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6
EINFÜHRUNG UND KONGRESSNOTIZEN1
Karlheinz Dietz, Würzburg
„Inzwischen, wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Mißtrauen in die
Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans Werk selbst
geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum nicht umgekehrt ein
Mißtrauen in dies Mißtrauen gesetzt und besorgt werden soll, daß diese
Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist. In der Tat setzt sie etwas, und
zwar manches, als Wahrheit voraus und stützt darauf ihre Bedenklichkeiten
und Konsequenzen, was selbst vorher zu prüfen ist, ob es Wahrheit sei.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Die Frage nach Herkunft und Ursprung des (materiellen) Christusbil‐
des ist eng mit der Geschichte der christlichen Bilder verbunden, sie ist
aber ihr extremer Sonderfall. Es geht um nicht weniger als um die Be‐
dingungen der Möglichkeit, unter denen die Darstellung des mensch‐
gewordenen Gottes gelingen kann. Die anthropomorphe Darstellung
von Göttern aus dem polytheistischen Pantheon war um die Zeiten‐
wende eine alltägliche Tatsache, sogar bei den ursprünglich solchen
Bildern abgeneigten Römern. Ganz unumstritten war dieser Usus zwar
auch nicht, er änderte sich aber grundlegend erst mit der Christianisie‐
rung des Römerreiches. Ein völliges Novum war hingegen die Abbil‐
dung des dauerhaft fleischgewordenen Sohnes des einzigen Gottes, der
von den Mitmenschen auf brutalste Weise ermordet wurde und von
den Toten ins Leben zurückkehrte.2 Die Frage nach dem Christusbild
hat außer der materiellen Seite zuerst also eine theologische Dimension
und sodann im Jahrhunderte währenden Ringen um das religiöse Sy‐
stem, das wir – als handele es sich um eine vom Himmel gefallene erra‐
tische Einheit – Christentum nennen, eine eminent religionsgeschichtli‐
che Dimension. Der theoretische Diskurs um das nicht materielle
Christusbild, d. h. um das Wesen der Inkarnation, bestimmt – von nai‐
ver Frömmigkeit abgesehen – die Ausprägung des künstlerischen Chri‐
stusbildes, ja notwendigerweise von Christusbildern.
Christliche Kunst hat sich – so viel steht bei allen Kontroversen in
Details fest – langsam und keineswegs isoliert, sondern in einer ständi‐
gen, bewussten oder unbewussten Interaktion mit der religiösen
1
2
Der folgende Text gibt ausschließlich die Meinung des Verfassers wieder.
Im interreligiösen Vergleich betont von J. Ratzinger [Benedikt XVI.], Unter‐
wegs zu Jesus Christus. Augsburg 2005, 11‒30.
28
Karlheinz Dietz
Themenwelt des Judentums, der Gnosis und des Polytheismus entwik‐
kelt.3 Eine ikonophobe oder gar ikonoklastische Grundhaltung kann
man den frühen Christen pauschal nicht unterstellen. Sie würde die
spezifischen Intentionen christlicher Apologetik mit der Pluralität der
Lebenswirklichkeiten in den kleinräumigen Gesellschaften des Römer‐
reiches verwechseln und diesen eine anachronistische großkirchliche
Dimension überstülpen. Die Emanzipation einer selbständigen „Christ‐
lichen Kunst“ konnte überhaupt erst nach der Anerkennung der Kirche
durch Kaiser Konstantin d. Gr. gelingen. Aber selbst dann war sie kei‐
neswegs autonom.4 Vor der angedeuteten Beeinflussung durch die pa‐
gane und jüdische Welt verbreiteten sich christliche Bilder seit wenig‐
stens 200 langsam in der Kleinkunst, in den Wandmalereien der – wohl
auf jüdische Anfänge zurückgehenden – Katakomben oder auf Sarko‐
phagen und im Laufe des 4. Jahrhunderts auch in Mosaiken von Kir‐
chen. In zentralen christlichen Kultorten entstanden nicht nur Apsis‐
bilder, sondern ganze Bilderzyklen zur Stärkung der Memoria, zur
dekorativen Erbauung der Gebildeten und nicht zuletzt zur Unterwei‐
sung der Ungebildeten.
In diesen, vor allem im Westen nachweisbaren Kunstwerken wird
Christus zum einen als bartloser Jüngling, nicht selten in der Funktion
des Guten Hirten oder des jugendlichen Unterweisers oder wie ein bär‐
tiger Philosoph dargestellt.5 Überraschend ist das nicht, war er doch
schon nach einigen sog. neutestamentlichen Apokryphen zugleich groß
und klein, wohlgestaltet und hässlich, jung und alt, sichtbar und un‐
sichtbar, usw. Dieser „vielgestaltige“ (polymorphe) Christus konnte
jedem Betrachter nach dessen spirituellem Vermögen und Würdigkeit
anders erscheinen oder aber auch vor den gleichen Betrachtern selbst
seine Gestalt wandeln.6 Man kann den vielgestaltigen Christus zu‐
rückweisen wie der Kirchenvater Origenes, ihn instrumentalisieren wie
im Bilderstreit oder ihn als Rettungsanker des altjüdischen Bilderver‐
bots bzw. als Chance des interreligiösen Dialogs betrachten wie in
3
4
5
6
Exemplarisch J.N. Bremmer, Iconoclast, iconoclastic, and iconoclasm. Church
History and Religious Culture 88 (2008) 1‒18; J. Elsner, Iconoclasm as dis‐
course. Art Bulletin 94 (2012) 368‒394.
Zuletzt H. Leppin (Hrsg.), Antike Mythologie in christlichen Kontexten der
Spätantike. Berlin u.a. 2015.
Viel Bildmaterial bei G. Schiller, Ikonographie der christlichen Kunst. 2./3.
Aufl. Gütersloh 1981‐99, I‐III.
H.‐J. Klauck, Die apokryphe Bibel. Tübingen 2008, 303‒374; J.K. Elliott, An‐
cient apocryphal portraits of Jesus, in: D. Burkett (Hrsg.), The Blackwell
Companion to Jesus. New York 2011, 145‒159.
Einführung und Kongressnotizen
29
unserer Zeit. Auf die Kunst gewendet aber folgt daraus, dass die Viel‐
heit antiker (und späterer) Christusdarstellungen eine Notwendigkeit
ist. Sie ist auch bildlicher Niederschlag der Tatsache, dass sich „in Jesus
Christus, nach dem christlichen Glauben dem Sieger über Tod und
Hölle, […] der Archetypus des Helden, des Königs, des Priesters, des
Gesetzgebers, des Heiligen, des Arztes, des Weisen sowie des Richters
so, wie Jesus Christus auch in sich das Erlöser‐Kind und den puer‐
senex ausgeprägt hat.“7 Mithin sind die vielen Gesichter Christi keine
besondere Überraschung, und unzweifelhaft ist auch „jeder von uns
[…] frei, ein eigenes Christusbild zu entwerfen“ oder sich auf ein rein
spirituelles Christusbild zurückzuziehen. Aber das bedeutet doch nicht
automatisch, dass nur „einige Bilder viel berühmter [...] als andere“
geworden sind8 und es ansonsten überhaupt keine Wertigkeit zwi‐
schen ihnen gibt.
Eine solche Ansicht stünde im Widerspruch zur frühen und bis heu‐
te in der Orthodoxie lebendigen Tradition. Vielen Christen war das
Aussehen ihrer Protagonisten keineswegs gleichgültig, sonst hätte
nicht bereits im 4. Jahrhundert eine wie immer begründete Typisierung
der Apostelfürsten Petrus und Paulus stattgefunden.9 Zudem wissen
wir, dass bereits zu Beginn des 4. Jahrhunderts niemand geringerer als
Konstantia Augusta, die Halbschwester Kaiser Konstantins und Frau
des Ostkaisers Licinius, „über ein Bild“ Christi bei Bischof Eusebius
von Caesarea nachgefragt hat. Dieser hat das so verstanden, dass es ihr
um ein Bild des Heilands in „seinem sterblichen Fleisch vor der Ver‐
wandlung“ ging, und er hat dieses Ansinnen schroff zurückgewiesen
und dabei die Möglichkeit eines (authentischen) Bildes des Erlösers
prinzipiell bestritten.10 Merkwürdigerweise hat sich aber schon „kurz
vor oder nach 400“ ein Christustyp etabliert, der sich langsam, aber ste‐
tig durchgesetzt hat, einen, den „jedermann als den typischen ʺChri‐
stuskopfʺ kennt. – Er ist zwar noch jung, aber immerhin dreiundreißig,
und ein reifer, imponierender Mann. Das Haar trägt er lang, in der Mit‐
te deutlich, aber achtlos gescheitelt, bis über den Halssaum der Tunika
und bis auf die Schultern. Ein (auf Malereien und Mosaiken) dunkler
7
W. Speyer, Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. III. Tübingen
2007, 8.
8 M. Dal Bello, Christusbilder. Regensburg 2015, 37 (daher auch das vorige
Zitat).
9 Jetzt R. Dijkstra, The apostles in early Christian art and poetry. Leiden, Bo‐
ston 2016.
10 Für die Echtheit des Briefes jetzt in aller Vorsicht J.‐P. Caillet, Eusèbe de
Césarée face aux images. Antiquité Tardive 22 (2014) 137‒142.
30
Karlheinz Dietz
Spitzbart umrahmt Kinn und Lippen.“11 Man hat geglaubt, er bilde
Zeus, Serapis oder auch nur einen alternden Philosophen ab, aber er
galt spätestens im 6. Jahrhundert als authentisches, weil „nicht von
Menschenhand gemachtes“ Christusbild. Vor allem Justinian I. und
seine Nachfolger erkannten ihm eine wichtige öffentliche Funktion zur
göttlichen Legitimation und Sicherung ihrer Herrschaft zu.12 Auf ei‐
nem Konsulardiptychon von 540 findet er sich zweimal, aber er war
der byzantinischen Staatskunst mindestens ein halbes Jahrhundert frü‐
her bekannt und wurde dort neben einem zweiten Christustyp mit
krausen Haaren verwendet, den man etwas willkürlich den ‚syrischen’
genannt hat.
In einem großen zeitlichen Abstand wurden aus dem Osten des by‐
zantinischen Einflussgebiets zwei „nicht von Menschenhand gemach‐
te“ Christusbilder nach Konstantinopel transferiert, zuerst von Justin II.
aus dem kappadokischen Kamuliana, wo das Wunderbild in einem
Brunnen gefunden worden sein soll. Es diente fortan als Palladium und
verschwand während des sog. Bilderstreits. Ein bedeutender und lang‐
lebiger Vertreter dieser Gattung war das Abgar‐ oder Edessabild, das
schon bald nach 400 in der Hauptkirche Edessas verehrt wurde. Die
Erzählungen über dieses Bild entwickelten sich aus oder neben einer
Erzählung von einem von Christus nach Edessa geschriebenen Brief.
Diese ‚Legende‘ ist uns erstmals, aber ohne Nennung des Bildes, ausge‐
rechnet bei dem sonst so kritischen Häreseographen Eusebius von Cae‐
sarea fassbar. Aus verschiedenen Indizien wissen wir, dass es schon im
3. Jahrhundert eine syrische Version gegeben hat, die das Bild enthalten
haben dürfte.13 Nach der in vielen Sprachen und Varianten entfalteten
Abgarüberlieferung habe der kranke edessenische König Abgar V. (22‐
25 und 31/2‐65/6 n. Chr.) Jesus schriftlich gebeten, zu ihm zu kommen.
Das habe Jesus in seiner eigenhändigen14 Antwort abgelehnt, zugleich
aber die Sendung eines Jüngers versprochen. Nach der Himmelfahrt sei
tatsächlich Thaddaeus nach Edessa gekommen, habe den König geheilt
11 F. Van Der Meer, Christus. Der Menschensohn in der abendländischen Pla‐
stik. Antwerpen 1980, 26.
12 M. Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Göttingen 2004, 387‒491; 532‒536.
13 R. Peppermüller, Vigiliae Christianae 25 (1971) 289‒301.
14 Diese später häufig betonte Eigenhändigkeit war selbstverständlich auch
anstößig, weil sie den Brief Christi auf eine Ebene mit den Gesetzestafeln
des Moses erheben musste. Bei Eusebius und anderen ist sie unterdrückt,
sie ist aber zwingende Voraussetzung für die Rolle des Briefes als Palladi‐
um und die übrige heilbringende und unheilabwehrende Verwendung die‐
ses Schreibens.
Einführung und Kongressnotizen
31
und seine Stadt christianisiert .... Einer syrischen Erzählvariante zufolge
soll mit der mündlichen Antwort Christi ein von einem Boten Abgars
in erlesenen Farben gemaltes Bild Christi nach Edessa gelangt sein.
Spätestens im 6. Jahrhundert wurde dieses Bild als Acheiropoietos aus‐
gegeben: Christus selbst habe es erzeugt; da er die Unfähigkeit des kö‐
niglichen Boten sah, ihn zu erfassen bzw. darzustellen, habe er in der
Karwoche sein feuchtes „Aussehen“ in ein Tuch gedrückt, in dem sein
Abbild zurückgeblieben sei. In vielen Verästelungen wurde diese Ge‐
schichte seit 544 in Konstantinopel und andernorts erzählt. Wie In‐
schriften, Papyri und andere alte Traditionen zeigen, hat dabei die sog.
Epistula Abgari bereits im 6. Jahrhundert von dem Abgarbild als in eine
‚Sindon‘ gedrückt gesprochen.15 Im 8. Jahrhundert heißt das bildtra‐
gende Edessatuch ‚Sudarium‘16, und zu der gleichen Zeit erzählten Pil‐
ger im Westen, in Edessa liege auf weißes Leinen gedrückt, eine Ganz‐
körper‐Ikone Christi in transfigurierter Form. Das Abgarbild blieb noch
mehrere Jahrhunderte in Edessa, obwohl der mesopotamische Vorort
seit 639 unter muslimischer Hoheit stand. Gerade in dieser Phase ge‐
wann das Christusbild als Identifikationsobjekt für die dortige christli‐
che Religiosität eine überragende Rolle. Zwar vermehrte es sich selbst‐
tätig vor Ort, so dass schließlich alle drei christlichen Konfessionen in
Edessa (Orthodoxe, Monophysiten und Nestorianer) je ein eigenes
wunderbares Christusbild besaßen. Das besagt nichts über das Origi‐
nal, dessen Aufbewahrungsweise unbekannt ist, und es änderte auch
nichts daran, dass die Stadt als „heiliger Thronsitz des Bildes seiner
[scil. Christi] verehrenswerten Person und seiner prächtigen Erschei‐
nung“ galt.17 Gegenüber diesem ‚Selbstbildnis’ Christi geriet das Ka‐
muliana‐Bild zunehmend ins Hintertreffen. Der edessenische Typ18
verdrängte seit 692 sogar das Herrscherbild von den Vorderseiten der
byzantinischen Münzen; er dominierte als Pantokrator die orthodoxen
Kirchen und zierte als Mandylion die Triumphbögen über den Apsi‐
den. Die Ausbildung eines literarischen und bildnerischen Eikonismus,
der meist von konkreten Bildern seinen Anfang nahm und an anderen
konkreten Bildern weiterentwickelt wurde, hatte sich im 8. Jahrhundert
als Prosopographie Christi weitgehend verfestigt. Die theologischen
15 Jetzt M. Guscin, The tradition of the Image of Edessa. Cambridge 2016.
16 O. Ioan, Muslime und Araber bei Īšōʻjahb III. (649‐659). Wiesbaden 2009, 45
m. Anm. 23.
17 Ioan, Muslime und Araber, 44.
18 J. Roberti, Mandylion ou Camouliana? Contacts 61 (226) (2009) 131‒154 hält
ihn für den Kamuliana‐Typ, aber dann hätten sich beide Bilder geähnelt, da
es nach 944 keinen ikonographischen Wechsel auf den Münzen gab.
32
Karlheinz Dietz
Implikationen der Christus‐Ikone waren nicht weniger bedeutsam als
sein liturgischer Gehalt.19 Trotz der heftigen Auseinandersetzungen im
Bilderstreit, der zwar nicht nur, aber auch des Christusbildes wegen
geführt wurde,20 gewann die Kirche des Ostens die Überzeugung, in
der Ikone sei „Christus noch viel greifbarer zugegen [...] als etwa in
dem h. Evangelienbuch oder selbst den Elementen der Eucharistie“.21
Die sich logischerweise (nur) selbständig vermehrende Acheiropoie‐
tos‐Ikone hat zunehmend weitere Verbreitung gefunden, d. h. der
Acheiropoietos‐Gedanke wurde zunehmend auch auf Marienbilder
und andere heilige Bilder übertragen.22 Aber die Vielzahl von Acheiro‐
poietoi23 taugt jedoch nicht als Argument gegen die Existenz einer ech‐
ten Acheiropoietos, ebenso wenig wie die Vielzahl von Edessabildern
die Existenz eines echten und ursprünglichen ausschließt. Wäre es an‐
ders, würden die für die Herstellung mehrerer Kreuze ausreichenden
Kreuzesreliquien beweisen, dass es ein echtes Kreuz Jesu nie gegeben
habe. Wie inflationär der Acheiropoietos‐Begriff im Laufe der Zeit aus‐
geweitet wurde, zeigt etwa, dass Kaiser Konstantin VII. Mitte des 10.
Jahrhunderts sogar die kaiserlichen Roben und Insignien als ‚nicht von
Menschenhand gemacht‘ ausgeben konnte.24 Wie einfach sich solche
Wunderbilder vermehren, versteht man wohl besser25 durch die er‐
staunliche Tatsache, dass auch unsere Zeit neue hervorbringt. Die Am‐
bivalenz der Rede vom Christusbild kommt in seltener Klarheit zum
Ausdruck, wenn die jüngsten Päpste – in der ihnen eigenen metaphori‐
19 C. Schönborn, Die Christus‐Ikone. Schaffhausen 1984; K.‐H. Uthemann, Chri‐
20
21
22
23
24
25
stus, Kosmos, Diatribe. Berlin 2005, 333‐366. Aus kunsthistorischer Sicht vor
allem H. Belting, Bild und Kult. 2. Aufl. München 1991.
Weiteres über H.G. Thümmel, Die Konzilien zur Bilderfrage im 8. und 9.
Jahrhundert. Paderborn etc. 2005.
E. von Dobschütz, Christusbilder. Leipzig 1899, 110**.
H. Belting, Das echte Bild. München 2005, 56‒62; M. Bacci, The many faces of
Christ. London 2014, 30‒46; J.‐M. Spieser, Images du Christ. Genf 2014,
460‒467. – Die seit 1997 jährlich erscheinenden, inzwischen auf 19 Bände
angewachsenen Kongressdokumente mit dem Titel Il Volto dei Volti Cristo
des ‚Istituto internazionale di ricerca sul Volto di Cristo’ sind meist stark
kontemplativ ausgerichtet und von der Ambivalenz des Begriffs des Chri‐
stusbildes gekennzeichnet.
Nicht ‚Acheiropoieta‘ und schon gar nicht ‚Acheiropoietai‘.
W.T. Woodfin, The embodied icon. Oxford 2012, 148f.; 172f.
Weniger durch die Beschäftigung mit dem Wesen des Abdrucks im welthi‐
storischen und religionsübergreifenden Vergleich: G. Didi‐Huberman, La
ressemblance par contact. Paris 2008; A. Monaci Castagno (Hrsg.), Sacre im‐
pronte e oggetti «non fatti da mano d’uomo» nelle religioni. Alessandria
2011.
Einführung und Kongressnotizen
33
schen Sprache – als Hauptaufgabe der Christen für das angefangene
dritte Millennium die Betrachtung und die beständige Suche des Ant‐
litzes Christi propagieren.26 Dies haben bestimmte Kreise zum Anlass
genommen, die „Rückkehr der Bilder“ (im materiellen Sinne) auszuru‐
fen, wobei es vor allem und ganz konkret um die Aufwertung eines
bemerkenswerten Tuchbildes zum von Gott gemachten ‚Schweißtuch
Christi’ geht.27
Der Acheiropoietos‐Gedanke ist keineswegs, wie jüngst behauptet,
vom Schattenbild Buddhas angeregt.28 Man könnte darüber noch re‐
den, ginge es nur darum, Unbekanntes mit Unbekanntem (ignotum per
ignotum) zu erklären. Indessen ist der besonders im 5. und 6. Jahrhun‐
dert von Pilgern beschriebene, aber schon bald unsichtbare Schatten
des nach Westen sitzenden Bodhisattva an einer Wand in der ‚Schat‐
tenhöhle‘ von Nagarahāra (westlich von Jalalabad) ganz anders be‐
gründet und eher noch unbekannter29 als die christliche Acheiropoie‐
tos‐Ikone. Da nirgendwo in Asien der Einfluss der Griechen und
Römer auf die Kunst wohl deutlicher spürbar ist als in Gandhara und
Baktrien30 und andererseits die sassanidische Blockade des Landwegs
den Handel vom westlichen Mittelmeergebiet nach China übers Meer,
den Indus verstärkt in Richtung Gandhara geleitet hat,31 könnte auch
der Wunsch nach oder das Wissen von einem authentischen Christus‐
bild den Wunsch nach einem authentischen Buddhabild, der wohl hin‐
ter der Nagarahāra‐Geschichte steht,32 ausgelöst haben. Ja mehr noch:
26 Es reicht eine einfache Suche auf http://www.vatican.va.
27 Beispielsweise G. Fanti u. P. Malfi, The Shroud of Turin. Singapur, Danvers
28
29
30
31
32
2015, 318‒323. Das Manoppello‐Bild ist eine Malerei aus der Zeit des 15./16.
Jahrhunderts (G. Wolf in: R. Hoeps [Hrsg.], Handbuch der Bildtheologie. III.
Paderborn 2014, 419f.), wie auch mehrere Beiträge in diesem Band bestäti‐
gen.
M. Bacci, Cult‐images and religious ethnology. Viator 36 (2005) 337‒372.
Das gilt auch für die Kopie der Schattenhöhle. M. Deeg, Das Gaoseng‐
Faxian‐Zhuan als religionsgeschichtliche Quelle. Wiesbaden 2005, 259‒262;
433f.; 439; 554f.; E.Y. Wang, The shadow image in the cave, in: W. Swartz
u. a. (Hrsg.), Early medieval China. New York 2014, 405‒428.
H.P. Le, Buddhist architecture. Lakeville 2010, 115; vgl. L. Nehru, Gandhara,
in: A. Grafton u. a. (Hrsg.), The Classical Tradition. Cambridge/MA u.a.
2010, 384f.
E.H. Seland, Archaeology of trade in the Western Indian Ocean, 300 BC–AD
700. Journal of Archaeological Research 22 (2014) 367–402; vgl. R.‐U. Samad,
The grandeur of Gandhara. New York 2011, 269–271.
Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 259. Zu den Beziehungen von Ost und West
in der Bilderfrage: C. Wenzel, The image of the Buddha. Transcultural Stu‐
dies 1 (2011) 263‒305.
34
Karlheinz Dietz
„Da saß der Verehrungswürdige [als Schatten] im Lotussitz innerhalb
[der Höhle vor der] Steinwand. Wenn ihn Lebewesen von weitem be‐
trachteten, so sahen sie ihn, wenn [sie ihn aber] von nah aus betrachte‐
ten, so war er nicht zu sehen.“33 Buddhas längst unsichtbarer Schatten
teilt damit eine wesentliche Eigenschaft mit dem Turiner Grabtuch,
dessen Bild erst aus einer Entfernung von etwa vier Metern deutlicher
erkennbar wird.34 Stand also das immer noch existierende Grabtuch
Pate für den Schatten Buddhas? Selbstverständlich nicht! Auf den Bo‐
den der Tatsachen zurückkehrend kann man feststellen: zum einen ist
die Geschichte von Buddhas Schatten, auch sein Umriss auf einer Ma‐
lerleinwand in der Legende von König Udrāyaṇa (Rudrāyaṇa im Di‐
vyāvadāna),35 am ehesten von vedischen Traditionen beeinflusst,36
während der christliche Acheiropoietos‐Gedanke zweifellos auf die
neutestamentliche Überlieferung zurückgeht und teilweise sogar mit
dem (Auferstehungs‐)Leib Christi verbunden ist.37 Wir werden darauf
zurückkommen.
Den nicht von Hand gemachten ‚Wunderbildern’ hat Jakob Gretser
bereits 1625 eine Monographie gewidmet, und viele andere folgten.
Den ‚Ursprung der Christusbilder’ behandelte 1842 Wilhelm Grimm,
und allen voran ist das monumentale Werk ‚Christusbilder’ des nicht
einmal dreißigjährigen Ernst von Dobschütz von 1899 zu nennen, in
dem es freilich vorwiegend um die literarische Überlieferung ging.
Mehr als hundert Jahre danach hat die Thematik nichts an Faszination
und Brisanz verloren, zumal wir heute einen ganz anderen medialen
Zugang dazu besitzen durch die Möglichkeiten, die Texte mit bestimm‐
ten Bildern und Realien zu verbinden.
33 Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 261f.
34 Wohl erstmals beschrieben bei L.A. Schwalbe u. R.N. Rogers, Analytica Chi‐
mica Acta 135 (1982) 6. Vom Verfasser mehrfach durch Autopsie überprüft.
35 Deeg, Gaoseng‐Faxian‐Zhuan, 262; siehe V. Lefèvre, Portraiture in early In‐
dia. Leiden u.a. 2011, 139f. Vgl. J.A. Keim, Un antécédent tibétain de la pho‐
tographie. Gazette des Beaux‐Arts 6,66 (1965) 117‒119; mit dem Turiner
Grabtuch zusammengebracht Ders., La préhistoire chrétienne de la photo‐
graphie. Ebd. 6,73 (1969) 363‒366.
36 R. Decaroli, Image problems. Washington 2015, 170f.; vgl. 38f.; 147; 153f.
37 Im Einzelnen ist die Deutung, wie üblich, umstritten, z. B.: K. Paesler, Das
Tempelwort Jesu. Göttingen 1997, 204–222; C. Niemand, Jesus und sein Weg
zum Kreuz. Stuttgart 2007, 281–298; vgl. Belting, Das echte Bild, 68–74; A.N.
Palmer, The Logos of the Mandylion, in: L. Greisiger u. a. (Hrsg.), Edessa in
hellenistisch‐römischer Zeit. Würzburg 2009, 121–135.
Einführung und Kongressnotizen
35
Unter diesen Voraussetzungen werden Christusbilder gerade in den
letzten drei Jahrzehnten intensiv erforscht und in wissenschaftlichen
Publikationen behandelt. Zahlreich – und teilweise auf sehr hohem Ni‐
veau – erschienen Bücher, Sammelbände und Aufsätze zu Bilderkult
und Kultbildern, Bilderbekämpfung und Bilderverbot, Bilderverehrung
und Idolatrie oder zum Verhältnis von Schrift/Text und Bild. Die Viel‐
falt der Beiträge zu würdigen, bedürfte es eines langen Forschungsbe‐
richts, der bei aller Mühe doch Fragment bliebe. Das auf vier Bände
angelegte ‚Handbuch der Bildtheologie’, von dem bisher zwei Teile er‐
schienen sind, ist mehr als ein Ersatz dafür, besonders wegen der the‐
matischen Breite dieses Kompendiums, seiner erlesenen Mitarbeiter
und seiner hervorragenden Erschließung durch Personen, Sach‐ und
Ortsregister.38 Gleichzeitig versucht eine ‚Grammatologie der Bilder’
den Facettenreichtum der Thematik aus den verschiedensten Blickwin‐
keln theoretisch zu durchdringen39 oder wollen ‚Szenen des Heiligen’
den Zusammenhang von Bild und Transzendenz im interreligiösen
und interdisziplinären Diskurs erhellen.40 Selbst die orthodoxe Ikone
hat eine Neuorientierung und unabhängige Daseinsberechtigung er‐
fahren durch den Versuch, sie mit dem aus der antiken Literaturge‐
schichte stammenden Begriff der Enargeia (‚klare Veranschaulichung’)
zu erschließen.41
Auch viele Acheiropoieten sind mittlerweile neu behandelt worden,
angefangen von den stadtrömischen Kultbildern wie die Sancta sancto‐
rum,42 die Salus populi Romani43 und die sog. Veronica (Vera Icon)44 über
die Lukasbilder45 und den Volto Santo von Lucca46 hin zum Sainte
Face de Laon47 und zum Abgarbild/Edessabild/Mandylion.48 Ein Groß‐
38 R. Hoeps (Hrsg.), Handbuch der Bildtheologie. I und III. Paderborn 2007
und 2014.
S. Weigel, Grammatologie der Bilder. Berlin 2015.
C. Werntgen (Hrsg.), Szenen des Heiligen. Berlin 2011.
C.A. Tsakiridou, Icons in time, persons in eternity. Farnham u. a. 2013.
A. Matena, Das Bild des Papstes. Paderborn 2016.
G.P. Wolf, Salus Populi Romani. Weinheim 1990.
J.‐M. Sansterre, Variations d’une légende et genèse d’un culte entre la Jérusa‐
lem des origines, in: J. Ducos u. a. (Hrsg.), Passages. Déplacements des hom‐
mes, circulation des textes et identités dans l’Occident médiéval. Toulouse
2013, 217‒231; G. Wolf, Vera Icon, in: R. Hoeps (Hrsg.), Handbuch der Bild‐
theologie. III. Paderborn 2014, 419‒466.
45 M. Bacci, Il pennello dell’Evangelista. Pisa 1998.
46 M.C. Ferrari u. a. (Hrsg.), Il Volto Santo in Europa. Lucca 2003.
47 J.‐M. Sansterre, Deux témoignages sur la Sainte Face de Laon au XIIIe siècle?,
in: J.‐M. Sansterre u. a. (Hrsg.), Les images dans les sociétés médiévales.
39
40
41
42
43
44
36
Karlheinz Dietz
teil der Christus‐Acheiropoieten wurde zum Jubiläumsjahr 2000 mit
ausgezeichneten Abbildungen katalogmäßig erfasst,49 nachdem zwei
Jahre zuvor schon der hochrangig besetzte Sammelband „The Holy
Face and the Paradox of Representation“ mit Beiträgen von Tagungen
in der Biblioteca Hertziana in Rom und in der Villa Spelman in Florenz
vom Mai 1996 erschienen war. Das Grabtuch spielte in beiden kaum
eine Rolle. Es ist wohl mehr ein methodisches Paradoxon, wenn man
im Sammelband liest: „Full‐length images of Christ, such as the achero‐
pita of the Sancta Sanctorum in Rome and the sindone of Turin were
intentionally excluded from the discussions because they present a dis‐
tinct set of issues“.50 Ähnliches gilt für den zuerst genannten Ausstel‐
lungskatalog, in dem sich zumindest ein paar Abbildungen des Grab‐
tuchs finden, aber der ganze Komplex unter der Überschrift ‚La
Sindone riprodotta’ am Ende der Entwicklung steht.51
Diese ‚Verkehrte Welt’ ist leider charakteristisch für das Verhältnis
der ‚kritischen’ Wissenschaft zum Turiner Grabtuch von Anfang an.
Die naturwissenschaftlich bedingte Wende durch die Fotografien im
Mai 189852 störte den Stolz des aufgeklärten Intellekts von Anfang an.
Ein Objekt mit so unzeitigen Codierungen53 war (und ist) eine Zumu‐
tung an die Vernunft und war zudem scheinbar Wasser auf den Müh‐
len des im 19. Jahrhundert in Europa „orientalisierten“ Katholizis‐
mus.54 Tuch und Bild konnten einfach nicht echt sein! Den
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54
Brüssel u. a. 2008, 273‒285; P. Malgouyres, De l’origine et de la fortune de
l’icône de la Sainte Face de Laon. Zugänglich unter
http://musée‐du‐louvre.academia.edu/PhilippeMalgouyres (2015).
G. Wolf u. a. (Hrsg.), Mandylion. Genua 2004; C.L. Frommel u. a. (Hrsg.),
L’immagine di Cristo. Città di Vaticano 2006; A.R. Calderoni Masetti u. a.
(Hrsg.), Intorno al Sacro Volto. Venedig 2007; F. Dell’Acqua, The fall of the
idol on the frame of the Genoa Mandylion., in: B. Crostini Lappin u. a.
(Hrsg.), Negotiating co‐existence. Trier 2013, 143‒173.
G. Morello u. G. Wolf (Hrsg.), Il Volto di Cristo. Mailand 2000
H.L. Kessler u. G. Wolf (Hrsg.), The Holy Face and the Paradox of Represen‐
tation. Bologna 1996, XI Anm. 3.
F. Molteni, Storia e devozione della Sindone, in: Morello u. Wolf (Hrsg.), Il
Volto di Cristo 278‒282. Eine Ausnahme stellt dar: L. Coppini u. F. Cavazzuti
(Hrsg.), Le icone di Cristo e la Sindone. Mailand 2000.
Siehe G.M. Zaccone (Hrsg.), L’immagine rivelata. Secondo Pia fotografa la
Sindone. Torino 1998; G.M. Zaccone, Torino 1898. Torino 1998.
Z. B. neuere medizinische Untersuchungen: M. Bevilacqua u. a., Do we really
need new medical information about the Turin Shroud? Injury 45 (2014)
460‒464; A. Majorana u. a., The Turin Shroud face: the evidence of maxillo‐
facial trauma. Folia Morphologica 74 (2015) 212‒218.
Zum Verhältnis der Konfessionen um 1900 zitiere ich nur M. Borutta, Anti‐
Einführung und Kongressnotizen
37
geschmähten katholischen Intellektuellen tat es gut, dass Männer aus
ihren Reihen an vorderster Front der Unechtheitsbefürworter standen.
Dagegen kam auch der Einspruch mehrerer Naturwissenschaftler nicht
an, selbst wenn sich einer davon als Agnostiker bezeichnete und später
mit der Darwin‐Medaille ausgezeichnet wurde.55
Die Wahrheit zum Turiner Grabtuch entscheidet sich seit jeher
a priori und in den Vorhöfen der Vernunft: da werden unbedeutende
Dinge zu Beweisen gegen die Echtheit hochgeredet und bis zum Über‐
druss wiederholt, gleichzeitig positive Untersuchungen und Aspekte
mit fragwürdigen Argumentationen, notfalls ad hominem, weggewischt.
Leider war die aprioristische Ignoranz, die umgekehrt die Messlatte
der positiven Argumente unüblich hochschraubt, nie auf die Medien
beschränkt. Seit Pierre d’Arcis, der die wenigen Kilometer von Troyes
bis Lirey nie überwunden hat, um das Streitobjekt selbst in Augen‐
schein zu nehmen, über Johannes Calvin, für den Ähnliches zutraf, hin
zu Ulysse Chevalier und vielen modernen Kritikern, für sie alle gilt: die
Realie spielte und spielt keine oder bestenfalls eine untergeordnete
Rolle.
Entsprechend groß ist die Zahl der Paradigmenwechsel hinsichtlich
des Turiner Grabtuchs im Laufe der letzten 120 Jahre, in dem traditio‐
nelle Rollenverteilungen zwischen Geistes‐ und Naturwissenschaften
oder zwischen Gläubigen und Ungläubigen mitunter erheblich ins
Wanken gerieten. Als endlich, 1973 zunächst begrenzte, 1978 umfang‐
reichere naturwissenschaftliche Untersuchungen am Gegenstand selbst
katholizismus. Göttingen 2010, 150: „Seit der Aufklärung wurde der Katho‐
lizismus in Europa »orientalisiert«, das heißt als rückständig oder entwick‐
lungsunfähig, primitiv oder barbarisch aus Geschichte und Zivilisation
ausgeschlossen. Zugleich identifizierte, assoziierte und verglich man ihn
mit fernen Ländern und fremden Kulturen Amerikas, Afrikas und Asiens.
Einerseits sollte so sein vermeintlich absonderlicher, unzeitgemäßer Cha‐
rakter zum Ausdruck gebracht werden. Zugleich manifestierte sich darin
jedoch auch das Überlegenheitsgefühl aufgeklärt‐liberaler Bürger. Analog
zu kolonisierten Völkern in Übersee stellten sie Katholiken wie Wilde oder
Kinder dar, die sich weder selbst entwickeln noch eigenständig handeln
konnten, sondern hierzu fremder – nordeuropäischer, protestantischer, libe‐
ral‐bürgerlicher – Hilfe bedurften. Oft wurde Katholiken eine minderwerti‐
ge Natur zugeschrieben. Die Grenze zum Rassismus wurde dabei oft über‐
schritten.”
55 Siehe Y. Delage, Lettre à M. Charles Richet. Revue Scientifique 4,17 (1902)
683‒687; E. Poulle, Le linceul de Turin victime d’Ulysse Chevalier. Revue
d’Histoire de l’église de France 92 (2006) 343‒358, auch zur bemerkenswer‐
ten Rolle des großen L. Delisle.
38
Karlheinz Dietz
stattfanden, setzte unverzüglich die Diffamierung der daran beteiligten
und sich (vorsichtig) für die Echtheit äußernden Wissenschaftler ein,56
während heimlich schon der Radiokarbontest am Leinen vorbereitet
wurde.57 Nachdem die Befürworter der Echtheit auch nach Anwen‐
dung dieser naturwissenschaftlichen Keule nicht verstummen woll‐
ten,58 wird heute kurzerhand behauptet, es gebe außer dem 14C‐Test
keinerlei verlässliche naturwissenschaftliche Untersuchungen am Grab‐
tuch. Diese Missachtung der Untersuchungen am Objekt selbst und
ihre Denunziation als Pseudowissenschaft, verdient freilich die Vor‐
würfe, die sie erhebt: sie ist erkenntnisgeleitet und alles andere als
ergebnisoffen.59
Mit der Datierung des Leinens ins Spätmittelalter endete keines‐
wegs, wie ein Buch damals titelte, „an age of mystery“, vielmehr be‐
gann für das Turiner Grabtuch die Postmoderne. Seither ist alles mög‐
lich! Die Templer haben es hergestellt, der antike Wunderheiler
Apollonius von Tyana, der letzte Templergroßmeister Jacques de Mo‐
lay oder ein selbstgekreuzigter Franziskanerspirituale ist darin abge‐
bildet, Leonardo da Vinci hat es geschaffen und den Scan seines Haup‐
tes hineinretuschiert, Raumfahrer haben es gebracht, usw. usf.
Geistreicher, aber dennoch wenig an der Realie in Turin orientiert ist
der in den letzten Jahrzehnten vor allem von kunsthistorischer Seite
immer häufiger vertretene ‚psychologisierende’ Ansatz. Er rückt das
Holy Face‐Phänomen mehr oder weniger entschieden in die Nähe einer
irrealen mystischen, um nicht zu sagen hysterischen Schaulust. Selbst‐
verständlich hat die Verehrungsgeschichte des Heiligen Antlitzes in
Form des Edessabildes oder der Veronica, aber auch in der erweiterten
Form des Turiner Grabtuchs emotionale und pastorale Aspekte, für
welche die wissenschaftliche Erforschung des Tuches von keiner oder
nur untergeordneter Bedeutung ist. Indessen sind, wie bei allen religiö‐
sen Fragen, die Ebenen streng auseinanderzuhalten. Wer das Turiner
56 Statt vieler S. Schafersman, Are the STURP Scientists Pseudoscientists? The
Microscope 30 (1982) 232‒234. Neuerdings bezeichnet der Biologe Jerry
Coyne, Preisträger des Richard‐Dawkins‐Award, im Internet alles als Pseu‐
do‐Science, was das Turiner Grabtuch als echt erweisen könnte.
57 H.E. Gove, Relic, Icon or Hoax? Carbon Dating the Turin Shroud. Bristol u.
a. 1996.
58 Z. B. S. Scannerini u. P. Savarino (Hrsg.), The Turin Shroud, past, present and
future. R.N. Rogers, Studies on the radiocarbon sample from the Shroud of
Turin. Thermochimica Acta 425 (2005) 189‒194.
59 Beispiele W.C. McCrone, Judgment Day for the Turin Shroud. Chicago 1999;
P. Flores D’Arcais (Hrsg.), L’inganno della Sindone. Rom 2010.
Einführung und Kongressnotizen
39
Grabtuch aus wissenschaftlicher Motivation heraus studiert, dem wird
rasch klar, auf welcher Seite die Realitätsferne beheimatet ist. Grenzt es
doch an selbstauferlegte Blindheit, wenn man Parallelen zwischen dem
Abbild des Grabtuchs und den Ekphraseis der Marmorinkrustationen
des Paulus Silentiarius sehen will oder die Sindone di Torino auf eine
Stufe mit den anderen Sindones (zum überwiegenden Teil Kopien des
Turiner Tuches) oder gar mit den Epitaphioi Threnoi stellt. Andere ge‐
hen von dem anfänglichen Eindruck von Augenzeugen der Ausstel‐
lung von 1898 aus, auf dem Grabtuch sehe man nichts („non si vede
niente“),60 und ergehen sich sodann geistreich über die Dialektik des
Bildes, wiederholen oder/und erneuern den Streit um die Aufnahmen
von 1898 oder stellen die Bilder Secondo Pias gar in eine Reihe mit ge‐
fälschten Gespensterfotografien der damaligen Zeit.61 Man tut allen
Ernstes so, als hätte es seit 1931 keine weiteren Fotografien der Sindone
mehr gegeben und als würden diese mit der Aura des Geheimnisvollen
umgeben. Tatsächlich kann man das Turiner Grabtuch inzwischen im
Internet in vielerlei, auch von Dilettanten gemachten Aufnahmen stu‐
dieren und zum Zwecke beliebiger Manipulation beschaffen.62 In Turin
selbst werden (nicht von der Kirche) geplottete Repliken bis zur natür‐
lichen Größe verkauft, wurde das Objekt selbst unlängst in höchstmög‐
lichen Auflösungen gescannt, …. Folgender Satz einer Medienkultur‐
wissenschaftlerin ist eines deutschen Exzellenzclusters würdig: „Was
sich um die Aufnahmen des frommen Fotografen Pia und später die
seines Nachfolgers Enrie entfaltet, ist ein Phantasma des Zugriffs: über
die Fotos auf den Corpus Christi und auf die Geschehnisse, in deren
Zentrum dieser Körper steht.“63 Man stelle sich vor wie lächerlich sich
jemand machen würde, wenn er Astronomen sagen würde, die Fotos
60 Nach P. Vignon, L’Université Catholique 40 (1902) 368 hat Charles de Buttet
aus Chambéry den Satz in Turin gehört; er selbst hat indessen dann aus et‐
wa 25 Meter mit einem Fernglas weitaus mehr erkannt und insgesamt die
erste Begegnung mit dem Original aus der Ferne gut beschrieben, aber sein
Eindruck war das glatte Gegenteil von „non si vede niente“. Was G. Didi‐
Huberman, The index of the absent wound. October 29 (1984) 63‒81 daraus
gemacht hat, ist gewiss lesenswert.
61 Das Beste aus dieser bemerkenswerten Diskussion stammt – vom Genie
Didi‐Hubermans abgesehen – von P. Geimer, Bilder aus Versehen. Hamburg
2010, 175‐252; Ders., A self‐portrait of Christ or the white noise of photogra‐
phy? Grey Room 59 (2015) 6‐43. Der Epigonen sind viele.
62 Ich verweise nur auf die Webseite von Mario Latendresse:
http://www.sindonology.org/shroudScope/shroudScope.shtml.
63 S. Diekmann in: P. Löffler u. a. (Hrsg.), Das Gesicht ist eine starke Organisati‐
on. Köln 2004, 42.
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Karlheinz Dietz
ihrer Weltraumteleskope seien Phantasmen des Zugriffs: über die Fotos
auf die Tiefen des Alls, in deren Zentrum das Wesen des Universums
steht! Aber zum Glück tangiert und verändert all das, was in den letz‐
ten fast 120 Jahren zur Sindone di Torino geschrieben wurde, das Ori‐
ginal nicht im Geringsten!
In dieser postmodernen Aporie wird im Moment erneut die Ge‐
schichtswissenschaft zum Iudex der ‚Authentizität‘ erkoren. Das ist
nicht nur eine Rückwärtswende, sondern angesichts der geschichts‐
theoretischen Diskussionen des letzten Jahrhunderts ein völlig ana‐
chronistischer Ansatz. Die Geschichtswissenschaft strebt als ‚ungenaue
Wissenschaft’ (Jacob Grimm) zwar die Wahrheit an, muss sich aber,
von Banalitäten abgesehen, mit der Wahrscheinlichkeit bescheiden. Es
kann ihr mithin gar nicht darum gehen, das Turiner Grabtuch als Fäl‐
schung zu entlarven oder seine Echtheit zu beweisen. Denn sie kann
weder das eine noch das andere. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, dem Tu‐
riner Grabtuch als einem seit vielen Jahrhunderten real existierenden
Objekt möglichst gerecht zu werden. Wortmeldungen wie ʺEntlarvung
des Grabtuchsʺ oder ʺGerichtstag für das Turiner Grabtuch“ stellen ihr
erkenntnisgeleitetes Interesse deutlich zur Schau und sind ebenso we‐
nig hilfreich wie der größte Teil dessen, was unter ‚sindonophiler’
Flagge bereitwillig ‚Beweise’ für die Echtheit des Grabtuchs vorbringt,
nach dem Motto „Und das Grabtuch ist doch echt“. Selbst das Urteil
über ein einfaches Geschehen von gestern hängt von den verfügbaren
Zeugnissen dazu ab, und mit zunehmendem Abstand verschärft sich
das Problem fast exponentiell. Für den Historiker geht es immer um die
Bewertung von Indizien, von übrig gebliebenen Zeugnissen, die wir als
Quellen bezeichnen.64 Sie sind nicht der historische Gegenstand selbst,
ihre sachgemäße Beurteilung bildet aber das Gerüst jeder historischen
Konstruktion, die selbstverständlich zu unterschiedlichen Ergebnissen
führen kann und sich ebenso selbstverständlich auch der modernen
naturwissenschaftlichen Möglichkeiten bedienen muss.65 Da letztere
nicht mehr als Bausteine sind, dürfen sie nicht verabsolutiert werden.
Leider haben aber heute manche Historiker so wenig Vertrauen in ihre
eigenen Möglichkeiten und Methoden, dass sie bereitwillig natur‐
64 Manche Historiker halten von Quellen überhaupt nicht mehr viel, andere
verwechseln die Notwenigkeit zur Textualisierung von Ereignissen mit de‐
ren Nichtexistenz. Grundsätzlich zum Quellenbegriff D. Saxer, Die Schär‐
fung des Quellenblicks. München 2014, 15‐18.
65 Zu den historischen Methoden und Modellen H.‐J. Gehrke, Historische Me‐
thoden. Der Neue Pauly 14 (2000) 453‒463; J. Baberowski, Der Sinn der Ge‐
schichte. München 2005; L. Kolmer, Geschichtstheorien. Paderborn 2008.
Einführung und Kongressnotizen
41
wissenschaftliche Verdikte akzeptieren, ohne deren Voraussetzungen
wirklich kritisch beurteilen zu können.66
Als Status quo der Diskussion zum Turiner Grabtuch gilt Vielen
heute die angebliche Kongruenz von naturwissenschaftlicher und
historischer Forschung, die ins Mittelalter verweise. Ausgangspunkt
der heutigen Diskussion ist damit nicht mehr das Turiner Grabtuch in
seiner multiperspektivischen Gesamtheit, sondern die Radiokarbonda‐
tierung von 1988, der zufolge das Leinen erst zwischen 1260 und 1390
entstanden sein soll. Diese Datierung wurde Gegenstand eines
unglaublich emotional geführten Streites,67 der zu vielerlei, auch zu
abseitigen Erklärungsversuchen und Verdächtigungen geführt hat.68
Angesichts des Ausmaßes der Irrationalität im Vorfeld, bei der Durch‐
führung und in der Diskussion dieser Tests69 könnte man jedes Ver‐
trauen in Naturwissenschaften verlieren. Erst recht, wenn man weiß,
dass das Verfahren der Beschleuniger‐Massenspektrometrie (AMS) seit
1977 eigens zu dem Zweck entwickelt wurde, ausgerechnet am Turiner
Grabtuch ‚erprobt’ zu werden: eine wissenschaftsgeschichtliche Gro‐
teske, die meist übersehen oder verschwiegen wird.70 Zudem stand
66 G. Kossack u. H. Küster, Germania 69 (1991) 444.
67 Nüchtern geschildert bei R. Laussermayer, Radiokarbon‐Datierung: Turiner
Grabtuch, Gletschermumie (Iceman), Bayes und die ʺ14C‐Chronologie
Ägyptensʺ. Analyse der Datierungsergebnisse. Imst 2013; vgl. P. Savarino,
Das Grabtuch von Turin. Chemisch‐physikalische Untersuchungen, in:
E. Maier (Hrsg.), Das Turiner Grabtuch. Wien 2005, 156‒182; P.T. Craddock
(Hrsg.), Scientific Investigation of Copies, Fakes and Forgeries. 2. Aufl. Ox‐
ford 2012, 102‐109. Das schon zitierte Buch von Gove, Relic, Icon or Hoax?
erschien nach einer kritischen Durchsicht von Dorothy Crispino († 2014),
wie sie mir 2001 persönlich versichert hat. Gelegentlich wichtig ist auch
W. Meacham, The rape of the Turin Shroud. o. O. 2005.
68 Ein Beispiel ist die Annahme eines unsichtbaren Ausbesserns der Teststelle
von Rogers, Studies on the radiocarbon sample from the Shroud of Turin;
M.S. Benford u. a., Discrepancies in the radiocarbon dating area of the Turin
shroud. Chemistry Today 26 (4) (2008) 4‒12. Technisch ist eine solche Repa‐
ratur auch heute unmöglich. Nach Autopsie der Stelle hat die Theorie
M. Flury‐Lemberg, The invisible mending of the Shroud in theory and the re‐
ality. British Society for the Turin Shroud 65 (June) (2007) 10‒26 zurückge‐
wiesen. Siehe jetzt auch M. Bella u. a., There is no mass spectrometry evi‐
dence that the C14 sample from the Shroud of Turin comes from a “medieval
invisible mending”. Thermochimica Acta 617 (2015) 169–171.
69 Selbst Nicolotti, Sindone, bes. 308f. betont den ungewöhnlichen Aufwand.
70 D. Elmore u. a., A method for dating the Shroud of Turin, in: P. Coero‐Borga
(Hrsg.), La Sindone e la scienza. Torino 1978, 428‒436; vgl. Gove, Relic, Icon
42
Karlheinz Dietz
Harry E. Gove, der Entwickler von AMS, von Anfang an unter dem
Einfluss zweier entschiedener Gegner des Grabtuchs (David Sox und
Walter McCrone). Daraus machte er ebenso wenig ein Hehl wie aus der
Tatsache, dass er den Ausschluss der Wissenschaftler des „Shroud of
Turin Research Project“ (STURP) an dem Radiokarbontest mit Nach‐
druck betrieben und „glücklicherweise“ erreicht habe. Diese Forscher‐
gruppe hatte 1984 und 1987 umfassende Vorschläge ausgearbeitet, wie
man den Radiokarbontest, wie üblich, in ein erweitertes Untersu‐
chungsprogramm einbetten könnte.71 Gove warf ihnen vor, sie hätten
allesamt die Echtheit des Grabtuchs beweisen wollen. Da fragt man
sich schon, woher und von wem er das gewusst hat? Und weiter: Wur‐
den nur solche Tester zugelassen, die die Unechtheit des Turiner Grab‐
tuchs beweisen wollten? Schließlich: Wie passt Goves Unterstellung zu
seiner unmittelbar davor geäußerten Behauptung, die von STURP ver‐
öffentlichten Ergebnisse seien trotz des großen Zeit‐ und Geldauf‐
wands „nicht eindeutig“ („ambiguous“) gewesen?72 In diesem bemer‐
kenswerten Widerspruch offenbart sich zugleich ein Bekenntnis zu
einfachen und eindeutigen Lösungen. Kein Wunder, Gove überschätzte
sein Testverfahren und seine eigene Rolle: „Possibly not since the days
of Galileo has such a curious interaction between science and religion
taken place.” Nur vor dem Hintergrund einer solchen aufklärerischen
Mission konnte man sich rühmen, Spezialisten wegen ihrer angebli‐
chen Glaubensüberzeugungen a priori ausgeschlossen zu haben. Dabei
hatten die Wissenschaftler von STURP, im Gegensatz zu Gove, Sox,
McCrone und vielen am Radiokarbontest Beteiligten, das Grabtuch
wenigstens aus der Nähe gekannt und studiert! Übrigens hatte der
merkwürdige Test von 1988 fast ein Vierteljahrhundert danach ein
or Hoax? 1‒42; D.H. Sox, The Image on the Shroud. Is the Turin Shroud a
Forgery? London 1981, 163‒170.
71 Shroud of Turin Research Project: Formal proposal for performing scientific
research on the Shroud of Turin. o. O. 1984; Stephen J. Lukasik, , Draft proto‐
col for the next examination of the Shroud of Turin. o. O. 1987.
72 H.E. Gove, From Hiroshima to the Iceman. The Development and Applica‐
tions of Accelerator Mass Spectrometry. Bristol 1999, 152: “Like all the sci‐
entific investigations that had gone before, their final published results were
ambiguous and generally of negligible importance despite the time and
money expended. STURP’s members were so convinced it was Christ’s
shroud that I was determined to prevent their involvement in its carbon
dating. I feared the most important measurement that could be made on the
shroud would be rendered less credible by their participation. Fortunately
in this I was successful.” Dieses Zitat besagt mehr über den intellektuellen
Hintergrund des Tests als alle Berechnungen.
Einführung und Kongressnotizen
43
ebenso bemerkenswertes Nachspiel. Im Jahr 2010 veröffentlichte das
seinerzeit am Test beteiligte Labor von Tucson einen Nachtrag zum
Beweis, dass man, allen Verdächtigungen zum Trotz, 1988 wirklich ein
Stück vom Grabtuch (und nicht vielmehr etwas Anderes) gemessen
habe.73 Allerdings schossen sie damit, wie ein dem Grabtuch durchaus
kritisch eingestellter Beobachter bemerkte, ein Eigentor, weil sie genau
das Gegenteil bewiesen!74
Indessen: man muss sich gar nicht an Verschwörungstheorien betei‐
ligen, da auch so unverrückbar feststeht: Die Historiker dürfen Radio‐
karbondaten nie isoliert betrachten und ihnen nicht blind vertrauen.
Wer es dennoch tut, findet sich in guter Gesellschaft mit jenen Mön‐
chen von Montecassino, die kurz nach dem Jahr 1000 ein Leinenstück‐
chen aus Jerusalem auf Echtheit überprüfen wollten und daher einer
Feuerprobe unterzogen. Sie standen damit durchaus auf der Höhe der
zeitgenössischen Rationalität (ob das Tüchlein nun, wie spätere mein‐
ten, aus Asbest war oder nicht).75
Selbstverständlich wird man nun einwenden, das Radiokarbonda‐
tum stehe im Einklang zur historischen Überlieferung zum Grabtuch,
wonach das Grabtuch ein im 14. Jahrhundert entstandenes Gemälde
sei.76 Bei Lichte besehen reduziert sich diese ‚Evidenz’ freilich auf einen
73 R.A. Freer‐Waters u. A.J.T. Jull, Investigating a dated piece of the Shroud of
Turin. Radiocarbon 52 (2010) 1521‒1527.
74 G.M. Rinaldi, Autogol a Tucson (2010‒11).
Siehe http://sindone.weebly.com/autogoltucson.html [14.05.2016].
75 Leo Ostiensis, Chronica monasterii Casinensis 2,33 (MGH 34, 229f.). Siehe
J.U. Büttner, Asbest in der Vormoderne. Münster 2004, 91f.
76 Für die unhaltbare Gemälde‐These wird neuerdings wieder ein Gerücht
hervorgezogen, das Arthur Prévost dem Ulysse Chevalier schon Anfang
1902 mitgeteilt hatte (Nicolotti, Sindone, 76; 139 Anm. 75; A. Nicolotti, Il pro‐
cesso negato. Rom 2015, 46‒48; 151‒154): Herzog Pierre Eugène de Bauf‐
fremont habe den Namen des Künstlers, der das Turiner Grabtuch gemacht
habe, gefunden und König Umberto I. von Savoyen mitgeteilt. Dieser habe
ihn gebeten, Stillschweigen zu bewahren und das Geheimnis für sich zu
behalten. Tatsächlich erwähnte Prévost die Studien des Herzogs von Bauf‐
fremont im Fonds de Charny des Archivs von Seine‐et‐Oise bereits 1899
(Revue de Champagne et de Brie 2,11 (1899‐1900) 801). Das einzig Neue aus
diesem Fonds hat dann Baron Joseph du Teil unter Berufung auf den Her‐
zog veröffentlicht, und zwar in einer Schrift, die er dem Herzog gewidmet
hat (J. du Teil, Autour du Saint Suaire de Lirey. Paris 1902, 19f.; 22; 25; 44.).
Niemand wird ernsthaft glauben, der Herzog habe den befreundeten Baron
über die Affäre unter Henri de Poitiers so negativ schreiben und absichtlich
in die Irre gehen lassen, obwohl er die Wahrheit kannte. Das wäre ein schö‐
ner Stoff für Verschwörungstheoretiker, ist aber falsch, wie eine Bemerkung
44
Karlheinz Dietz
für seinen Prokurator am Papsthof gedachten Briefentwurf des sich
übergangen fühlenden und beleidigten Bischofs Pierre d’Arcis an (Ge‐
gen)‐Papst Clemens VII. aus dem Jahr 1389.77 Der Einspruch des Bi‐
schofs von Troyes erfolgte wegen Verstoßes gegen die unterstellte
Wahrheitspflicht des Impetranten (veritas precum), indem er behaupte‐
te, dem Papst bzw. seinem Kardinallegaten ‚a latere‘ sei ein früherer
Eklat um die Sindone verheimlicht worden. Etwa 34 Jahre vorher78 ha‐
be der damalige Bischof von Troyes die Herkunft des Tuches unter‐
sucht und danach seine Ausstellung schon einmal verboten; durch die
Auffindung des Malers habe er es als Menschenwerk entlarvt. Der
Papst sah indessen keinen Grund, die Ausstellung eines Objekts zu
verbieten, das der Besitzer selbst eine „Darstellung“ (repraesentatio seu
figura) des „wahren Schweißtuchs unseres Herrn Jesus Christus“ ge‐
nannt hatte79 und die er am 28. Juli 1389, gestützt auf seine päpstliche
Vollgewalt, ex certia scientia beschieden hatte. Er ignorierte den
von L. Delisle, Lettres. III. Valence 1912, 128 an Chevalier vom 30. Mai 1902
beweist: „M. Du Theil a obtenu la communication de tout ce que M. de
Bauffremont possède et connaît sur la question.“ Es ist also kein Wunder,
dass Nicolotti den Phantom‐Maler des Turiner Grabtuchs nicht gefunden
hat, weil es ihn, wie das Objekt selbst beweist, nicht gegeben hat. Daran än‐
dern auch nichts die Kreidegrund‐Phantasien von C. Freeman, The origins of
the Shroud of Turin. History Today 64 (11) (2014) 38‒45; hier: 43f., die ihre
Bestätigung ausgrechnet in den Untersuchungen der ‚Pseudowissenschaft‐
ler‘ von STURP finden müssen; sie sind nicht mehr wert als die dilettanti‐
schen Ausführungen über mittelalterliche Malerei bei W.C. McCrone, Judg‐
ment Day for the Turin Shroud. Chicago 1999, 1; 117‒122.
77 Eine Abfassungszeit des Briefentwurfs „nei primissimo giorni del 1390“
(Nicolotti, Sindone, 76) überzeugt nicht, weil der Prokurator Guillaume Ful‐
conis in Avignon den viel zu langen Text ganz sicher noch dem kurialen Stil
und der dafür nötigen Brevitas anpassen musste. Obwohl er ein erfahrener
Mann war, kostete das ebenso Zeit wie der Geschäftsgang in der Kurie, für
die der Vorgang schwerlich besondere Dringlichkeit hatte. Die Streichun‐
gen im Jahr 1390 dauerten vier Monate. Pierre d’Arcis schrieb also bald
nach dem Brief des Papstes an Geoffroy de Charny II. vom Juli/August
1389, den er kannte, aber noch nicht gesehen hatte: michi perpetuum silentium
imponendo, prout fertur, quia ipsarum licterarum copiam habere nequivi. Die Ein‐
schaltung des Parlaments mit den bekannten Folgeereignissen lagen zeitlich
davor.
78 Pierre d’Arcis gab, wissentlich oder nicht, mit Sicherheit ein falsches Datum
der ersten Ausstellung an. Die Formel vel circa, die dem Juristen aus der Fe‐
der geflossen ist, ist allerdings kein Beleg für Unkenntnis, sondern vielmehr
eine gängige juristische Absicherung.
79 Das wahre Sudarium lag nach damaliger Auffassung in Rom und war die
Veronica.
Einführung und Kongressnotizen
45
Einspruch in der Hauptsache, verlangte aber (und hier zeigt sich der
Einfluss des Einspruchs), dass die Ausstellung des Tuchs künftig ohne
kirchliches Zeremoniell stattfinden und laut und deutlich erklärt wer‐
den müsse, worum es sich handele. Im Übrigen wies Papst Clemens
den Bischof brüderlich zurecht und bedrohte ihn mit der automati‐
schen Exkommunikation, sollte er den päpstlichen Anordnungen zu‐
widerhandeln. Damit nicht genug, korrigierte der Papst seine Bulle
vom 6. Januar 1390 bereits Ende Mai, selbstverständlich auf Drängen
des Petenten, an einigen Stellen noch einmal und strich unter anderem
die Formulierung, beim Grabtuch handele es sich um irgendein Ge‐
mälde (quedam pictura seu tabula facta).80 Abgesehen von der Tatsache,
dass die letztgenannte Korrektur des Papstes über ein Jahrhundert im‐
mer wieder verschwiegen oder verschleiert wurde,81 hat sich an
80 Vgl. Nicolotti, Sindone, 65‒83 und die in der folgenden Anm. genannte Lite‐
ratur.
81 Nicolotti, Sindone, 140 Anm. 86 versucht, trotz der und gegen die klaren
Darlegungen von E. Poulle, Chevalier vor dem Vorwurf der Verschleierung
und bewussten Irreführung in Schutz zu nehmen. Tatsache ist: Papst Cle‐
mens VII. hat im Mai 1390 seine Charakteristik des Grabtuchs in der Bulle
vom Januar 1390 korrigiert. Statt sed quedam pictura seu tabula facta in figuram
et representacionem hieß es jetzt nur noch sed tanquam figuram seu representa‐
cionem. Von einer Streichung der Phrase quedam pictura seu tabula facta,
durch die sich Clemens von einer Malerei distanzierte, steht in den mir ver‐
fügbaren Ausgaben von U. Chevalier, Autour des origines de Suaire de Li‐
rey, avec documents inédits. Mémoires de l’Académie des sciences, belles‐
lettres et arts de Lyon 3 (1903a) 237‒312; hier: 244‒246 = separat: Paris 1903,
12‒14 kein Wort. Im kritischen Apparat zu Dokument J (ebd. 267 = 35) soll
sich laut Nicolotti die „seconda versione“ der Bulle finden. Wirklich sicht‐
bar wird dort freilich nur, dass im Mai 1390 statt seu ursprünglich et und
statt in später sed tanquam geschrieben wurde. Daraus könnte nicht einmal
ein Hellseher erschließen, was tatsächlich geändert wurde. Der 1903
62jährige Chevalier wird schwerlich schon vergessen haben, wie man einen
richtigen Apparat schreibt. Deshalb bleibt es dabei, dass er die Streichung
der zitierten Phrase zur Verschleierung des wirklichen Sachverhalts unter‐
schlagen hat. Das beweist auch sein Satz: « Les documents exhumés dans
mon Etude et en partie reproduits plus loin ont établi, avec une évidence
saisissante pour quiconque a le sens critique, qu’on est en présence d’une
peinture, dont ils fixent l’époque avec une précision qui ne laisse guère à
désirer. » (ebd. 248 = 16; vgl. Chevalier, L’Université Catholique 41 (1902)
433). Mit diesem Verfahren hat er sogar zünftige Historiker getäuscht (etwa
V. Saxer, Revue d’Histoire de l’église de France 76 (1990) 33; 37). Chevaliers
soeben zitierter Satz, mit dem er seinerzeit die Kontroverse um das Grab‐
tuch beschlossen hat, ist leider genauso wenig zutreffend wie Nicolottis Be‐
hauptung, er habe jetzt das Problem „alla radice“ gelöst. Tatsächlich tat dies
schon lange vor seiner Geburt L. Fossati, La Santa Sindone. Turin 1961, 110f.;
46
Karlheinz Dietz
diesem Befund in den letzten 115 Jahren im Grunde nichts geändert.
Angesichts der allzu vielen Leerstellen der Lirey‐Kontroverse von
1389/90 ist der im Zorn verfasste Briefentwurf des Pierre d’Arcis nur ein
Zeugnis gegen die anderen. Die gesamte Affäre ist auch vor dem Hin‐
tergrund der Spannungen zwischen Avignon und Rom im Vorfeld des
Heiligen Jahres 1390 zu interpretieren und vor dem unleugbaren Tat‐
bestand, dass weder Kläger noch Richter das strittige Objekt wirklich
gesehen haben. Zurecht hat man schon vor mehreren Jahrzehnten be‐
tont, dass heute jedes Gericht (wie seinerzeit das päpstliche) den Text
des Pierre d’Arcis als Beweismittel abweisen würde und man sich da‐
her frage, „was die Gegner der Echtheit sagen würden, wenn die Ver‐
teidiger sich auf das „Zeugnis“ einer solch dunklen Existenz berufen
müßten, etwa um die Herkunft der Reliquie aus Palästina zu beweisen!
Des Hohngelächters wäre kein Ende.“82 Es war folglich pure Unkennt‐
nis des wirklichen Sachstandes und ein arges Missverständnis der hi‐
storischen Überlieferung, wenn die 1988 am Radiokarbontest beteilig‐
ten Naturwissenschaftler, die entgegen sonst üblicher Zurückhaltung
ihr Ergebnis selbst kommentierten, die Meinung vertraten, ihr Datum
wäre „consistent with the Shroud’s historic date“ und daher „a public
triumph for AMS“.83
Wer das Turiner Grabtuch für ein mittelalterliches Artefakt hält, ge‐
rät in arge Erklärungsnöte. Zum einen wäre zu begründen, warum bei
einer so anfälligen Methode wie der 14C‐Datierung die sonst üblichen
Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich der Materialproben nicht mehr gel‐
ten, wenn es sich um ein Objekt von sehr großem öffentlichen Interesse
handelt. Entsprechende Warnungen von höchst kompetenter Seite im
Vorfeld des Tests von 1988 wurden einfach in den Wind geschlagen.84
Die Kontaminationsmöglichkeiten des Turiner Leinens mit rund zehn
Quadratmetern waren, sollte das Tuch wirklich aus dem Grab Jesu
stammen, theoretisch so gewaltig und sind praktisch so wenig bekannt,
dass kein mit dem archäologischen Alltagsgeschäft halbwegs Vertrau‐
vgl. aus der Fülle der späteren Wortmeldung nur noch L. Fossati, La Sacra
Sindone. Leumann (Turin) 2000, 38‒42 und selbstverständlich Poulle, Ulysse
Chevalier, 357.
82 A. Koch, Stimmen der Zeit 157 (1956) 413.
83 So z. B. H.E. Gove, in: E. Taylor u. a. (Hrsg.), Radiocarbon after four decades.
New York 1992, 222.
84 W. Meacham, On carbon dating the Turin Shroud. Shroud Spectrum Interna‐
tional 19 (1986) 15‒25; W. Meacham, Radiocarbon dating and the age of the
Turin Shroud‐probabilities and uncertainities, in: W. Meacham (Hrsg.), Turin
Shroud – Image of Christ? Hongkong 1986, 41‐56.
Einführung und Kongressnotizen
47
ter einer von der Erwartung drastisch abweichenden Datierung mehr
als eine Fußnote widmen würde. Selbstverständlich denkt in der tägli‐
chen Praxis niemand daran, eine Römerstraße in Südbayern, die nach
dem archäologisch‐historischen Befund und den dendro‐datierten
Holzbohlen im Jahr 43 n. Chr. angelegt wurde, nur deshalb nicht für
römisch zu halten, weil dort aufgefundene Hölzer nach Radiokarbon‐
daten in der Zeit zwischen 1618 v. Chr. und 531 n. Chr. gefällt worden
sein müssten.85 Ebenso selbstverständlich ist das inschriftlich auf 179
n. Chr. datierte römische Legionslager von Regensburg nicht erst in
agilolfingisch‐karolingischer Zeit erbaut worden, weil die Holzkohle in
den Mörteln der Quadermauer nach jüngeren 14C‐Messungen in die
Zeit zwischen 15 und 1346 n. Chr., mit einem deutlichen Schwerpunkt
zwischen 600 und 850 n. Chr. datiert wurde.86 Die reale Welt ist eben
viel komplexer als wir uns das gelegentlich wünschen (und Harry Go‐
ve & Co. geglaubt haben und glauben).87
Zum anderen bleibt zu erklären, wie und warum gerade im 14. Jahr‐
hundert, in einer Zeit, in der ein schmuckloser Leinen‐/Seidenstoff zum
Tischtuch des Abendmahls in der Umgebung des Kaisers werden
konnte,88 eine auch ikonographisch einzigartige Reliquie durch die or‐
thogonale Projektion eines in allen Details stimmigen, gekreuzigten
Leichnams angefertigt wurde. Diese ‚Fälschung’ war denn auch un‐
glaublich ‚erfolgreich’, so sehr, dass bereits ihre ersten beiden Ausstel‐
lungen sofort verboten wurden! Bleibt man lauter, so sind auch die
jüngsten Versuche, das Turiner Grabtuch (oder besser die Vorderan‐
sicht des Toten) ohne Fotoapparat herzustellen, allenfalls auf Anhieb
ähnlich, und das, obwohl sie sich des besten Wissens unserer Zeit be‐
dienen können.89 Bezüglich der Bildentstehung des Grabtuchs ist im
Moment nur eines sicher, dass wir sie nämlich noch immer nicht erklä‐
ren können. Eine spezielle Grabtuchbrille hat aufgesetzt, wer all die
defektösen Versuche als erfolgversprechend ausgibt.90 Von den foto‐
grafischen und digitalen Reproduktionen abgesehen, ist mit den
85 Siehe K. Dietz, in: E. Maier (Hrsg.), Das Turiner Grabtuch. Wien 2005, 227f.
86 W. Von Gosen u. a., Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 54 (2013)
429‐438.
87 Einige, wie Meacham, Rape, 242‒250, fordern einen neuen Radiokarbontest,
den es schwerlich geben wird, weil wir Objekte nicht solange mit dem glei‐
chen Verfahren testen können, bis jeder zufrieden ist.
88 Z. B. B.D. Boehm, Der gläubige Herrscher. München 2006, 154.
89 Beispielsweise L. Garlaschelli, Journal of Imaging Science and Technology 54
(2010) 040301‒14; G. Fanti u. T. Heimburger, ebd. 55 (2011) 020102‒1‒3.
90 Nicolotti, Sindone, 280‒282; 333f.
48
Karlheinz Dietz
Mitteln des 14. Jahrhunderts bis heute kein wirklich vergleichbares Bild
erzeugt worden.91 Daraus aber folgt: im Jahr 2016 muss das Turiner
Grabtuch – selbst wenn seine Entstehung eines Tages erklärt werden
sollte – immer noch als nicht von Hand gemachtes Bild, als Acheiro‐
poietos, gelten.92
Dies führt zurück zur Geschichte der Acheiropoieten. Auch hier
dominieren eher postmoderne Verhältnisse. Zum einen ist der lange
Arm jener prominenten „Skeptikerin“ zu nennen, die 1980 zu der stö‐
renden Hypothese, Grabtuch und Edessabild könnten ein und dieselbe
Sache sein, sogleich sicher war: „This cannot be true“.93 Ihre professio‐
nell vorgetragenen Argumente schließen eine Möglichkeit a priori und
kategorisch aus. In ihrem Gefolge bewegen sich viele Arbeiten zum
Edessabild, das als zunehmend jüngeres Phänomen erscheint, weil die
ältere Überlieferung, teilweise mit grotesker Willkür, als spätere Inter‐
polation gebrandmarkt wird. Mindestens ein Dutzend der frühesten
Bildzeugnisse wurde inzwischen weginterpretiert oder als Interpolati‐
on verdächtigt.94
91 Erfolgversprechend vielleicht P. Di Lazzaro u. a., Applied Optics 51 (2012)
8567‒8578; vgl. noch M. Latendresse, Mediterranean Archaeology and Ar‐
chaeometry 14 (2014) 367‒373.
92 Der einzige ‚Ausweg’, den N. Allen, The Turin Shroud and the Crystal Lens.
Port Elizabeth 1998 mit seiner Annahme einer mittelalterlichen Urfotografie
gewiesen hat, ist trotz P. Loyson u. a., South African journal of science 101
(1/2) (2005) 36‒42 noch unwahrscheinlicher als die Annahme einer Urfoto‐
grafie im Grabe Jesu.
93 A. Cameron, The Sceptic and the Shroud. London 1980; A. Cameron, The his‐
tory of the image of Edessa. The Telling of a Story. Harvard Ukrainian Stu‐
dies 7 (1983) 80‒94; siehe aber A.‐M. Dubarle, Histoire ancienne du linceul
de Turin jusqu’au XIIIe siècle. Paris 1985; I. Wilson, The Shroud and the
Mandylion: A reply to Professor Averil Cameron, in: W. Meacham (Hrsg.),
Turin Shroud – Image of Christ? Hongkong 1987, 19‒28.
94 Das gilt für das in auserlesenen Farben gemalte Christusbild in der Doctrina
Addai, die Verehrung des Christusbildes durch Daniel von Glosh, die syri‐
sche Hymne anlässlich der Neueinweihung der orthodoxen Kathedrale von
Edessa, „das gottgemachte Bild, das Menschenhände nicht gefertigt hatten,
vielmehr Christus, der Gott“ bei Evagrios, das von Jesus in Leinen gedrück‐
te Bild in den syrischen Akten des Mari, die Erwähnungen des Edessenums
in der Rede des Patriarchen Germanos vor Leon dem Isaurier, im Brief
Papst Gregors II. an eben diesen Kaiser, in den Schriften des Johannes von
Damaskus, im Synodalbrief der drei orientalischen Patriarchen von 836 und
bei Theodor Abu Qurra. Siehe vor allem H.J.W. Drijvers, The image of
Edessa in the Syriac tradition, in: Kessler u. Wolf, The Holy Face, 13‒31; J.
Chrysostomides, in: J.A. Munitiz, u. a. (Hrsg.), The Letter of the Three Patri‐
Einführung und Kongressnotizen
49
Jede Ähnlichkeit zwischen Turiner Grabtuch und Mandylion zu‐
rückgewiesen wird jüngst auch in mindestens drei Buchveröffentli‐
chungen und ebenso vielen Aufsätzen, denen zufolge das Edessabild
niemals mehr als das Antlitz gezeigt hat.95 Hier sei lediglich ange‐
merkt, dass der Autor – ein entschiedener Gegner der Sindone – gar
nicht merkt, dass er im Grunde nur beweist, dass der Mainstream der
Nachrichten über die Edessabilder (‚Mandylien‘) nicht mit dem Grab‐
tuch übereinstimmt. ‚Wahrheit‘ wird aber, wofür sich drastische Bei‐
spiele anführen ließen, nicht numerisch entschieden. Außerdem wurde
schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass nach unserer Überlieferung
944 ein Edessabild nach Konstantinopel transferiert wurde, das als Lei‐
nenbild verstanden wurde, welches auf einer kleineren Holzplatte auf‐
gezogen war (und mehr Ähnlichkeit mit den Abgarbildern von Genua
und Rom hat als mit dem Grabtuch), dass aber dessen Bezeichnung
temmáchion der älteren als tetrádiplon entgegensteht.96
Der Radiokarbontest hat die Frage selbstverständlich zusätzlich be‐
lastet. Wer will schon Mitglied der ‚Flat Earth Society‘ sein, wozu nach
dem Oxforder Tester jeder gehört, der an der Datierung von 1988 zwei‐
felt? Infolgedessen kann man inzwischen bei einem kritischen Kunsthi‐
storiker lesen, dass im Jahr 944 Gregor Referendarius das Edessabild
von der Vorstellung eines bestimmten Augenblicks, in dem es entstan‐
den sein könnte, ablöse. Es dokumentiere nicht allein die Todesangst
am Ölberg, sondern werde zum Zeugnis der Summe der Leiden Chri‐
sti, deren Zeichen das dominante Schweißmotiv umrankten. Eigentlich
müsste man die Identität von Turiner Grabtuch und Edessabild erwä‐
gen, aber wegen der Radiokarbondatierung zwischen 1260 und 1390 sei
dies „gegenstandslos geworden“. So bleibe die Frage, ob nicht das
Edessabild ein ähnlich schemenhaftes Bild gezeigt habe wie jenes Grab‐
tuch. Wörtlich: „Das Turiner Grabtuch könnte durchaus eine dem
Mandylion verwandte Bildtradition repräsentieren.“97
Einer der wenigen, die sich der Herausforderung des Turiner Grab‐
tuchs immer wieder stellen, ist Hans Belting. Er hat früh die Besonder‐
heit dieses Objekts gewürdigt98 und er benennt auch die Gründe für
95
96
97
98
archs to the Emperor Theophilos and Related Texts. Camberley 1997,
XVII‒XXXVIII.
Zuletzt A. Nicolotti, Dal Mandylion di Edessa alla Sindone di Torino.
2. Aufl. Alessandria 2015.
K. Dietz, in: S. Scannerini u. P. Savarino (Hrsg.), The Turin Shroud, past, pre‐
sent and future. Cantalupa 2000, 340.
M. Büchsel, Die Entstehung des Christusporträts. Mainz 2007, 118.
H. Belting, Dumbarton Oaks Papers 34‐35 (1980‐81) 6; Ders., Das Bild und
50
Karlheinz Dietz
die wissenschaftliche Reserviertheit: „Das Turiner Grabtuch […] wird
sowohl von Historikern wie von Kunsthistorikern gemieden: von erste‐
ren, weil es erst seit dem 14. Jahrhundert dokumentiert ist, und von
letzteren, weil der Abdruck des Gesichts mit den geschlossenen Augen
einer Leiche im offenen Widerspruch zur bekannten Christus‐
Ikonographie steht. (Wo sonst würde man eine gekreuzigte Figur mit
Nagelspuren auf den Handgelenken, statt auf den Handflächen, und
wo ein Gesicht finden, dessen Augen mit Münzen bedeckt sind?).“99
Im Jahr 1989 begründete er in einem Fernsehinterview, warum es für
ihn „wenn es ein Maler im 14. Jahrhundert gemalt hätte, fast ein größe‐
res Wunder [wäre] als wenn es ein Original mit dem Abdruck Christi
aus der Antike wäre.“100 Aber auch er verweigerte sich der Mittelalter‐
datierung nicht. In seinem großen Werk über ‚Bild und Kult’ meinte er
kurz danach: „Nur das Leichentuch von Turin, dessen verlorenes Ori‐
ginal offenbar schon in Byzanz als Grablinnen Christi verehrt wurde,
steht mit dem Abdruck eines Toten dem fiktiven Abdruck eines Le‐
benden auf diesen Tafeln [des Abgarbildes in Rom und Genua] nahe.
Wie man diesen Befund interpretieren soll, mag jeder selbst entschei‐
den.“101 Tatsächlich ist es ein paradoxes Mirakel, wie ein echtes Lei‐
chentuch zur Kopie des verlorenen Originals werden kann.
Inzwischen sieht Belting im Grabtuch von Turin den Beweis für ein
Fortdauern des Mythos vom heiligen Antlitz bis in die Gegenwart. Dar‐
in fände sich die nämliche, beinahe obsessive Neugier wieder wie sie
für den Mythos der heiligen Antlitze typisch gewesen sei. Auch sehe
man am Turiner Grabtuch am besten, was es mit diesen Mythen auf
sich habe: der wahre Zustand des Bildes könne in beiden Fällen miss‐
achtet werden.102 Auch dieser Satz enthält wieder ein Paradoxon: denn
sein Publikum im Mittelalter. Berlin 1981, 162f.
99 H. Belting, Das heilige Porträt. Die Ikone als Manifest, in: C. Werntgen
(Hrsg.), Szenen des Heiligen. Berlin 2011, 39–56, hier: 56. Vgl. H. Belting, In
Search of Christ’s Body. Image or Imprint? in: Kessler u. Wolf (Hrsg.), The
Holy Face and the Paradox of Representation. Bologna 1998, 1‒12; hier: 8f.:
„Art historians dislike the Shroud, as the latter either is an original (thus an‐
tedating Christian imagery) or is a late medieval fake (thus postdating the
history of intelligent and beautiful images).” Man sollte so manche Exege‐
ten nicht vergessen: A.‐M. Dubarle, Histoire ancienne du linceul de Turin. II.
Paris 1998, 13‒26.
100 H. Belting, in: Jesus, oder wer war der Mann? Film von Ronald Granz, Süd‐
deutscher Rundfunk Stuttgart, 24. März 1989. Ob das Interview vor oder
nach Oktober 1988 gemacht wurde, ist mir nicht bekannt.
101 Belting, Bild und Kult, 236; 640 Anm. 8.
102 Belting, In Search of Christ’s Body, 8f.
Einführung und Kongressnotizen
51
„der wahre Zustand“ des Turiner Grabtuchs deutet eher darauf hin,
dass seine Kritiker einem Mythos anhängen.
Für Belting liefert das Turiner Tuch „eine gewisse Einsicht in das In‐
teresse an den frühen Wunderbildern, deren Gesicht angeblich vom
Gesicht des lebenden Jesus wie ein Negativ zwar nicht abgelichtet, aber
abgedrückt worden war und daher authentisch in dem Sinne war, daß
es die Echtheit seines Körpers bewies. Doch schließlich siegte das Por‐
trät über den Abdruck, weil es mit offenen Augen blickte und damit
ein neues Erlebnis von Präsenz vermittelte“.103 Und an anderer Stelle
sagt er über die Suche nach dem Heiligen Antlitz: Nach dem Corpus
der frühen Quellen ging es „nicht um das Gesicht als solches, ein le‐
bendiges Gesicht, das man betrachten und in das man sich versenken
sollte, sondern um das Gesicht als greifbare und sichtbare Spur eines
verlorenen Körpers.“104 Das aber trifft in paradoxer Weise gerade auf
das Turiner Grabtuch zu, zumal der Mann auf dem Grabtuch erst seit
der Fotografie von 1898 die Augen eindeutig geschlossen hat. Die frü‐
heren, teilweise durchaus tüchtigen Kopisten des Tuchbildes haben
den Dargestellten fast alle mit offenen Augen wiedergegeben105 und
aus ihrer Sicht hatten sie damit recht: Denn auch das Original des Turi‐
ner Grabtuchs zeigt scheinbar einen toten Gekreuzigten mit geöffneten
Augen.106 Hinzuweisen ist ferner auf die grundsätzliche Bedeutung
von Gottes Körper im Judentum und auch im frühen Christentum107
und auf die früh einsetzenden, heftigen Auseinandersetzungen um die
Beschaffenheit des Leibes Christi, das Verhältnis seiner menschlichen
103 Belting, Das heilige Porträt, 56; vgl. Ders., Das echte Bild, 63‒67.
104 Belting, Das heilige Porträt, 40. Ähnlich noch öfters: Ders., Face oder Trace?
Zur Anthropologie der frühen Christus‐Porträts, in: S. Weigel (Hrsg.), Ge‐
sichter. München, Paderborn 2013, 91‐102; Ders., Faces. Eine Geschichte des
Gesichts. München 2013, 148‐155.
105 Vgl. nur L. Fossati, Il negativo del volto nelle copie della Sindone, in:
L. Coppini u. F. Cavazzuti (Hrsg.), Le icone di Cristo e la Sindone. Un model‐
lo per l’arte cristiana. Mailand 2000, 195‒203; C. Barta u. A.V. Carrascosa, The
Shroud of Turin and its ancient copies. Scientific Research and Essays 7
(2012) 2526‒2544.
106 Außerdem sind die Leidensspuren im Antlitzbereich so gering, dass man
die Bildentstehung, betrachtet man nur das Gesicht, sehr wohl nur in die
Nähe der Passion rücken konnte. A. Nicolotti, From the Mandylion of
Edessa to the Shroud of Turin. Leiden, Boston 2014, 36‐38 muss das selbst‐
verständlich, auch mit einem „digitally enhanced“ Foto bestreiten.
107 A. Wagner, Gottes Körper. Zur alttestamentlichen Vorstellung der Men‐
schengestaltigkeit Gottes. Gütersloh 2010; C. Markschies, Gottes Körper. Jü‐
dische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike. München
2016.
52
Karlheinz Dietz
‚Knechtsgestalt‘ (δούλου μορφὴ) zur göttlichen Gestalt (Θεοῦ μορφὴ),
die – verstärkt von der im platonischen und neuplatonischen Denken
verankerten Unterordnung des Materiellen unter das Geistige – in end‐
losen Debatten über die Körperlichkeit des Erlösers mündete.108 Das
waren schlechte Zeichen für die Revelation des Turiner Grabtuchs, das
– seine Herkunft aus dem Grab vorausgesetzt – anfangs verschwinden
musste, um der Zerstörung zu entgehen. Hat dann die Suche nach dem
Antlitz Christi die Suche nach ihm substituiert?
Wie dem auch sei, das Turiner Grabtuch war jahrhundertelang ein
Christusbild, das – je nach Standpunkt – glühend verehrt oder unter
Hinweis auf das Schweigen der Evangelien abgelehnt wurde. Das hat
sich inzwischen geändert. Erneut darf man Belting zitieren: „Wir sind
heute mit so vielen Bildern gesättigt, dass wir das Tuch nicht als Bild
brauchen, sondern als Beweisstück. Und darüber entscheidet die Na‐
turwissenschaft, die inzwischen die erste Adresse unseres Glaubens
geworden ist.“109
Seit 1898 und erst recht seit 1988 tobt das Kreuzfeuer um die Deu‐
tungshoheit des Grabtuchs, und dabei wird nicht selten mit harten Ban‐
dagen gekämpft, mit Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Verdrehungen
und Erfindungen. Wurde früher das Schweigen der Überlieferung zum
Hauptargument, so ist heute fast alles recht, notfalls sogar die persönli‐
che Verunglimpfung. Das Turiner Grabtuch gehört zwar seit 1983 dem
Papst, aber es ist kein Objekt der katholischen Kirche. Möglicherweise
aus der ostsyrischen in die griechische Orthodoxie gewechselt, gehörte
es seit Mitte des 14. Jahrhunderts weltlichen Familien, zweifellos ein
Grund dafür, dass es (anders als die Veronica) frühzeitig zugänglich
geworden ist. Das Interesse am Grabtuch ist heute im Wortsinn katho‐
lisch, ‚allumfassend‘ oder ‚das Ganze betreffend‘. Die vierzig Natur‐
wissenschaftler von STURP von 1978 setzten sich aus vier Katholiken,
drei Juden, sechs Agnostikern und 27 Protestanten zusammen. Der
damals als Fotograf mitwirkende Barry Schwortz aus Los Angeles ist,
wie er zu sagen pflegt, ein ʺJewish boyʺ: er betreibt mit
www.shroud.com die größte Webseite zum Grabtuch – und sicher auch
eine der besten.
Das weitverbreitete Interesse am Grabtuch – auch jenseits der Ge‐
schäftemacherei und journalistischen Pflichtübung in der Karwoche –
hat es zum Gegenstand merkwürdiger Allianzen und Mesalliancen
108 Jetzt Markschies, Gottes Körper, 247‐418. Siehe oben Anm. 19.
109 Belting, Das echte Bild, 63‒67.
Einführung und Kongressnotizen
53
gemacht, die in zahllosen Webseiten und Blogs ihren Niederschlag
finden.
Gegen die Echtheit sind in den christlichen Kirchen hohe Würden‐
träger bis zu normalen Pfarrern und einfachen Gläubigen, aber auch
Theologen, besonders Exegeten des Neuen Testaments, die das kom‐
plexe Objekt – wäre es echt – wohl schwer in ihre längst postmoderne
Wortwissenschaft einordnen könnten. Ihnen zur Seite stehen etwa
Kunsthistoriker und Historiker, aber auch bekennende Atheisten und
selbsternannte Skeptiker, sog. Humanisten, zynische Spötter und noto‐
rische Kirchenkritiker, denen es um die Säuberung der Welt von Reli‐
gion und Aberglauben geht und denen ein Relikt des ‚Christusmär‐
chens‘ im Wege stehen muss.
Auf der anderen Seite sind für die Echtheit in den christlichen Kir‐
chen hohe Würdenträger bis zu normalen Pfarrern und einfachen
Gläubigen. Ihnen zu Seite stehen etwa Kunsthistoriker und Historiker,
aber auch fromme Seelen und christliche Eiferer, die ihren ‚Glauben‘
durch materielle Überreste vernünftig beweisen wollen, beflissene
Streiter gegen die säkularisierenden Ergebnisse moderner Evangelien‐
kritik und aufgeklärte oder aufklärerische ‚Christen‘, die aus dem
Grabtuch die Entstehung des Auferstehungsglaubens erklären oder
Christi Auferstehung als Scheintod erweisen wollen und darin den
Muslimen, vor allem der (vom offiziellen Islam nicht anerkannten)
Ahmadiyya‐Mission die Hände reichen.
Die Tagungen von Würzburg und Wien hatten das Ziel, wenigstens
an einigen Stellen ein paar Marksteine durch die Konfrontation der frü‐
hen Überlieferungen zum Christusbild mit der Realität des Turiner
Grabtuchs zu setzen.
Würzburg, 16.‐18. Oktober 2014
Christoph Dohmen (Regensburg) zeigt die alttestamentlichen Voraus‐
setzungen der Verehrung des Christusbildes auf. Im Judentum entwik‐
kelte sich das Bilderverbot aus dem Fremdgötterverbot hin zum Verbot
der Kultbilder, nicht der Bilder überhaupt. Auch im Christentum wer‐
den nicht etwa die Bilder selbst kultisch verehrt, vielmehr vermittelt
das Bild stets die Verehrung des Urbildes, das nicht wieder ein anderes
Bild sein kann. Im Falle des Christusbildes ist der Verehrte eben Chri‐
stus selbst.
Stefan Heid (Rom) verdeutlicht, dass bereits in den ältesten erhalte‐
nen Kirchen die Bildausstattung an den Längswänden gleichsam Pro‐
zessionen in Richtung Altarraum zeigt, in der Apsis selbst eine klare
54
Karlheinz Dietz
vertikale Ausrichtung vom Bischofsthron hoch zum Christusbild er‐
kennbar ist.
Die Text‐ und mögliche Bildüberlieferung zum Bild von Kamuliana,
das als ältestes wunderbares Christusbild nach Konstantinopel transfe‐
riert wurde, untersucht Josef Rist (Bochum). Zu diesem sich rasch selbst
kopierenden Bild gibt es zwei unterschiedliche Überlieferungen. Seit
dem späten 6. Jahrhundert bis Justinian II. wurde es in Konstantinopel
als Palladium betrachtet. Im Bilderstreit spielte es keine Rolle und
wurde auf dem zweiten Konzil von Nicäa 787 zum letzten Mal offiziell
genannt.
Hans Georg Thümmel (Greifswald) gibt vor dem Hintergrund sei‐
nes profunden Wissens zur literarischen Überlieferung einen Überblick
über den nur noch geringen ikonographischen Bestand von Christus‐
bildern des 6. bis 8. Jahrhunderts in Byzanz.
Karl Christian Felmy (Effeltrich) betont die inkarnatorisch‐christolo‐
gische Verankerung der Ikonen in den Konzilsentscheidungen (bes.
von 692 und 787) und in der Theologie des Johannes von Damaskus
und beschreibt dabei den Weg zur orthodoxen Theologie der Christus‐
Ikone, den er an konkreten Beispielen erläuterte.
Besonders bedeutsam wurde das Christusbild in der Geschichte des
Edessabildes, die nach unserem derzeitigen Wissen mit der Erzählung
von einem Brief Christi an König Abgar V. von Edessa in Mesopotami‐
en begonnen hat. Diesen Brief des Heilands nimmt Gregor Emmeneg‐
ger (Fribourg) ins Visier. Dabei legt er den Text einer neuen koptischen
Version auf einem schmalen Papyrusamulett vor. Der Brief lief beson‐
ders in Ägypten als magischer Text um und wurde mit vielerlei ande‐
ren Zauberformeln vermischt. Unerklärlich ist nach Emmenegger,
warum das Bild Christi in diesem magischen Zusammenhang keine
Verwendung gefunden hat.
Das in Edessa verehrte, angeblich von Christus selbst hergestellte
und dem König Abgar übersandte Bild wurde seit dem 6. Jahrhundert
als „nicht von Hand gemachte“ Ikone, als Acheiropoietos bezeichnet.
Die älteste syrische Überlieferung dazu analysiert Peter Bruns (Bam‐
berg). Er zeigt, dass bereits Ephraem der Syrer († 373) diese Ikone ge‐
kannt hat. Im 9. Jahrhundert wurde sie sicher fußfällig verehrt. Selbst
die Araber, die sie 944 an die Byzantiner auslieferten, nahmen davon in
Hochachtung Notiz und griffen dabei auf eine sonst unbekannte ostsy‐
rische Tradition zurück, wonach das Bild entstanden sei, als sich der
aus der Taufe steigende Jesus abgetrocknet habe.
Andrew Palmer (Zwijndrecht) befasst sich mit als Mandylion
bezeichneten Christusbildern von Edessa in der griechischen und
Einführung und Kongressnotizen
55
syrischen Überlieferung bis etwa 944. Er gibt einen ausführlichen
Überblick über die reichhaltigen Texte und trägt die Idee vor, es habe
sich beim originalen Mandylion nicht um ein Farbbild auf flachem Lei‐
nen, sondern um eine modellierte Maske eines Lebenden gehandelt.
Schon deshalb lehnt er eine Identität von Edessabild und Turiner Grab‐
tuch ab. Schließlich bespricht er das Christusbild in der syrischen ‚Vita
des Daniel von Aghlosh‘ aus der Feder des Jakob von Sarug, das er als
zwischen 413 und 417 gemaltes Bild betrachtet.
Nach Christian Hannick (Würzburg) war die armenische Überliefe‐
rung mehr am Brief als am Christusbild König Abgars interessiert. Im‐
merhin findet sich letzteres aber bei Moses von Chorene, der neuer‐
dings von Einigen wieder ins 5. Jahrhundert datiert wird.
Jadranka Prolović (Wien) verfolgt die von Byzanz ausgehende, da‐
mit verhältnismäßig junge, aber sehr reichhaltige slavische Überliefe‐
rung zum Christusbild. In Russland wird das Mandylion am häufig‐
sten und bis heute verehrt. Dabei ist eine Besonderheit, dass der
Evangelist Lukas zum Boten des Königs Abgar wurde.
Das Turiner Grabtuch selbst behandeln einige hochkarätige Spezia‐
listen.
So analysiert Mechthild Flury‐Lemberg (Bern) das Grabtuch als Tex‐
til und stellt fest, dass nach dem textilen Befund nichts dagegenspricht,
dass es aus der Zeit Jesu stammen könnte. Außerdem erläutert die
namhafte Expertin für christliche Tuchreliquien die wechselvolle Ge‐
schichte dieses Leinens an seinen eigenen, zahlreichen Spuren.
Der Mathematiker Bruno Barberis (Turin) gibt einen anschaulichen
Überblick über den Stand der naturwissenschaftlichen Forschungen
zum Grabtuch und widmet sich dabei der Bildentstehung, den Blutun‐
tersuchungen, den Mikroorganismen, den Computeranalysen, der sog.
Negativität der Fotografien und der Datierung des Tuchs.
Der Exeget Giuseppe Ghiberti, Präsident der Turiner Diözesan‐
kommission für das Turiner Grabtuch, betont, dass die Bestattungsbe‐
richte der Synoptiker ohne Schwierigkeiten mit dem Turiner Grabtuch
vereinbar seien. Bei Johannes erkläre sich die Mehrzahl othonia eventu‐
ell aus der Größe des Grabtuches, das leicht wie zwei aufeinanderlie‐
gende Tücher erscheinen kann. Wegen des fehlenden Bildes zwischen
den Kopfabdrücken auf dem Grabtuch sei das sudarion vielleicht als
Kinnbinde zu verstehen.
Für Gian Maria Zaccone, Direktor des Grabtuchmuseums von
Turin, liegt der historische Zusammenhang zwischen den frühen
Acheiropoietoi Christi und dem Turiner Grabtuch in der übereinstim‐
menden Zugangsweise der Betrachter und Verehrer. Diese war nicht
56
Karlheinz Dietz
von intellektueller Neugier, sondern von dem frommen Wunsch getra‐
gen, dem Mysterium des fleischgewordenen Gottes zu begegnen und
so unmittelbar mit dem tragischsten Moment des irdischen Lebens Jesu
verbunden zu werden.
Den auch neuerdings wieder energisch bestrittenen Zusammenhang
zwischen Edessabild und Turiner Grabtuch verfolgen einige Referen‐
ten.
So geht Rainer Riesner (Dortmund) der Frage nach, ob es Hinweise
für einen Weg des Turiner Grabtuchs von Jerusalem nach Edessa gebe.
Von der plausiblen Annahme ausgehend, dass die Tücher aus dem
Grab am ehesten innerhalb der Familie des Gekreuzigten aufbewahrt
worden seien, kann er aufzeigen, dass in einem nichtkanonischen Text
der Herrenbruder Jakobus tatsächlich mit Addai, dem Missionar von
Edessa, verbunden ist.
Karlheinz Dietz (Würzburg) wies mündlich darauf hin, dass alle
Kopisten vor der Fotografie den Mann auf dem Turiner Grabtuch mit
offenen Augen dargestellt haben. Ein Widerspruch zur Abgarlegende
sei also nicht gegeben. Zudem gibt es sehr alte Texte, die dem Abgar‐
bild implizit und sogar explizit die Eigenschaft eines Ganzkörperbildes
zuweisen und es nicht auf das ‚Mandylion’ reduzieren. Der Beitrag gibt
eine Neuedition und einen Kurzkommentar des sog. Lateinischen
Abgartexts.
Carolina Lutzka (Würzburg) untersucht die Hymnentexte der Me‐
näen zum 16. August, dem Gedächtnis der Übertragung des Mandyli‐
ons von Edessa nach Konstantinopel, hinsichtlich der Bezeichnungen,
der Beschaffenheit, des Materials und der Entstehung des Christusbil‐
des. Der Bezug zum Turiner Grabtuch ist nicht auszuschließen.
Jannic Durand (Paris) betonte, dass das in Konstantinopel verehrte
Mandylion durch den hl. König Ludwig IX. um 1240 in die Sainte Cha‐
pelle von Paris gebracht, später als ‚Veronica’ bezeichnet wurde. Es war
also entgegen gelegentlicher Hypothesen unmöglich mit dem Turiner
Grabtuch identisch. Besonders auffallend und erklärungsbedürftig ist
nach Durand, dass diese Bild‐Reliquie bis zu ihrer Zerstörung in der
Französischen Revolution im byzantinischen Reliquiar geblieben ist
und das Interesse des Königs nicht auf sich gezogen hat.
Ilaria Ramelli (Mailand) hält in einem (gesendeten) Beitrag die
Gleichsetzung von Sindōn der Evangelien, Mandylion und Sindone di
Torino für wahrscheinlich.
Dagegen betont Alexei Lidov (Moskau), dass es sich beim Grabtuch
und dem Mandylion um zwei verschiedene Reliquien gehandelt hat,
die im Rahmen des heiligen Raums (Hierotopie) in der Pharoskapelle
Einführung und Kongressnotizen
57
von Konstantinopel aufbewahrt wurden. Die dortige Sindon war viel‐
leicht mit dem Turiner Grabtuch identisch.
Drei Tücher, die als Aēr, Epitaphios Thrēnos bzw. slavisch Plašča‐
nica und Antimension bezeichnet und im liturgischen Gebrauch der
orthodoxen Kirche verwendet werden, erinnern an das Turiner Grab‐
tuch. Ihre zeitliche Entwicklung und ihre Übereinstimmungen und Un‐
terschiede behandelt anschaulich Enrico Morini (Bologna).
Martin Illert (Hannover) beschreibt das Mandylion im Rahmen der
antiken Theorie der visuellen Wahrnehmung. Im kataleptischen Schau‐
en sind der optische und der kognitive Vorgang nicht voneinander zu
trennen. Außerdem unterstreicht er die soteriologische Dimension der
Legende vom Christusbild von Edessa und äußert sich hinsichtlich der
Identität mit dem Turiner Grabtuch zurückhaltend.
Bischof Friedhelm Hofmann, der Schirmherr des Symposiums, zeig‐
te in seinem (nicht veröffentlichten) Abschlussvortrag am Beispiel mo‐
derner Christusbilder eindrucksvoll den individuellen künstlerischen
Umgang in Vergangenheit und Gegenwart mit der Darstellung des in‐
karnierten Gottessohnes auf. Wie in den stets neu zusammengestellten
Installationen ‘salve sancta facies’ von Dorothee von Windheim finden
wir das Christusbild jeweils neu als wahres Bild in der individuellen
Wahrnehmung.
Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist nicht einfach, ist selbst‐
verständlich von den subjektiven Gedanken des Verfassers geprägt
und muss von den Teilnehmern der Tagung keineswegs gebilligt wer‐
den: Gegen einen antiken Ursprung des Turiner Grabtuchs kann weder
die Exegese der Evangelien noch der textile Befund angeführt werden
(Ghiberti, Flury‐Lemberg). Da die Frage der Bildentstehung offen ist
und das Objekt selbst zeigt, dass ein großer Teil seiner Geschichte dun‐
kel bleibt (Flury‐Lemberg), bietet die Radiokarbondatierung des Lei‐
nens ins Mittelalter nur einen Zugang neben anderen (Barberis); er ist
mithin nicht isoliert von den übrigen Annäherungsmethoden zu be‐
trachten (Dietz). Bis heute ist das Turiner Grabtuch mit vormodernen
Mitteln nicht herstellbar (Barberis), weshalb es naheliegt, es mit der
Überlieferung der ‚nicht von Hand gemachten‘ Christusbilder zu ver‐
gleichen. Die Darstellung Christi wurde von alttestamentlichen Vorbe‐
halten gegen Kultbilder nicht verhindert (Dohmen) und hat frühzeitig
Eingang in liturgische Bildprogramme gefunden (Heid).
Bei der Lektüre unserer Texte und dem Betrachten der – leider stark
ausgedünnten Bildüberlieferung (Thümmel) – sind mehrere Gesichts‐
punkte von Gewicht: Zum einen ging es beim antiken Schauen nicht
58
Karlheinz Dietz
um einen nur optischen, sondern um einen ganzheitlichen Vorgang
(Illert), zum anderen ist der inkarnatorische und soteriologische Aspekt
der Christusikone von Gewicht (Felmy, Illert). Hinzu kommen die von
der platonischen bzw. neuplatonischen Priorität des Ideellen vor dem
Materiellen geprägten ‚christologischen‘ Debatten. In der Diskussion
um das Neben‐ und Ineinander von göttlichem und menschlichem
prósōpon Christi bekam seit dem 4. Jahrhundert das Antlitz Christi als
wesentlicher Teil des inkarnierten Gottes Christus besonderes Gewicht
(Dietz). Nachdem die Ressentiments gegen christliche Bilder durch die
normative Kraft des Faktischen zunehmend dahinschwanden, sollten
die verschiedenen Positionen der theoretischen Kontroversen durch die
kaiserliche Förderung des übernatürlich entstandenen Christusbildes
im 6. Jahrhundert versöhnt werden. Dabei stand in Byzanz zunächst
die nur wenig bekannte Acheiropoietos von Kamuliana im Vorder‐
grund, die zum Reichspalladium avancierte, aber im Bilderstreit des 8.
und 9. Jahrhunderts bedeutungslos wurde (Rist). An ihre Stelle trat das
Christusbild aus Edessa, das in der älteren Tradition einer Verbindung
Christi mit König Abgar V. wurzelte. Dieser höchst komplexen und
facettenreichen Überlieferung (Palmer, Ramelli) zufolge stand – soweit
wir erkennen – am Beginn der relativ frühen Christianisierung Edessas
ein Brief Christi an den genannten König. Diesem Schreiben wurde ei‐
ne besondere siegbringende und unheilabweisende Kraft zuerkannt
(Emmenegger). Als schriftlich (oder auch mündlich) von Gott ausge‐
hender Urgrund der Christianisierung Edessas konnte der logischer‐
weise zu Lebzeiten, aber unmittelbar vor der Passion abgefasste Brief
Christi als Palladium wirken, wurde aber auch in anderen Regionen
besonders bevorzugt (Hannick).
Neben oder aus ihm entwickelte sich die apotropäische Tradition
eines auf Abgar zurückreichenden Christusbildes, das teilweise als in
erlesenen Farben gemaltes, teilweise als von Christus selbst – und kon‐
sequenterweise gleichfalls zu Lebzeiten – erzeugtes Abdruckbild auf
einer leinenen Sindon galt. Dieses ist möglicherweise bereits bei
Ephraem dem Syrer bezeugt (Bruns), wurde aber ganz sicher im frühen
5. Jahrhundert als segensreiches Porträt Christi verehrt (Palmer). In
diesem Zusammenhang gewinnt die Beobachtung an Gewicht, dass es
Hinweise für eine frühe Verbindung zwischen dem Herrenbruder
Jakobus und Addai, dem Missionar von Edessa gibt, was für einen Weg
des Turiner Grabtuchs von Jerusalem nach Edessa nicht bedeutungslos
sein dürfte (Riesner). Die Beschreibung eines von Gottes Hand stam‐
menden Bildes als von Gottes Hand stammendes Schreiben ist, zumal
in einer stark zur metaphorischen Sprache neigenden Umgebung,
Einführung und Kongressnotizen
59
keineswegs abwegig. Die Reduktion des Grabtuchs, auf dem der Ge‐
kreuzigte die Augen offen zu haben scheint (Dietz, Einführung), auf
das Antlitz ist schon aus Gründen der Praktikabilität und angesichts
der Bedeutung des prósōpon Christi kein ernsthaftes Problem. Hinzu
kommt, dass es außerhalb des Mainstreams der Überlieferung in unter‐
schiedlichen Kontexten mehrere implizite Hinweise und ein explizites
Zeugnis dafür gibt, dass in Edessa ein großes Leinen mit dem wunder‐
baren Abdruck des gesamten Körpers Christi in göttlich veränderter
Form aufbewahrt wurde (Dietz, Ramelli). Damit verdeckt die spätere
Überlieferung größtenteils den wirklichen Charakter und den Verbleib
dieses Objekts, das wie alle Palladien versteckt bzw. substituiert wer‐
den und für die Gläubigen unnahbar bleiben musste.
Da sich eine Acheiropoietos nur durch Autoreproduktion als Ab‐
druck vermehren konnte, wuchs die Zahl von Kopien angesichts der
Konkurrenz christlicher Konfessionen in Edessa und der allgemein‐
menschlichen Sehnsucht nach der Schau des Heiligen. Selbstredend
galten alle Reproduktionen als gleich wunderbar und echt, obwohl es
sich offenkundig um kleine Gemälde auf Leinen handelte, die auf
kaum DIN‐A4 große Holztäfelchen aufgezogen waren. Ein solches
temmáchion passt indessen, man kann es drehen und wenden wie man
will, unmöglich zu der anderen, offenkundig älteren Bezeichnung des
Edessabildes als (rhakos) tetrádiplon, die auf ein gefaltetes Leinen hin‐
weist. Die Pluralität von Edessabildern in unserer vielfältigen und viel‐
sprachigen Überlieferung (Palmer, Ramelli) folgte der Form nach dem
auf das Antlitz reduzierten Substitut, was freilich für die Empfindun‐
gen der Betrachter von nachgeordneter Bedeutung war. Tatsächlich
entspricht die Frömmigkeit vor den Acheiropoietoi des ersten Jahrtau‐
sends der vor dem Grabtuch und der Veronica im Mittelalter (Zacco‐
ne). Das 944 nach Konstantinopel gelangte Mandylion war ambivalent,
weil es in der Translationsüberlieferung als temmáchion bezeichnet
wird, was schwer zu der sonstigen Überlieferung, etwa des Gregorios
Referendarios und vor allem der Hymnentexte in den Menäen passt,
die einen Bezug auf das Grabtuch nicht ausschließen (Lutzka).
Nach Westen gelangten Exemplare kleinerer Edessabilder vor 1125
nach Rom (Dietz), bald auch zu den Südslaven und im späten 14. Jahr‐
hundert nach Genua (Prolović); auch das um 1240 in die Sainte Chapel‐
le von Paris übertragene Exemplar entsprach diesem Typ und nicht
dem Grabtuch (Durand). Allerdings war im heiligen Raum der Pha‐
roskapelle von Konstantinopel auch eine dem Turiner Grabtuch ähnli‐
che oder identische Reliquie vorhanden gewesen, die in irgendeiner
Form mit der kurz vor 1204 von Robert de Clari in der Blachernen‐
60
Karlheinz Dietz
kirche gesehenen sydoines mit dem Körperbild Christi zusammenhing
(Lidov, Ramelli). Reflexe davon sind zudem in den liturgischen Grab‐
tüchern zu sehen, die ausgehend von den sich im 11. Jahrhundert in
Konstantinopel entwickelnden Passionsbildern, in größerer Zahl aus
dem orthodoxen Mittelalter erhalten sind und heute noch im Gedenken
an die Passion Christi verwendet werden (Morini).
Vom ersten Anschreiben an stand die sog. ‚Authentizität‘ des Turi‐
ner Grabtuchs nicht im Mittelpunkt der Tagung, und die einzelnen
Teilnehmer beantworteten die Frage, ob dieses Tuch aus dem Grab Jesu
stammen könnte, höchst unterschiedlich: von zustimmend über skep‐
tisch bis ablehnend. Das ist auch gar nicht anders zu erwarten, weil
dieses Problem mit wissenschaftlichen Methoden schwerlich zu ent‐
scheiden ist. Die Naturwissenschaften können bestenfalls sagen, was
das Turiner Grabtuch nicht ist, da es ‒ wie der jüdische Chemiker Alan
Adler einmal sagte ‒ keinen akzeptablen naturwissenschaftlichen
Nachweis Christi gibt. Die Geschichtswissenschaften aber müssen sich,
wollen sie ehrlich bleiben, mit Wahrscheinlichkeiten bescheiden. Auch
nach diesem Symposium bleibt das Paradoxon bestehen, dass das erst
spät in der Überlieferung auftauchende Kreuzigungs‐‚Bild‘ des Turiner
Grabtuchs ein Antlitz zeigt, welches der ‚kanonischen‘ Christusikone
verblüffend ähnelt, aber offenbar am Ende der Entwicklung erscheint,
obwohl es typologisch und aus mehreren anderen Gründen am Anfang
stehen sollte. Die Wahrheit sieht man indessen auch hier „nur mit dem
Herzen gut“, und dieses Schauen substituiert den in der christlichen
Wortverkündigung verankerten Glauben nicht, es ergänzt ihn. Das Tu‐
riner Grabtuch ist, was immer es ist, eine Realität, die Realität einer
Kreuzigung. Es zeigt eines der fürchterlichsten und anrührendsten Bil‐
der zugleich: eine stete Erinnerung an die Fähigkeit des Menschen zur
grenzenlosen Grausamkeit, aber auch an die Hoffnung auf deren
Überwindung. Schon deshalb ist es ist unbedingt der ernsthaften Erfor‐
schung wert.
Wien, 17.‐18. März 2015
Die Wiener Tagung widmete sich in Ergänzung zur Würzburger der im
Westen heimisch gewordenen Verehrung der Veronica als sudarium
Christi und den damit zusammenhängenden aktuellen Fragen.110
110 Eine etwas längere Zusammenfassung in italienischer Sprache in: Archivio
teologico Torinese 21 (2015) 421‒426.
Einführung und Kongressnotizen
61
Giuseppe Ghiberti (Turin) behandelt das Begriffspaar sudarium und
sindon. Ersteres dürfte im Zusammenhang mit der Bestattung Jesu auf‐
grund seiner besonderen Lage auf eine Kinnbinde hinweisen, das „zu‐
sammengerollt und dann nicht mehr aufgelöst worden“ ist. Die sindon
der Synoptiker entspricht den johanneischen othonia, das einen Plural
der Verkleinerungsform von othone darstellt und häufig mit „Binden“
übersetzt wird. Durch den Rückgriff auf die Überlieferungsvarianten
einer Stelle im Buch der Richter (14,12f.) ergibt sich allerdings die syn‐
onyme Verwendungsmöglichkeit von sindon und othonia. Der Beitrag
kontrastiert schließlich die Grabtücher des Neuen Testaments mit der
ʺRealität des Grabtuchs von Turinʺ und plädiert dafür, dass diese auch
von Exegeten als zusätzliche Informationsquelle verwendet werden
sollte. Da das Urteil über diese ʺsindonische Realitätʺ im vorwissen‐
schaftlichen Bereich fällt, muss die Echtheitsfrage gar nicht beantwortet
sein, um das Turiner Grabtuch anzunehmen.
Jadranka Prolović (Wien) behandelt ein anderes wichtiges Begriffs‐
paar. In Anlehnung an die östliche Legende des Mandylion entwickelte
sich im westlichen Frühmittelalter die Geschichte der hl. Veronica, die
ein gemaltes Bild oder eine Acheiropoietos Christi besessen haben und
damit Kaiser Tiberius in Rom geheilt haben soll. Mit der Translation
des Abgarbildes nach Konstantinopel 944 und später auch in den We‐
sten wurden im 12./13. Jahrhundert Mandylion und Veronica‐Bild mit‐
einander verbunden und teilweise sogar identifiziert.
Jenseits des Visuellen stellt der Musikwissenschaftler Alexander
Rausch (Wien) eine ganz andere Welt der Verehrung des hl. Antlitzes
(sancta facies) vor. Er behandelt die Konstanten und Varianten in der
musikalischen Entwicklung der spätmittelalterlichen Veronicahymnen,
soweit sie, wie in Handschriften, noch fassbar sind.
Karlheinz Dietz (Würzburg) stellt, ausgehend von Beschreibungen
der Veronica der letzten beiden Jahrhunderte, deren Übereinstimmung
mit wesentlich älteren Schilderungen fest. Gestützt auf die Schriften
von Giacomo Grimaldi und Francesco Maria Torrigio, wird die Arbeit
des Kanonikers Pietro Strozzi von 1616/17 untersucht. Entgegen der
weit verbreiteten Meinung hat nicht einmal der Sacco di Roma von
1527 die Veronica zerstört. Beweis ist der dunkle Fleck unter der rech‐
ten Wange, der schon früher immer wieder beschrieben und dargestellt
wurde und auf modernen Fotos deutlich zu erkennen ist. Das heilige
Objekt, das schon im Spätmittelalter keine deutlich erkennbaren Bild‐
spuren aufwies und als Gesichtsabdruck auch nicht aufweisen musste,
war aber nie transparent. Es wurde bereits 1125 mit dem Abgarbild
identifiziert, das einem erstmals aus mehreren Handschriften edierten
62
Karlheinz Dietz
Text zufolge angeblich direkt aus Edessa in die Peterskirche gelangt
war.
Roberto Falcinelli (Rom) untersucht die von ihm persönlich vermes‐
senen Veronica‐Schreine von 1350 und 1675 und korrigiert Fehlurteile
bezüglich der Veronica‐Überlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts, die
fälschlicherweise für einen Diebstahl der Veronica geltend gemacht
werden. Abschließend stellt er zehn mehrheitlich von ihm gefundene
Kopien der Veronica vor, die Pietro Strozzi 1616/17 und andere wenig
später angefertigt haben.
Der Kunsthistoriker Erwin Pokorny (Wien) bestimmt den Volto
Santo auf dem Schleier von Manoppello als lichtdurchlässige Tüch‐
leinmalerei, die hauptsächlich mit Tinte auf feinstem Leinen ausgeführt
wurde. Diese in theoretischen Traktaten auch beschriebene Maltechnik
wurde ganz sicher am Ende des Mittelalters nördlich der Alpen prakti‐
ziert, ist jedoch wegen der leichten Vergänglichkeit der Objekte nur
noch selten erhalten. Stilistisch sind auf dem Volto Santo von Manop‐
pello Anklänge an Gemälde des Löwener Stadtmalers Dirk Bouts zu
erkennen, doch weist die Stirnlocke auf einen deutschen Künstler. Die
Durchsichtigkeit wird allein durch die Abstände der Gewebefäden er‐
reicht und ist zwar beeindruckend, aber nicht wunderbar.
In einer kurzen Intervention zeigt Mechthild Flury‐Lemberg (Bern)
praktische Experimente von Transparenzmalerei auf extrem feinen
Geweben, die vor dem Licht völlig verschwinden. Sie betont auch, dass
die angeblichen Spuren einer Faltung auf dem Bild von Manoppello
tatsächlich von Befestigungsfäden herrühren, mit denen der Schleier,
ähnlich wie der Marienschleier von Assisi, in einem Schrein fixiert
worden war.
Felicitas Maeder vom Naturhistorischen Museum Basel zeigt durch
minutiöse Analysen, dass Byssus vom Altertum bis in die frühe Neu‐
zeit nichts anderes bezeichnete als ein sehr feines Gewebe, das in der
Regel aus Leinen bestand. Erst durch einen spätmittelalterlichen Über‐
setzungsfehler wurde Byssus zur Bezeichnung der Haftfäden der Pinna
nobilis, aus denen Muschelseide gewebt wird. Dieses kostbare Textil ist
spätestens seit etwa 200 n.Chr. bezeugt, freilich mit umschreibenden
Bezeichnungen. Ein reales Gewebe aus Muschelseide der Zeit um 400
ist leider verloren, weshalb das älteste erhaltene Objekt aus Muschel‐
seide eine Mütze aus Saint Denis aus dem 14. Jahrhundert ist. Sie ist,
wie die sonst bekannten Produkte aus der goldgelben Muschelseide,
ein dickeres Gewebe. Ein auch nur annähernd transparentes Gewebe
aus Muschelseide ist bislang nicht bekannt. Die durch ihren elliptischen
Einführung und Kongressnotizen
63
Querschnitt auf einfache Weise bestimmbaren Fäden der Muschelseide
sind färbbar, werden dadurch aber nicht ansehnlicher.
Paulus Rainer vom Kunsthistorischen Museum Wien erläutert die
Untersuchungen an der Veronica in der Kaiserlichen Schatzkammer
Wien, die lange Zeit als die echte gegolten hat. Er kommentiert die lite‐
rarische Überlieferung zur Schenkung des Objekts durch das letzte
Mitglied der Familie Savelli/Giustiniani an Kaiser Karl VI. im Jahr 1721.
Die Untersuchung des Rahmens und der bei der Anfertigung verwen‐
deten ungewöhnlichen Tropftechnik machen es sehr wahrscheinlich,
dass die Wiener Kopie Pietro Strozzi zuzuweisen ist.
Elisabeth Maier (Wien) gibt Einblick in die Verehrungsgeschichte
der Veronica im 19. Jahrhundert mit einem Ausblick bis in die neueste
Zeit. Sie schildert den Weg von Leon Papin Dupont, der als „Apostel
des Heiligen Antlitzes“ der heiligen Therese Martin den Weg geebnet
hat. Im 20. Jahrhundert hat sie Nachfolger/‐innen in der Liebe zum Hei‐
ligen Antlitz gefunden, die indessen alle nicht etwa ein materielles Bild
verehrten, sondern sich über das irdische Bild hinaus nach der himmli‐
schen Schau des unverhüllten Antlitzes Gottes sehnten.
Jenseits der Details kann man zusammenfassend als Ergebnisse der
Tagung festhalten: Die Realität des Grabtuchs (Sindone) von Turin ist
unabhängig von der Echtheitsdiskussion ein für die Exegese und den
Glauben bedeutsames Objekt (Ghiberti). Das johanneische Sudarium
Christi könnte auf Grund seiner Beschreibung eine Kinnbinde gewesen
sein (Ghiberti). Der Zusammenhang von Sindon und Mandylion ist
nicht gesichert, es bestehen allerdings Berührungspunkte zwischen der
Abgarlegende und der Veronicalegende, und im 12./13.Jh. kommt es
auch zu einer engen Berührung der mit diesen Begriffen bezeichneten
Realien (Prolović). Seit dem 12. Jahrhundert erlebte das Veronica ge‐
nannte Bild einen rasanten Aufstieg vom sakralen Objekt zum wichtig‐
sten Kultbild der Stadt Rom, das auch für die Musikgeschichte von Be‐
deutung wurde (Rausch). Typologisch ähnelt es dem Mandylion
(Prolović, Dietz). Seit etwa der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts be‐
kam die Veronica zunehmend Konkurrenz durch das erstmals um 1355
im Westen aufgetauchte Grabtuch (Dietz). Die heute in Rom verehrte
und gewiesene Veronica ist mit großer Wahrscheinlichkeit identisch
mit der schon im Spätmittelalter gezeigten Reliquie. Die Vermutung
eines Diebstahls, sei es zu Beginn des 17. Jhs., sei es 1527 oder früher,
ist unnötig und durch nichts zu belegen (Dietz). Unter Paul V. hatte der
Kanoniker Strozzi erstmals eine „wahre Kopie“ der Veronica anzuferti‐
gen. In seiner ‚Skiographie‘ hat er die wenigen Spuren auf dem Tuch
mit aus dem Turiner Grabtuch bekannten Merkmalen vermengt, und
64
Karlheinz Dietz
so einen vermeintlich neuen Typus der Veronica mit geschlossenen
Augen geschaffen, der fortan neben dem traditionellen Bestand hatte
und die Bilder, welche die Kanoniker seit dem 18. Jh. anboten, ikono‐
graphisch bestimmt (Dietz). Es gibt inzwischen zehn auf Strozzis Zeit
zurückgehende Veronica‐Kopien (Falcinelli). Die in Wien aufbewahrte
ist jetzt intensiv untersucht worden und stammt wohl von Strozzi
selbst (Rainer). Unabhängig von der Echtheitsfrage sind die als Veroni‐
ca bezeichneten Christusbilder legitimer Weise zu verehren, da es bei
dieser Verehrung um die Verehrung des Archetyps (Christus), und
nicht des Bildes geht. Darin hatte die Verbreitung der Veronica‐Bilder
seit 1849 ihre Berechtigung. Ihre Verehrung hat in der kleinen Theresa
vom Heiligen Antlitz einen absoluten Höhepunkt gefunden (Maier).
Legitim ist aus dem gleichen Grund auch die Verehrung des Volto
Santo von Manoppello, der sich einer mehrhundertjährigen Verehrung
erfreut. Nicht der Nachweis der Echtheit, sondern Geschichte und Tra‐
dition weisen den Weg, das Antlitz Christi wie in Turin so auch in Ma‐
noppello zu erblicken. Das Manoppello‐Bild steht mit Sicherheit nicht
auf Muschelseide (Maeder). Außerdem zeigt das Textil, vermutlich fei‐
nes Leinen oder Seide (Byssus), keine Spuren einer Faltung, sondern
von Fäden, mit denen man es früher im Schrein fixiert hat (Flury‐
Lemberg). Technisch gesehen handelt es sich um eine transparente
Tüchleinmalerei niederländisch‐deutschen Ursprungs aus der Zeit um
1500 (Pokorny). Aus dem Grab Jesu stammt der Volto Santo von Ma‐
noppello ganz sicher nicht, und nicht nur in dieser Unmöglichkeit un‐
terscheidet er sich ganz wesentlich vom Turiner Grabtuch.111
Michail Sergejewitsch Gorbatschow soll einmal gesagt haben: „Es
gibt keine einfachen Lösungen für sehr komplizierte Probleme. Man
muss den Faden geduldig entwirren, damit er nicht reißt.“
111 Es ist darauf hinzuweisen, dass sich die meisten Referenten beider Kon‐
gresse, mehrheitlich keine sog. Sindonologen, erst bei den Tagungen ken‐
nengelernt haben.