Forum Psychoanal (2002) 18:20–36
© Springer-Verlag 2002
Begrüßungen und Verabschiedungen
Kleine rituelle Handlungen zwischen Therapie und Realität
Ulrich Streeck
Welcoming and leave-taking. Small ritual acts between therapy
and reality
Summary. Whenever patient and therapist welcome each other or say goodbye,
they unavoidably demonstrate the actual and former state of their relationship as
well as how it should be in the future. The way how they handle these more or
less fleeting interpersonal rituals influences the patients experience of the therapeutic relationship and the transference. As there is a potential of actualisation
inherent in transference and countertransference wishes and fantasies, they are
easily enacted in welcoming and saying goodbye. Several examples show how
patient and therapist handle aspects of transference and countertransference in
connection with these interpersonal everyday rituals as part of their direct relationship.
Zusammenfassung. Wenn Patient und Therapeut sich begrüßen und sich voneinander verabschieden, führen sie sich unvermeidlich vor Augen, wie ihre Beziehung derzeit ist, in der Vergangenheit gewesen ist und zukünftig sein soll.
Wie sie diese mehr oder weniger flüchtigen interpersonellen Rituale abwickeln,
hat Einfluss auf das Erleben des Patienten von der therapeutischen Beziehung
und auf die Übertragung. Weil Übertragungswünschen und -fantasien und auch
der Gegenübertragung ein Potential innewohnt, sich per Aktualisierung zur Geltung zu bringen, kommt es dabei leicht zu mehr oder weniger flüchtigen Enactments. Anhand von Beispielen wird dargestellt, wie Patient und Therapeut
Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung in diesen kleinen rituellen
Handlungen unterbringen und als Teil ihrer direkten Beziehung abwickeln.
Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Jahrestagung „Psychoanalyse und Alltag“ der
Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft in Düsseldorf am 26. Mai 2001
Anschrift: Prof. Dr. med. Ulrich Streeck, M.A., Krankenhaus Tiefenbrunn, 37124 Rosdorf bei
Göttingen, e-mail:
[email protected]
Begrüßungen und Verabschiedungen
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Begrüßungen und Verabschiedungen sind Allerweltsereignisse, ganz und gar
alltäglich. Aus psychoanalytischer Sicht finden diese kleinen Rituale des Alltags
– soweit man sich überhaupt dafür interessiert – noch am ehesten in Verbindung
mit Themen wie Abschied und Trennung, Separation und Individuation, Objektverlust und Trauer Beachtung, allenfalls noch dann, wenn es zu Abweichungen
von der gewohnten Routine kommt, etwa zu Fehlleistungen wie Versprechen
oder dem Vergessen von Namen; in der „Psychopathologie des Alltagslebens“
(Freud 1901) finden sich dafür mehrere Beispiele. Damit tut man diesen Ereignissen jedoch Unrecht: denn wenn Patient und Therapeut sich begrüßen und
sich voneinander verabschieden, handeln sie – wie flüchtig und andeutungsweise auch immer – etwas von ihrer Beziehung aus, unvermeidlich. Und wie sie das
tun, hat Einfluss auf das Erleben des Patienten von der therapeutischen Beziehung bzw. auf die Übertragung, mal mehr, mal weniger.
Mitteilungen und Darstellungen
Freud hatte das psychoanalytische Behandlungsarrangement geschaffen, damit
die Worte des Patienten seine unbewusste Seelentätigkeit möglichst unbeeinflusst von der Anwesenheit des Arztes ausdrücken; die Worte des Analytikers
sollten das nur unterstützen, möglichst ohne den Patienten weitergehend zu beeinflussen. Deshalb wurden das wechselseitige Sehen und Ansehen und damit
die sinnliche Bildhaftigkeit körperlich-gestischer Präsenz, die im Alltag unverzichtbar für wechselseitige Verständigung sind, aus guten Gründen an den Rand
des therapeutischen Dialogs verwiesen. In dem Raum zwischen Patient und
Analytiker sollte möglichst nichts anderes als der „Austausch von Worten“
(Freud 1912) Platz haben. Dagegen sollte nicht-sprachliches Verhalten aus dem
Feld des wechselseitigen Blicks von Patient und Analytiker ausgeschlossen bleiben und allenfalls stiller Hintergrund des Austauschs von Worten sein. Der Patient soll seine Handlungsbereitschaften in Worte fassen, ihnen aber nicht nachgeben.
Am Ende der Behandlung ändert sich das von einem Augenblick zum nächsten. Kaum aus der Welt selbstreflexiver Vertiefung aufgetaucht, stehen Patient
und Analytiker sich bei der Verabschiedung plötzlich von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Übergangslos sehen sie sich ihren wechselseitigen Blicken und
ihrem körperlich-gestischen Verhalten ausgesetzt. Umgekehrt bei der Begrüßung: Haben sie sich gerade noch von Angesicht zu Angesicht zueinander verhalten und sich wechselseitig be-handelt, setzen sie im nächsten Moment die
Regeln der Alltagskommunikation außer Kraft und tauchen in eine Welt ein, in
der sie körperlich-sinnlich nicht mehr füreinander präsent sind und ihre Beziehung ganz überwiegend nur noch über Worte vermittelt ist.
Begrüßungen und Verabschiedungen sind Grenzenereignisse, angesiedelt
zwischen sozialem Alltag und therapeutischem Raum. Der therapeutische Raum
ist auf Selbstreflexion angelegt: der Patient soll sich mit Worten mitteilen, aber
nicht handeln; dagegen verständigen wir uns im sozialen Alltag immer auch, indem wir im Angesicht des Anderen handeln und den Anderen be-handeln. Weil
Übertragungswünschen und -fantasien ein Potential innewohnt, sich per Aktualisierung bzw. auf dem Wege von Handlungen zur Geltung zu bringen (Boesky
1982; vgl. auch Sandler 1976; Chused 1991; Smith 1993) – und auch der Gegenübertragung und deren Abwehr wohnt diese Bereitschaft inne – schwappt
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U. Streeck
bei der Abwicklung dieser kleinen Grenzenereignisse die eine Welt leicht in die
andere über. Darum können, wenn Patient und Analytiker sich begrüßen und
sich voneinander verabschieden, in diesen flüchtigen rituellen Handlungen des
Alltags leicht mehr oder weniger flüchtige Inszenierungen untergebracht werden.
Viele Patienten bringen ihre Erfahrungen nicht zuerst in Worten zum Ausdruck, sondern folgen einer Grammatik der Tat, des Handelns und nicht-sprachlich vermittelter Interaktion. Sie neigen dazu, ihre traumatischen und konflikthaften Erfahrungen mitzuteilen, indem sie ihr Gegenüber be-handeln, und umgekehrt ist die Art und Weise, wie der Andere sich ihnen gegenüber verhält, oft
wichtiger für sie als dessen Worte.1 Sie drücken ihre Handlungsbereitschaften
nicht in Worten aus, sondern stellen sie in nicht-sprachlichem Verhalten dar. Mit
den flüchtigen rituellen Akten in Zusammenhang mit der Begrüßung und der
Verabschiedung setzen sie – gleichsam in Gestalt szenischer Fragmente –
manchmal etwas davon ins Bild, wer und was der Andere für sie ist und sein
soll.
In Verbindung mit Begrüßungen und Verabschiedungen sind solche Enactments selten dramatische Ereignisse. Es sind eher Beiläufigkeiten, Miniaturen,
aus Mikro-Agieren (Treurniet 1996) hervorgegangen, scheinbar kaum der Rede
wert. Oft entzieht sich dieses mehr oder weniger subtile Verhalten der bewussten Wahrnehmung oder wird für irrelevant erachtet. Trotzdem kann es sich auf
das Übertragungsgeschehen und auf das Erleben der therapeutischen Beziehung
auswirken:
Der eine Patient überhört die Ankündigung des bevorstehenden Stundenendes, und die verspätete Verabschiedung zieht sich in die Länge. Ein anderer Patient muss bei der Begrüßung erst einen Terminkalender umständlich ablegen,
ehe er dem Therapeuten die Hand geben kann. Der dritte Patient zögert am Ende
der Stunde kaum merklich, aber trotzdem erkennbar, als der Therapeut ihm die
Hand zur Verabschiedung entgegenstreckt.
Beispiel
Eine Patientin brachte mich bei der Verabschiedung mehrfach dazu, mich so zu
verhalten, dass sie ihre unbewussten Wünsche erfüllt sehen konnte.2 Eines Tages war mir aufgefallen, dass ich mich ihr gegenüber bei der Verabschiedung
anders als bei anderen Patienten verhielt. Und zwar öffnete ich ihr am Ende der
Stunde häufiger die Tür, die vom Praxisraum nach draußen führte, obwohl das
aufgrund der räumlichen Bedingungen einigermaßen umständlich war. Unaufwendiger wäre gewesen, wenn sie das – wie andere Patienten auch – selber gemacht hätte. Mir fiel dann auf, dass die Patientin jedes Mal, wenn sie zur Tür
voranging und ich hinter ihr war, kurz vor der Tür ihre Schritte verlangsamte
1
Moser (2001) zufolge erwartet der Analytiker gemäß seiner Schulung, „dass sein Modell
der Übertragung-Gegenübertragung, der emotionalen Einsicht und der Aufarbeitung innerer
Konflikte“ ‚greift‘. Bei Patienten mit einer so genannten ‚frühen Störung‘ sieht er seine Erwartungen aber enttäuscht und muss erfahren, dass bei ihnen „die psychoanalytische Mikrowelt eine Fata Morgana ist“ (S. 116).
2 Ich habe dieses Beispiel in einer früheren Arbeit unter dem Gesichtspunkt unbewusster
Kommunikation diskutiert (Streeck 1998).
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und für Bruchteile einer Sekunde zögerte. Das führte bei mir dazu, dass ich an
ihr vorbei ihr die Tür öffnete. Ihr subtiles Verhalten hatte auf mich die Wirkung
einer Aufforderung, der ich wie selbstverständlich nachkam.3 Meine Patientin
kam manchmal missmutig zur Behandlung. Sie verhielt sich dann schweigend
und abweisend. Eher zufällig stellte sich heraus, dass es einen Zusammenhang
gab zwischen der Art, wie wir unser Verabschiedungsritual abgewickelt hatten,
und ihrer Stimmung, mit der sie mir beim nächsten Zusammentreffen begegnete. Eines Tages beschwerte sie sich darüber, dass ich sie in der vergangenen
Stunde mal wieder unhöflich behandelt hätte. Ich hätte ihr die Tür nicht geöffnet, und damit hätte ich sie wie ein kleines Mädchen behandelt. Immer wenn ich
ihr die kleine Ehrerbietung des Türöffnens entgegenbrachte, war das anders.
Denn damit bekundete ich in ihren Augen, dass sie für mich eine erwachsene
Frau war, der ich mit entsprechender Aufmerksamkeit begegne.
Man könnte sagen, dass die Patientin das Verabschiedungsritual in den therapeutischen Prozess einbezogen hatte. Sie hatte ein Arrangement entstehen lassen, das sie – ohne dass ihr das klar war und ohne dass mir das aufgefallen wäre
– davor bewahrte, sich als kleines Mädchen fühlen zu müssen, das der Vater
nicht beachtete, weil sie – so ihre Fantasie – so hässlich und so unscheinbar war.
Mit dem kaum wahrnehmbaren körperlichen Verhalten, der Verlangsamung ihrer Bewegungen und ihrem kurzen Zögern vor der geschlossenen Tür, war es ihr
gelungen, mich zu einem Verhalten zu veranlassen, aufgrund dessen sie ihren
Wunsch, vom Vater mit ebensolcher Aufmerksamkeit wie die Mutter bedacht zu
werden, als erfüllt erleben konnte. Mit der beiläufigen, in der Verabschiedung
untergebrachten Szene war aus einem unbewussten Wunsch eine sich wiederholende, wunscherfüllende Situation geworden. Die Patientin hatte mit ihrem subtilen Verhalten ihren Wunsch nicht symbolisch ausgedrückt, sondern sie hatte
sich die sequenzielle Ordnung, die dem Verabschiedungsritual zugrunde liegt,
für ihre Zwecke zunutze gemacht.4
Viele Patienten wissen, auch wenn es ihnen nicht immer bewusst ist, dass
bei Begrüßungen und Verabschiedungen Beziehungen dargestellt und – in die
Zukunft projiziert – bekräftigt werden. Sie registrieren aufmerksam, wie der
Analytiker sich bei der Begrüßung und der Verabschiedung verhält, achten genau auf seinen mimischen Ausdruck, versuchen zu erkennen, ob er bei der Begrüßung zugewandt ist oder nicht, nehmen empfindlich zur Kenntnis, wenn er
sie flüchtiger als sonst ansieht, reagieren auf die Art seines Händedrucks und lesen seine Haltung als Kommentar zu der eben zu Ende gegangenen Behand3
Dies war vermutlich ähnlich wie bei der Patientin, die Sandler (1976) einmal beschrieben
hat: Sandlers Patientin weinte in der Stunde häufig, und er schob ihr jedes Mal wie selbstverständlich eine Packung Papiertaschentücher zu. Auch dieses Beispiel zeigt anschaulich, wie
auch Gefühlshandlungen bestimmte antwortende Verhaltensweisen des Gegenüber konditionell relevant machen (vgl. zu konditionellen Relevanzen z.B. Goodwin 2000).
4 Moser (2001) unterscheidet vier Phasen der Analytiker-Analysand-Beziehung: die Eröffnung, die von den Regeln des Settings gesteuerte „psychoanalytische Mikrowelt“, das Ende
mit der Auflösung der „psychoanalytischen Mikrowelt“ und die Beziehung zum Therapeuten
außerhalb der Analysestunde. Danach wäre die Begrüßung Teil der Eröffnung und die Verabschiedung würde zur Phase der Auflösung der „psychoanalytischen Mikrowelt“ gehören.
Auch Moser hat beobachtet, dass Analysand und Analytiker am Ende der Behandlungsstunde, wenn die direkte Beziehung wieder dominant wird, also beispielsweise bei der Verabschiedung. Aspekte der Übertragung und Gegenübertragung als Teil der direkten Beziehung
abwickeln (vgl. Streeck 1998; Streek u. Dally 1995).
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lungsstunde. Analytikern geht es ähnlich: Manchmal bei der Begrüßung habe
ich einen flüchtigen Gedanken, ein Bild, das mit dem Patienten oder mit der Beziehung zu tun hat, drängt sich auf, verschwindet sofort wieder und ist vergessen. In der Behandlungsstunde fallen mir der Gedanke oder das Bild plötzlich
wieder ein, und manchmal stellt sich heraus, dass ich in den ersten Sekundenbruchteilen der Begegnung etwas erfasst habe, wovon erst lange danach die Rede sein wird. Zwischen uns muss somit schon kommuniziert worden sein, was
erst viel später zur Sprache kommt, obwohl wir nur „guten Tag“ gesagt haben.
Was sind rituelle Handlungen und Rituale?
Von einem Ritual ist meist angesichts feierlicher Bräuche und Zeremonien die
Rede. Extensive Zeremonien spielen als Teil des gesellschaftlichen Lebens heute nur noch eine untergeordnete Rolle. Von ihnen übriggeblieben sind kleine rituelle Handlungen, die sich meist auf kurze, von einem Individuum gegenüber
einem anderen Individuum vollzogene Akte beschränken, interpersonelle Rituale. Goffman (1974) nennt diese interpersonellen Rituale „kleine Pietäten“, die
Höflichkeit und wohlmeinende Absicht auf Seiten des Ausführenden und die
Existenz eines „kleinen geheiligten Patrimoniums auf Seiten des Empfängers“
bezeugen (S. 98). Der Sinn dieser interpersonellen Rituale liegt in der Bestätigung und Bekräftigung der zwischen dem Ausführenden und dem Empfänger
bestehender Beziehung.
Sie verlangen unmittelbaren sozialen Kontakt. Die Handlung der einen Person ruft eine korrespondierende Handlung der anderen Person hervor. Die eine
Person bezeugt Engagement und Verbundenheit, und die andere Person führt die
rituelle Handlung in bestimmter Weise fort. Die Person, der der Ausdruck von
Verbundenheit gilt, macht deutlich, dass sie die Bedeutung der Botschaft erkannt hat und dass sie die Person, die Engagement und Verbundenheit dokumentiert hat, als Person anerkennt und dass die Beziehung in dem Sinne tatsächlich existiert, wie die erste Person dies mit ihrem Handeln in Szene gesetzt hat.
So folgt dem Akt des Geschehens ein Dankbarkeitsbeweis. Beide Schritte bilden eine kleine Zeremonie. Goffman (1974) spricht von einem „bestätigenden
Austausch.“ Wird er unangemessen ausgeführt, stellt das eine Missachtung dar,
die gewöhnlich Sanktionen irgendeiner Art nach sich zieht (S. 97).
Anders als bei großen Zeremonien lässt dieser bestätigende Austausch in
begrenztem Maß Raum für individuelle Gestaltungen. Darum können interpersonelle Rituale als soziale Ereignisse verwendet werden, mit denen sich die daran Beteiligten etwas von ihrer Beziehung vor Augen führen. Das geschieht oft
sehr subtil, und oft merkt man erst hinterher, dass „da irgendwas war.“
Begrüßungen und Verabschiedungen als interpersonelle Rituale
Auch Begrüßungen und Verabschiedungen sind interpersonelle Rituale, kleine
Zeremonien der Ehrerbietung, mit denen Verbundenheit und Anerkennung ausgedrückt wird.5 Diese kleinen Rituale des Alltags werden sowohl im nahen
5
Begrüßungsgesten gibt es auch bei Tieren; Verabschiedungshandlungen kommen bei Tieren
dagegen nicht vor.
Begrüßungen und Verabschiedungen
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Kontakt von Angesicht zu Angesicht ausgeführt wie auf Distanz, als ausgedehnte Ereignisse ebenso wie flüchtig im Vorbeigehen, mit körperlichen Gesten und
Berührungen ebenso wie als bloßer Austausch von Worten, und alle diese verschiedenen Ausführungen haben eine etwas andere soziale Ordnung. Sie sind so
etwas wie rituelle Klammern (Goffman 1974), die gemeinsame Aktivitäten einrahmen und diese zugleich von nicht zugehörigen Aktivitäten abgrenzen. Wie
sie ausgeführt werden, kann etwas darüber zum Ausdruck bringen, wie die, die
sich begrüßen und sich voneinander verabschieden, zueinander stehen.
Der Gast fühlt sich durch die Art, wie er begrüßt wird, willkommen oder
nicht; Freunde bestätigen und bekräftigen dadurch, wie sie sich begrüßen, ihre
Freundschaft; einander relativ Fremde bekunden auf dem gleichen Weg ihren
vermuteten sozialen Status; Bekannte setzen damit den Grad ihrer Vertrautheit
in Szene und lassen etwas von ihrer Sympathie oder Antipathie füreinander erkennen, und oft wird mit der Begrüßung sichtbar gemacht, welche Rollen die
betreffenden Personen bei ihrem bevorstehenden Zusammentreffen übernehmen
wollen. So führen die Sich-Begrüßenden vor Augen, wie ihre Beziehung in der
Vergangenheit gewesen ist und wie sie von diesem Augenblick an sein soll.
Dabei verwenden sie feine Signale: Ein Gegengruß, der mit einer kleinen
Verzögerung erfolgt, kann ein spürbares, wenn auch nicht immer bewusst registriertes Ungleichgewicht in der Beziehung, eine unterschiedliche Verteilung der
Zugänglichkeitsbereitschaft zum Ausdruck bringen. Oder das Ausbleiben eines
zumindest flüchtigen Lächelns kann als Zeichen der Distanzierung, manchmal
auch als Bekundung einer Statusdifferenz aufgefasst werden. Hier bieten sich
vielfältige Gelegenheiten, um auf diskrete, aber höchst mitteilsame Weise Beziehungen zu regulieren und um dem Anderen anzudeuten, wie der Stand der
Beziehung sein soll. Und dabei kann jedes für sich genommen noch so bedeutungslose Verhalten, das im Kontext von Begrüßungen und Verabschiedungen
auftaucht, zu einem Signal werden, das im Hinblick auf die Beziehung eine
Funktion hat.
Daten
Den im Folgenden geschilderten Befunden liegen die video- und audiographierten Daten von über 250 Therapiesitzungen aus 85 verschiedenen Behandlungen
zugrunde, durchweg Behandlungen im Gegenübersitzen.6 Da hier die Frage im
Vordergrund steht, wie Patient und Therapeut Begrüßungen und Verabschiedungen abwickeln und wie sie in den Phasen der Eröffnung und des Endes der therapeutischen Situation ihre Beziehung regulieren, also eine qualitativ ausgerichtete Fragestellung, ist es nicht sinnvoll, die Daten in diesem Zusammenhang
Häufigkeitsberechnungen zu unterziehen.7
Ein Problem der Darstellung der Befunde ergibt sich daraus, dass sie sich
durchweg auf interpersonelle Ereignisse, also auf körperlich dargestellte, bildförmige Szenen beziehen, auf die Bildförmigkeit von Interaktion und durch körperlich-gestisches Verhalten vermittelte Inszenierungen, die zudem meist flüch6
Ein größerer Teil der untersuchten Therapiesitzungen wurde im Rahmen eines Forschungsprojekts über soziale Ängste dokumentiert.
7 Die Auswertung der Videodaten erfolgte nach Richtlinien der Kontext- und Gesprächsanalyse (z.B. Kendon 1982, 1992; Hutchby u. Wooffitt 1998; s.a. Buchholz u. Streeck 1994).
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tig sind. Es muss also mit Worten beschrieben werden, was die Beteiligten
selbst gerade nicht mit Worten, sondern mit subtilem nicht-sprachlichem Verhalten abwickeln. Deshalb werden die Befunde hier in Form von Beispielen vorgestellt.
Weil Begrüßungen am Anfang, Verabschiedungen am Ende von Begegnungen stehen, stelle ich die Begrüßung an den Anfang, obwohl die Daten zu den
Begrüßungsritualen unvollständiger sind als die zu den Verabschiedungen.8
Begrüßungen
Begrüßungen, die in räumlicher Nähe und von Angesicht zu Angesicht ausgeführt werden, sind mit umschriebenen Verhaltenskundgaben verbunden: Die
Sich-Begrüßenden orientieren sich frontal zueinander, für einen Augenblick
treffen sich ihre Blicke, die Augen leuchten auf (Pupillenerweiterung), und ein
zumindest angedeutetes Lächeln dokumentiert soziale Anerkennung und Anzeichen von Freude. Unter Umständen ist ein mehr oder weniger flüchtiger körperlicher Kontakt Teil des rituellen Austausches, der unter Fremden bis ins Detail
normativ geregelt ist, beispielsweise als Handgeben, in Gestalt von Umarmungen oder des Austauschs verschiedener Arten von Küssen.
Begrüßungen zwischen Patient und Therapeut haben ihre eigene rituelle
Ordnung. Die verschiedenen Akte dieser kleinen Inszenierungen weisen viele
Entsprechungen zu denen des Verabschiedungsrituals auf. Allerdings werden
bei der Begrüßung meist etwas andere Aspekte der Beziehung ausgehandelt als
bei der Verabschiedung, beispielsweise Aspekte von Dominanz oder des erlebten bzw. des gewünschten Status.
Manchmal stellen Patienten schon in den ersten Sekunden mit der Art, wie
sie die Begrüßung abwickeln, viel von sich und der gewünschten Beziehung dar.
Begrüßungen können heikle Momente sein, weil sie mit sozialer Annäherung
einhergehen, und das kann für manche Patienten Probleme mit sich bringen.
Beispiel
Ein Patient sah die Therapeutin bei der Begrüßung nicht ein einziges Mal an.
Er setzte sich in einen der Sessel und gab – durchaus unüblich – keinerlei
Anzeichen eines Versuchs zu erkennen, sich mit der Therapeutin auf die Platzverteilung abzustimmen, was oft wortlos oder mit nur minimalem sprachlichem Aufwand geschieht, oder das Sich-Hinsetzen einigermaßen abgestimmt
zu vollziehen. Er hielt seine zusammengeknüllte Jacke fest auf seinem Schoß,
als müsse er in jedem Moment aufbruchsbereit bleiben. Ohne ein einziges
Mal aufzublicken fing er an zu reden, noch während die Therapeutin dabei
war, sich hinzusetzen. Er sah sein Gegenüber im wörtlichen Sinn nicht, und es
bestätigte sich, dass die andere Person für ihn keine eigenständige Realität
hatte.
8
Anders als bei den Verabschiedungen sind in unserem Untersuchungssample die Daten über
den Ablauf der Begrüßungen deshalb manchmal bruchstückhaft, weil die meisten Therapeuten das Behandlungszimmer verlassen, um ihre Patienten zu begrüßen, die in einem Raum außerhalb der Reichweite der Videokamera bzw. des Tonaufnahmegeräts warten.
Begrüßungen und Verabschiedungen
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Diagnosen werden in den ersten Minuten des Zusammentreffens von Patient
und Therapeut gestellt, und im Weiteren ändert sich daran nicht mehr viel. Es
liegt deshalb nahe anzunehmen, dass es u.a. solche Ereignisse und Inszenierungen kommunikativen Verhaltens sind, auf die sich prima-vista-Diagnosen stützen.
Die meisten Therapeuten haben ihren eigenen Platz irgendwie sichtbar markiert, z.B. mit Hilfe eines Terminkalenders oder durch bereitliegendes Schreibzeug. Sie weisen dem Patienten damit indirekt seinen Platz zu. Wenn ein Patient
sich trotzdem auf den markierten Platz setzt, was selten vorkommt, ist das ein
überdeutlicher Anlass für Erwägungen zur aktuellen Übertragung. Manchmal
bringen Patienten ihrerseits Schreibzeug, einen Aktenordner oder einen mehr
oder weniger dicken Terminkalender zur Behandlungsstunde mit. Der Umfang
des Terminkalenders und die Verpflichtungen, die der Patient in seinem, beruflichen Alltag eingehen muss, stehen oft in einem gewissen Missverhältnis zueinander. Diese Patienten möchten damit meist so etwas wie Statusgleichheit darstellen, beispielsweise weil sie sich schämen oder sich niedrig fühlen oder auch
nur, weil die Rolle als Patient für sie die Gefahr mit sich bringt, sich abhängig
und bedürftig zu zeigen.
Relativ häufig wickeln Patient und Therapeut während der Begrüßungs- und
Eröffnungsphase kleine Ereignisse ab, von denen sie zugleich voreinander bekunden, dass sie noch nicht zur Behandlung gehören. Beispielsweise kündigt
der Patient an, dass er noch etwas besprechen möchte, „bevor wir anfangen“,
oder er fragt, ob er „vorher noch etwas klären“ könne; ein anderer Patient überreicht dem Therapeuten Aufzeichnungen mit dem Kommentar, dass er ihm das
„vorher noch geben“ wolle; der Therapeut bedankt sich, dann kommt es zu einer
deutlichen, von beiden in Szene gesetzten Zäsur, die das Ende dieses Ereignisses markiert und die zugleich kenntlich macht, dass von nun an und erst jetzt die
Therapie beginnt. Ich nenne solche Ereignisse Pre-Enactments,9 weil sie Aspekte der Beziehung von Patient und Therapeut vorab mit nicht-sprachlichem Verhalten wie auf einer Bühne ins Bild setzen, die dann erst während der „eigentlichen“ Behandlung zur Sprache kommen:
Beispiel
Nach der Begrüßung setzt sich eine Patientin mit äußerst verhaltenen Bewegungen, die Knie fest aneinandergepresst, auf die vordere Kante ihres Sessels. Der
Therapeut sitzt in einigem Abstand. Zwischen ihnen steht – etwas nach hinten
gerückt – ein kleiner Tisch. Einer großen Tasche, die sie auf ihrem Schoß festhält, entnimmt sie zögernd, indem sie den Reißverschluss kaum zu einem Drittel
öffnet, einen Bogen Papier, ein Essprotokoll, wie sich später herausstellt. Sie
legt das Protokoll, ohne es aus der Hand zu geben, vor sich auf den Tisch,
schiebt es dann, ohne es loszulassen, wenige Zentimeter in Richtung auf den
Therapeuten und hebt es schließlich hoch, um es erneut kaum sichtbar auf ihn
hin zu bewegen. So deutet sie die Übergabe des Protokolls allenfalls gestisch an,
9
Von Pre-Enactments spreche ich, weil sie Inszenierungen in der therapeutischen Beziehung
vorangehen, sie gleichsam ankündigen. Solche Einleitungen (“prefaces” oder einfach nur
“pre’s”) haben die kommunikative Funktion, etwas Nachfolgendes anzukündigen und den
Boden dafür vorzubereiten (vgl. Schegloff 1984; J. Streeck 1995).
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übergibt es dem Therapeuten aber nicht wirklich. Der muss schließlich, um das
Essprotokoll – begleitet von einem „danke“ – an sich zu nehmen, weit in das
Territorium der Patientin hineingreifen.10
In diesem Handlungsdialog (Klüwer 1995), dessen Abwicklung kaum zwei
Sekunden in Anspruch genommen hat, gelingt es der Patientin, den Therapeuten
zu vergleichsweise aufwendiger Aktivitität zu veranlassen, um die Entgegennahme des Protokolls zu realisieren, während sie selbst allenfalls in Andeutungen die an sie gerichtete Erwartung erfüllt. Zwar kooperiert sie mit dem Therapeuten und erfüllt insofern die an sie gestellten Anforderungen, tut dies aber
gleichsam nur pro forma. Hatte sie schon – wie in einem symbolischen Akt –
den Reißverschluss ihrer großen Tasche kaum geöffnet, um ihr zu entnehmen,
was der Therapeut von ihr haben wollte, so gibt sie auch im nächsten Schritt
dem Therapeuten nichts von ihrem „Inneren.“ Sie bewegt sich nur minimal,
kontrolliert jede ihrer Bewegungen und beschränkt ihre Aktivitäten auf das Allernotwendigste. Statt dem Therapeuten das Protokoll hinzureichen, veranlasst
sie ihn dazu, es sich zu nehmen und dabei die unausgesprochenen Grenzen ihres
Territoriums gleichsam zu überschreiten.
Auf diese Weise setzen Patientin und Therapeut ohne Worte ein Interaktionsmuster ins Bild, das auch ihren nachfolgenden Dialog kennzeichnet:
Therapeut: „HmHm“ (legt den Bogen, den er gerade mit einem „danke“ an
sich genommen hat, vor sich auf den Tisch) (14.0)
Patientin: Sie kucken mich so an?
Therapeut: Hmm
Patientin: Warum?
Therapeut: Ich frag mich w (–) wie’s Ihnen geht was sich: (–) in Ihnen so abspielt was Sie beschäftigt
Patientin: Was meinen Sie? (−) was könnte das sein?
(3.0)
Therapeut: Oh ich ich glaub das wissen Sie viel besser als ich so (–) also (–)
das war ne Frage also ich hab keine Vermutung sondern das war
(1.0)
Patientin: Spekuliern Sie nich was innen in mir vorgehn könnte oder woran
ich denke (1.0) oder ( ) was Sie schätzen oder was Sie (–) glauben
(1.5)
Therapeut: Also es fällt mir etwas auf und zwar äh:m (–) dass Sie sonst (–)
ähm (–) sonst ähm wenn Sie äh zu den Terminen gekommen sind
ähm (–) schneller so von sich erzählt haben davon wie’s Ihnen geht
(–) was sich in: Ihnen abspielt als Sie das heute tun
0.5)
Patientin: Tja vielleicht möchte ich auch einfach nur antesten inwieweit Sie
mich jetzt schon einschätzen (–) (nur) ich denke mal das gehört
auch zum Therapeuten ( ) ungefähr (1.0) ja (1.5) sich denken kann:
was vielleicht oder (−) zumindest vermuten kann was einen bewegt
oder (–) woran man denkt (1.0) was einem Probleme macht warum
es einem vielleicht schlecht gehen könnte
10
Übergaben wie das Überreichen von Schriftstücken erfolgen unter Fremden in einem fiktiven Raum zwischen beiden Personen, meist ziemlich genau in der Mitte zwischen Beiden.
Auf diese Weise bleiben die territorialen Grenzen gewahrt, die jede Person – Goffman (1974)
spricht von „Territorien des Selbst“ – unsichtbar umgeben.
Begrüßungen und Verabschiedungen
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Therapeut: Das heißt Sie testen mich jetzt so etwas indem Sie schauen ob ich
das (−) ähm ob ich mich da in Sie hineinversetzen kann? oder
Patientin: Ja einfach in: inwieweit man jemanden kennt
Die Patientin gibt dem Therapeuten nichts von ihrem ‚Inneren‘; sie lässt ihn
nicht wissen, was sich ‚in ihr abspielt‘ und sie beschäftigt, sondern versucht umgekehrt, ihn dazu zu bringen, seinerseits zu sagen, was sich seiner Meinung
nach in ihr, der Patientin ‚abspielt‘ und sie möglicherweise ‚beschäftigt.‘ So wie
es ihr in der initialen nicht-sprachlich abgewickelten Szene gelungen war, den
Therapeuten zu veranlassen, aktiv zu werden und von ihr zu nehmen, was er haben will, versucht sie auch im sprachlichen Dialog, nichts von ihrer im „Inneren“ verborgenen Welt nach außen dringen zu lassen, sondern den Therapeuten
zu kontrollieren, indem sie ihn dazu zu bringen versucht, seinerseits zu sagen,
was er über ‚ihr Inneres‘ denkt. Damit verhält sie sich so, wie Therapeuten sich
üblicherweise verhalten, indem sie von sich und von ihrem ‚Inneren‘ nicht zu
erkennen geben.
Manchmal machen sich unbewusste Wünsche die rituelle Ordnung von Begrüßungen zunutze, um die Differenz von Beziehungswunsch und Beziehungswirklichkeit zu verringern. Sie suchen reale, sinnliche Erfüllung und drängen
nach wunscherfüllender Interaktion, die sie im Zuge der Begrüßung indirekt zu
erreichen versuchen:
Bei einem Kollegen mussten die Patienten, um zu seiner Praxis zu gelangen,
einen etwas längeren Weg von der Gartenpforte bis zur Haustür zurücklegen.11
Es gab an der Gartenpforte zwar eine Klingel, aber die war von Büschen verdeckt. Deshalb betätigten Besucher die Klingel an der Haustür. Das war bei einer Patientin anders; sie klingelte regelmäßig an der Gartenpforte. Dadurch hatte es sich eingespielt, dass sie noch auf dem Weg durch den Garten zur Haustür
war, während der Analytiker ihr entgegensah und an der Haustür auf sie wartete.
Dann passierte Folgendes: es war ein kühler, regnerischer Tag, der Analytiker
fühlte sich etwas krank und fröstelte; darum lehnte er, als er gesehen hatte, dass
es seine Patientin war, die geklingelt hatte, die Haustür an, und er wartete im
warmen Praxisraum auf sie. Sie betrat das Behandlungszimmer sichtlich erzürnt
und schwieg, und sie wollte sich an diesem Tag nicht auf die Couch legen. Es
stellte sich heraus, dass er sie nicht wie sonst mit freundlich-zugeandten und interessierten Blicken empfangen hatte, und deshalb war sie sich sicher, dass sie
unerwünscht war.
Die Patientin hatte mit ihrem Verhalten die rituelle Ordnung der Begrüßung
für ihre Wünsche genutzt. Sie konnte davon ausgehen, dass sie mit ihrem Klingeln ihren Analytiker jedes Mal zu einem wunschgemäßen Verhalten veranlasste. Erst in dem Augenblick, als die etablierte Ordnung von Seiten des Analytikers unbeabsichtigt durchbrochen wurde und die Patientin sich daraufhin erzürnt zurückzog, wurde dieser Zusammenhang deutlich.
Verabschiedungen
Verabschiedungen von Patient und Therapeut sind Ereignisse, die in mehreren,
aufeinander folgenden Akten abgewickelt werden. In der Regel wird bei der
11
Vgl. auch Streeck (1997, 1998).
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U. Streeck
Ausführung des Rituals keiner dieser Akte ausgelassen. Trotz gleicher Struktur
lassen sie jedoch Raum für individuelle Darstellungen, und so kann es zu flüchtigen Enactments kommen. In Zusammenhang mit Verabschiedungen und Begrüßungen sind Enactments meist Mikroereignisse, vergleichbar den Mikrointeraktionen, wie sie u.a. Emde (1991) und Stern (1998) bei der Interaktion von
Mutter und Kind eindrucksvoll beschrieben haben. Auch Beebe und Jaffe
(1997) haben beschrieben, dass Patient und Analytiker ständig subtile Signale
verwenden und damit in einem fortlaufenden Prozess ihre Interaktion regulieren
(Streeck 2000). Bei Begrüßungen und Verabschiedungen tritt das deutlicher zutage als im Couchsetting, weil beide von Angesicht zu Angesicht miteinander zu
tun haben und praktische Handlungen ausführen.
Der erste Akt
Die Verabschiedung beginnt damit, dass der Therapeut das Ende der Behandlungsstunde ankündigt. Das geschieht so gut wie nie unvorbereitet. Kaum jemals sagt der Therapeut nur so etwas wie „die Zeit ist jetzt vorbei.“ Vielmehr
kündigt er dem Patienten das bevorstehende Ende an. Dafür verwendet er gewöhnlich nicht-sprachliche Gesten, bei Behandlungen im Gegenübersitzen beispielsweise einen verstohlenen Blick zur Uhr. Obwohl das meist ganz unauffällig in einem günstig erscheinenden Moment geschieht, ist sein Verhalten für den
Patienten meist sichtbar und wird, wie sich in detailgenauen Analysen der nichtsprachlichen Interaktion von Patient und Therapeut nachweisen lässt, vom Patienten auch oft gesehen. Folgerichtig behandeln die meisten Patienten dieses
Zeichen des Therapeuten als Ankündigung des bevorstehenden Abschieds und
reagieren darauf. Sie fangen beispielsweise an, schneller zu sprechen oder werden motorisch unruhiger; andere Patienten verstummen. Ein ebenfalls häufig
eingesetztes Mittel, um die Aufmerksamkeit des Patienten auf das bevorstehende Ende der Stunde hinzulenken, ist ein besonders betontes, länger hingezogenes „jaah“ des Therapeuten. Dieses halb bestätigende, halb resümierende „jaah“
wird meist in ein Schweigen des Patienten hinein platziert.
Mit diesen Vorankündigungen ist es allerdings eine zwiespältige Sache: Einerseits werden sie meist äußerst diskret ausgeführt, so dass dem Patienten die
Freiheit bleibt, sich auf die bevorstehende Beendigung der Begegnung einzustellen und sich nicht weggeschickt und beschämt fühlen zu müssen. Auf der anderen Seite nutzen manche Patienten den Hinweis auf das nahende Stundenende
zum Gegenteil dessen, was der Therapeut damit beabsichtigt: beispielsweise setzen sie im nächsten Schritt zu einer langen Äußerung an, die sie dann so gestalten, dass der Therapeut keine Gelegenheit erhält, mit der angekündigten Verabschiedung Ernst zu machen, ohne unhöflich zu sein und den Patienten zu unterbrechen. Sie haben den Hinweis des Therapeuten durchaus gehört, denn ihre Art,
sich mitzuteilen, verändert sich genau in dem Moment, in dem der Therapeut entsprechende Zeichen verwendet hat. So versuchen sie zu verhindern, dass der
Therapeut seine angezeigte Absicht in die Tat umsetzen kann. Unter Umständen
sieht sich der Therapeut dann einem Dilemma ausgesetzt: wenn er nachdrücklich
wird und die Verabschiedung durchsetzt, ohne die bei Verabschiedungen üblicherweise hergestellte Übereinkunft mit dem Patienten erzielt zu haben, bestätigt
er das Erleben des Patienten, die rücksichtslose Gestalt zu sein, als die er ihn in
der Übertragung vielleicht schon länger erlebt; hält er sich zurück und wartet ab,
Begrüßungen und Verabschiedungen
31
bis der Patient zu Ende gekommen ist, was manchmal einige Zeit dauern kann,
verhilft er ihm vielleicht zur Befriedigung seiner gegen diese Gestalt gerichteten
Übertragungswünsche. Solche Situationen können zu besonderen Momenten in
der therapeutischen Beziehung werden: was auch immer der Therapeut jetzt tut,
nimmt er unvermeidlich zu dem Verhalten des Patienten Stellung. Er kann nicht
verhindern, dass er in ein von dem Patienten in Szene gesetztes Übertragungsagieren einbezogen wird und die Übertragung mitgestaltet.
Beispiel
In einer gut dokumentierten Kurztherapie, die ein Kollege mit einem Patienten
mit einer Persönlichkeitsstörung durchgeführt hat, hörte das therapeutische Gespräch zwar auf, aber die Stunde wurde nicht eigentlich beendet. Dabei spielte
eine Übertragung eine Rolle, die mit Dominanz und Abhängigkeit zu tun hatte.
Der Therapeut hatte diskret zur Uhr gesehen. In eine kurze Pause hinein
sagte er dann: „Ich seh’ grad, unsere Zeit ist jetzt um.“ Gleich darauf stützte er
beide Arme auf die Sessellehnen, als würde er Vorbereitungen treffen, um im
nächsten Augenblick aufzustehen. Darauf antwortete der Patient mit einem leisen und knappen „schön.“ Dabei beließ er es. Kurz darauf bekräftigte der Therapeut seine Beendigungsabsicht noch einmal; wieder in eine kurze Pause hinein
meinte er „o:ke:.“ Daraufhin der Patient, wieder leise: „Nur kurz eine Minute“,
redete weiter und kam auf ein Thema zu sprechen, das er bis dahin noch nicht
erwähnt hatte. Damit war der erste Versuch des Therapeuten, das Gespräch zu
beenden, gescheitert. Das Ganze hatte weniger als fünf Sekunden gedauert.
Kurz darauf setzte der Therapeut zu einem neuen Versuch an. Als der Patient redete, nutzte er eine kurze Unterbrechung, um ein weiteres, jetzt noch deutlicher gedehntes und lauteres „oo:hkee:“ zu plazieren, und das mit einem Tonfall, wie man ihn verwendet, um in einer Besprechung zu Ende zu kommen, etwa in der Bedeutung von „das sollte es für heute gewesen sein.“ Außerdem legte er seinen Kopf etwas schief und sah den Patienten an, so als erwarte er, dass
der Patient die Hinweise jetzt endlich verstehen und in die Tat umsetzen würde.
Aber noch in dieses gedehnte „ok“ hinein, redete der Patient weiter, als sei
nichts geschehen. Die Feinanalyse ließ erkennen, dass er, was er sagte, so formulierte, als würde er nur einen angefangenen Satz zu Ende führen, als hätte also in Wirklichkeit der Therapeut ihn mit seinem „ok“ unterbrochen. Auf diese
Weise setzte er den Therapeuten gleichsam ins Unrecht. Nicht er hatte einen
Hinweis nicht beachtet, sondern der Therapeut hatte eine Höflichkeitsnorm verletzt. Auf diese Weise konnte er „unschuldig“ weiterreden. Damit scheiterte
auch der zweite Versuch des Therapeuten, die Zusammenkunft mit dem Patienten zum Abschluss zu bringen. Und auch das war wieder nur eine Sache von
wenigen Sekunden. Schließlich startet er einen dritten Versuch, dieses Mal mit
drastischeren Mitteln: Er unterbricht den Patienten, und mit einer Aufforderung
im Gewand einer rhetorischen Frage „können wir jetzt trotzdem zum Schluss
kommen“ mahnt er die Beendigung des Gesprächs mit Nachdruck an. Dabei ist
bemerkenswert, dass er auch hier noch eine Formulierung verwendet, die auf
Einvernehmen aus ist („können wir … zum Schluss kommen“). Auch dieses
Mal unterstreicht er seine Mahnung mit Gesten, die eindeutig sind: Er zeigt auf
die Uhr und weist den Patienten unmissverständlich auf die fortgeschrittene Zeit
hin. Jetzt stimmt der Patient mit einem „ja“ zu, aber wieder redet er weiter. Er
32
U. Streeck
sagt, dass es da ja noch ein anderes Thema gäbe, das hätte besprochen werden
sollen, das bislang aber noch nicht zur Sprache gekommen sei. Damit würde ein
großer Teil der bei ihm anstehenden Probleme offen bleiben. Wenn der Therapeut im Kontext dieser Äußerung des Patienten im nächsten Zug die Stunde beenden würde, würde er zwangsläufig bestätigen, dass er in der Schuld seines Patienten geblieben ist.
Und noch immer kommt es nicht zu einer eindeutigen, gemeinsam vollzogenen Beendigung des Zusammentreffens: Zwar stehen Patient und Therapeut
jetzt aus ihren Sesseln auf, aber noch während der Patient langsam auf die Tür
zugeht und der Therapeut ihn zur Tür begleitet, geht das Gespräch weiter. Bis
zum letzten Moment kommt eine einvernehmlich vollzogene Beendigung des
Zusammentreffens nicht zustande.
Der zweite Akt
Der zweite Akt umfasst die verbale Ankündigung des Endes. Der Therapeut
sagt jetzt mit Worten, was er schon mit nicht-sprachlichen Mitteln vorangekündigt hatte. Manche Therapeuten machen das, indem sie nur auf die abgelaufene
Zeit hinweisen, sagen also beispielsweise „die Zeit geht zu Ende“ oder „die
Stunde ist für heute um.“ Andere wählen eine Formulierung, die Gemeinsamkeit
mit dem Patienten betont, beispielsweise „wir müssen Schluss machen“ oder
„unsere Zeit ist um.“
Für einige Patienten ist ein „wir“ Ausdruck ein wohltuender, förderlicher
Gemeinsamkeit und Verbundenheit, für andere weckt es das Erleben bedrohlicher Vereinnahmung. Gleiches gilt für sachlich gewählte Formulierungen wie
„die Stunde ist um“ u.ä. Was für den einen Patienten Ausdruck von Desinteresse
ist, erlebt der andere Patient als Freiheit gewährende Neutralität.
Dabei stimmen sich Therapeuten offenbar sensibel auf das subjektive Erleben des Patienten ein, weil sie wissen, dass sie durch die Art ihres Verhaltens
und durch ihre sprachlichen Formulierungen Einfluss auf die Übertragung nehmen und dazu beitragen, wie Patienten die therapeutische Beziehung erleben.
Auch hier wird das Erleben des Patienten nicht ausschließlich von seinen Fantasien, Wünschen und Übertragungsbereitschaften bestimmt, sondern von dem
faktischen Verhalten des Therapeuten mitgeprägt.
Der dritte Akt
Im dritten Akt stellt der Therapeut seine Aufbruchsabsicht auch körperlich dar.
Das geschieht entweder gleichzeitig mit der verbalen Ankündigung oder mit einer geringen Verzögerung. Er setzt beispielsweise die bis dahin übereinandergeschlagenen Beine nebeneinander auf den Boden, stützt beide Arme auf die Sessellehnen auf oder setzt sich nach vorne auf die Stuhlkante, als wolle er sich im
nächsten Moment erheben. Von diesem Moment an beginnt bei vielen PatientTherapeut-Paaren ein subtil aufeinander abgestimmtes Zusammenspiel: Sie
wickeln ihre motorischen Aktionen oft bis ins Detail synchron ab; jeder Bewegung des einen korrespondiert eine gleich ausgeführte Bewegung des anderen,
und als seien sie ein lange eingespieltes Paar erheben sich beide genau im gleichen Moment und mit ähnlichem körperlichem Verhalten.
Begrüßungen und Verabschiedungen
33
Das kann jedoch auch anders aussehen. Dann verläuft dieser Akt der Verabschiedung weit weniger synchron, unter Umständen wie unkoordiniert. Es gibt
Hinweise darauf, dass ein Zusammenhang besteht zwischen der Synchronie
bzw. Asynchronie der körperlichen Akte und dem Erleben der therapeutischen
Beziehung (z.B. Charny 1966). In Behandlungsstunden, in denen Patienten den
Therapeuten als hilfreich und unterstützend erleben, scheint auch die Abstimmung des körperlich-gestischen Verhaltens synchronisierter zu erfolgen als in
Behandlungsstunden, in denen das sichtbare Verhalten wenig koordiniert abgewickelt wird. Aber letztlich wissen wir noch nicht viel darüber, wie eng die Korrelation ist. Dass dieser Zusammenhang sich nicht umkehren lässt und eine gute
und hilfreiche therapeutische Beziehung sich nicht dadurch produzieren lässt,
dass man sich als Therapeut synchron zum Patienten zu bewegen versucht, wie
dies gelegentlich behauptet wird, dürfte sich von selbst verstehen.
Nicht ganz selten ziehen Patienten die Aktion des Sich-Erhebens in die Länge; sie bleiben noch einen Augenblick sitzen, und unter Umständen findet sich
der Therapeut in der misslichen Lage wieder, dass er schon steht und der Patient
noch sitzen geblieben ist, so dass er sich wie jemand verhalten muss, der einen
Gast, der selbst keine Anstalten dazu macht, zum Aufbruch drängt. Und so wie
Gäste ihren Gastgeber damit ärgern können, dass sie alle Hinweise auf die fortgeschrittene Zeit übersehen, scheinen manche Patienten Aspekte der Übertragung, beispielsweise in Verbindung mit Autonomie- und Abhängigkeitskonflikten, in Szene zu setzen und real machen zu wollen, indem sie keine Anstalten
machen, der unübersehbaren Aufforderung des Therapeuten zu folgen.
Der vierte Akt
Im nächsten Akt der Verabschiedung stehen sich Patient und Therapeut für einen kurzen Moment frontal gegenüber, sehen sich flüchtig an, und meist kommt
es auch zu einer körperlichen Berührung: sie geben sich die Hand. Einige Therapeuten begleiten den Patienten zur Tür und schließen sie hinter ihm: andere
bleiben im Raum stehen und der Patient geht alleine zur Tür.
Die körperliche Berührung des Handgebers ist meist der Moment größter
körperlicher Nähe zwischen Patient und Therapeut. Bei Begrüßungen und Verabschiedungen unter Fremden ist die Ausführung von Körperberührungen hochgradig normiert. Es gibt nur einen schmalen Spielraum, um das Handgeben individuell zu gestalten, aber es gibt ihn: manchmal geben sich Patient und Therapeut nur kurz und mit weit ausgestrecktem Arm die Hand, so dass die körperliche Distanz relativ groß ist; manchmal verabschieden sie sich aber auch mit einem etwas längeren Händeschütteln oder vollziehen den körperlichen Akt mit
angewinkelten Armen; dann ist die körperliche Nähe zwischen Beiden größer.
Meist ist es der Therapeut, der dem Patienten die Hand zur Verabschiedung
zuerst hinstreckt, seltener ist es umgekehrt. Beide scheinen sich schnell und sensibel auf die gewünschte körperliche Nähe bzw. den körperlichen Abstand aufeinander abzustimmen. Manchmal kommt es im Zug dieses Aktes der Verabschiedung aber auch dazu, dass körperliche Nähe bzw. Distanz reguliert und
verändert wird. Auch das geschieht fast immer, ohne dass das bewusst registriert
wird. Das kann beispielsweise so aussehen, dass ein Therapeut einer Patientin
die Hand gibt und ihren Arm, den sie weit von sich gestreckt hält, ein wenig näher zu sich heranzieht, so als wollte er sagen, dass es keinen Grund gibt, so sehr
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U. Streeck
auf Abstand zu gehen. Oder eine Patientin zieht ihre Hand nicht eigentlich zurück, als der Therapeut sie loslässt, sondern lässt ihre Hand etwas verzögert aus
seiner Hand gleiten, während sie ihn anschaut. Solche flüchtigen Gesten können
ausdrucksstark sein, und minimale Veränderungen können weitreichende Wirkungen haben. Üblicherweise achten wir darauf nicht, weil sie Teil unseres prozeduralen interaktiven Wissens sind,12 das wir können, ohne zu wissen, wie wir
das können.
Auch in diesem Akt bleibt das Verhalten des Patienten nicht ohne Antwort.
Der Therapeut kann gar nicht anders, als mit seinen, meist nicht weniger minimalen Gesten auf das Verhalten des Patienten zu antworten. Alles, was er tut
und wie er sich verhält, ereignet sich im Kontext des vorangegangenen Verhaltens des Patienten.13 Jedes Verhalten des Anderen im nächsten Zug kann deshalb zu einer Stellungnahme zu dem vorangegangenen Verhalten des Anderen
werden. Auch Verhaltensweisen, die für sich genommen nichts bedeuten, können die Beziehung von Patient und Therapeut beeinflussen, weil beide sich damit in diesem Moment in ein bestimmtes Verhältnis zueinander setzen (Streeck
u. Streeck 2002).
Der fünfte Akt
Im fünften Akt werden verbale Abschiedsformeln ausgetauscht. Die Therapeuten nennen meistens den Namen des Patienten, sagen also beispielsweise „auf
Wiedersehen, Herr Soundso.“ Patienten sagen meist nur „auf Wiedersehen“ oder
etwas Entsprechendes, sie fügen den Namen des Therapeuten meist nicht hinzu.
Das findet man ähnlich auch in anderen sozialen Situationen. Beispielsweise
nennen Verkäufer gute Kunden bei der Begrüßung oder Verabschiedung oft
beim Namen, während die Kunden den Namen des Verkäufers nicht hinzufügen.
Das hat seine guten Gründe: Mit der Namensnennung gibt der Therapeut, der
mehrere Patienten hat, diesem Patienten zu erkennen, dass ihm seine Identität
vertraut und er gemeint ist; umgekehrt stellt sich diese Notwendigkeit für den
Patienten nicht.
Der sechste und letzte Akt
Im letzten Akt schließlich verlässt der Patient den Raum. Manche Therapeuten
begleiten ihre Patienten bis an die Tür und schließen sie hinter ihnen; andere
bleiben im Raum stehen, blicken dem Patienten nach und lassen ihn unbegleitet
nach draußen gehen.
Auch diesen Akt des Geschehens verwenden manche Patienten als Chance,
etwas von ihrem Erleben der Übertragung real zu machen. Beispielsweise ziehen sie die Verabschiedung in die Länge oder versuchen, die grenzziehende
Funktion des Verabschiedungsrituals aufzuweisen, indem es noch eine Frage zu
12
Vgl. auch Stern (1998).
Am Beispiel eines aphasischen Mannes hat Goodwin (2000) eindrucksvoll dargestellt, wie
der Umstand, dass Verhalten in einen Kontext – Goodwin spricht von einem „semiotischen
Feld“ – eingebunden ist, von den Anwesenden genutzt werden kann, um Verständigung zu ermöglichen.
13
Begrüßungen und Verabschiedungen
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klären gibt, oder indem der Patient noch einen Kommentar zu dem zuletzt in der
Stunde besprochenen Thema abgibt u.ä. Gelegentlich verlässt ein Patient das
Behandlungszimmer wie fluchtartig, und der Umstand, dass er das Verabschiedungsritual vermeidet, wird dann meist Anlass sein, sein Verhalten im Kontext
der Übertragung zu sehen und zu interpretieren.
Schluss
Szenischen Darstellungen vergleichbar können Begrüßungen und Verabschiedungen den Charakter von Enactments haben, die bei genauem Hinsehen erkennen lassen, „was gerade los ist“. Aspekte der Beziehung von Patient und Therapeut bzw. der Übertragung werden zumindest in Andeutungen dargestellt, bekräftigt und in eine Richtung gelenkt. „Die unbewussten Regungen“ heißt es bei
Freud (1912), „wollen nicht erinnert werden, wie die Kur es wünscht, sondern
sie streben danach, sich zu reproduzieren, entsprechend der Zeitlosigkeit und
der Halluzinationsfähigkeit des Unbewussten. Der Kranke spricht ähnlich wie
im Traume den Ergebnissen der Erweckung seiner unbewussten Regungen Gegenwärtigkeit und Realität zu; er will seine Leidenschaften agieren, ohne auf die
reale Situation Rücksicht zu nehmen“ (S. 374).
Zwar bieten Begrüßungen und Verabschiedungen dem Patienten nicht gerade gute Möglichkeiten zum Agieren seiner Leidenschaften, dafür aber ausreichend Gelegenheit, sie gleichsam in Andeutungen, als körperlich-gestisch ins
Bild gesetzte „Anspielungen auf die Übertragung“ (Gill 1993) darzustellen. Im
analytischen Setting ist sinnlich-gestische Interaktion zwischen Patient und
Analytiker auf ein Minimum eingeschränkt. Bei diesen kleinen Alltagsritualen
in der Eröffnungs- und der Beendigungsphase der therapeutischen Situation sind
die Umstände oder andere: der Therapeut nimmt, egal, wie er sich verhält, Stellung zu dem vorangegangenen Verhalten des Patienten, und sein Verhalten ist
wiederum Kontext für dessen nachfolgendes Verhalten. Das sind unhintergehbare Bedingungen von Interaktion. Deshalb ist immer damit zu rechnen, dass der
Patient das, was unter therapeutischen Bedingungen als Übertragung auftaucht,
er selber nur zu einem Teil mitgebracht hat. Den anderen Teil hat der Analytiker
hinzugetan. Therapeutische Beziehung und Übertragung werden hier von Patient und Analytiker erkennbar gemeinsam hervorgebracht und gestaltet.
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