder wie ein bär‐ tiger Philosoph dargestellt.5 Überraschend ist das nicht, war er doch schon nach einigen sog. neutestamentlichen Apokryphen zugleich groß und klein, wohlgestaltet und hässlich, jung und alt, sichtbar und un‐ sichtbar, usw. Dieser „vielgestaltige“ (polymorphe) Christus konnte jedem Betrachter nach dessen spirituellem Vermögen und Würdigkeit anders erscheinen oder aber auch vor den gleichen Betrachtern selbst seine Gestalt wandeln.6 Man kann den vielgestaltigen Christus zu‐ rückweisen wie der Kirchenvater Origenes, ihn instrumentalisieren wie im Bilderstreit oder ihn als Rettungsanker des altjüdischen Bilderver‐ bots bzw. als Chance des interreligiösen Dialogs betrachten wie in 3 4 5 6 Exemplarisch J.N. Bremmer, Iconoclast, iconoclastic, and iconoclasm. Church History and Religious Culture 88 (2008) 1‒18; J. Elsner, Iconoclasm as dis‐ course. Art Bulletin 94 (2012) 368‒394. Zuletzt H. Leppin (Hrsg.), Antike Mythologie in christlichen Kontexten der Spätantike. Berlin u.a. 2015. Viel Bildmaterial bei G. Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst. 2./3. Aufl. Gütersloh 1981‐99, I‐III. H.‐J. Klauck, Die apokryphe Bibel. Tübingen 2008, 303‒374; J.K. Elliott, An‐ cient apocryphal portraits of Jesus, in: D. Burkett (Hrsg.), The Blackwell Companion to Jesus. New York 2011, 145‒159. Einführung und Kongressnotizen 29 unserer Zeit. Auf die Kunst gewendet aber folgt daraus, dass die Viel‐ heit antiker (und späterer) Christusdarstellungen eine Notwendigkeit ist. Sie ist auch bildlicher Niederschlag der Tatsache, dass sich „in Jesus Christus, nach dem christlichen Glauben dem Sieger über Tod und Hölle, […] der Archetypus des Helden, des Königs, des Priesters, des Gesetzgebers, des Heiligen, des Arztes, des Weisen sowie des Richters so, wie Jesus Christus auch in sich das Erlöser‐Kind und den puer‐ senex ausgeprägt hat.“7 Mithin sind die vielen Gesichter Christi keine besondere Überraschung, und unzweifelhaft ist auch „jeder von uns […] frei, ein eigenes Christusbild zu entwerfen“ oder sich auf ein rein spirituelles Christusbild zurückzuziehen. Aber das bedeutet doch nicht automatisch, dass nur „einige Bilder viel berühmter [...] als andere“ geworden sind8 und es ansonsten überhaupt keine Wertigkeit zwi‐ schen ihnen gibt. Eine solche Ansicht stünde im Widerspruch zur frühen und bis heu‐ te in der Orthodoxie lebendigen Tradition. Vielen Christen war das Aussehen ihrer Protagonisten keineswegs gleichgültig, sonst hätte nicht bereits im 4. Jahrhundert eine wie immer begründete Typisierung der Apostelfürsten Petrus und Paulus stattgefunden.9 Zudem wissen wir, dass bereits zu Beginn des 4. Jahrhunderts niemand geringerer als Konstantia Augusta, die Halbschwester Kaiser Konstantins und Frau des Ostkaisers Licinius, „über ein Bild“ Christi bei Bischof Eusebius von Caesarea nachgefragt hat. Dieser hat das so verstanden, dass es ihr um ein Bild des Heilands in „seinem sterblichen Fleisch vor der Ver‐ wandlung“ ging, und er hat dieses Ansinnen schroff zurückgewiesen und dabei die Möglichkeit eines (authentischen) Bildes des Erlösers prinzipiell bestritten.10 Merkwürdigerweise hat sich aber schon „kurz vor oder nach 400“ ein Christustyp etabliert, der sich langsam, aber ste‐ tig durchgesetzt hat, einen, den „jedermann als den typischen ʺChri‐ stuskopfʺ kennt. – Er ist zwar noch jung, aber immerhin dreiundreißig, und ein reifer, imponierender Mann. Das Haar trägt er lang, in der Mit‐ te deutlich, aber achtlos gescheitelt, bis über den Halssaum der Tunika und bis auf die Schultern. Ein (auf Malereien und Mosaiken) dunkler 7 W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. III. Tübingen 2007, 8. 8 M. Dal Bello, Christusbilder. Regensburg 2015, 37 (daher auch das vorige Zitat). 9 Jetzt R. Dijkstra, The apostles in early Christian art and poetry. Leiden, Bo‐ ston 2016. 10 Für die Echtheit des Briefes jetzt in aller Vorsicht J.‐P. Caillet, Eusèbe de Césarée face aux images. Antiquité Tardive 22 (2014) 137‒142. 30 Karlheinz Dietz Spitzbart umrahmt Kinn und Lippen.“11 Man hat geglaubt, er bilde Zeus, Serapis oder auch nur einen alternden Philosophen ab, aber er galt spätestens im 6. Jahrhundert als authentisches, weil „nicht von Menschenhand gemachtes“ Christusbild. Vor allem Justinian I. und seine Nachfolger erkannten ihm eine wichtige öffentliche Funktion zur göttlichen Legitimation und Sicherung ihrer Herrschaft zu.12 Auf ei‐ nem Konsulardiptychon von 540 findet er sich zweimal, aber er war der byzantinischen Staatskunst mindestens ein halbes Jahrhundert frü‐ her bekannt und wurde dort neben einem zweiten Christustyp mit krausen Haaren verwendet, den man etwas willkürlich den ‚syrischen’ genannt hat. In einem großen zeitlichen Abstand wurden aus dem Osten des by‐ zantinischen Einflussgebiets zwei „nicht von Menschenhand gemach‐ te“ Christusbilder nach Konstantinopel transferiert, zuerst von Justin II. aus dem kappadokischen Kamuliana, wo das Wunderbild in einem Brunnen gefunden worden sein soll. Es diente fortan als Palladium und verschwand während des sog. Bilderstreits. Ein bedeutender und lang‐ lebiger Vertreter dieser Gattung war das Abgar‐ oder Edessabild, das schon bald nach 400 in der Hauptkirche Edessas verehrt wurde. Die Erzählungen über dieses Bild entwickelten sich aus oder neben einer Erzählung von einem von Christus nach Edessa geschriebenen Brief. Diese ‚Legende‘ ist uns erstmals, aber ohne Nennung des Bildes, ausge‐ rechnet bei dem sonst so kritischen Häreseographen Eusebius von Cae‐ sarea fassbar. Aus verschiedenen Indizien wissen wir, dass es schon im 3. Jahrhundert eine syrische Version gegeben hat, die das Bild enthalten haben dürfte.13 Nach der in vielen Sprachen und Varianten entfalteten Abgarüberlieferung habe der kranke edessenische König Abgar V. (22‐ 25 und 31/2‐65/6 n. Chr.) Jesus schriftlich gebeten, zu ihm zu kommen. Das habe Jesus in seiner eigenhändigen14 Antwort abgelehnt, zugleich aber die Sendung eines Jüngers versprochen. Nach der Himmelfahrt sei tatsächlich Thaddaeus nach Edessa gekommen, habe den König geheilt 11 F. Van Der Meer, Christus. Der Menschensohn in der abendländischen Pla‐ stik. Antwerpen 1980, 26. 12 M. Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Göttingen 2004, 387‒491; 532‒536. 13 R. Peppermüller, Vigiliae Christianae 25 (1971) 289‒301. 14 Diese später häufig betonte Eigenhändigkeit war selbstverständlich auch anstößig, weil sie den Brief Christi auf eine Ebene mit den Gesetzestafeln des Moses erheben musste. Bei Eusebius und anderen ist sie unterdrückt, sie ist aber zwingende Voraussetzung für die Rolle des Briefes als Palladi‐ um und die übrige heilbringende und unheilabwehrende Verwendung die‐ ses Schreibens. Einführung und Kongressnotizen 31 und seine Stadt christianisiert .... Einer syrischen Erzählvariante zufolge soll mit der mündlichen Antwort Christi ein von einem Boten Abgars in erlesenen Farben gemaltes Bild Christi nach Edessa gelangt sein. Spätestens im 6. Jahrhundert wurde dieses Bild als Acheiropoietos aus‐ gegeben: Christus selbst habe es erzeugt; da er die Unfähigkeit des kö‐ niglichen Boten sah, ihn zu erfassen bzw. darzustellen, habe er in der Karwoche sein feuchtes „Aussehen“ in ein Tuch gedrückt, in dem sein Abbild zurückgeblieben sei. In vielen Verästelungen wurde diese Ge‐ schichte seit 544 in Konstantinopel und andernorts erzählt. Wie In‐ schriften, Papyri und andere alte Traditionen zeigen, hat dabei die sog. Epistula Abgari bereits im 6. Jahrhundert von dem Abgarbild als in eine ‚Sindon‘ gedrückt gesprochen.15 Im 8. Jahrhundert heißt das bildtra‐ gende Edessatuch ‚Sudarium‘16, und zu der gleichen Zeit erzählten Pil‐ ger im Westen, in Edessa liege auf weißes Leinen gedrückt, eine Ganz‐ körper‐Ikone Christi in transfigurierter Form. Das Abgarbild blieb noch mehrere Jahrhunderte in Edessa, obwohl der mesopotamische Vorort seit 639 unter muslimischer Hoheit stand. Gerade in dieser Phase ge‐ wann das Christusbild als Identifikationsobjekt für die dortige christli‐ che Religiosität eine überragende Rolle. Zwar vermehrte es sich selbst‐ tätig vor Ort, so dass schließlich alle drei christlichen Konfessionen in Edessa (Orthodoxe, Monophysiten und Nestorianer) je ein eigenes wunderbares Christusbild besaßen. Das besagt nichts über das Origi‐ nal, dessen Aufbewahrungsweise unbekannt ist, und es änderte auch nichts daran, dass die Stadt als „heiliger Thronsitz des Bildes seiner [scil. Christi] verehrenswerten Person und seiner prächtigen Erschei‐ nung“ galt.17 Gegenüber diesem ‚Selbstbildnis’ Christi geriet das Ka‐ muliana‐Bild zunehmend ins Hintertreffen. Der edessenische Typ18 verdrängte seit 692 sogar das Herrscherbild von den Vorderseiten der byzantinischen Münzen; er dominierte als Pantokrator die orthodoxen Kirchen und zierte als Mandylion die Triumphbögen über den Apsi‐ den. Die Ausbildung eines literarischen und bildnerischen Eikonismus, der meist von konkreten Bildern seinen Anfang nahm und an anderen konkreten Bildern weiterentwickelt wurde, hatte sich im 8. Jahrhundert als Prosopographie Christi weitgehend verfestigt. Die theologischen 15 Jetzt M. Guscin, The tradition of the Image of Edessa. Cambridge 2016. 16 O. Ioan, Muslime und Araber bei Īšōʻjahb III. (649‐659). Wiesbaden 2009, 45 m. Anm. 23. 17 Ioan, Muslime und Araber, 44. 18 J. Roberti, Mandylion ou Camouliana? Contacts 61 (226) (2009) 131‒154 hält ihn für den Kamuliana‐Typ, aber dann hätten sich beide Bilder geähnelt, da es nach 944 keinen ikonographischen Wechsel auf den Münzen gab. 32 Karlheinz Dietz Implikationen der Christus‐Ikone waren nicht weniger bedeutsam als sein liturgischer Gehalt.19 Trotz der heftigen Auseinandersetzungen im Bilderstreit, der zwar nicht nur, aber auch des Christusbildes wegen geführt wurde,20 gewann die Kirche des Ostens die Überzeugung, in der Ikone sei „Christus noch viel greifbarer zugegen [...] als etwa in dem h. Evangelienbuch oder selbst den Elementen der Eucharistie“.21 Die sich logischerweise (nur) selbständig vermehrende Acheiropoie‐ tos‐Ikone hat zunehmend weitere Verbreitung gefunden, d. h. der Acheiropoietos‐Gedanke wurde zunehmend auch auf Marienbilder und andere heilige Bilder übertragen.22 Aber die Vielzahl von Acheiro‐ poietoi23 taugt jedoch nicht als Argument gegen die Existenz einer ech‐ ten Acheiropoietos, ebenso wenig wie die Vielzahl von Edessabildern die Existenz eines echten und ursprünglichen ausschließt. Wäre es an‐ ders, würden die für die Herstellung mehrerer Kreuze ausreichenden Kreuzesreliquien beweisen, dass es ein echtes Kreuz Jesu nie gegeben habe. Wie inflationär der Acheiropoietos‐Begriff im Laufe der Zeit aus‐ geweitet wurde, zeigt etwa, dass Kaiser Konstantin VII. Mitte des 10. Jahrhunderts sogar die kaiserlichen Roben und Insignien als ‚nicht von Menschenhand gemacht‘ ausgeben konnte.24 Wie einfach sich solche Wunderbilder vermehren, versteht man wohl besser25 durch die er‐ staunliche Tatsache, dass auch unsere Zeit neue hervorbringt. Die Am‐ bivalenz der Rede vom Christusbild kommt in seltener Klarheit zum Ausdruck, wenn die jüngsten Päpste – in der ihnen eigenen metaphori‐ 19 C. Schönborn, Die Christus‐Ikone. Schaffhausen 1984; K.‐H. Uthemann, Chri‐ 20 21 22 23 24 25 stus, Kosmos, Diatribe. Berlin 2005, 333‐366. Aus kunsthistorischer Sicht vor allem H. Belting, Bild und Kult. 2. Aufl. München 1991. Weiteres über H.G. Thümmel, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9. Jahrhundert. Paderborn etc. 2005. E. von Dobschütz, Christusbilder. Leipzig 1899, 110**. H. Belting, Das echte Bild. München 2005, 56‒62; M. Bacci, The many faces of Christ. London 2014, 30‒46; J.‐M. Spieser, Images du Christ. Genf 2014, 460‒467. – Die seit 1997 jährlich erscheinenden, inzwischen auf 19 Bände angewachsenen Kongressdokumente mit dem Titel Il Volto dei Volti Cristo des ‚Istituto internazionale di ricerca sul Volto di Cristo’ sind meist stark kontemplativ ausgerichtet und von der Ambivalenz des Begriffs des Chri‐ stusbildes gekennzeichnet. Nicht ‚Acheiropoieta‘ und schon gar nicht ‚Acheiropoietai‘. W.T. Woodfin, The embodied icon. Oxford 2012, 148f.; 172f. Weniger durch die Beschäftigung mit dem Wesen des Abdrucks im welthi‐ storischen und religionsübergreifenden Vergleich: G. Didi‐Huberman, La ressemblance par contact. Paris 2008; A. Monaci Castagno (Hrsg.), Sacre im‐ pronte e oggetti «non fatti da mano d’uomo» nelle religioni. Alessandria 2011. Einführung und Kongressnotizen 33 schen Sprache – als Hauptaufgabe der Christen für das angefangene dritte Millennium die Betrachtung und die beständige Suche des Ant‐ litzes Christi propagieren.26 Dies haben bestimmte Kreise zum Anlass genommen, die „Rückkehr der Bilder“ (im materiellen Sinne) auszuru‐ fen, wobei es vor allem und ganz konkret um die Aufwertung eines bemerkenswerten Tuchbildes zum von Gott gemachten ‚Schweißtuch Christi’ geht.27 Der Acheiropoietos‐Gedanke ist keineswegs, wie jüngst behauptet, vom Schattenbild Buddhas angeregt.28 Man könnte darüber noch re‐ den, ginge es nur darum, Unbekanntes mit Unbekanntem (ignotum per ignotum) zu erklären. Indessen ist der besonders im 5. und 6. Jahrhun‐ dert von Pilgern beschriebene, aber schon bald unsichtbare Schatten des nach Westen sitzenden Bodhisattva an einer Wand in der ‚Schat‐ tenhöhle‘ von Nagarahāra (westlich von Jalalabad) ganz anders be‐ gründet und eher noch unbekannter29 als die christliche Acheiropoie‐ tos‐Ikone. Da nirgendwo in Asien der Einfluss der Griechen und Römer auf die Kunst wohl deutlicher spürbar ist als in Gandhara und Baktrien30 und andererseits die sassanidische Blockade des Landwegs den Handel vom westlichen Mittelmeergebiet nach China übers Meer, den Indus verstärkt in Richtung Gandhara geleitet hat,31 könnte auch der Wunsch nach oder das Wissen von einem authentischen Christus‐ bild den Wunsch nach einem authentischen Buddhabild, der wohl hin‐ ter der Nagarahāra‐Geschichte steht,32 ausgelöst haben. Ja mehr noch: 26 Es reicht eine einfache Suche auf http://www.vatican.va. 27 Beispielsweise G. Fanti u. P. Malfi, The Shroud of Turin. Singapur, Danvers 28 29 30 31 32 2015, 318‒323. Das Manoppello‐Bild ist eine Malerei aus der Zeit des 15./16. Jahrhunderts (G. Wolf in: R. Hoeps [Hrsg.], Handbuch der Bildtheologie. III. Paderborn 2014, 419f.), wie auch mehrere Beiträge in diesem Band bestäti‐ gen. M. Bacci, Cult‐images and religious ethnology. Viator 36 (2005) 337‒372. Das gilt auch für die Kopie der Schattenhöhle. M. Deeg, Das Gaoseng‐ Faxian‐Zhuan als religionsgeschichtliche Quelle. Wiesbaden 2005, 259‒262; 433f.; 439; 554f.; E.Y. Wang, The shadow image in the cave, in: W. Swartz u. a. (Hrsg.), Early medieval China. New York 2014, 405‒428. H.P. Le, Buddhist architecture. Lakeville 2010, 115; vgl. L. Nehru, Gandhara, in: A. Grafton u. a. (Hrsg.), The Classical Tradition. Cambridge/MA u.a. 2010, 384f. E.H. Seland, Archaeology of trade in the Western Indian Ocean, 300 BC–AD 700. Journal of Archaeological Research 22 (2014) 367–402; vgl. R.‐U. Samad, The grandeur of Gandhara. New York 2011, 269–271. Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 259. Zu den Beziehungen von Ost und West in der Bilderfrage: C. Wenzel, The image of the Buddha. Transcultural Stu‐ dies 1 (2011) 263‒305. 34 Karlheinz Dietz „Da saß der Verehrungswürdige [als Schatten] im Lotussitz innerhalb [der Höhle vor der] Steinwand. Wenn ihn Lebewesen von weitem be‐ trachteten, so sahen sie ihn, wenn [sie ihn aber] von nah aus betrachte‐ ten, so war er nicht zu sehen.“33 Buddhas längst unsichtbarer Schatten teilt damit eine wesentliche Eigenschaft mit dem Turiner Grabtuch, dessen Bild erst aus einer Entfernung von etwa vier Metern deutlicher erkennbar wird.34 Stand also das immer noch existierende Grabtuch Pate für den Schatten Buddhas? Selbstverständlich nicht! Auf den Bo‐ den der Tatsachen zurückkehrend kann man feststellen: zum einen ist die Geschichte von Buddhas Schatten, auch sein Umriss auf einer Ma‐ lerleinwand in der Legende von König Udrāyaṇa (Rudrāyaṇa im Di‐ vyāvadāna),35 am ehesten von vedischen Traditionen beeinflusst,36 während der christliche Acheiropoietos‐Gedanke zweifellos auf die neutestamentliche Überlieferung zurückgeht und teilweise sogar mit dem (Auferstehungs‐)Leib Christi verbunden ist.37 Wir werden darauf zurückkommen. Den nicht von Hand gemachten ‚Wunderbildern’ hat Jakob Gretser bereits 1625 eine Monographie gewidmet, und viele andere folgten. Den ‚Ursprung der Christusbilder’ behandelte 1842 Wilhelm Grimm, und allen voran ist das monumentale Werk ‚Christusbilder’ des nicht einmal dreißigjährigen Ernst von Dobschütz von 1899 zu nennen, in dem es freilich vorwiegend um die literarische Überlieferung ging. Mehr als hundert Jahre danach hat die Thematik nichts an Faszination und Brisanz verloren, zumal wir heute einen ganz anderen medialen Zugang dazu besitzen durch die Möglichkeiten, die Texte mit bestimm‐ ten Bildern und Realien zu verbinden. 33 Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 261f. 34 Wohl erstmals beschrieben bei L.A. Schwalbe u. R.N. Rogers, Analytica Chi‐ mica Acta 135 (1982) 6. Vom Verfasser mehrfach durch Autopsie überprüft. 35 Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 262; siehe V. Lefèvre, Portraiture in early In‐ dia. Leiden u.a. 2011, 139f. Vgl. J.A. Keim, Un antécédent tibétain de la pho‐ tographie. Gazette des Beaux‐Arts 6,66 (1965) 117‒119; mit dem Turiner Grabtuch zusammengebracht Ders., La préhistoire chrétienne de la photo‐ graphie. Ebd. 6,73 (1969) 363‒366. 36 R. Decaroli, Image problems. Washington 2015, 170f.; vgl. 38f.; 147; 153f. 37 Im Einzelnen ist die Deutung, wie üblich, umstritten, z. B.: K. Paesler, Das Tempelwort Jesu. Göttingen 1997, 204–222; C. Niemand, Jesus und sein Weg zum Kreuz. Stuttgart 2007, 281–298; vgl. Belting, Das echte Bild, 68–74; A.N. Palmer, The Logos of the Mandylion, in: L. Greisiger u. a. (Hrsg.), Edessa in hellenistisch‐römischer Zeit. Würzburg 2009, 121–135. Einführung und Kongressnotizen 35 Unter diesen Voraussetzungen werden Christusbilder gerade in den letzten drei Jahrzehnten intensiv erforscht und in wissenschaftlichen Publikationen behandelt. Zahlreich – und teilweise auf sehr hohem Ni‐ veau – erschienen Bücher, Sammelbände und Aufsätze zu Bilderkult und Kultbildern, Bilderbekämpfung und Bilderverbot, Bilderverehrung und Idolatrie oder zum Verhältnis von Schrift/Text und Bild. Die Viel‐ falt der Beiträge zu würdigen, bedürfte es eines langen Forschungsbe‐ richts, der bei aller Mühe doch Fragment bliebe. Das auf vier Bände angelegte ‚Handbuch der Bildtheologie’, von dem bisher zwei Teile er‐ schienen sind, ist mehr als ein Ersatz dafür, besonders wegen der the‐ matischen Breite dieses Kompendiums, seiner erlesenen Mitarbeiter und seiner hervorragenden Erschließung durch Personen, Sach‐ und Ortsregister.38 Gleichzeitig versucht eine ‚Grammatologie der Bilder’ den Facettenreichtum der Thematik aus den verschiedensten Blickwin‐ keln theoretisch zu durchdringen39 oder wollen ‚Szenen des Heiligen’ den Zusammenhang von Bild und Transzendenz im interreligiösen und interdisziplinären Diskurs erhellen.40 Selbst die orthodoxe Ikone hat eine Neuorientierung und unabhängige Daseinsberechtigung er‐ fahren durch den Versuch, sie mit dem aus der antiken Literaturge‐ schichte stammenden Begriff der Enargeia (‚klare Veranschaulichung’) zu erschließen.41 Auch viele Acheiropoieten sind mittlerweile neu behandelt worden, angefangen von den stadtrömischen Kultbildern wie die Sancta sancto‐ rum,42 die Salus populi Romani43 und die sog. Veronica (Vera Icon)44 über die Lukasbilder45 und den Volto Santo von Lucca46 hin zum Sainte Face de Laon47 und zum Abgarbild/Edessabild/Mandylion.48 Ein Groß‐ 38 R. Hoeps (Hrsg.), Handbuch der Bildtheologie. I und III. Paderborn 2007 und 2014. S. Weigel, Grammatologie der Bilder. Berlin 2015. C. Werntgen (Hrsg.), Szenen des Heiligen. Berlin 2011. C.A. Tsakiridou, Icons in time, persons in eternity. Farnham u. a. 2013. A. Matena, Das Bild des Papstes. Paderborn 2016. G.P. Wolf, Salus Populi Romani. Weinheim 1990. J.‐M. Sansterre, Variations d’une légende et genèse d’un culte entre la Jérusa‐ lem des origines, in: J. Ducos u. a. (Hrsg.), Passages. Déplacements des hom‐ mes, circulation des textes et identités dans l’Occident médiéval. Toulouse 2013, 217‒231; G. Wolf, Vera Icon, in: R. Hoeps (Hrsg.), Handbuch der Bild‐ theologie. III. Paderborn 2014, 419‒466. 45 M. Bacci, Il pennello dell’Evangelista. Pisa 1998. 46 M.C. Ferrari u. a. (Hrsg.), Il Volto Santo in Europa. Lucca 2003. 47 J.‐M. Sansterre, Deux témoignages sur la Sainte Face de Laon au XIIIe siècle?, in: J.‐M. Sansterre u. a. (Hrsg.), Les images dans les sociétés médiévales. 39 40 41 42 43 44 36 Karlheinz Dietz teil der Christus‐Acheiropoieten wurde zum Jubiläumsjahr 2000 mit ausgezeichneten Abbildungen katalogmäßig erfasst,49 nachdem zwei Jahre zuvor schon der hochrangig besetzte Sammelband „The Holy Face and the Paradox of Representation“ mit Beiträgen von Tagungen in der Biblioteca Hertziana in Rom und in der Villa Spelman in Florenz vom Mai 1996 erschienen war. Das Grabtuch spielte in beiden kaum eine Rolle. Es ist wohl mehr ein methodisches Paradoxon, wenn man im Sammelband liest: „Full‐length images of Christ, such as the achero‐ pita of the Sancta Sanctorum in Rome and the sindone of Turin were intentionally excluded from the discussions because they present a dis‐ tinct set of issues“.50 Ähnliches gilt für den zuerst genannten Ausstel‐ lungskatalog, in dem sich zumindest ein paar Abbildungen des Grab‐ tuchs finden, aber der ganze Komplex unter der Überschrift ‚La Sindone riprodotta’ am Ende der Entwicklung steht.51 Diese ‚Verkehrte Welt’ ist leider charakteristisch für das Verhältnis der ‚kritischen’ Wissenschaft zum Turiner Grabtuch von Anfang an. Die naturwissenschaftlich bedingte Wende durch die Fotografien im Mai 189852 störte den Stolz des aufgeklärten Intellekts von Anfang an. Ein Objekt mit so unzeitigen Codierungen53 war (und ist) eine Zumu‐ tung an die Vernunft und war zudem scheinbar Wasser auf den Müh‐ len des im 19. Jahrhundert in Europa „orientalisierten“ Katholizis‐ mus.54 Tuch und Bild konnten einfach nicht echt sein! Den 48 49 50 51 52 53 54 Brüssel u. a. 2008, 273‒285; P. Malgouyres, De l’origine et de la fortune de l’icône de la Sainte Face de Laon. Zugänglich unter http://musée‐du‐louvre.academia.edu/PhilippeMalgouyres (2015). G. Wolf u. a. (Hrsg.), Mandylion. Genua 2004; C.L. Frommel u. a. (Hrsg.), L’immagine di Cristo. Città di Vaticano 2006; A.R. Calderoni Masetti u. a. (Hrsg.), Intorno al Sacro Volto. Venedig 2007; F. Dell’Acqua, The fall of the idol on the frame of the Genoa Mandylion., in: B. Crostini Lappin u. a. (Hrsg.), Negotiating co‐existence. Trier 2013, 143‒173. G. Morello u. G. Wolf (Hrsg.), Il Volto di Cristo. Mailand 2000 H.L. Kessler u. G. Wolf (Hrsg.), The Holy Face and the Paradox of Represen‐ tation. Bologna 1996, XI Anm. 3. F. Molteni, Storia e devozione della Sindone, in: Morello u. Wolf (Hrsg.), Il Volto di Cristo 278‒282. Eine Ausnahme stellt dar: L. Coppini u. F. Cavazzuti (Hrsg.), Le icone di Cristo e la Sindone. Mailand 2000. Siehe G.M. Zaccone (Hrsg.), L’immagine rivelata. Secondo Pia fotografa la Sindone. Torino 1998; G.M. Zaccone, Torino 1898. Torino 1998. Z. B. neuere medizinische Untersuchungen: M. Bevilacqua u. a., Do we really need new medical information about the Turin Shroud? Injury 45 (2014) 460‒464; A. Majorana u. a., The Turin Shroud face: the evidence of maxillo‐ facial trauma. Folia Morphologica 74 (2015) 212‒218. Zum Verhältnis der Konfessionen um 1900 zitiere ich nur M. Borutta, Anti‐ Einführung und Kongressnotizen 37 geschmähten katholischen Intellektuellen tat es gut, dass Männer aus ihren Reihen an vorderster Front der Unechtheitsbefürworter standen. Dagegen kam auch der Einspruch mehrerer Naturwissenschaftler nicht an, selbst wenn sich einer davon als Agnostiker bezeichnete und später mit der Darwin‐Medaille ausgezeichnet wurde.55 Die Wahrheit zum Turiner Grabtuch entscheidet sich seit jeher a priori und in den Vorhöfen der Vernunft: da werden unbedeutende Dinge zu Beweisen gegen die Echtheit hochgeredet und bis zum Über‐ druss wiederholt, gleichzeitig positive Untersuchungen und Aspekte mit fragwürdigen Argumentationen, notfalls ad hominem, weggewischt. Leider war die aprioristische Ignoranz, die umgekehrt die Messlatte der positiven Argumente unüblich hochschraubt, nie auf die Medien beschränkt. Seit Pierre d’Arcis, der die wenigen Kilometer von Troyes bis Lirey nie überwunden hat, um das Streitobjekt selbst in Augen‐ schein zu nehmen, über Johannes Calvin, für den Ähnliches zutraf, hin zu Ulysse Chevalier und vielen modernen Kritikern, für sie alle gilt: die Realie spielte und spielt keine oder bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Entsprechend groß ist die Zahl der Paradigmenwechsel hinsichtlich des Turiner Grabtuchs im Laufe der letzten 120 Jahre, in dem traditio‐ nelle Rollenverteilungen zwischen Geistes‐ und Naturwissenschaften oder zwischen Gläubigen und Ungläubigen mitunter erheblich ins Wanken gerieten. Als endlich, 1973 zunächst begrenzte, 1978 umfang‐ reichere naturwissenschaftliche Untersuchungen am Gegenstand selbst katholizismus. Göttingen 2010, 150: „Seit der Aufklärung wurde der Katho‐ lizismus in Europa »orientalisiert«, das heißt als rückständig oder entwick‐ lungsunfähig, primitiv oder barbarisch aus Geschichte und Zivilisation ausgeschlossen. Zugleich identifizierte, assoziierte und verglich man ihn mit fernen Ländern und fremden Kulturen Amerikas, Afrikas und Asiens. Einerseits sollte so sein vermeintlich absonderlicher, unzeitgemäßer Cha‐ rakter zum Ausdruck gebracht werden. Zugleich manifestierte sich darin jedoch auch das Überlegenheitsgefühl aufgeklärt‐liberaler Bürger. Analog zu kolonisierten Völkern in Übersee stellten sie Katholiken wie Wilde oder Kinder dar, die sich weder selbst entwickeln noch eigenständig handeln konnten, sondern hierzu fremder – nordeuropäischer, protestantischer, libe‐ ral‐bürgerlicher – Hilfe bedurften. Oft wurde Katholiken eine minderwerti‐ ge Natur zugeschrieben. Die Grenze zum Rassismus wurde dabei oft über‐ schritten.” 55 Siehe Y. Delage, Lettre à M. Charles Richet. Revue Scientifique 4,17 (1902) 683‒687; E. Poulle, Le linceul de Turin victime d’Ulysse Chevalier. Revue d’Histoire de l’église de France 92 (2006) 343‒358, auch zur bemerkenswer‐ ten Rolle des großen L. Delisle. 38 Karlheinz Dietz stattfanden, setzte unverzüglich die Diffamierung der daran beteiligten und sich (vorsichtig) für die Echtheit äußernden Wissenschaftler ein,56 während heimlich schon der Radiokarbontest am Leinen vorbereitet wurde.57 Nachdem die Befürworter der Echtheit auch nach Anwen‐ dung dieser naturwissenschaftlichen Keule nicht verstummen woll‐ ten,58 wird heute kurzerhand behauptet, es gebe außer dem 14C‐Test keinerlei verlässliche naturwissenschaftliche Untersuchungen am Grab‐ tuch. Diese Missachtung der Untersuchungen am Objekt selbst und ihre Denunziation als Pseudowissenschaft, verdient freilich die Vor‐ würfe, die sie erhebt: sie ist erkenntnisgeleitet und alles andere als ergebnisoffen.59 Mit der Datierung des Leinens ins Spätmittelalter endete keines‐ wegs, wie ein Buch damals titelte, „an age of mystery“, vielmehr be‐ gann für das Turiner Grabtuch die Postmoderne. Seither ist alles mög‐ lich! Die Templer haben es hergestellt, der antike Wunderheiler Apollonius von Tyana, der letzte Templergroßmeister Jacques de Mo‐ lay oder ein selbstgekreuzigter Franziskanerspirituale ist darin abge‐ bildet, Leonardo da Vinci hat es geschaffen und den Scan seines Haup‐ tes hineinretuschiert, Raumfahrer haben es gebracht, usw. usf. Geistreicher, aber dennoch wenig an der Realie in Turin orientiert ist der in den letzten Jahrzehnten vor allem von kunsthistorischer Seite immer häufiger vertretene ‚psychologisierende’ Ansatz. Er rückt das Holy Face‐Phänomen mehr oder weniger entschieden in die Nähe einer irrealen mystischen, um nicht zu sagen hysterischen Schaulust. Selbst‐ verständlich hat die Verehrungsgeschichte des Heiligen Antlitzes in Form des Edessabildes oder der Veronica, aber auch in der erweiterten Form des Turiner Grabtuchs emotionale und pastorale Aspekte, für welche die wissenschaftliche Erforschung des Tuches von keiner oder nur untergeordneter Bedeutung ist. Indessen sind, wie bei allen religiö‐ sen Fragen, die Ebenen streng auseinanderzuhalten. Wer das Turiner 56 Statt vieler S. Schafersman, Are the STURP Scientists Pseudoscientists? The Microscope 30 (1982) 232‒234. Neuerdings bezeichnet der Biologe Jerry Coyne, Preisträger des Richard‐Dawkins‐Award, im Internet alles als Pseu‐ do‐Science, was das Turiner Grabtuch als echt erweisen könnte. 57 H.E. Gove, Relic, Icon or Hoax? Carbon Dating the Turin Shroud. Bristol u. a. 1996. 58 Z. B. S. Scannerini u. P. Savarino (Hrsg.), The Turin Shroud, past, present and future. R.N. Rogers, Studies on the radiocarbon sample from the Shroud of Turin. Thermochimica Acta 425 (2005) 189‒194. 59 Beispiele W.C. McCrone, Judgment Day for the Turin Shroud. Chicago 1999; P. Flores D’Arcais (Hrsg.), L’inganno della Sindone. Rom 2010. Einführung und Kongressnotizen 39 Grabtuch aus wissenschaftlicher Motivation heraus studiert, dem wird rasch klar, auf welcher Seite die Realitätsferne beheimatet ist. Grenzt es doch an selbstauferlegte Blindheit, wenn man Parallelen zwischen dem Abbild des Grabtuchs und den Ekphraseis der Marmorinkrustationen des Paulus Silentiarius sehen will oder die Sindone di Torino auf eine Stufe mit den anderen Sindones (zum überwiegenden Teil Kopien des Turiner Tuches) oder gar mit den Epitaphioi Threnoi stellt. Andere ge‐ hen von dem anfänglichen Eindruck von Augenzeugen der Ausstel‐ lung von 1898 aus, auf dem Grabtuch sehe man nichts („non si vede niente“),60 und ergehen sich sodann geistreich über die Dialektik des Bildes, wiederholen oder/und erneuern den Streit um die Aufnahmen von 1898 oder stellen die Bilder Secondo Pias gar in eine Reihe mit ge‐ fälschten Gespensterfotografien der damaligen Zeit.61 Man tut allen Ernstes so, als hätte es seit 1931 keine weiteren Fotografien der Sindone mehr gegeben und als würden diese mit der Aura des Geheimnisvollen umgeben. Tatsächlich kann man das Turiner Grabtuch inzwischen im Internet in vielerlei, auch von Dilettanten gemachten Aufnahmen stu‐ dieren und zum Zwecke beliebiger Manipulation beschaffen.62 In Turin selbst werden (nicht von der Kirche) geplottete Repliken bis zur natür‐ lichen Größe verkauft, wurde das Objekt selbst unlängst in höchstmög‐ lichen Auflösungen gescannt, …. Folgender Satz einer Medienkultur‐ wissenschaftlerin ist eines deutschen Exzellenzclusters würdig: „Was sich um die Aufnahmen des frommen Fotografen Pia und später die seines Nachfolgers Enrie entfaltet, ist ein Phantasma des Zugriffs: über die Fotos auf den Corpus Christi und auf die Geschehnisse, in deren Zentrum dieser Körper steht.“63 Man stelle sich vor wie lächerlich sich jemand machen würde, wenn er Astronomen sagen würde, die Fotos 60 Nach P. Vignon, L’Université Catholique 40 (1902) 368 hat Charles de Buttet aus Chambéry den Satz in Turin gehört; er selbst hat indessen dann aus et‐ wa 25 Meter mit einem Fernglas weitaus mehr erkannt und insgesamt die erste Begegnung mit dem Original aus der Ferne gut beschrieben, aber sein Eindruck war das glatte Gegenteil von „non si vede niente“. Was G. Didi‐ Huberman, The index of the absent wound. October 29 (1984) 63‒81 daraus gemacht hat, ist gewiss lesenswert. 61 Das Beste aus dieser bemerkenswerten Diskussion stammt – vom Genie Didi‐Hubermans abgesehen – von P. Geimer, Bilder aus Versehen. Hamburg 2010, 175‐252; Ders., A self‐portrait of Christ or the white noise of photogra‐ phy? Grey Room 59 (2015) 6‐43. Der Epigonen sind viele. 62 Ich verweise nur auf die Webseite von Mario Latendresse: http://www.sindonology.org/shroudScope/shroudScope.shtml. 63 S. Diekmann in: P. Löffler u. a. (Hrsg.), Das Gesicht ist eine starke Organisati‐ on. Köln 2004, 42. 40 Karlheinz Dietz ihrer Weltraumteleskope seien Phantasmen des Zugriffs: über die Fotos auf die Tiefen des Alls, in deren Zentrum das Wesen des Universums steht! Aber zum Glück tangiert und verändert all das, was in den letz‐ ten fast 120 Jahren zur Sindone di Torino geschrieben wurde, das Ori‐ ginal nicht im Geringsten! In dieser postmodernen Aporie wird im Moment erneut die Ge‐ schichtswissenschaft zum Iudex der ‚Authentizität‘ erkoren. Das ist nicht nur eine Rückwärtswende, sondern angesichts der geschichts‐ theoretischen Diskussionen des letzten Jahrhunderts ein völlig ana‐ chronistischer Ansatz. Die Geschichtswissenschaft strebt als ‚ungenaue Wissenschaft’ (Jacob Grimm) zwar die Wahrheit an, muss sich aber, von Banalitäten abgesehen, mit der Wahrscheinlichkeit bescheiden. Es kann ihr mithin gar nicht darum gehen, das Turiner Grabtuch als Fäl‐ schung zu entlarven oder seine Echtheit zu beweisen. Denn sie kann weder das eine noch das andere. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, dem Tu‐ riner Grabtuch als einem seit vielen Jahrhunderten real existierenden Objekt möglichst gerecht zu werden. Wortmeldungen wie ʺEntlarvung des Grabtuchsʺ oder ʺGerichtstag für das Turiner Grabtuch“ stellen ihr erkenntnisgeleitetes Interesse deutlich zur Schau und sind ebenso we‐ nig hilfreich wie der größte Teil dessen, was unter ‚sindonophiler’ Flagge bereitwillig ‚Beweise’ für die Echtheit des Grabtuchs vorbringt, nach dem Motto „Und das Grabtuch ist doch echt“. Selbst das Urteil über ein einfaches Geschehen von gestern hängt von den verfügbaren Zeugnissen dazu ab, und mit zunehmendem Abstand verschärft sich das Problem fast exponentiell. Für den Historiker geht es immer um die Bewertung von Indizien, von übrig gebliebenen Zeugnissen, die wir als Quellen bezeichnen.64 Sie sind nicht der historische Gegenstand selbst, ihre sachgemäße Beurteilung bildet aber das Gerüst jeder historischen Konstruktion, die selbstverständlich zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann und sich ebenso selbstverständlich auch der modernen naturwissenschaftlichen Möglichkeiten bedienen muss.65 Da letztere nicht mehr als Bausteine sind, dürfen sie nicht verabsolutiert werden. Leider haben aber heute manche Historiker so wenig Vertrauen in ihre eigenen Möglichkeiten und Methoden, dass sie bereitwillig natur‐ 64 Manche Historiker halten von Quellen überhaupt nicht mehr viel, andere verwechseln die Notwenigkeit zur Textualisierung von Ereignissen mit de‐ ren Nichtexistenz. Grundsätzlich zum Quellenbegriff D. Saxer, Die Schär‐ fung des Quellenblicks. München 2014, 15‐18. 65 Zu den historischen Methoden und Modellen H.‐J. Gehrke, Historische Me‐ thoden. Der Neue Pauly 14 (2000) 453‒463; J. Baberowski, Der Sinn der Ge‐ schichte. München 2005; L. Kolmer, Geschichtstheorien. Paderborn 2008. Einführung und Kongressnotizen 41 wissenschaftliche Verdikte akzeptieren, ohne deren Voraussetzungen wirklich kritisch beurteilen zu können.66 Als Status quo der Diskussion zum Turiner Grabtuch gilt Vielen heute die angebliche Kongruenz von naturwissenschaftlicher und historischer Forschung, die ins Mittelalter verweise. Ausgangspunkt der heutigen Diskussion ist damit nicht mehr das Turiner Grabtuch in seiner multiperspektivischen Gesamtheit, sondern die Radiokarbonda‐ tierung von 1988, der zufolge das Leinen erst zwischen 1260 und 1390 entstanden sein soll. Diese Datierung wurde Gegenstand eines unglaublich emotional geführten Streites,67 der zu vielerlei, auch zu abseitigen Erklärungsversuchen und Verdächtigungen geführt hat.68 Angesichts des Ausmaßes der Irrationalität im Vorfeld, bei der Durch‐ führung und in der Diskussion dieser Tests69 könnte man jedes Ver‐ trauen in Naturwissenschaften verlieren. Erst recht, wenn man weiß, dass das Verfahren der Beschleuniger‐Massenspektrometrie (AMS) seit 1977 eigens zu dem Zweck entwickelt wurde, ausgerechnet am Turiner Grabtuch ‚erprobt’ zu werden: eine wissenschaftsgeschichtliche Gro‐ teske, die meist übersehen oder verschwiegen wird.70 Zudem stand 66 G. Kossack u. H. Küster, Germania 69 (1991) 444. 67 Nüchtern geschildert bei R. Laussermayer, Radiokarbon‐Datierung: Turiner Grabtuch, Gletschermumie (Iceman), Bayes und die ʺ14C‐Chronologie Ägyptensʺ. Analyse der Datierungsergebnisse. Imst 2013; vgl. P. Savarino, Das Grabtuch von Turin. Chemisch‐physikalische Untersuchungen, in: E. Maier (Hrsg.), Das Turiner Grabtuch. Wien 2005, 156‒182; P.T. Craddock (Hrsg.), Scientific Investigation of Copies, Fakes and Forgeries. 2. Aufl. Ox‐ ford 2012, 102‐109. Das schon zitierte Buch von Gove, Relic, Icon or Hoax? erschien nach einer kritischen Durchsicht von Dorothy Crispino († 2014), wie sie mir 2001 persönlich versichert hat. Gelegentlich wichtig ist auch W. Meacham, The rape of the Turin Shroud. o. O. 2005. 68 Ein Beispiel ist die Annahme eines unsichtbaren Ausbesserns der Teststelle von Rogers, Studies on the radiocarbon sample from the Shroud of Turin; M.S. Benford u. a., Discrepancies in the radiocarbon dating area of the Turin shroud. Chemistry Today 26 (4) (2008) 4‒12. Technisch ist eine solche Repa‐ ratur auch heute unmöglich. Nach Autopsie der Stelle hat die Theorie M. Flury‐Lemberg, The invisible mending of the Shroud in theory and the re‐ ality. British Society for the Turin Shroud 65 (June) (2007) 10‒26 zurückge‐ wiesen. Siehe jetzt auch M. Bella u. a., There is no mass spectrometry evi‐ dence that the C14 sample from the Shroud of Turin comes from a “medieval invisible mending”. Thermochimica Acta 617 (2015) 169–171. 69 Selbst Nicolotti, Sindone, bes. 308f. betont den ungewöhnlichen Aufwand. 70 D. Elmore u. a., A method for dating the Shroud of Turin, in: P. Coero‐Borga (Hrsg.), La Sindone e la scienza. Torino 1978, 428‒436; vgl. Gove, Relic, Icon 42 Karlheinz Dietz Harry E. Gove, der Entwickler von AMS, von Anfang an unter dem Einfluss zweier entschiedener Gegner des Grabtuchs (David Sox und Walter McCrone). Daraus machte er ebenso wenig ein Hehl wie aus der Tatsache, dass er den Ausschluss der Wissenschaftler des „Shroud of Turin Research Project“ (STURP) an dem Radiokarbontest mit Nach‐ druck betrieben und „glücklicherweise“ erreicht habe. Diese Forscher‐ gruppe hatte 1984 und 1987 umfassende Vorschläge ausgearbeitet, wie man den Radiokarbontest, wie üblich, in ein erweitertes Untersu‐ chungsprogramm einbetten könnte.71 Gove warf ihnen vor, sie hätten allesamt die Echtheit des Grabtuchs beweisen wollen. Da fragt man sich schon, woher und von wem er das gewusst hat? Und weiter: Wur‐ den nur solche Tester zugelassen, die die Unechtheit des Turiner Grab‐ tuchs beweisen wollten? Schließlich: Wie passt Goves Unterstellung zu seiner unmittelbar davor geäußerten Behauptung, die von STURP ver‐ öffentlichten Ergebnisse seien trotz des großen Zeit‐ und Geldauf‐ wands „nicht eindeutig“ („ambiguous“) gewesen?72 In diesem bemer‐ kenswerten Widerspruch offenbart sich zugleich ein Bekenntnis zu einfachen und eindeutigen Lösungen. Kein Wunder, Gove überschätzte sein Testverfahren und seine eigene Rolle: „Possibly not since the days of Galileo has such a curious interaction between science and religion taken place.” Nur vor dem Hintergrund einer solchen aufklärerischen Mission konnte man sich rühmen, Spezialisten wegen ihrer angebli‐ chen Glaubensüberzeugungen a priori ausgeschlossen zu haben. Dabei hatten die Wissenschaftler von STURP, im Gegensatz zu Gove, Sox, McCrone und vielen am Radiokarbontest Beteiligten, das Grabtuch wenigstens aus der Nähe gekannt und studiert! Übrigens hatte der merkwürdige Test von 1988 fast ein Vierteljahrhundert danach ein or Hoax? 1‒42; D.H. Sox, The Image on the Shroud. Is the Turin Shroud a Forgery? London 1981, 163‒170. 71 Shroud of Turin Research Project: Formal proposal for performing scientific research on the Shroud of Turin. o. O. 1984; Stephen J. Lukasik, , Draft proto‐ col for the next examination of the Shroud of Turin. o. O. 1987. 72 H.E. Gove, From Hiroshima to the Iceman. The Development and Applica‐ tions of Accelerator Mass Spectrometry. Bristol 1999, 152: “Like all the sci‐ entific investigations that had gone before, their final published results were ambiguous and generally of negligible importance despite the time and money expended. STURP’s members were so convinced it was Christ’s shroud that I was determined to prevent their involvement in its carbon dating. I feared the most important measurement that could be made on the shroud would be rendered less credible by their participation. Fortunately in this I was successful.” Dieses Zitat besagt mehr über den intellektuellen Hintergrund des Tests als alle Berechnungen. Einführung und Kongressnotizen 43 ebenso bemerkenswertes Nachspiel. Im Jahr 2010 veröffentlichte das seinerzeit am Test beteiligte Labor von Tucson einen Nachtrag zum Beweis, dass man, allen Verdächtigungen zum Trotz, 1988 wirklich ein Stück vom Grabtuch (und nicht vielmehr etwas Anderes) gemessen habe.73 Allerdings schossen sie damit, wie ein dem Grabtuch durchaus kritisch eingestellter Beobachter bemerkte, ein Eigentor, weil sie genau das Gegenteil bewiesen!74 Indessen: man muss sich gar nicht an Verschwörungstheorien betei‐ ligen, da auch so unverrückbar feststeht: Die Historiker dürfen Radio‐ karbondaten nie isoliert betrachten und ihnen nicht blind vertrauen. Wer es dennoch tut, findet sich in guter Gesellschaft mit jenen Mön‐ chen von Montecassino, die kurz nach dem Jahr 1000 ein Leinenstück‐ chen aus Jerusalem auf Echtheit überprüfen wollten und daher einer Feuerprobe unterzogen. Sie standen damit durchaus auf der Höhe der zeitgenössischen Rationalität (ob das Tüchlein nun, wie spätere mein‐ ten, aus Asbest war oder nicht).75 Selbstverständlich wird man nun einwenden, das Radiokarbonda‐ tum stehe im Einklang zur historischen Überlieferung zum Grabtuch, wonach das Grabtuch ein im 14. Jahrhundert entstandenes Gemälde sei.76 Bei Lichte besehen reduziert sich diese ‚Evidenz’ freilich auf einen 73 R.A. Freer‐Waters u. A.J.T. Jull, Investigating a dated piece of the Shroud of Turin. Radiocarbon 52 (2010) 1521‒1527. 74 G.M. Rinaldi, Autogol a Tucson (2010‒11). Siehe http://sindone.weebly.com/autogoltucson.html [14.05.2016]. 75 Leo Ostiensis, Chronica monasterii Casinensis 2,33 (MGH 34, 229f.). Siehe J.U. Büttner, Asbest in der Vormoderne. Münster 2004, 91f. 76 Für die unhaltbare Gemälde‐These wird neuerdings wieder ein Gerücht hervorgezogen, das Arthur Prévost dem Ulysse Chevalier schon Anfang 1902 mitgeteilt hatte (Nicolotti, Sindone, 76; 139 Anm. 75; A. Nicolotti, Il pro‐ cesso negato. Rom 2015, 46‒48; 151‒154): Herzog Pierre Eugène de Bauf‐ fremont habe den Namen des Künstlers, der das Turiner Grabtuch gemacht habe, gefunden und König Umberto I. von Savoyen mitgeteilt. Dieser habe ihn gebeten, Stillschweigen zu bewahren und das Geheimnis für sich zu behalten. Tatsächlich erwähnte Prévost die Studien des Herzogs von Bauf‐ fremont im Fonds de Charny des Archivs von Seine‐et‐Oise bereits 1899 (Revue de Champagne et de Brie 2,11 (1899‐1900) 801). Das einzig Neue aus diesem Fonds hat dann Baron Joseph du Teil unter Berufung auf den Her‐ zog veröffentlicht, und zwar in einer Schrift, die er dem Herzog gewidmet hat (J. du Teil, Autour du Saint Suaire de Lirey. Paris 1902, 19f.; 22; 25; 44.). Niemand wird ernsthaft glauben, der Herzog habe den befreundeten Baron über die Affäre unter Henri de Poitiers so negativ schreiben und absichtlich in die Irre gehen lassen, obwohl er die Wahrheit kannte. Das wäre ein schö‐ ner Stoff für Verschwörungstheoretiker, ist aber falsch, wie eine Bemerkung 44 Karlheinz Dietz für seinen Prokurator am Papsthof gedachten Briefentwurf des sich übergangen fühlenden und beleidigten Bischofs Pierre d’Arcis an (Ge‐ gen)‐Papst Clemens VII. aus dem Jahr 1389.77 Der Einspruch des Bi‐ schofs von Troyes erfolgte wegen Verstoßes gegen die unterstellte Wahrheitspflicht des Impetranten (veritas precum), indem er behaupte‐ te, dem Papst bzw. seinem Kardinallegaten ‚a latere‘ sei ein früherer Eklat um die Sindone verheimlicht worden. Etwa 34 Jahre vorher78 ha‐ be der damalige Bischof von Troyes die Herkunft des Tuches unter‐ sucht und danach seine Ausstellung schon einmal verboten; durch die Auffindung des Malers habe er es als Menschenwerk entlarvt. Der Papst sah indessen keinen Grund, die Ausstellung eines Objekts zu verbieten, das der Besitzer selbst eine „Darstellung“ (repraesentatio seu figura) des „wahren Schweißtuchs unseres Herrn Jesus Christus“ ge‐ nannt hatte79 und die er am 28. Juli 1389, gestützt auf seine päpstliche Vollgewalt, ex certia scientia beschieden hatte. Er ignorierte den von L. Delisle, Lettres. III. Valence 1912, 128 an Chevalier vom 30. Mai 1902 beweist: „M. Du Theil a obtenu la communication de tout ce que M. de Bauffremont possède et connaît sur la question.“ Es ist also kein Wunder, dass Nicolotti den Phantom‐Maler des Turiner Grabtuchs nicht gefunden hat, weil es ihn, wie das Objekt selbst beweist, nicht gegeben hat. Daran än‐ dern auch nichts die Kreidegrund‐Phantasien von C. Freeman, The origins of the Shroud of Turin. History Today 64 (11) (2014) 38‒45; hier: 43f., die ihre Bestätigung ausgrechnet in den Untersuchungen der ‚Pseudowissenschaft‐ ler‘ von STURP finden müssen; sie sind nicht mehr wert als die dilettanti‐ schen Ausführungen über mittelalterliche Malerei bei W.C. McCrone, Judg‐ ment Day for the Turin Shroud. Chicago 1999, 1; 117‒122. 77 Eine Abfassungszeit des Briefentwurfs „nei primissimo giorni del 1390“ (Nicolotti, Sindone, 76) überzeugt nicht, weil der Prokurator Guillaume Ful‐ conis in Avignon den viel zu langen Text ganz sicher noch dem kurialen Stil und der dafür nötigen Brevitas anpassen musste. Obwohl er ein erfahrener Mann war, kostete das ebenso Zeit wie der Geschäftsgang in der Kurie, für die der Vorgang schwerlich besondere Dringlichkeit hatte. Die Streichun‐ gen im Jahr 1390 dauerten vier Monate. Pierre d’Arcis schrieb also bald nach dem Brief des Papstes an Geoffroy de Charny II. vom Juli/August 1389, den er kannte, aber noch nicht gesehen hatte: michi perpetuum silentium imponendo, prout fertur, quia ipsarum licterarum copiam habere nequivi. Die Ein‐ schaltung des Parlaments mit den bekannten Folgeereignissen lagen zeitlich davor. 78 Pierre d’Arcis gab, wissentlich oder nicht, mit Sicherheit ein falsches Datum der ersten Ausstellung an. Die Formel vel circa, die dem Juristen aus der Fe‐ der geflossen ist, ist allerdings kein Beleg für Unkenntnis, sondern vielmehr eine gängige juristische Absicherung. 79 Das wahre Sudarium lag nach damaliger Auffassung in Rom und war die Veronica. Einführung und Kongressnotizen 45 Einspruch in der Hauptsache, verlangte aber (und hier zeigt sich der Einfluss des Einspruchs), dass die Ausstellung des Tuchs künftig ohne kirchliches Zeremoniell stattfinden und laut und deutlich erklärt wer‐ den müsse, worum es sich handele. Im Übrigen wies Papst Clemens den Bischof brüderlich zurecht und bedrohte ihn mit der automati‐ schen Exkommunikation, sollte er den päpstlichen Anordnungen zu‐ widerhandeln. Damit nicht genug, korrigierte der Papst seine Bulle vom 6. Januar 1390 bereits Ende Mai, selbstverständlich auf Drängen des Petenten, an einigen Stellen noch einmal und strich unter anderem die Formulierung, beim Grabtuch handele es sich um irgendein Ge‐ mälde (quedam pictura seu tabula facta).80 Abgesehen von der Tatsache, dass die letztgenannte Korrektur des Papstes über ein Jahrhundert im‐ mer wieder verschwiegen oder verschleiert wurde,81 hat sich an 80 Vgl. Nicolotti, Sindone, 65‒83 und die in der folgenden Anm. genannte Lite‐ ratur. 81 Nicolotti, Sindone, 140 Anm. 86 versucht, trotz der und gegen die klaren Darlegungen von E. Poulle, Chevalier vor dem Vorwurf der Verschleierung und bewussten Irreführung in Schutz zu nehmen. Tatsache ist: Papst Cle‐ mens VII. hat im Mai 1390 seine Charakteristik des Grabtuchs in der Bulle vom Januar 1390 korrigiert. Statt sed quedam pictura seu tabula facta in figuram et representacionem hieß es jetzt nur noch sed tanquam figuram seu representa‐ cionem. Von einer Streichung der Phrase quedam pictura seu tabula facta, durch die sich Clemens von einer Malerei distanzierte, steht in den mir ver‐ fügbaren Ausgaben von U. Chevalier, Autour des origines de Suaire de Li‐ rey, avec documents inédits. Mémoires de l’Académie des sciences, belles‐ lettres et arts de Lyon 3 (1903a) 237‒312; hier: 244‒246 = separat: Paris 1903, 12‒14 kein Wort. Im kritischen Apparat zu Dokument J (ebd. 267 = 35) soll sich laut Nicolotti die „seconda versione“ der Bulle finden. Wirklich sicht‐ bar wird dort freilich nur, dass im Mai 1390 statt seu ursprünglich et und statt in später sed tanquam geschrieben wurde. Daraus könnte nicht einmal ein Hellseher erschließen, was tatsächlich geändert wurde. Der 1903 62jährige Chevalier wird schwerlich schon vergessen haben, wie man einen richtigen Apparat schreibt. Deshalb bleibt es dabei, dass er die Streichung der zitierten Phrase zur Verschleierung des wirklichen Sachverhalts unter‐ schlagen hat. Das beweist auch sein Satz: « Les documents exhumés dans mon Etude et en partie reproduits plus loin ont établi, avec une évidence saisissante pour quiconque a le sens critique, qu’on est en présence d’une peinture, dont ils fixent l’époque avec une précision qui ne laisse guère à désirer. » (ebd. 248 = 16; vgl. Chevalier, L’Université Catholique 41 (1902) 433). Mit diesem Verfahren hat er sogar zünftige Historiker getäuscht (etwa V. Saxer, Revue d’Histoire de l’église de France 76 (1990) 33; 37). Chevaliers soeben zitierter Satz, mit dem er seinerzeit die Kontroverse um das Grab‐ tuch beschlossen hat, ist leider genauso wenig zutreffend wie Nicolottis Be‐ hauptung, er habe jetzt das Problem „alla radice“ gelöst. Tatsächlich tat dies schon lange vor seiner Geburt L. Fossati, La Santa Sindone. Turin 1961, 110f.; 46 Karlheinz Dietz diesem Befund in den letzten 115 Jahren im Grunde nichts geändert. Angesichts der allzu vielen Leerstellen der Lirey‐Kontroverse von 1389/90 ist der im Zorn verfasste Briefentwurf des Pierre d’Arcis nur ein Zeugnis gegen die anderen. Die gesamte Affäre ist auch vor dem Hin‐ tergrund der Spannungen zwischen Avignon und Rom im Vorfeld des Heiligen Jahres 1390 zu interpretieren und vor dem unleugbaren Tat‐ bestand, dass weder Kläger noch Richter das strittige Objekt wirklich gesehen haben. Zurecht hat man schon vor mehreren Jahrzehnten be‐ tont, dass heute jedes Gericht (wie seinerzeit das päpstliche) den Text des Pierre d’Arcis als Beweismittel abweisen würde und man sich da‐ her frage, „was die Gegner der Echtheit sagen würden, wenn die Ver‐ teidiger sich auf das „Zeugnis“ einer solch dunklen Existenz berufen müßten, etwa um die Herkunft der Reliquie aus Palästina zu beweisen! Des Hohngelächters wäre kein Ende.“82 Es war folglich pure Unkennt‐ nis des wirklichen Sachstandes und ein arges Missverständnis der hi‐ storischen Überlieferung, wenn die 1988 am Radiokarbontest beteilig‐ ten Naturwissenschaftler, die entgegen sonst üblicher Zurückhaltung ihr Ergebnis selbst kommentierten, die Meinung vertraten, ihr Datum wäre „consistent with the Shroud’s historic date“ und daher „a public triumph for AMS“.83 Wer das Turiner Grabtuch für ein mittelalterliches Artefakt hält, ge‐ rät in arge Erklärungsnöte. Zum einen wäre zu begründen, warum bei einer so anfälligen Methode wie der 14C‐Datierung die sonst üblichen Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Materialproben nicht mehr gel‐ ten, wenn es sich um ein Objekt von sehr großem öffentlichen Interesse handelt. Entsprechende Warnungen von höchst kompetenter Seite im Vorfeld des Tests von 1988 wurden einfach in den Wind geschlagen.84 Die Kontaminationsmöglichkeiten des Turiner Leinens mit rund zehn Quadratmetern waren, sollte das Tuch wirklich aus dem Grab Jesu stammen, theoretisch so gewaltig und sind praktisch so wenig bekannt, dass kein mit dem archäologischen Alltagsgeschäft halbwegs Vertrau‐ vgl. aus der Fülle der späteren Wortmeldung nur noch L. Fossati, La Sacra Sindone. Leumann (Turin) 2000, 38‒42 und selbstverständlich Poulle, Ulysse Chevalier, 357. 82 A. Koch, Stimmen der Zeit 157 (1956) 413. 83 So z. B. H.E. Gove, in: E. Taylor u. a. (Hrsg.), Radiocarbon after four decades. New York 1992, 222. 84 W. Meacham, On carbon dating the Turin Shroud. Shroud Spectrum Interna‐ tional 19 (1986) 15‒25; W. Meacham, Radiocarbon dating and the age of the Turin Shroud‐probabilities and uncertainities, in: W. Meacham (Hrsg.), Turin Shroud – Image of Christ? Hongkong 1986, 41‐56. Einführung und Kongressnotizen 47 ter einer von der Erwartung drastisch abweichenden Datierung mehr als eine Fußnote widmen würde. Selbstverständlich denkt in der tägli‐ chen Praxis niemand daran, eine Römerstraße in Südbayern, die nach dem archäologisch‐historischen Befund und den dendro‐datierten Holzbohlen im Jahr 43 n. Chr. angelegt wurde, nur deshalb nicht für römisch zu halten, weil dort aufgefundene Hölzer nach Radiokarbon‐ daten in der Zeit zwischen 1618 v. Chr. und 531 n. Chr. gefällt worden sein müssten.85 Ebenso selbstverständlich ist das inschriftlich auf 179 n. Chr. datierte römische Legionslager von Regensburg nicht erst in agilolfingisch‐karolingischer Zeit erbaut worden, weil die Holzkohle in den Mörteln der Quadermauer nach jüngeren 14C‐Messungen in die Zeit zwischen 15 und 1346 n. Chr., mit einem deutlichen Schwerpunkt zwischen 600 und 850 n. Chr. datiert wurde.86 Die reale Welt ist eben viel komplexer als wir uns das gelegentlich wünschen (und Harry Go‐ ve & Co. geglaubt haben und glauben).87 Zum anderen bleibt zu erklären, wie und warum gerade im 14. Jahr‐ hundert, in einer Zeit, in der ein schmuckloser Leinen‐/Seidenstoff zum Tischtuch des Abendmahls in der Umgebung des Kaisers werden konnte,88 eine auch ikonographisch einzigartige Reliquie durch die or‐ thogonale Projektion eines in allen Details stimmigen, gekreuzigten Leichnams angefertigt wurde. Diese ‚Fälschung’ war denn auch un‐ glaublich ‚erfolgreich’, so sehr, dass bereits ihre ersten beiden Ausstel‐ lungen sofort verboten wurden! Bleibt man lauter, so sind auch die jüngsten Versuche, das Turiner Grabtuch (oder besser die Vorderan‐ sicht des Toten) ohne Fotoapparat herzustellen, allenfalls auf Anhieb ähnlich, und das, obwohl sie sich des besten Wissens unserer Zeit be‐ dienen können.89 Bezüglich der Bildentstehung des Grabtuchs ist im Moment nur eines sicher, dass wir sie nämlich noch immer nicht erklä‐ ren können. Eine spezielle Grabtuchbrille hat aufgesetzt, wer all die defektösen Versuche als erfolgversprechend ausgibt.90 Von den foto‐ grafischen und digitalen Reproduktionen abgesehen, ist mit den 85 Siehe K. Dietz, in: E. Maier (Hrsg.), Das Turiner Grabtuch. Wien 2005, 227f. 86 W. Von Gosen u. a., Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 54 (2013) 429‐438. 87 Einige, wie Meacham, Rape, 242‒250, fordern einen neuen Radiokarbontest, den es schwerlich geben wird, weil wir Objekte nicht solange mit dem glei‐ chen Verfahren testen können, bis jeder zufrieden ist. 88 Z. B. B.D. Boehm, Der gläubige Herrscher. München 2006, 154. 89 Beispielsweise L. Garlaschelli, Journal of Imaging Science and Technology 54 (2010) 040301‒14; G. Fanti u. T. Heimburger, ebd. 55 (2011) 020102‒1‒3. 90 Nicolotti, Sindone, 280‒282; 333f. 48 Karlheinz Dietz Mitteln des 14. Jahrhunderts bis heute kein wirklich vergleichbares Bild erzeugt worden.91 Daraus aber folgt: im Jahr 2016 muss das Turiner Grabtuch – selbst wenn seine Entstehung eines Tages erklärt werden sollte – immer noch als nicht von Hand gemachtes Bild, als Acheiro‐ poietos, gelten.92 Dies führt zurück zur Geschichte der Acheiropoieten. Auch hier dominieren eher postmoderne Verhältnisse. Zum einen ist der lange Arm jener prominenten „Skeptikerin“ zu nennen, die 1980 zu der stö‐ renden Hypothese, Grabtuch und Edessabild könnten ein und dieselbe Sache sein, sogleich sicher war: „This cannot be true“.93 Ihre professio‐ nell vorgetragenen Argumente schließen eine Möglichkeit a priori und kategorisch aus. In ihrem Gefolge bewegen sich viele Arbeiten zum Edessabild, das als zunehmend jüngeres Phänomen erscheint, weil die ältere Überlieferung, teilweise mit grotesker Willkür, als spätere Inter‐ polation gebrandmarkt wird. Mindestens ein Dutzend der frühesten Bildzeugnisse wurde inzwischen weginterpretiert oder als Interpolati‐ on verdächtigt.94 91 Erfolgversprechend vielleicht P. Di Lazzaro u. a., Applied Optics 51 (2012) 8567‒8578; vgl. noch M. Latendresse, Mediterranean Archaeology and Ar‐ chaeometry 14 (2014) 367‒373. 92 Der einzige ‚Ausweg’, den N. Allen, The Turin Shroud and the Crystal Lens. Port Elizabeth 1998 mit seiner Annahme einer mittelalterlichen Urfotografie gewiesen hat, ist trotz P. Loyson u. a., South African journal of science 101 (1/2) (2005) 36‒42 noch unwahrscheinlicher als die Annahme einer Urfoto‐ grafie im Grabe Jesu. 93 A. Cameron, The Sceptic and the Shroud. London 1980; A. Cameron, The his‐ tory of the image of Edessa. The Telling of a Story. Harvard Ukrainian Stu‐ dies 7 (1983) 80‒94; siehe aber A.‐M. Dubarle, Histoire ancienne du linceul de Turin jusqu’au XIIIe siècle. Paris 1985; I. Wilson, The Shroud and the Mandylion: A reply to Professor Averil Cameron, in: W. Meacham (Hrsg.), Turin Shroud – Image of Christ? Hongkong 1987, 19‒28. 94 Das gilt für das in auserlesenen Farben gemalte Christusbild in der Doctrina Addai, die Verehrung des Christusbildes durch Daniel von Glosh, die syri‐ sche Hymne anlässlich der Neueinweihung der orthodoxen Kathedrale von Edessa, „das gottgemachte Bild, das Menschenhände nicht gefertigt hatten, vielmehr Christus, der Gott“ bei Evagrios, das von Jesus in Leinen gedrück‐ te Bild in den syrischen Akten des Mari, die Erwähnungen des Edessenums in der Rede des Patriarchen Germanos vor Leon dem Isaurier, im Brief Papst Gregors II. an eben diesen Kaiser, in den Schriften des Johannes von Damaskus, im Synodalbrief der drei orientalischen Patriarchen von 836 und bei Theodor Abu Qurra. Siehe vor allem H.J.W. Drijvers, The image of Edessa in the Syriac tradition, in: Kessler u. Wolf, The Holy Face, 13‒31; J. Chrysostomides, in: J.A. Munitiz, u. a. (Hrsg.), The Letter of the Three Patri‐ Einführung und Kongressnotizen 49 Jede Ähnlichkeit zwischen Turiner Grabtuch und Mandylion zu‐ rückgewiesen wird jüngst auch in mindestens drei Buchveröffentli‐ chungen und ebenso vielen Aufsätzen, denen zufolge das Edessabild niemals mehr als das Antlitz gezeigt hat.95 Hier sei lediglich ange‐ merkt, dass der Autor – ein entschiedener Gegner der Sindone – gar nicht merkt, dass er im Grunde nur beweist, dass der Mainstream der Nachrichten über die Edessabilder (‚Mandylien‘) nicht mit dem Grab‐ tuch übereinstimmt. ‚Wahrheit‘ wird aber, wofür sich drastische Bei‐ spiele anführen ließen, nicht numerisch entschieden. Außerdem wurde schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass nach unserer Überlieferung 944 ein Edessabild nach Konstantinopel transferiert wurde, das als Lei‐ nenbild verstanden wurde, welches auf einer kleineren Holzplatte auf‐ gezogen war (und mehr Ähnlichkeit mit den Abgarbildern von Genua und Rom hat als mit dem Grabtuch), dass aber dessen Bezeichnung temmáchion der älteren als tetrádiplon entgegensteht.96 Der Radiokarbontest hat die Frage selbstverständlich zusätzlich be‐ lastet. Wer will schon Mitglied der ‚Flat Earth Society‘ sein, wozu nach dem Oxforder Tester jeder gehört, der an der Datierung von 1988 zwei‐ felt? Infolgedessen kann man inzwischen bei einem kritischen Kunsthi‐ storiker lesen, dass im Jahr 944 Gregor Referendarius das Edessabild von der Vorstellung eines bestimmten Augenblicks, in dem es entstan‐ den sein könnte, ablöse. Es dokumentiere nicht allein die Todesangst am Ölberg, sondern werde zum Zeugnis der Summe der Leiden Chri‐ sti, deren Zeichen das dominante Schweißmotiv umrankten. Eigentlich müsste man die Identität von Turiner Grabtuch und Edessabild erwä‐ gen, aber wegen der Radiokarbondatierung zwischen 1260 und 1390 sei dies „gegenstandslos geworden“. So bleibe die Frage, ob nicht das Edessabild ein ähnlich schemenhaftes Bild gezeigt habe wie jenes Grab‐ tuch. Wörtlich: „Das Turiner Grabtuch könnte durchaus eine dem Mandylion verwandte Bildtradition repräsentieren.“97 Einer der wenigen, die sich der Herausforderung des Turiner Grab‐ tuchs immer wieder stellen, ist Hans Belting. Er hat früh die Besonder‐ heit dieses Objekts gewürdigt98 und er benennt auch die Gründe für 95 96 97 98 archs to the Emperor Theophilos and Related Texts. Camberley 1997, XVII‒XXXVIII. Zuletzt A. Nicolotti, Dal Mandylion di Edessa alla Sindone di Torino. 2. Aufl. Alessandria 2015. K. Dietz, in: S. Scannerini u. P. Savarino (Hrsg.), The Turin Shroud, past, pre‐ sent and future. Cantalupa 2000, 340. M. Büchsel, Die Entstehung des Christusporträts. Mainz 2007, 118. H. Belting, Dumbarton Oaks Papers 34‐35 (1980‐81) 6; Ders., Das Bild und 50 Karlheinz Dietz die wissenschaftliche Reserviertheit: „Das Turiner Grabtuch […] wird sowohl von Historikern wie von Kunsthistorikern gemieden: von erste‐ ren, weil es erst seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert ist, und von letzteren, weil der Abdruck des Gesichts mit den geschlossenen Augen einer Leiche im offenen Widerspruch zur bekannten Christus‐ Ikonographie steht. (Wo sonst würde man eine gekreuzigte Figur mit Nagelspuren auf den Handgelenken, statt auf den Handflächen, und wo ein Gesicht finden, dessen Augen mit Münzen bedeckt sind?).“99 Im Jahr 1989 begründete er in einem Fernsehinterview, warum es für ihn „wenn es ein Maler im 14. Jahrhundert gemalt hätte, fast ein größe‐ res Wunder [wäre] als wenn es ein Original mit dem Abdruck Christi aus der Antike wäre.“100 Aber auch er verweigerte sich der Mittelalter‐ datierung nicht. In seinem großen Werk über ‚Bild und Kult’ meinte er kurz danach: „Nur das Leichentuch von Turin, dessen verlorenes Ori‐ ginal offenbar schon in Byzanz als Grablinnen Christi verehrt wurde, steht mit dem Abdruck eines Toten dem fiktiven Abdruck eines Le‐ benden auf diesen Tafeln [des Abgarbildes in Rom und Genua] nahe. Wie man diesen Befund interpretieren soll, mag jeder selbst entschei‐ den.“101 Tatsächlich ist es ein paradoxes Mirakel, wie ein echtes Lei‐ chentuch zur Kopie des verlorenen Originals werden kann. Inzwischen sieht Belting im Grabtuch von Turin den Beweis für ein Fortdauern des Mythos vom heiligen Antlitz bis in die Gegenwart. Dar‐ in fände sich die nämliche, beinahe obsessive Neugier wieder wie sie für den Mythos der heiligen Antlitze typisch gewesen sei. Auch sehe man am Turiner Grabtuch am besten, was es mit diesen Mythen auf sich habe: der wahre Zustand des Bildes könne in beiden Fällen miss‐ achtet werden.102 Auch dieser Satz enthält wieder ein Paradoxon: denn sein Publikum im Mittelalter. Berlin 1981, 162f. 99 H. Belting, Das heilige Porträt. Die Ikone als Manifest, in: C. Werntgen (Hrsg.), Szenen des Heiligen. Berlin 2011, 39–56, hier: 56. Vgl. H. Belting, In Search of Christ’s Body. Image or Imprint? in: Kessler u. Wolf (Hrsg.), The Holy Face and the Paradox of Representation. Bologna 1998, 1‒12; hier: 8f.: „Art historians dislike the Shroud, as the latter either is an original (thus an‐ tedating Christian imagery) or is a late medieval fake (thus postdating the history of intelligent and beautiful images).” Man sollte so manche Exege‐ ten nicht vergessen: A.‐M. Dubarle, Histoire ancienne du linceul de Turin. II. Paris 1998, 13‒26. 100 H. Belting, in: Jesus, oder wer war der Mann? Film von Ronald Granz, Süd‐ deutscher Rundfunk Stuttgart, 24. März 1989. Ob das Interview vor oder nach Oktober 1988 gemacht wurde, ist mir nicht bekannt. 101 Belting, Bild und Kult, 236; 640 Anm. 8. 102 Belting, In Search of Christ’s Body, 8f. Einführung und Kongressnotizen 51 „der wahre Zustand“ des Turiner Grabtuchs deutet eher darauf hin, dass seine Kritiker einem Mythos anhängen. Für Belting liefert das Turiner Tuch „eine gewisse Einsicht in das In‐ teresse an den frühen Wunderbildern, deren Gesicht angeblich vom Gesicht des lebenden Jesus wie ein Negativ zwar nicht abgelichtet, aber abgedrückt worden war und daher authentisch in dem Sinne war, daß es die Echtheit seines Körpers bewies. Doch schließlich siegte das Por‐ trät über den Abdruck, weil es mit offenen Augen blickte und damit ein neues Erlebnis von Präsenz vermittelte“.103 Und an anderer Stelle sagt er über die Suche nach dem Heiligen Antlitz: Nach dem Corpus der frühen Quellen ging es „nicht um das Gesicht als solches, ein le‐ bendiges Gesicht, das man betrachten und in das man sich versenken sollte, sondern um das Gesicht als greifbare und sichtbare Spur eines verlorenen Körpers.“104 Das aber trifft in paradoxer Weise gerade auf das Turiner Grabtuch zu, zumal der Mann auf dem Grabtuch erst seit der Fotografie von 1898 die Augen eindeutig geschlossen hat. Die frü‐ heren, teilweise durchaus tüchtigen Kopisten des Tuchbildes haben den Dargestellten fast alle mit offenen Augen wiedergegeben105 und aus ihrer Sicht hatten sie damit recht: Denn auch das Original des Turi‐ ner Grabtuchs zeigt scheinbar einen toten Gekreuzigten mit geöffneten Augen.106 Hinzuweisen ist ferner auf die grundsätzliche Bedeutung von Gottes Körper im Judentum und auch im frühen Christentum107 und auf die früh einsetzenden, heftigen Auseinandersetzungen um die Beschaffenheit des Leibes Christi, das Verhältnis seiner menschlichen 103 Belting, Das heilige Porträt, 56; vgl. Ders., Das echte Bild, 63‒67. 104 Belting, Das heilige Porträt, 40. Ähnlich noch öfters: Ders., Face oder Trace? Zur Anthropologie der frühen Christus‐Porträts, in: S. Weigel (Hrsg.), Ge‐ sichter. München, Paderborn 2013, 91‐102; Ders., Faces. Eine Geschichte des Gesichts. München 2013, 148‐155. 105 Vgl. nur L. Fossati, Il negativo del volto nelle copie della Sindone, in: L. Coppini u. F. Cavazzuti (Hrsg.), Le icone di Cristo e la Sindone. Un model‐ lo per l’arte cristiana. Mailand 2000, 195‒203; C. Barta u. A.V. Carrascosa, The Shroud of Turin and its ancient copies. Scientific Research and Essays 7 (2012) 2526‒2544. 106 Außerdem sind die Leidensspuren im Antlitzbereich so gering, dass man die Bildentstehung, betrachtet man nur das Gesicht, sehr wohl nur in die Nähe der Passion rücken konnte. A. Nicolotti, From the Mandylion of Edessa to the Shroud of Turin. Leiden, Boston 2014, 36‐38 muss das selbst‐ verständlich, auch mit einem „digitally enhanced“ Foto bestreiten. 107 A. Wagner, Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Men‐ schengestaltigkeit Gottes. Gütersloh 2010; C. Markschies, Gottes Körper. Jü‐ dische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike. München 2016. 52 Karlheinz Dietz ‚Knechtsgestalt‘ (δούλου μορφὴ) zur göttlichen Gestalt (Θεοῦ μορφὴ), die – verstärkt von der im platonischen und neuplatonischen Denken verankerten Unterordnung des Materiellen unter das Geistige – in end‐ losen Debatten über die Körperlichkeit des Erlösers mündete.108 Das waren schlechte Zeichen für die Revelation des Turiner Grabtuchs, das – seine Herkunft aus dem Grab vorausgesetzt – anfangs verschwinden musste, um der Zerstörung zu entgehen. Hat dann die Suche nach dem Antlitz Christi die Suche nach ihm substituiert? Wie dem auch sei, das Turiner Grabtuch war jahrhundertelang ein Christusbild, das – je nach Standpunkt – glühend verehrt oder unter Hinweis auf das Schweigen der Evangelien abgelehnt wurde. Das hat sich inzwischen geändert. Erneut darf man Belting zitieren: „Wir sind heute mit so vielen Bildern gesättigt, dass wir das Tuch nicht als Bild brauchen, sondern als Beweisstück. Und darüber entscheidet die Na‐ turwissenschaft, die inzwischen die erste Adresse unseres Glaubens geworden ist.“109 Seit 1898 und erst recht seit 1988 tobt das Kreuzfeuer um die Deu‐ tungshoheit des Grabtuchs, und dabei wird nicht selten mit harten Ban‐ dagen gekämpft, mit Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Verdrehungen und Erfindungen. Wurde früher das Schweigen der Überlieferung zum Hauptargument, so ist heute fast alles recht, notfalls sogar die persönli‐ che Verunglimpfung. Das Turiner Grabtuch gehört zwar seit 1983 dem Papst, aber es ist kein Objekt der katholischen Kirche. Möglicherweise aus der ostsyrischen in die griechische Orthodoxie gewechselt, gehörte es seit Mitte des 14. Jahrhunderts weltlichen Familien, zweifellos ein Grund dafür, dass es (anders als die Veronica) frühzeitig zugänglich geworden ist. Das Interesse am Grabtuch ist heute im Wortsinn katho‐ lisch, ‚allumfassend‘ oder ‚das Ganze betreffend‘. Die vierzig Natur‐ wissenschaftler von STURP von 1978 setzten sich aus vier Katholiken, drei Juden, sechs Agnostikern und 27 Protestanten zusammen. Der damals als Fotograf mitwirkende Barry Schwortz aus Los Angeles ist, wie er zu sagen pflegt, ein ʺJewish boyʺ: er betreibt mit www.shroud.com die größte Webseite zum Grabtuch – und sicher auch eine der besten. Das weitverbreitete Interesse am Grabtuch – auch jenseits der Ge‐ schäftemacherei und journalistischen Pflichtübung in der Karwoche – hat es zum Gegenstand merkwürdiger Allianzen und Mesalliancen 108 Jetzt Markschies, Gottes Körper, 247‐418. Siehe oben Anm. 19. 109 Belting, Das echte Bild, 63‒67. Einführung und Kongressnotizen 53 gemacht, die in zahllosen Webseiten und Blogs ihren Niederschlag finden. Gegen die Echtheit sind in den christlichen Kirchen hohe Würden‐ träger bis zu normalen Pfarrern und einfachen Gläubigen, aber auch Theologen, besonders Exegeten des Neuen Testaments, die das kom‐ plexe Objekt – wäre es echt – wohl schwer in ihre längst postmoderne Wortwissenschaft einordnen könnten. Ihnen zur Seite stehen etwa Kunsthistoriker und Historiker, aber auch bekennende Atheisten und selbsternannte Skeptiker, sog. Humanisten, zynische Spötter und noto‐ rische Kirchenkritiker, denen es um die Säuberung der Welt von Reli‐ gion und Aberglauben geht und denen ein Relikt des ‚Christusmär‐ chens‘ im Wege stehen muss. Auf der anderen Seite sind für die Echtheit in den christlichen Kir‐ chen hohe Würdenträger bis zu normalen Pfarrern und einfachen Gläubigen. Ihnen zu Seite stehen etwa Kunsthistoriker und Historiker, aber auch fromme Seelen und christliche Eiferer, die ihren ‚Glauben‘ durch materielle Überreste vernünftig beweisen wollen, beflissene Streiter gegen die säkularisierenden Ergebnisse moderner Evangelien‐ kritik und aufgeklärte oder aufklärerische ‚Christen‘, die aus dem Grabtuch die Entstehung des Auferstehungsglaubens erklären oder Christi Auferstehung als Scheintod erweisen wollen und darin den Muslimen, vor allem der (vom offiziellen Islam nicht anerkannten) Ahmadiyya‐Mission die Hände reichen. Die Tagungen von Würzburg und Wien hatten das Ziel, wenigstens an einigen Stellen ein paar Marksteine durch die Konfrontation der frü‐ hen Überlieferungen zum Christusbild mit der Realität des Turiner Grabtuchs zu setzen. Würzburg, 16.‐18. Oktober 2014 Christoph Dohmen (Regensburg) zeigt die alttestamentlichen Voraus‐ setzungen der Verehrung des Christusbildes auf. Im Judentum entwik‐ kelte sich das Bilderverbot aus dem Fremdgötterverbot hin zum Verbot der Kultbilder, nicht der Bilder überhaupt. Auch im Christentum wer‐ den nicht etwa die Bilder selbst kultisch verehrt, vielmehr vermittelt das Bild stets die Verehrung des Urbildes, das nicht wieder ein anderes Bild sein kann. Im Falle des Christusbildes ist der Verehrte eben Chri‐ stus selbst. Stefan Heid (Rom) verdeutlicht, dass bereits in den ältesten erhalte‐ nen Kirchen die Bildausstattung an den Längswänden gleichsam Pro‐ zessionen in Richtung Altarraum zeigt, in der Apsis selbst eine klare 54 Karlheinz Dietz vertikale Ausrichtung vom Bischofsthron hoch zum Christusbild er‐ kennbar ist. Die Text‐ und mögliche Bildüberlieferung zum Bild von Kamuliana, das als ältestes wunderbares Christusbild nach Konstantinopel transfe‐ riert wurde, untersucht Josef Rist (Bochum). Zu diesem sich rasch selbst kopierenden Bild gibt es zwei unterschiedliche Überlieferungen. Seit dem späten 6. Jahrhundert bis Justinian II. wurde es in Konstantinopel als Palladium betrachtet. Im Bilderstreit spielte es keine Rolle und wurde auf dem zweiten Konzil von Nicäa 787 zum letzten Mal offiziell genannt. Hans Georg Thümmel (Greifswald) gibt vor dem Hintergrund sei‐ nes profunden Wissens zur literarischen Überlieferung einen Überblick über den nur noch geringen ikonographischen Bestand von Christus‐ bildern des 6. bis 8. Jahrhunderts in Byzanz. Karl Christian Felmy (Effeltrich) betont die inkarnatorisch‐christolo‐ gische Verankerung der Ikonen in den Konzilsentscheidungen (bes. von 692 und 787) und in der Theologie des Johannes von Damaskus und beschreibt dabei den Weg zur orthodoxen Theologie der Christus‐ Ikone, den er an konkreten Beispielen erläuterte. Besonders bedeutsam wurde das Christusbild in der Geschichte des Edessabildes, die nach unserem derzeitigen Wissen mit der Erzählung von einem Brief Christi an König Abgar V. von Edessa in Mesopotami‐ en begonnen hat. Diesen Brief des Heilands nimmt Gregor Emmeneg‐ ger (Fribourg) ins Visier. Dabei legt er den Text einer neuen koptischen Version auf einem schmalen Papyrusamulett vor. Der Brief lief beson‐ ders in Ägypten als magischer Text um und wurde mit vielerlei ande‐ ren Zauberformeln vermischt. Unerklärlich ist nach Emmenegger, warum das Bild Christi in diesem magischen Zusammenhang keine Verwendung gefunden hat. Das in Edessa verehrte, angeblich von Christus selbst hergestellte und dem König Abgar übersandte Bild wurde seit dem 6. Jahrhundert als „nicht von Hand gemachte“ Ikone, als Acheiropoietos bezeichnet. Die älteste syrische Überlieferung dazu analysiert Peter Bruns (Bam‐ berg). Er zeigt, dass bereits Ephraem der Syrer († 373) diese Ikone ge‐ kannt hat. Im 9. Jahrhundert wurde sie sicher fußfällig verehrt. Selbst die Araber, die sie 944 an die Byzantiner auslieferten, nahmen davon in Hochachtung Notiz und griffen dabei auf eine sonst unbekannte ostsy‐ rische Tradition zurück, wonach das Bild entstanden sei, als sich der aus der Taufe steigende Jesus abgetrocknet habe. Andrew Palmer (Zwijndrecht) befasst sich mit als Mandylion bezeichneten Christusbildern von Edessa in der griechischen und Einführung und Kongressnotizen 55 syrischen Überlieferung bis etwa 944. Er gibt einen ausführlichen Überblick über die reichhaltigen Texte und trägt die Idee vor, es habe sich beim originalen Mandylion nicht um ein Farbbild auf flachem Lei‐ nen, sondern um eine modellierte Maske eines Lebenden gehandelt. Schon deshalb lehnt er eine Identität von Edessabild und Turiner Grab‐ tuch ab. Schließlich bespricht er das Christusbild in der syrischen ‚Vita des Daniel von Aghlosh‘ aus der Feder des Jakob von Sarug, das er als zwischen 413 und 417 gemaltes Bild betrachtet. Nach Christian Hannick (Würzburg) war die armenische Überliefe‐ rung mehr am Brief als am Christusbild König Abgars interessiert. Im‐ merhin findet sich letzteres aber bei Moses von Chorene, der neuer‐ dings von Einigen wieder ins 5. Jahrhundert datiert wird. Jadranka Prolović (Wien) verfolgt die von Byzanz ausgehende, da‐ mit verhältnismäßig junge, aber sehr reichhaltige slavische Überliefe‐ rung zum Christusbild. In Russland wird das Mandylion am häufig‐ sten und bis heute verehrt. Dabei ist eine Besonderheit, dass der Evangelist Lukas zum Boten des Königs Abgar wurde. Das Turiner Grabtuch selbst behandeln einige hochkarätige Spezia‐ listen. So analysiert Mechthild Flury‐Lemberg (Bern) das Grabtuch als Tex‐ til und stellt fest, dass nach dem textilen Befund nichts dagegenspricht, dass es aus der Zeit Jesu stammen könnte. Außerdem erläutert die namhafte Expertin für christliche Tuchreliquien die wechselvolle Ge‐ schichte dieses Leinens an seinen eigenen, zahlreichen Spuren. Der Mathematiker Bruno Barberis (Turin) gibt einen anschaulichen Überblick über den Stand der naturwissenschaftlichen Forschungen zum Grabtuch und widmet sich dabei der Bildentstehung, den Blutun‐ tersuchungen, den Mikroorganismen, den Computeranalysen, der sog. Negativität der Fotografien und der Datierung des Tuchs. Der Exeget Giuseppe Ghiberti, Präsident der Turiner Diözesan‐ kommission für das Turiner Grabtuch, betont, dass die Bestattungsbe‐ richte der Synoptiker ohne Schwierigkeiten mit dem Turiner Grabtuch vereinbar seien. Bei Johannes erkläre sich die Mehrzahl othonia eventu‐ ell aus der Größe des Grabtuches, das leicht wie zwei aufeinanderlie‐ gende Tücher erscheinen kann. Wegen des fehlenden Bildes zwischen den Kopfabdrücken auf dem Grabtuch sei das sudarion vielleicht als Kinnbinde zu verstehen. Für Gian Maria Zaccone, Direktor des Grabtuchmuseums von Turin, liegt der historische Zusammenhang zwischen den frühen Acheiropoietoi Christi und dem Turiner Grabtuch in der übereinstim‐ menden Zugangsweise der Betrachter und Verehrer. Diese war nicht 56 Karlheinz Dietz von intellektueller Neugier, sondern von dem frommen Wunsch getra‐ gen, dem Mysterium des fleischgewordenen Gottes zu begegnen und so unmittelbar mit dem tragischsten Moment des irdischen Lebens Jesu verbunden zu werden. Den auch neuerdings wieder energisch bestrittenen Zusammenhang zwischen Edessabild und Turiner Grabtuch verfolgen einige Referen‐ ten. So geht Rainer Riesner (Dortmund) der Frage nach, ob es Hinweise für einen Weg des Turiner Grabtuchs von Jerusalem nach Edessa gebe. Von der plausiblen Annahme ausgehend, dass die Tücher aus dem Grab am ehesten innerhalb der Familie des Gekreuzigten aufbewahrt worden seien, kann er aufzeigen, dass in einem nichtkanonischen Text der Herrenbruder Jakobus tatsächlich mit Addai, dem Missionar von Edessa, verbunden ist. Karlheinz Dietz (Würzburg) wies mündlich darauf hin, dass alle Kopisten vor der Fotografie den Mann auf dem Turiner Grabtuch mit offenen Augen dargestellt haben. Ein Widerspruch zur Abgarlegende sei also nicht gegeben. Zudem gibt es sehr alte Texte, die dem Abgar‐ bild implizit und sogar explizit die Eigenschaft eines Ganzkörperbildes zuweisen und es nicht auf das ‚Mandylion’ reduzieren. Der Beitrag gibt eine Neuedition und einen Kurzkommentar des sog. Lateinischen Abgartexts. Carolina Lutzka (Würzburg) untersucht die Hymnentexte der Me‐ näen zum 16. August, dem Gedächtnis der Übertragung des Mandyli‐ ons von Edessa nach Konstantinopel, hinsichtlich der Bezeichnungen, der Beschaffenheit, des Materials und der Entstehung des Christusbil‐ des. Der Bezug zum Turiner Grabtuch ist nicht auszuschließen. Jannic Durand (Paris) betonte, dass das in Konstantinopel verehrte Mandylion durch den hl. König Ludwig IX. um 1240 in die Sainte Cha‐ pelle von Paris gebracht, später als ‚Veronica’ bezeichnet wurde. Es war also entgegen gelegentlicher Hypothesen unmöglich mit dem Turiner Grabtuch identisch. Besonders auffallend und erklärungsbedürftig ist nach Durand, dass diese Bild‐Reliquie bis zu ihrer Zerstörung in der Französischen Revolution im byzantinischen Reliquiar geblieben ist und das Interesse des Königs nicht auf sich gezogen hat. Ilaria Ramelli (Mailand) hält in einem (gesendeten) Beitrag die Gleichsetzung von Sindōn der Evangelien, Mandylion und Sindone di Torino für wahrscheinlich. Dagegen betont Alexei Lidov (Moskau), dass es sich beim Grabtuch und dem Mandylion um zwei verschiedene Reliquien gehandelt hat, die im Rahmen des heiligen Raums (Hierotopie) in der Pharoskapelle Einführung und Kongressnotizen 57 von Konstantinopel aufbewahrt wurden. Die dortige Sindon war viel‐ leicht mit dem Turiner Grabtuch identisch. Drei Tücher, die als Aēr, Epitaphios Thrēnos bzw. slavisch Plašča‐ nica und Antimension bezeichnet und im liturgischen Gebrauch der orthodoxen Kirche verwendet werden, erinnern an das Turiner Grab‐ tuch. Ihre zeitliche Entwicklung und ihre Übereinstimmungen und Un‐ terschiede behandelt anschaulich Enrico Morini (Bologna). Martin Illert (Hannover) beschreibt das Mandylion im Rahmen der antiken Theorie der visuellen Wahrnehmung. Im kataleptischen Schau‐ en sind der optische und der kognitive Vorgang nicht voneinander zu trennen. Außerdem unterstreicht er die soteriologische Dimension der Legende vom Christusbild von Edessa und äußert sich hinsichtlich der Identität mit dem Turiner Grabtuch zurückhaltend. Bischof Friedhelm Hofmann, der Schirmherr des Symposiums, zeig‐ te in seinem (nicht veröffentlichten) Abschlussvortrag am Beispiel mo‐ derner Christusbilder eindrucksvoll den individuellen künstlerischen Umgang in Vergangenheit und Gegenwart mit der Darstellung des in‐ karnierten Gottessohnes auf. Wie in den stets neu zusammengestellten Installationen ‘salve sancta facies’ von Dorothee von Windheim finden wir das Christusbild jeweils neu als wahres Bild in der individuellen Wahrnehmung. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist nicht einfach, ist selbst‐ verständlich von den subjektiven Gedanken des Verfassers geprägt und muss von den Teilnehmern der Tagung keineswegs gebilligt wer‐ den: Gegen einen antiken Ursprung des Turiner Grabtuchs kann weder die Exegese der Evangelien noch der textile Befund angeführt werden (Ghiberti, Flury‐Lemberg). Da die Frage der Bildentstehung offen ist und das Objekt selbst zeigt, dass ein großer Teil seiner Geschichte dun‐ kel bleibt (Flury‐Lemberg), bietet die Radiokarbondatierung des Lei‐ nens ins Mittelalter nur einen Zugang neben anderen (Barberis); er ist mithin nicht isoliert von den übrigen Annäherungsmethoden zu be‐ trachten (Dietz). Bis heute ist das Turiner Grabtuch mit vormodernen Mitteln nicht herstellbar (Barberis), weshalb es naheliegt, es mit der Überlieferung der ‚nicht von Hand gemachten‘ Christusbilder zu ver‐ gleichen. Die Darstellung Christi wurde von alttestamentlichen Vorbe‐ halten gegen Kultbilder nicht verhindert (Dohmen) und hat frühzeitig Eingang in liturgische Bildprogramme gefunden (Heid). Bei der Lektüre unserer Texte und dem Betrachten der – leider stark ausgedünnten Bildüberlieferung (Thümmel) – sind mehrere Gesichts‐ punkte von Gewicht: Zum einen ging es beim antiken Schauen nicht 58 Karlheinz Dietz um einen nur optischen, sondern um einen ganzheitlichen Vorgang (Illert), zum anderen ist der inkarnatorische und soteriologische Aspekt der Christusikone von Gewicht (Felmy, Illert). Hinzu kommen die von der platonischen bzw. neuplatonischen Priorität des Ideellen vor dem Materiellen geprägten ‚christologischen‘ Debatten. In der Diskussion um das Neben‐ und Ineinander von göttlichem und menschlichem prósōpon Christi bekam seit dem 4. Jahrhundert das Antlitz Christi als wesentlicher Teil des inkarnierten Gottes Christus besonderes Gewicht (Dietz). Nachdem die Ressentiments gegen christliche Bilder durch die normative Kraft des Faktischen zunehmend dahinschwanden, sollten die verschiedenen Positionen der theoretischen Kontroversen durch die kaiserliche Förderung des übernatürlich entstandenen Christusbildes im 6. Jahrhundert versöhnt werden. Dabei stand in Byzanz zunächst die nur wenig bekannte Acheiropoietos von Kamuliana im Vorder‐ grund, die zum Reichspalladium avancierte, aber im Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts bedeutungslos wurde (Rist). An ihre Stelle trat das Christusbild aus Edessa, das in der älteren Tradition einer Verbindung Christi mit König Abgar V. wurzelte. Dieser höchst komplexen und facettenreichen Überlieferung (Palmer, Ramelli) zufolge stand – soweit wir erkennen – am Beginn der relativ frühen Christianisierung Edessas ein Brief Christi an den genannten König. Diesem Schreiben wurde ei‐ ne besondere siegbringende und unheilabweisende Kraft zuerkannt (Emmenegger). Als schriftlich (oder auch mündlich) von Gott ausge‐ hender Urgrund der Christianisierung Edessas konnte der logischer‐ weise zu Lebzeiten, aber unmittelbar vor der Passion abgefasste Brief Christi als Palladium wirken, wurde aber auch in anderen Regionen besonders bevorzugt (Hannick). Neben oder aus ihm entwickelte sich die apotropäische Tradition eines auf Abgar zurückreichenden Christusbildes, das teilweise als in erlesenen Farben gemaltes, teilweise als von Christus selbst – und kon‐ sequenterweise gleichfalls zu Lebzeiten – erzeugtes Abdruckbild auf einer leinenen Sindon galt. Dieses ist möglicherweise bereits bei Ephraem dem Syrer bezeugt (Bruns), wurde aber ganz sicher im frühen 5. Jahrhundert als segensreiches Porträt Christi verehrt (Palmer). In diesem Zusammenhang gewinnt die Beobachtung an Gewicht, dass es Hinweise für eine frühe Verbindung zwischen dem Herrenbruder Jakobus und Addai, dem Missionar von Edessa gibt, was für einen Weg des Turiner Grabtuchs von Jerusalem nach Edessa nicht bedeutungslos sein dürfte (Riesner). Die Beschreibung eines von Gottes Hand stam‐ menden Bildes als von Gottes Hand stammendes Schreiben ist, zumal in einer stark zur metaphorischen Sprache neigenden Umgebung, Einführung und Kongressnotizen 59 keineswegs abwegig. Die Reduktion des Grabtuchs, auf dem der Ge‐ kreuzigte die Augen offen zu haben scheint (Dietz, Einführung), auf das Antlitz ist schon aus Gründen der Praktikabilität und angesichts der Bedeutung des prósōpon Christi kein ernsthaftes Problem. Hinzu kommt, dass es außerhalb des Mainstreams der Überlieferung in unter‐ schiedlichen Kontexten mehrere implizite Hinweise und ein explizites Zeugnis dafür gibt, dass in Edessa ein großes Leinen mit dem wunder‐ baren Abdruck des gesamten Körpers Christi in göttlich veränderter Form aufbewahrt wurde (Dietz, Ramelli). Damit verdeckt die spätere Überlieferung größtenteils den wirklichen Charakter und den Verbleib dieses Objekts, das wie alle Palladien versteckt bzw. substituiert wer‐ den und für die Gläubigen unnahbar bleiben musste. Da sich eine Acheiropoietos nur durch Autoreproduktion als Ab‐ druck vermehren konnte, wuchs die Zahl von Kopien angesichts der Konkurrenz christlicher Konfessionen in Edessa und der allgemein‐ menschlichen Sehnsucht nach der Schau des Heiligen. Selbstredend galten alle Reproduktionen als gleich wunderbar und echt, obwohl es sich offenkundig um kleine Gemälde auf Leinen handelte, die auf kaum DIN‐A4 große Holztäfelchen aufgezogen waren. Ein solches temmáchion passt indessen, man kann es drehen und wenden wie man will, unmöglich zu der anderen, offenkundig älteren Bezeichnung des Edessabildes als (rhakos) tetrádiplon, die auf ein gefaltetes Leinen hin‐ weist. Die Pluralität von Edessabildern in unserer vielfältigen und viel‐ sprachigen Überlieferung (Palmer, Ramelli) folgte der Form nach dem auf das Antlitz reduzierten Substitut, was freilich für die Empfindun‐ gen der Betrachter von nachgeordneter Bedeutung war. Tatsächlich entspricht die Frömmigkeit vor den Acheiropoietoi des ersten Jahrtau‐ sends der vor dem Grabtuch und der Veronica im Mittelalter (Zacco‐ ne). Das 944 nach Konstantinopel gelangte Mandylion war ambivalent, weil es in der Translationsüberlieferung als temmáchion bezeichnet wird, was schwer zu der sonstigen Überlieferung, etwa des Gregorios Referendarios und vor allem der Hymnentexte in den Menäen passt, die einen Bezug auf das Grabtuch nicht ausschließen (Lutzka). Nach Westen gelangten Exemplare kleinerer Edessabilder vor 1125 nach Rom (Dietz), bald auch zu den Südslaven und im späten 14. Jahr‐ hundert nach Genua (Prolović); auch das um 1240 in die Sainte Chapel‐ le von Paris übertragene Exemplar entsprach diesem Typ und nicht dem Grabtuch (Durand). Allerdings war im heiligen Raum der Pha‐ roskapelle von Konstantinopel auch eine dem Turiner Grabtuch ähnli‐ che oder identische Reliquie vorhanden gewesen, die in irgendeiner Form mit der kurz vor 1204 von Robert de Clari in der Blachernen‐ 60 Karlheinz Dietz kirche gesehenen sydoines mit dem Körperbild Christi zusammenhing (Lidov, Ramelli). Reflexe davon sind zudem in den liturgischen Grab‐ tüchern zu sehen, die ausgehend von den sich im 11. Jahrhundert in Konstantinopel entwickelnden Passionsbildern, in größerer Zahl aus dem orthodoxen Mittelalter erhalten sind und heute noch im Gedenken an die Passion Christi verwendet werden (Morini). Vom ersten Anschreiben an stand die sog. ‚Authentizität‘ des Turi‐ ner Grabtuchs nicht im Mittelpunkt der Tagung, und die einzelnen Teilnehmer beantworteten die Frage, ob dieses Tuch aus dem Grab Jesu stammen könnte, höchst unterschiedlich: von zustimmend über skep‐ tisch bis ablehnend. Das ist auch gar nicht anders zu erwarten, weil dieses Problem mit wissenschaftlichen Methoden schwerlich zu ent‐ scheiden ist. Die Naturwissenschaften können bestenfalls sagen, was das Turiner Grabtuch nicht ist, da es ‒ wie der jüdische Chemiker Alan Adler einmal sagte ‒ keinen akzeptablen naturwissenschaftlichen Nachweis Christi gibt. Die Geschichtswissenschaften aber müssen sich, wollen sie ehrlich bleiben, mit Wahrscheinlichkeiten bescheiden. Auch nach diesem Symposium bleibt das Paradoxon bestehen, dass das erst spät in der Überlieferung auftauchende Kreuzigungs‐‚Bild‘ des Turiner Grabtuchs ein Antlitz zeigt, welches der ‚kanonischen‘ Christusikone verblüffend ähnelt, aber offenbar am Ende der Entwicklung erscheint, obwohl es typologisch und aus mehreren anderen Gründen am Anfang stehen sollte. Die Wahrheit sieht man indessen auch hier „nur mit dem Herzen gut“, und dieses Schauen substituiert den in der christlichen Wortverkündigung verankerten Glauben nicht, es ergänzt ihn. Das Tu‐ riner Grabtuch ist, was immer es ist, eine Realität, die Realität einer Kreuzigung. Es zeigt eines der fürchterlichsten und anrührendsten Bil‐ der zugleich: eine stete Erinnerung an die Fähigkeit des Menschen zur grenzenlosen Grausamkeit, aber auch an die Hoffnung auf deren Überwindung. Schon deshalb ist es ist unbedingt der ernsthaften Erfor‐ schung wert. Wien, 17.‐18. März 2015 Die Wiener Tagung widmete sich in Ergänzung zur Würzburger der im Westen heimisch gewordenen Verehrung der Veronica als sudarium Christi und den damit zusammenhängenden aktuellen Fragen.110 110 Eine etwas längere Zusammenfassung in italienischer Sprache in: Archivio teologico Torinese 21 (2015) 421‒426. Einführung und Kongressnotizen 61 Giuseppe Ghiberti (Turin) behandelt das Begriffspaar sudarium und sindon. Ersteres dürfte im Zusammenhang mit der Bestattung Jesu auf‐ grund seiner besonderen Lage auf eine Kinnbinde hinweisen, das „zu‐ sammengerollt und dann nicht mehr aufgelöst worden“ ist. Die sindon der Synoptiker entspricht den johanneischen othonia, das einen Plural der Verkleinerungsform von othone darstellt und häufig mit „Binden“ übersetzt wird. Durch den Rückgriff auf die Überlieferungsvarianten einer Stelle im Buch der Richter (14,12f.) ergibt sich allerdings die syn‐ onyme Verwendungsmöglichkeit von sindon und othonia. Der Beitrag kontrastiert schließlich die Grabtücher des Neuen Testaments mit der ʺRealität des Grabtuchs von Turinʺ und plädiert dafür, dass diese auch von Exegeten als zusätzliche Informationsquelle verwendet werden sollte. Da das Urteil über diese ʺsindonische Realitätʺ im vorwissen‐ schaftlichen Bereich fällt, muss die Echtheitsfrage gar nicht beantwortet sein, um das Turiner Grabtuch anzunehmen. Jadranka Prolović (Wien) behandelt ein anderes wichtiges Begriffs‐ paar. In Anlehnung an die östliche Legende des Mandylion entwickelte sich im westlichen Frühmittelalter die Geschichte der hl. Veronica, die ein gemaltes Bild oder eine Acheiropoietos Christi besessen haben und damit Kaiser Tiberius in Rom geheilt haben soll. Mit der Translation des Abgarbildes nach Konstantinopel 944 und später auch in den We‐ sten wurden im 12./13. Jahrhundert Mandylion und Veronica‐Bild mit‐ einander verbunden und teilweise sogar identifiziert. Jenseits des Visuellen stellt der Musikwissenschaftler Alexander Rausch (Wien) eine ganz andere Welt der Verehrung des hl. Antlitzes (sancta facies) vor. Er behandelt die Konstanten und Varianten in der musikalischen Entwicklung der spätmittelalterlichen Veronicahymnen, soweit sie, wie in Handschriften, noch fassbar sind. Karlheinz Dietz (Würzburg) stellt, ausgehend von Beschreibungen der Veronica der letzten beiden Jahrhunderte, deren Übereinstimmung mit wesentlich älteren Schilderungen fest. Gestützt auf die Schriften von Giacomo Grimaldi und Francesco Maria Torrigio, wird die Arbeit des Kanonikers Pietro Strozzi von 1616/17 untersucht. Entgegen der weit verbreiteten Meinung hat nicht einmal der Sacco di Roma von 1527 die Veronica zerstört. Beweis ist der dunkle Fleck unter der rech‐ ten Wange, der schon früher immer wieder beschrieben und dargestellt wurde und auf modernen Fotos deutlich zu erkennen ist. Das heilige Objekt, das schon im Spätmittelalter keine deutlich erkennbaren Bild‐ spuren aufwies und als Gesichtsabdruck auch nicht aufweisen musste, war aber nie transparent. Es wurde bereits 1125 mit dem Abgarbild identifiziert, das einem erstmals aus mehreren Handschriften edierten 62 Karlheinz Dietz Text zufolge angeblich direkt aus Edessa in die Peterskirche gelangt war. Roberto Falcinelli (Rom) untersucht die von ihm persönlich vermes‐ senen Veronica‐Schreine von 1350 und 1675 und korrigiert Fehlurteile bezüglich der Veronica‐Überlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts, die fälschlicherweise für einen Diebstahl der Veronica geltend gemacht werden. Abschließend stellt er zehn mehrheitlich von ihm gefundene Kopien der Veronica vor, die Pietro Strozzi 1616/17 und andere wenig später angefertigt haben. Der Kunsthistoriker Erwin Pokorny (Wien) bestimmt den Volto Santo auf dem Schleier von Manoppello als lichtdurchlässige Tüch‐ leinmalerei, die hauptsächlich mit Tinte auf feinstem Leinen ausgeführt wurde. Diese in theoretischen Traktaten auch beschriebene Maltechnik wurde ganz sicher am Ende des Mittelalters nördlich der Alpen prakti‐ ziert, ist jedoch wegen der leichten Vergänglichkeit der Objekte nur noch selten erhalten. Stilistisch sind auf dem Volto Santo von Manop‐ pello Anklänge an Gemälde des Löwener Stadtmalers Dirk Bouts zu erkennen, doch weist die Stirnlocke auf einen deutschen Künstler. Die Durchsichtigkeit wird allein durch die Abstände der Gewebefäden er‐ reicht und ist zwar beeindruckend, aber nicht wunderbar. In einer kurzen Intervention zeigt Mechthild Flury‐Lemberg (Bern) praktische Experimente von Transparenzmalerei auf extrem feinen Geweben, die vor dem Licht völlig verschwinden. Sie betont auch, dass die angeblichen Spuren einer Faltung auf dem Bild von Manoppello tatsächlich von Befestigungsfäden herrühren, mit denen der Schleier, ähnlich wie der Marienschleier von Assisi, in einem Schrein fixiert worden war. Felicitas Maeder vom Naturhistorischen Museum Basel zeigt durch minutiöse Analysen, dass Byssus vom Altertum bis in die frühe Neu‐ zeit nichts anderes bezeichnete als ein sehr feines Gewebe, das in der Regel aus Leinen bestand. Erst durch einen spätmittelalterlichen Über‐ setzungsfehler wurde Byssus zur Bezeichnung der Haftfäden der Pinna nobilis, aus denen Muschelseide gewebt wird. Dieses kostbare Textil ist spätestens seit etwa 200 n.Chr. bezeugt, freilich mit umschreibenden Bezeichnungen. Ein reales Gewebe aus Muschelseide der Zeit um 400 ist leider verloren, weshalb das älteste erhaltene Objekt aus Muschel‐ seide eine Mütze aus Saint Denis aus dem 14. Jahrhundert ist. Sie ist, wie die sonst bekannten Produkte aus der goldgelben Muschelseide, ein dickeres Gewebe. Ein auch nur annähernd transparentes Gewebe aus Muschelseide ist bislang nicht bekannt. Die durch ihren elliptischen Einführung und Kongressnotizen 63 Querschnitt auf einfache Weise bestimmbaren Fäden der Muschelseide sind färbbar, werden dadurch aber nicht ansehnlicher. Paulus Rainer vom Kunsthistorischen Museum Wien erläutert die Untersuchungen an der Veronica in der Kaiserlichen Schatzkammer Wien, die lange Zeit als die echte gegolten hat. Er kommentiert die lite‐ rarische Überlieferung zur Schenkung des Objekts durch das letzte Mitglied der Familie Savelli/Giustiniani an Kaiser Karl VI. im Jahr 1721. Die Untersuchung des Rahmens und der bei der Anfertigung verwen‐ deten ungewöhnlichen Tropftechnik machen es sehr wahrscheinlich, dass die Wiener Kopie Pietro Strozzi zuzuweisen ist. Elisabeth Maier (Wien) gibt Einblick in die Verehrungsgeschichte der Veronica im 19. Jahrhundert mit einem Ausblick bis in die neueste Zeit. Sie schildert den Weg von Leon Papin Dupont, der als „Apostel des Heiligen Antlitzes“ der heiligen Therese Martin den Weg geebnet hat. Im 20. Jahrhundert hat sie Nachfolger/‐innen in der Liebe zum Hei‐ ligen Antlitz gefunden, die indessen alle nicht etwa ein materielles Bild verehrten, sondern sich über das irdische Bild hinaus nach der himmli‐ schen Schau des unverhüllten Antlitzes Gottes sehnten. Jenseits der Details kann man zusammenfassend als Ergebnisse der Tagung festhalten: Die Realität des Grabtuchs (Sindone) von Turin ist unabhängig von der Echtheitsdiskussion ein für die Exegese und den Glauben bedeutsames Objekt (Ghiberti). Das johanneische Sudarium Christi könnte auf Grund seiner Beschreibung eine Kinnbinde gewesen sein (Ghiberti). Der Zusammenhang von Sindon und Mandylion ist nicht gesichert, es bestehen allerdings Berührungspunkte zwischen der Abgarlegende und der Veronicalegende, und im 12./13.Jh. kommt es auch zu einer engen Berührung der mit diesen Begriffen bezeichneten Realien (Prolović). Seit dem 12. Jahrhundert erlebte das Veronica ge‐ nannte Bild einen rasanten Aufstieg vom sakralen Objekt zum wichtig‐ sten Kultbild der Stadt Rom, das auch für die Musikgeschichte von Be‐ deutung wurde (Rausch). Typologisch ähnelt es dem Mandylion (Prolović, Dietz). Seit etwa der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts be‐ kam die Veronica zunehmend Konkurrenz durch das erstmals um 1355 im Westen aufgetauchte Grabtuch (Dietz). Die heute in Rom verehrte und gewiesene Veronica ist mit großer Wahrscheinlichkeit identisch mit der schon im Spätmittelalter gezeigten Reliquie. Die Vermutung eines Diebstahls, sei es zu Beginn des 17. Jhs., sei es 1527 oder früher, ist unnötig und durch nichts zu belegen (Dietz). Unter Paul V. hatte der Kanoniker Strozzi erstmals eine „wahre Kopie“ der Veronica anzuferti‐ gen. In seiner ‚Skiographie‘ hat er die wenigen Spuren auf dem Tuch mit aus dem Turiner Grabtuch bekannten Merkmalen vermengt, und 64 Karlheinz Dietz so einen vermeintlich neuen Typus der Veronica mit geschlossenen Augen geschaffen, der fortan neben dem traditionellen Bestand hatte und die Bilder, welche die Kanoniker seit dem 18. Jh. anboten, ikono‐ graphisch bestimmt (Dietz). Es gibt inzwischen zehn auf Strozzis Zeit zurückgehende Veronica‐Kopien (Falcinelli). Die in Wien aufbewahrte ist jetzt intensiv untersucht worden und stammt wohl von Strozzi selbst (Rainer). Unabhängig von der Echtheitsfrage sind die als Veroni‐ ca bezeichneten Christusbilder legitimer Weise zu verehren, da es bei dieser Verehrung um die Verehrung des Archetyps (Christus), und nicht des Bildes geht. Darin hatte die Verbreitung der Veronica‐Bilder seit 1849 ihre Berechtigung. Ihre Verehrung hat in der kleinen Theresa vom Heiligen Antlitz einen absoluten Höhepunkt gefunden (Maier). Legitim ist aus dem gleichen Grund auch die Verehrung des Volto Santo von Manoppello, der sich einer mehrhundertjährigen Verehrung erfreut. Nicht der Nachweis der Echtheit, sondern Geschichte und Tra‐ dition weisen den Weg, das Antlitz Christi wie in Turin so auch in Ma‐ noppello zu erblicken. Das Manoppello‐Bild steht mit Sicherheit nicht auf Muschelseide (Maeder). Außerdem zeigt das Textil, vermutlich fei‐ nes Leinen oder Seide (Byssus), keine Spuren einer Faltung, sondern von Fäden, mit denen man es früher im Schrein fixiert hat (Flury‐ Lemberg). Technisch gesehen handelt es sich um eine transparente Tüchleinmalerei niederländisch‐deutschen Ursprungs aus der Zeit um 1500 (Pokorny). Aus dem Grab Jesu stammt der Volto Santo von Ma‐ noppello ganz sicher nicht, und nicht nur in dieser Unmöglichkeit un‐ terscheidet er sich ganz wesentlich vom Turiner Grabtuch.111 Michail Sergejewitsch Gorbatschow soll einmal gesagt haben: „Es gibt keine einfachen Lösungen für sehr komplizierte Probleme. Man muss den Faden geduldig entwirren, damit er nicht reißt.“ 111 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die meisten Referenten beider Kon‐ gresse, mehrheitlich keine sog. Sindonologen, erst bei den Tagungen ken‐ nengelernt haben.