Gryphius-Handbuch
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Herausgegeben von Nicola Kaminski und Robert Schütze
ISBN 978-3-11-022943-1
e-ISBN (PDF) 978-3-11-022944-8
e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039071-1
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Titelabbildung: Gregor Bieber / Johann Using, Feste Theatrali Tragiche per la Catharina di Giogia
del Sig Andrea Gryhphii (1655), Kupferstich Nr. 7 (Exemplar der BU Wroctaw, Signatur: 561 234)
Datenkonvertierung und Satz: jürgen ullrich typosatz, 86720 Nördlingen
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♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
740 | II.10 Systematische Aspekte
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
commun)
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___ Von Andreas Beck
___ II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers commun)
___ Die folgenden Ausführungen* werden – aus hoffentlich gutem Grund – manche
___ Lesererwartung enttäuschen. Nur bedingt verschreibt sich dieser Beitrag der Erhel___ lung spezifisch Gryphiusscher deutscher Verstechnik, denn er verfolgt ein allgemei___ neres Anliegen. Er soll am Beispiel Gryphiusscher Texte grundsätzlich zeigen, daß
___ es sich bei der Untersuchung von barocker deutschsprachiger Dichtung, die zeitge___ nössisch ja schier als gebundene Rede definiert erscheint,1 dringend empfiehlt, die
___ jeweilige Handhabung des Versmaßes angemessen zu würdigen – und sie nicht, wie
___ dies leider eher die Regel als eine Ausnahme darstellt,2 entweder auszublenden;3
___ oder analytisch folgenlos und meist en passant lediglich deskriptiv zu verzeichnen;4
___ oder sie in nur wenigen Worten (zu) knapp mit der Textaussage in Beziehung zu
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___ * Sie sind nicht zuletzt aus zahlreichen Gesprächen mit Nicola Kaminski (Bochum) und Tim Meier
___ (Wuppertal) erwachsen; ihnen danke ich für mancherlei Anregung und Hinweis.
___ 1 Vgl. den synonymen Gebrauch von »Poeterey« und »versen« bei Martin Opitz. MARTINI OPITII
___ Buch von der Deutschen Poeterey. Jn welchem alle jhre eigenschafft vnd zuegehör gründtlich erzehlet / vnd mit exempeln außgeführet wird. Gedruckt in der Fürstlichen Stadt Brieg / bey Augustino
___
Gründern. Jn Verlegung David Müllers Buchhändlers in Breßlaw. 1624, fol. Aijv.
___ 2 Dafür mögen hier Beispiele stehen aus: Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und
___ Barock. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1982 (Reclams Universal-Bibliothek 7890). – Der Band ist
___ zweifellos in die Jahre gekommen, dürfte indes angesichts von neun unveränderten Nachdrucken
___ bis 2011 ein exemplarisches Bild des Umgangs mit Barockgedichten in den letzten Jahrzehnten bieten.
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3 Vgl. in Meid (Hg.) (Anm. 2): Urs Herzog zu Spees »Liebgesang der Gesponß Jesu« (S. 271–280) –
___ Ferdinand van Ingen zu Catharina Regina von Greiffenbergs »Auf die unverhinderliche Art der Ed___ len Dicht-Kunst« (S. 319–330) – Wilhelm Kühlmann zu Flemings »Grabschrifft« (S. 168–175) – Wolf___ ram Mauser zu Gryphius’ »Einsamkeit« (S. 231–244) und »Thränen in schwerer Kranckheit« (S. 223–
___ 230) – Wulf Segebrecht zu Opitz’ »Ach Liebste / laß vns eilen« (S. 137–147) und Dachs »Letzter Fleh___ Schrifft« (S. 200–209) – Ernst-Peter Wieckenberg zu Logaus »Sinngedichten« (S. 257–266).
4 Vgl. in Meid (Hg.) (Anm. 2): Louise Gnädinger zum Cherubinischen Wandersmann des Angelus
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Silesius (S. 306–318, hier S. 311) – Urs Herzog zu Hoffmannswaldaus »Die Welt« (S. 357–365, hier
___ S. 358f.) – Uwe-K. Ketelsen zu Hoffmannswaldaus »So soll der purpur deiner lippen« (S. 346–355,
___ hier S. 352) und Lohensteins »Auff das Absterben […] Georg Wilhelms / Hertzogs zu Liegnitz«
___ (S. 369–378, hier S. 376) – Wilhelm Kühlmann zu Flemings »An Sich« (S. 160–166, hier S. 161f.) und
___ »Wie Er wolle geküsset seyn« (S. 168–186, hier S. 179) – Volker Meid zu Weckherlins »An das
Teutschland« (S. 149–158, hier S. 149) – Ingeborg Springer-Strand zu Harsdörffers »Friedenshoff___
nung« (S. 246–254, hier S. 252–254) – Jürgen Stenzel zu Günthers »Abschieds-Aria« (S. 381–390, hier
___ S. 382) und »Als er unverhofft […] favorable Briefe erhielt« (S. 395–402, hier S. 396 und 398) – Chri___ stian Wagenknecht zu Hoffmannswaldaus »Vergänglichkeit der Schönheit« (S. 332–344, hier
___ S. 333f.).
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II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 741
___setzen.5 Demgegenüber möchte ich die Notwendigkeit aufzeigen, den keineswegs
___nur vereinzelt gewichtigen Beitrag basaler metrischer Phänomene bei der Bedeu___tungskonstitution der in Frage stehenden Texte zu rekonstruieren6 – dies ungebaute
___Land ist schön und fruchtbar mir, weswegen ich nachdrücklich dafür werben möch___te, es in intensiv textmaterialbezogener analytischer Akribie zu kultivieren.7
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Zu diesem Zweck werde ich hier überraschend bis womöglich ärgerlich kleine
___Parzellen bestellen. Bis zur Handhabung von Strophenformen werde ich nicht vor___dringen; dies scheint mir auch insofern verzichtbar, als deren argumentativ glie___dernde Funktion, insbesondere im Fall des Sonetts, in der analytischen Praxis ge___bührend berücksichtigt wird.8 Ebensowenig ist Reimtechnik Gegenstand meiner
___Darlegungen – diese beschränken sich vielmehr auf Beispiele semantisierender Be___handlung des Versmaßes, im Rahmen weniger Interpretationsskizzen, die sich je___weils nur wenigen Versen widmen; mehr gestattet die Vielschichtigkeit des Mate___rials nicht. Sie fordert – auch das ein Erkenntnisgewinn, auf den mein Beitrag zielt –
___jene kleinschrittige Akribie; die Entfaltung entsprechender Ergebnisse auf der Ebe___ne vollständiger poetischer Texte, und sei es auch nur eines Sonetts, bedürfte statt___licher Separatstudien. Mithin wartet dieser Artikel lediglich mit Ködern auf, mit
___rhapsodischem Stückwerk ganz ohne Vollständigkeitsanspruch, um zu verwandten
___Untersuchungen anzuregen.
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Weiterhin erlaube ich mir in zweierlei Hinsicht eine thematische Konzentration.
___Zum einen werde ich eine bestimmte Form der Semantisierung metrischer Phäno___
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___5 Vgl. in Meid (Hg.) (Anm. 2): Wilhelm Kühlmann zu Flemings »An Sich« (S. 160–166, hier S. 161f.)
___– Wolfram Mauser zu Gryphius’ »An den gecreutzigten JEsum« (S. 211–221, hier S. 214) – Lothar
___Schmidt zu Paul Gerhardts »Sommer-Gesang« (S. 285–301, hier S. 287) – Jürgen Stenzel zu Günthers
___»Als er durch innerlichen Trost bey der Ungedult gestärcket wurde« (S. 405–414, hier 411f.).
6 Vgl. in Meid (Hg.) (Anm. 2): Ulrich Maché zu Opitz’ Sonett »Francisci Petrarchae« (S. 125–135, hier
___
S. 131–133) – der einzige von über zwanzig Beiträgen in jenem Sammelband zu deutschsprachigen
___Gedichten seit 1624, in den Fragen der Versbehandlung als integrales Moment Eingang gefunden
___haben. Inzwischen sollte dies eigentlich selbstverständlich sein, indem es etwa ein Gemeinplatz
___sein müßte, daß schon die (Nicht-)Verwendung grundsätzlich sauber alternierend-akzentuierend
___gebauter Verse im 17. und früheren 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich als politisch-konfessionalistisches Signal gebraucht und verstanden wurde; vgl. u.a. Dieter Breuer: Deutsche Metrik
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und Versgeschichte. München 1981 (UTB 745), S. 173; Nicola Kaminski: EX BELLO ARS oder Ur___sprung der »Deutschen Poeterey«. Heidelberg 2004 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205);
___Andreas Beck: Die Straßburger Eide in der Frühen Neuzeit. Modellstudie zu vor- und frühgermanis___tischen Diskursstrategien (Gratia 52), S. 218–260.
___7 Und derart mit einem von der werkimmanenten Methode überkommenen Talent zu wuchern; vgl.
___die vorzügliche Analyse der ersten drei Verse des Gryphiusschen Sonetts »Vber die Geburt JEsu« bei
Erich Trunz: Fünf Sonette des Andreas Gryphius (1949) [342], S. 182.
___8 Auch davon zeugt Meid (Hg.) (Anm. 2); entsprechende Phänomene sind zu Recht Einführungs___wissen, vgl. etwa Benedikt Jeßing und Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literatur___wissenschaft. 2., aktualisierte und erweiterte Aufl. Stuttgart/Weimar 2007, S. 26f.
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742 | II.10 Systematische Aspekte
___ mene in den Blick nehmen, nämlich performative Gestaltung gebundener Sprache,
___ worauf (s.u.) zeitgenössische Poetiken wiederholt verweisen. Zum andern steht im
___ folgenden beinahe ausschließlich die Verwendung des Alexandriners9 zur Debatte.
___ Denn erstens ist der Alexandriner der prominenteste Barockvers;10 zweitens domi___ niert er gerade bei Gryphius,11 im Vergleich etwa zu den Nürnbergern und Zesen;
___ und drittens wurde und wird der Alexandriner in der Forschung ostinat miß___ verstanden. An ihm wird sinnfällig, daß durchaus noch Grundlagenarbeit ansteht,
___ um barocke deutsche Verstechnik allgemein und im besonderen die Gryphiussche
___ als Kommunikationsinstrument adäquat erfassen zu können – und zugleich zeigt
___ sich an jenem Vers, wieviel in diesem Bereich analytisch noch zu gewinnen steht.
Also scheint es hoch vonnöten zu sein, sich um eine adäquate Bestimmung des
___
___ Alexandriners zu bemühen – gerade auch im Rückgriff auf zeitgenössische Poeti___ ken. Was ist ein Alexandriner? Die germanistische Literaturwissenschaft läßt hier
___ eine gewisse Unsicherheit erkennen, mitunter wirkt es fast, als würde gezielt ver___ mieden, die spezifische Differenz dieser Versart gegenüber anderen zu formulieren.
___ Wolfram Mauser etwa bestimmt »[d]ie Form des Alexandriners« durch »sechs beton___ te Silben je Vers, Zäsur nach der dritten«,12 und bei Benedikt Jeßing und Ralph Köh___ nen präsentiert sich »[d]er Alexandriner« als »12- oder 13-silbiger Vers, der gekenn___ zeichnet ist durch eine […] Zäsur nach der sechsten Silbe und festgelegte Akzente
___ auf der sechsten und zwölften Silbe«.13 Das alles ist zweifellos richtig – und doch
___ nicht zielführend. Problematisch ist zunächst, daß die Klassifizierung des Alexan___ driners als jambisch14 unterbleibt, so daß jene romanisch-französisch tingierten De___ finitionen15 die gründlich verkehrte Annahme von nicht festen Tonstellen im opitzi___ anischen Alexandriner nicht ausschließen. Auffällig, unbefriedigend, bezeichnend
___ ist weiterhin, daß die Rede von ›betonten Silben‹ der heiklen Aufgabe ausweicht,
___ die Gesamtzahl der Ikten im Alexandriner zu benennen. Anders gefaßt: die ange___ führten Bestimmungen schweigen sich über die Frage des metrischen Werts oder
___
___
___ 9 Hier wie im folgenden meint ›Alexandriner‹ stets den alternierend-akzentuierenden Alexandriner
___ opitzianischen Zuschnitts.
___ 10 Vgl. etwa Otto Paul und Ingeborg Glier: Deutsche Metrik. 9. Aufl. München 1974, S. 123; Erwin
___ Arndt: Deutsche Verslehre. Ein Abriß. 10. Aufl. Berlin (Ost) 1986, S. 164; Christian Wagenknecht:
Alexandriner. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Klaus Weimar. Bd. 1.
___
Berlin/New York 1997, S. 34–36, hier S. 34.
___ 11 Entsprechend wirft Victor Manheimer: Die Lyrik des Andreas Gryphius (1904) [226], Teil I,
___ Kap. 1: »Die Metrik in den lyrischen Gedichten des Gryphius«, S. 22, die »Frage […] auf[ ]«, »warum
___ Gryphius sich nicht vom Alexandriner befreit hat«.
___ 12 Wolfram Mauser: Andreas Gryphius – Philosoph und Poet unter dem Kreuz (1982) [228], S. 214.
13 Jeßing/Köhnen (Anm. 8), S. 140.
___
14 ›Jambus‹ = im Deutschen x x́ (unbetont, betont) statt, wie im Griechischen bzw. Lateinischen,
___ ∪ – (kurz, lang); vgl. Opitz (Anm. 1), fol. Gijr.
___ 15 Zum silbenzählenden Alexandriner der französischen Klassik mit seinen nur teilweise festen
___ Tonstellen vgl. etwa Breuer (Anm. 6), S. 45.
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II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 743
___Unwerts der Zäsur nach der sechsten, betonten Silbe aus. Doch erst die Berücksich___tigung der Mittelzäsur in ihrer metrischen Relevanz läßt die spezifische Differenz
___des Alexandriners greifbar werden, die ihn vom ›sechshebigen Jambus‹ unterschei___det, als der er so oft wie fragwürdig ausgegeben wird (x x́ x x́ x x́ x x́ x x́ x x́ ).16
___
Mitunter erscheinen in älteren Metriken keineswegs nur »Silben klassifiziert
___und Versfüße unterschieden«, während »über den ›Klang‹ der Verse […] wenig oder
___nichts« verraten wird;17 im Fall der Verszäsur etwa läßt sich eine aufschlußreiche
___Verschränkung beider Momente beobachten. Justus Georg Schottel bestimmt die
___Zäsur wie folgt:
___
DEr Abschnitt oder die Cæsur ist ein Abzug oder Stilstand im mitten des Verses / wenn man
___
bey lesung oder abmessung des Reimes [= des Verses; A.B.] / ein wenig stille helt / gleichsam
___
Athem holet / und also die Reimglieder durch den Abschnitt zierlich voneinander zeucht.18
___
___Mit der Zäsur, heißt es dann nach alexandrinischen Beispielversen,
___
___
schneidet […] sich der Vers zu mitten […] ab / und muß daselbst ein wenig inne gehalten / und
mit nichten der Vers in einem Thone und Athem hingelesen werden.19
___
___
___Bemerkenswert ist das Begriffspaar »lesung oder abmessung«, da mit ihm Skansion
___und Versvortrag eng zusammengesehen werden, ja geradezu ineins fallen. »[A]b___messung des Reimes« meint ›Skansion‹, ›Bestimmung des Metrums‹;20 »lesung«
___
___
___
___16 Vgl. u.a. Paul/Glier (Anm. 10), S. 123; Wilhelm Kühlmann: Selbstbehauptung und Selbstdiszi___plin. Zu Paul Flemings An Sich. In: Meid (Hg.) (Anm. 2), S. 160–166, hier S. 161; Leif Ludwig Albert___sen: Neuere deutsche Metrik. Bern 1984 (Germanistische Lehrbuchsammlung 55b), S. 79; Volker
___Meid: Barocklyrik. Stuttgart 1986 (Sammlung Metzler 227), S. 54; Wagenknecht (Anm. 10), S. 35f.;
Hans-Dieter Gelfert: Einführung in die Verslehre. Stuttgart 1998 (Reclams Universal-Bibliothek
___
15037), S. 80; Sebastian Donat: Metrische Notation. In: LiGo. Literaturwissenschaftliche Grundbe___griffe online (http://www.li-go.de/definitionsansicht/metrik/metrischenotation.pdf; letzte Ände___rung 22.10.2007, letzter Zugriff 30.10.2015); Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine histori___sche Einführung. 5., erweiterte Aufl., München 2007, S. 22, 27f. und 156; Christoph Hönig: Neue
___Versschule. München 2008, S. 258; Benedikt Jeßing: Neuere deutsche Literaturgeschichte. Eine
Einführung. Tübingen 2008 (bachelor-wissen), S. 60.
___
17 Christian Wagenknecht: Weckherlin und Opitz. Zur Metrik der deutschen Renaissancepoesie.
___Mit einem Anhang: Quellenschriften zur Versgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. München
___1971, S. 5.
___18 Iusti-Georgii Schottelii Teutsche Vers- oder ReimKunst darin Vnsere Teutsche Muttersprache, so
___viel dero Süßeste Poesis betrift, in eine richtige form der Kunst Zum ersten mahle gebracht worden.
___getruckt Zu Wolfenbüttel in verlegung des Authoris im jahre M DC XL V, S. 83.
19 Ebd., S. 84.
___20 Vgl. Grosses vollständiges UNJVERSAL-LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Welche
___bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […]. Vier und
___Dreyßigster Band Sao–Schla. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1742, Sp. 538:
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744 | II.10 Systematische Aspekte
___ wiederum bezeichnet den ›hörbaren Vortrag‹, denn im Anschluß an die Beispielver___ se geht es nicht mehr nur »gleichsam«, sondern tatsächlich um »Athem«-Holen.
___ Entsprechend ist mit dem »Thone« vom ›Klang‹ die Rede – der auch schon vorher
___ nicht fehlt, wenn die Zäsur als »Stilstand« bzw. als ein »stille«-Halten begegnet und
___ solche Wortwahl die Zäsur als akustisches Phänomen der ›Stille‹ betont.21 Das
___ »oder« schließlich fungiert als Quasi-Gleichheitszeichen, indem es an zwei weitere
___ ›oder‹ anschließt, die mit »Abschnitt oder […] Cæsur« sowie »Abzug oder Stilstand«
___ Synonyma miteinander verknüpfen.
Derart liegt es nahe, daß mit »lesung oder abmessung« ›Versvortrag‹ und
___
___ ›Skansion‹ als ein untrennbares Begriffspaar aufzufassen sind, durch das Schottel
___ bei seiner Definition der Verszäsur das pausierende Schweigen im Rahmen des
___ Versvortrags als metrisch relevant in die Skansion einläßt. Dies bedeutet (u.a.) im
___ Fall des Alexandriners, daß sich ein »Skandieren« verbietet, das allein »von der
___ Verteilung der betonten und unbetonten Silben im Vers auf das Metrum […]
___ schließ[t]«;22 daß hier gerade nicht eine »›Skansion‹ […] vorgenommen werden«
___ kann, »ohne daß man die Verse auch spricht«;23 daß sich hier Momente des Schwei___ gens nicht dadurch als metrisch irrelevant ausblenden lassen, daß man »vom
___ tatsächlichen Text«, von dessen schwarz auf weiß geronnener Manifestation
___ »aus[geht]«.24
Dies gilt um so mehr, als Schottel mit seinen Ausführungen zur (Alexandri___
___ ner-)Zäsur nicht allein steht. Philipp von Zesen besteht gleichfalls nachdrücklich
___ auf deren ›atemholender‹ Realisierung;25 ähnlich auch Diederich von dem Werder,
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___
___
___ »SCANSIO, ist in der Prosodie die Ausmessung der Verse nach ihren Pedibus« – oder eben die ent___ sprechende »Abmessung eines Verses«.
21 Das muß nicht so sein, eine Behandlung der Zäsur kann auch auf klangverdächtiges Vokabular
___
verzichten, vgl. etwa Opitz (Anm. 1), fol. Giijr.
___ 22 Breuer (Anm. 6), S. 72.
___ 23 Wagenknecht (Anm. 17), S. 11.
___ 24 Breuer (Anm. 6), S. 101; Breuer wendet sich dort gegen die Ansetzung stumpfer Kadenzen, ge___ gen die Annahme einer pausierten letzten Vershebung. Die Unterscheidung von Skansion und
___ Versvortrag, die Breuer ebd., S. 72–79, im Anschluß an Wagenknecht (Anm. 17), S. 5–14, betont, ist
damit im Hinblick auf den Alexandriner keineswegs hinfällig: Eine Skansion als metrische Beurtei___
lung allein des vorhandenen Wortmaterials, die hier freilich auf sechs metrisch gewichtige Silben in
___ ebensovielen Jamben führt, läßt diesen Vers zum Pendant des antiken Hexameters werden – was
___ für die Erfolgsgeschichte des Alexandriners zentral gewesen sein dürfte.
___ 25 Allerdings behandelt Zesen die Zäsur allein als ein Phänomen des Vortrags, nicht aber der Me___ trik: »Es ist aber die Caesur und Abschnitt eine Athemholung / so im mittel der langen Verse gebraucht wird / welche mann nicht in einem athem hinlesen kann / wie die kurtzen / denn es so wohl
___
den Ohren als der Zungen beschwerlich vorkommen solte / wo der Abschnitt übergangen würde
___ […].« PHILIPPI CÆSII Deutsches Helicons Erster und Ander Theil / Oder Unterricht / wie ein Deutscher
___ Vers und Getichte auf mancherley Art ohne fehler recht zierlich zu schreiben. Bey welchem zu bäs___ serm fortgang unserer Poesie Ein Richtiger Anzeiger Der Deutschen gleichlautenden einstimmigen
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II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 745
___der in seinem Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem (1626) durch die
___typographische Gestaltung der Alexandriner die metrische Relevanz der Zäsur als
___eines Klangphänomens im Versvortrag sichtbar macht – und dies in einer poetolo___gischen Anmerkung expliziert:
___
___
Letzlichen wolle der wolmeinende Leser sich auch nicht jrren lassen / wann er mitten in einem
jeden verß etwas raums vnnd abschrits zwischen der sechsten vnd siebenden syllben finden
___
thut / dann solches ist mit fleis also im Druck gesetzet worden / damit man allezeit auff ge___
dachtem abschritt mit dem lesen etwas innehalten / vnd die art der Reimen also desto richtiger
___
vnnd leichter mit jhrem gehörigen maß gelesen werden könne. […] [M]üssen doch diese Verse /
___
sollen sie anders jhren richtigen vnnd klingenden lauff haben / für sich weg mit jhrem maaß /
___
wie dasselbe mit dem abschrit gedruckt / vnd gleichsam als wann ein halber Verß ein gantzer
were […] gelesen werden.26
___
___
___Geradezu eine vorweggenommene Absage an moderne Metriker, die allein verbal
___realisierte Hebungen zählen.27 Unter Engführung von Versvortrag und Metrum –
___Verse sollen »mit jhrem gehörigen maß gelesen« werden, d.h. »jhren richtigen vnnd
___klingenden lauff« nach »jhrem maaß« haben – besteht von dem Werder auf dem
___metrischen Wert des »innehalten[s]«, das die Zäsur (mit Opitz »abschritt« genannt28)
___fordert. Er besteht auf dem metrischen Wert des Schweigens zwischen dem dritten
___und vierten verbal realisierten Jambus, das er in Gestalt einer leeren Fläche zei___chenhaft in die buchstäbliche Repräsentation des Verses integriert29 – so daß selbst
___ein Skansionsverfahren, das sich allein auf buchstäblich-schriftlich Greifbares
___stützt, angesichts solcher druckbildlicher Vorfindlichkeit des ›tatsächlichen Texts‹
___hier nicht umhin kann, bei Bestimmung des Versmaßes auch das Pausieren im
___Rahmen der Zäsur zu berücksichtigen.
___
___
___
Weiblichen und Männlichen Wörter (nach dem abc. Reim-weise gesetzt) zu finden. Jtzo wieder ver___
mehret und zum andern mahl herraus gegeben. Wittenberg / Gedruckt bey Johann Röhnern / Jm
___Jahr M DC XLI., S. 23.
___26 Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem. Erst von dem Hochberühmbten Poeten Tor___quato Tasso in Welscher Sprache beschrieben: Vnd nun in Deutsche Heroische Poesie Gesetzweise /
___als vormals nie mehr gesehen / vberbracht. Getruckt zu Franckfurt am Mayn / Jn Verlegung Daniels
vnd Davids Aubrj vnd Clemens Schleichen. ANNO M. DC. XXVI., S. 27.
___
27 Vgl. Manfred Günter Scholz: Die Kadenz – eine metrische quantité négligeable? In: »Texte zum
___Sprechen bringen«. Philologie und Interpretation. Festschrift für Paul Sappler. Hg. von Christiane
___Ackermann und Ulrich Barton. Tübingen 2009, S. 1–17, hier S. 17; Scholz spricht von einer Konzen___tration allein auf »sprachlich realisierte[ ] Hebungen« – die Rede von ›verbal realisierten Hebungen‹
___scheint mir präziser, da ›sprachlich‹ durch Schweigen pausierte Hebungen nicht ausschließt.
r
___28 Vgl. Opitz (Anm. 1), fol. Giij .
29 Auf diese Weise ergänzt von dem Werder das kurz zuvor erschienene Buch von der Deutschen
___
Poeterey: Von dort übernimmt er neben der Terminologie auch die typographische Markierung der
___Zäsur (vgl. Opitz [Anm. 1], fol. Giijr und fol. Giiijr) – die er als Ausdruck von deren metrisch gewichti___gem sprachklanglichen Moment, das Opitz nicht behandelt hatte, semantisiert.
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746 | II.10 Systematische Aspekte
Angesichts dieser zeitgenössischen metrischen Reflexionen scheint es geboten,
___
___ das Versmaß des Alexandriners nicht auf dessen sechs verbal realisierte Füße,
___ Hebungen bzw. Takte zu beschränken. Mit seiner Mittelzäsur ist der opitzianische
___ Alexandriner offenkundig ›mehr‹ – aber wie viel mehr? Für die Zäsur darf mindes___ tens der Wert einer unbetonten Silbe angesetzt werden: heißt es doch in den Bödi___ kerschen Grund-Sätzen der Teutschen Sprache, daß zwar eigentlich »[d]as e am Ende
___ eines Worts, wenn ein Consonans folget, […] niemahls verschlungen und ausgethan
___ werden kan« – indes sei, was durch einen Alexandriner illustriert wird, eine Apoko___ pe vor der Verszäsur verzeihlich, denn es »lautet […] der Apostrophus nicht so hart
___ im Abschnitt […], weil das stillhalten es [das fehlende ›e‹] wieder ersetzt«.30
Mit einer Zäsur allerdings, die lediglich den Zeitraum einer unbetonten Silbe
___
___ einnimmt, ist es im Alexandriner wohl nicht getan:
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x x́ x x́ x x́ ∧ x x́ x x́ x x́
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Der HErr ist selber Brodt / soll Brodt sein Leib nicht seyn?
___
Er ist der Weinstock selbst. Sein Blutt ist freilich Wein. (Ep. III,I,37)
___
___ Eine ›Lesung oder Abmessung‹ dieser Verse nach dem entsprechenden metrischen
___ Schema gerät kurzatmig-holprig31 – und legt somit eine großzügigere Dimensionie___ rung der Zäsur nahe: eine zweisilbige, so daß das ›Stillehalten‹ zwischen den Vers___ hälften einen pausierten Jambus ausmacht:
___
x x́ x x́ x x́ ∧ ´∧ x x́ x x́ x x́
___
___
32
___ Nach diesem Modell sind jene Verse, je für sich genommen, bequem lesbar, und
___ der Alexandriner rückt als mindestens siebenhebiger Jambus in den Blick – ›min___ destens‹, da wir noch immer nicht mit der Bestimmung seines Versmaßes am Ende
___ sind. Wenn Diederich von dem Werder um des »gehörigen maaß[es]« des Alexan___ driners willen das Schweigen der Zäsur berücksichtigt wissen will, »gleichsam als
___
___
___
___ 30 JOHANNIS BÖDIKERI, P. Gymn. Svevo-Colon. Rect. Grund-Sätze Der Teutschen Sprache Meistens
mit Ganz andern Anmerkungen und einem völligern Register der Wörter, die in der Teutschen Über___
setzung der Bibel einige Erläuterung erfodern Auch zum Anhange mit einem Entwurff und Muster
___ eines Teutschen Haupt-Wörter-Buchs Verbessert und vermehrt von JOH. LEONH. FRISCH. BERLJN Ver___ legts Christoph Gottlieb NICOLAI M DCC XXIII., S. 350.
___ 31 Ebenso verhält es sich im Fall von deren sechshebig-pausenloser Realisierung im Sinne von
___ x x́ x x́ x x́ x x́ x x́ x x́ ; vgl. Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte mit Einschluß des altenglischen und altnordischen Stabreimverses. Bd. 3: Der frühneudeutsche Vers; der neudeutsche Vers.
___
2., unveränderte Auflage. Berlin 1956, S. 162.
___ 32 Ein freilich empirisch-subjektives, historisch nicht gedecktes und daher heikles Argument; mit___ hin mag den ersten Stein werfen, wer Alexandriner einem der beiden vorhergehenden Schemata
___ gemäß nach eigenem Dafürhalten befriedigend zu lesen in der Lage ist.
_____
vers commun)
commun) | 747
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
___wann ein halber Verß ein gantzer were«, dann bedeutet dies doch, daß die metri___schen Umstände der Mittelzäsur denen am Schluß des Alexandriners gleichen – und
___dort ebenfalls ein pausierter Jambus,33 mithin eine stumpfe Kadenz34 anzusetzen ist.
___Die Bödikerschen Grund-Sätze lassen eine solche Annahme plausibel erscheinen,
___indem auch sie, im Zeichen der Apokope, Verszäsur und Versschluß analog behan___deln und auch bei letzterem eine wenigstens einsilbige Pause konstatieren: »Am
___Ende der Zeilen kan das e noch eher wegbleiben, weil es vom stillhalten ersetzt
___wird«.35 Und beinah zur Gewißheit wird jene Hypothese, wenn Philipp von Zesen im
___Deutschen Helicon die alexandrinische Mittelzäsur performativ auskostet,36 um an___schließend ein Gleiches mit dem Versschluß anzustellen:
___
Fast [= ganz; A.B.] auff diese weise kann mann auch in den männlichen am ende des Verses
___
das Wort zertheilen / der sache davon mann redet einen sonderlichen Nachdruck zu geben /
___
also daß der eine theil des worts am ende des ersten / der ander theil im anfange des andern
___
Verses sey / als:
___
___
Wie hat so bald der Todt des Lebens-faden abgeschnitten dier ô Freund / daß du ins kalte grab
___
So balde von uns weichst? – – – 37
___
___
___Das Beispiel bietet eine doppelte Pointe: Indem hier ausgerechnet »ab-|geschnitten«
38
___zwischen den Versen »gleichsam gesondert und zerrissen« wird, weist Zesen den
___Versschluß des Alexandriners als Pendant zu der von ihm »Abschnitt« genannten
39
___Mittelzäsur aus. Daneben besteht der verstechnische Witz hier natürlich darin, daß
___die gebundene Rede jenes Abschneiden, indem sie es ausspricht, durch atemholen___des Pausieren am eigenen Klangkörper zugleich vollzieht. Ein performatives Mo___ment, das es metrisch ernst zu nehmen gilt: Das gewaltsam-destruktive Vorgehen
___des Todes spiegelt sich wohl kaum in einer Pause wider, deren Wert lediglich einer
___unauffälligen unbetonten Silbe entspricht (und die auch am Versende sowohl den
___
___
___33 Bzw., bei zweisilbigem Reim, ein teilweise pausierter Jambus.
___34 Zur ›stumpfen Kadenz‹ vgl. etwa Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte mit Einschluß des
___altenglischen und altnordischen Stabreimverses. Bd. 1: Einführendes; Grundbegriffe der Verslehre;
der altgermanische Vers. 2., unveränderte Auflage. Berlin 1956, S. 146; Arndt (Anm. 10), S. 92f. und
___
99.
___35 Bödiker/Frisch (Anm. 30), S. 351; die Beispielverse sind in diesem Fall allerdings keine Alexan___driner.
___36 Vgl. Zesen (Anm. 25), S. 24: »Wie sehr der Jaßpis prangt / wie sehr Sapphier pravieret / | Wenn er
___mit gold’ ist ein-gefasset und gezieret« – und dazu (bzw. zu einem analogen Zesen-Beispiel) Schot___tel (Anm. 18), S. 89: »Alhie wird […] nicht unrecht der Abschnit ein mit folgendem Gliede in ein Wort
gefasset / wegen des einfassenden Wortes und Dinges selbst.«
___37 Zesen (Anm. 25), S. 24.
___38 Ebd., S. 25.
___39 Ebd., S. 24 und 25.
_____
748 | II.10 Systematische Aspekte
___ Ohren als der Zungen beschwerlich fällt); wahrscheinlicher ist doch, daß Zesen hier
___ einen zäsuranalogen pausierten Jambus semantisiert, daß der regulär in die Leere
___ des Schweigens am Versende fallende Iktus für den letalen Streich steht, mit dem
___ der Tod den Lebensfaden durchtrennt.
Vor dieser Folie läßt sich – wohl kaum eine »wahrscheinlich falsche[ ] Annah___
___ me[ ]« 40 – der Alexandriner »historisch fundiert« 41 mit relativer Sicherheit als
___ achthebiger Jambus mit stumpfer Kadenz klassifizieren:
___
ˊ
ˊ x x́ x x́ x x́ ∧ ∧
x x́ x x́ x x́ ∧ ∧
___
___
bzw.
___
___
ˊ x x́ x x́ x x́ x ∧
ˊ 42
x x́ x x́ x x́ ∧ ∧
___
___ »[J]edes Gefühl, jeder Gedanke« wird nun in barocker Dichtung »in diese Form, wie
43
___ in das Bette des Procrustes gezwängt« – ein treffendes Bild angesichts des ›Ab___
___
___ 40 Wagenknecht (Anm. 10), S. 36.
___ 41 Scholz (Anm. 27), S. 17.
___ 42 Vgl. Heusler (Anm. 31), S. 162; Ulrich Pretzel: Deutsche Verskunst, mit einem Beitrag über altdeut___ sche Strophik von Helmuth Thomas. In: Deutsche Philologie im Aufriß. 2., überarbeitete Aufl. Hg. von
___ Wolfgang Stammler. Bd. 3. Berlin 1962, Sp. 2357–2546, hier Sp. 2480; Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule. 15. Aufl. München/Bern 1971, S. 31; Arndt (Anm. 10), S. 163; Kaminski (Anm. 6),
___
S. 539; Scholz (Anm. 27), S. 17; Beck (Anm. 6), S. 228. Ob Alexandriner mit zweisilbigem Reim ggf. als
___ Achttakter mit klingender Kadenz (zu ihr vgl. Heusler [Anm. 34], S. 146; Arndt [Anm. 10], S. 97f.) zu
___ lesen sind – x | x́ x | x́ x | x́ ∧ | ∧ˊ x | x́ x | x́ x | — | x̀ (∧) (vgl. Heusler [Anm. 31], S. 162; Scholz [Anm. 27], S. 17) –,
___ wage ich nicht zu beurteilen. Grundsätzlich scheint nichts dagegen zu sprechen – und Zesens oben
___ zitierte Einschränkung, daß nur ›männliche‹, einsilbig reimende Versschlüsse sich als zäsuranaloge
›Abschnitte‹ gestalten lassen, könnte jene Sicht stützen; daneben bieten aus dem 17. Jahrhundert
___
stammende Melodien von Kirchenliedern wie »Nun danket alle Gott« entsprechende Anhaltspunkte
___ (vgl. Scholz [Anm. 27], S. 17). Indes sind metrische Rückschlüsse aufgrund von Liedmelodien nicht
___ unproblematisch: Wer wollte etwa den Halbvers »Der uns von MutterLeib« (in »Nun danket alle Gott«)
___ aufgrund der den Silben zugeordneten Notenwerte h j e j e d fünfhebig klassifizieren (´— | x́ x | x́ x |
___ x́ ∧ | ∧ˊ (∧))? Vgl. Christlich-neüvermehrt- und gebessertes GESANGBUCH / Darinnen D. Martin Lu-
_____
___ thers / und viel anderer Gottselig-gelehrten Leute Geistliche Lieder und Psalmen / welche so wohl Jn
öffentlicher Kirch-Versammlung / als auch zu Hause / und sonst Zu Vermehrung guter / und Gott___
gefälliger Andacht gebraucht werden mögen / sammt denen darzu gehörigen langgewünschten
___ Melodeyen Mit besonderm Fleiß zusammen getragen / und in gewisse Titul abgetheilet sind / beneben
___ Nohtwendigen Registern Mit E. E. Ehrnv. und Hochw. Rahts der Stadt Erffurth sonderbaren Befreyung
___ heraus gegeben / und Gedruckt bey Friedr. Melchior Dedekinden / Verlegt von Johann. Branden / Bür___ gern und Buchbindern daselbst / im Jahr 1663, S. 727. Zudem spricht von dem Werders ausnahmslose
Parallelisierung von Mittelzäsur und Versschluß für die Ansetzung stumpfer Kadenzen auch bei zwei___
silbigem Reim. Womöglich kommen in diesen Fällen beide Kadenztypen in Betracht.
___ 43 Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Fünfter Theil vom Jahre
___ 1799 und 1800. Stuttgart und Tübingen, in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1829, Nr. 638 (Jena
___ den 15. October 1799), S. 187–190, hier S. 189.
vers commun)
commun) | 749
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
___schnitts‹ zu Beginn und Ende des Alexandriners. Schillers wenig charmante Meta___pher, die diesen Vers diskreditieren soll, benennt zielsicher dasjenige, worin seine
___Leistungsfähigkeit besteht: Mit seinen metrisch gewichtigen Pausen, mit der in ih___nen gründenden »Eigenschaft […] sich in zwey gleiche Hälften zu trennen«, ist der
___Alexandriner nämlich weit davon entfernt, »alles […] unter die Regel des Gegensat___zes« zu stellen.44 Vielmehr präsentiert er sich als facettenreiches Ausdrucksinstru___ment, das sich in seiner angeblichen Starre verschiedensten Inhalten anpassen läßt,
___ihnen u.U. eben dadurch Rechnung trägt, daß Wortglieder verstümmelnd ›ab-|ge___schnitten‹ werden. Die folgenden Analyseskizzen Gryphiusscher Verse (sowie zu
___Beginn zweier von Gryphius ›adoptierter‹ Verse) mögen nun eine Ahnung vermitteln
___von den vielfältigen Möglichkeiten der Engführung von Versform und poetischer
___Aussage im artistisch-technischen Gebrauch des Alexandriners – sowie des vers
___commun, gleichsam seines kleinen Bruders.
___
1. Zunächst zwei Beispiele für die Semantisierung des pausierten Jambus der
___Verszäsur: erst eine spielerische performative Selbstreflexion gebundener Rede, die
___en passant die Selbstverständlichkeit verstechnischen Raffinements demonstriert –
___sowie dann, merklich gewichtiger, eine Bedeutungszuweisung an den ›Stillstand‹
___der Zäsur, die den Gedichttext zum Heilsort für den erlösungsbedürftigen Menschen
___werden läßt.
___
Im zweiten Gedicht des Weicher-Stein45 heißt es gegen Ende:
___
___
Drumb Feder steh! Wir müssen uns hir wenden!
___
Unangesehn du bloß nur ingemein
Berühret hast des Hofe-Lebens Schein. (WS, S. 73)
___
___
___Das sind keine Alexandriner, sondern vers communs, ›gemeine Verse‹46 – aber das
___sagt der Text ja selbst. »Wir müssen uns hir wenden«, das ist richtig, denn mit die___sen Worten erreichen wir das Versende, wo der Zeilenumbruch zur Umkehr zwingt;
___eine performative Pointe, durch die die Versrede selbstreflexiv als solche ausgestellt
___erscheint: es soll nämlich der »Vers […] dieserwegen also genannt seyn worden,
___weil man am Ende einer Zeile umkehren müsse«.47 Und »ingemein« – oder, im Bres___
___
___
___44 Schiller (Anm. 43), S. 188f.
___45 »FONTANUS. An seine Hochwehrten Freunde. PALAMEDES und MELETOMENUS« – dieser in
___die Gryphius-Werkausgabe von 1663 aufgenommene ›Fremd‹-Text (WS, S. 69–73) stammt vermut___lich von Johann Christoph von Schönborn (vgl. ↗ Kap. II.4.5 zum Weicher-Stein, S. 157).
r
___46 Zu ihnen vgl. etwa Opitz (Anm. 1), fol. Giiij ; Schottel (Anm. 18), S. 85 und 168–170.
47 Vgl. Grosses vollständiges UNJVERSAL-LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Welche
___
bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […] Sieben
___und Viertzigster Band, Ver–Vers. Leipzig und Halle, Verlegts Johann Heinrich Zedler. 1746,
___Sp. 1755–1757 s.v. ›Verse, Lat. Versus‹, hier Sp. 1755.
_____
750 | II.10 Systematische Aspekte
___ lauer Erstdruck, »gemein«48 – als Schlußwort des folgenden Verses, auf den uns
___ solcher versus, solche Vers-Wendung führt, signalisiert dann dem Leser, daß er
___ ›gemeine Verse‹ vor sich hat, d.h. siebenhebige Jamben mit stumpfer Kadenz, die
___ nach dem zweiten verbal realisierten Jambus eine Zäsur aufweisen.49 Eine Zäsur,
___ deren Potential jener erste Vers im Vorfeld seiner performativen Wendung perfor___ mativ auskostet: »Drumb Feder steh!« – die Versrede gehorcht sogleich selbst dem
___ von ihr formulierten Imperativ, da dem Befehl »steh!« das wortlose Schweigen der
___ Zäsur folgt und die Feder ob solchem ›Stillstand‹ hier tatsächlich zum Stehen
___ kommt.
Ein leichthändiges Kabinettstück verstechnischer Artistik, das reizvoll gegen
___
___ die Wucht absticht, die der performative Einsatz der Verszäsur andernorts zu ent___ wickeln vermag. »Die Form des Alexandriners«, so Wolfram Mauser zum Sonett »An
___ den gecreutzigten JEsum«, »dient dem Gedanken, den das Sonett ausspricht«; das
___ ist richtig, aber nicht so sehr darum, weil »[v]on der ersten Halbzeile an […] jede ton___ tragende Silbe auch aussagekräftig« ist.50 Diese treffende Beobachtung nämlich ver___ fehlt das Spezifische des Alexandrinergebrauchs – denn kein guter Vers, welcher
___ Bauart auch immer, soll betonte Silben nichtssagend besetzen, mit bedeutungslee___ ren Nebensilben etwa oder mit grundsätzlich zu meidenden Flickwörtern.51 Die Lei___ stung des Alexandriners als eines jambischen Versmaßes besteht zunächst darin,
___ daß in jenem Sonett nicht nur regulär betonte, sondern überdies vom metrischen
___ Schema her unbetonte Silben derart gewichtig besetzt werden, daß die betreffenden
___ Wörter trotz Plazierung auf einer Senkungsposition Betonung fordern:52 so daß das
___ alternierende Metrum zwar spürbar bleibt, aber in die Schwebe gerät und als ten___ denziell aufgehobenes die Folie abgibt, vor der in gebundener Sprache als solcher
___ die Intensität des Ausgesagten im Zusammenspiel von Metrik und Wortbedeutung
___ erfahrbar wird. Ein Paradebeispiel hierfür bietet der Beginn jenes Sonetts: ˊ
___
___
___
___ 48 Der Vers lautet in der noch nicht die Errata einarbeitenden, ebenfalls bei Gryphius’ rechtmäßi___ gem Verleger 1663 in Breslau erschienenen Ausgabe des Weicher-Stein: »Unangesehn du bloß nur in
___ gemein«. ANDREÆ GRYPHII Seug-Amme oder untreues Gesind / Lust-Spiel. Schwermender Schäf___ fer / Lust-Spiel. Deutsche Epigrammata. Breßlau / Bey Veit Jacob Dreschern / Buchhändl. Jm Jahr
M. DC. LXJJJ., S. 73.
___
ˊ x x́ x x́
49 Es handelt sich also gewissermaßen um anfangs verkürzte Alexandriner: x x́ x x́ ∧ ∧
___ x x́ ∧ ∧ˊ bzw. x x́ x x́ ∧ ∧ˊ x x́ x x́ x x́ x ∧ˊ .
___ 50 Mauser (Anm. 12), S. 214.
___ 51 Barocke Poetiken betonen dies ostinat; vgl. zum Problem betonter Nebensilben u.a. Schottel
___ (Anm. 18), S. 23; zur Kritik an Flickwörtern u.a. Zesen (Anm. 25), S. 50.
52 Ein Verfahren, das auch sonst nicht selten ist und insbesondere bei Gryphius häufig begegnet,
___
etwa im Fall der Alexandriner in der »Hölle« (Son. II,48,2f. und 6f.) – vgl. zu ihnen u.a. Breuer
___ (Anm. 6), S. 178f., Alfred Behrmann: Variationen einer Form (1985) [260], S. 20; in der »Hölle« als
___ auffälligem metrischen Ausnahmephänomen findet der Normalfall bedeutungserzeugender Vers___ technik punktuell gebührende Beachtung.
_____
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 751
HJr wil ich gantz nicht weg! laß alle Schwerdter klingen!
___
Greiff Spiß und Sebel an! brauch aller Waffen Macht (Son. I,6,1f.)
___
___
___»HJr wil ich gantz nicht weg!« – jedes Wort des ersten Halbverses wiegt schwer,
___nimmt sich wenig senkungstauglich aus. Die eigentlich unbetonte, ›niedrige‹53 Ein___gangssilbe »HJr« verortet das Sprecher-Ich in der Tiefe unter dem »gecreutzigten
___JEsu[ ]« (Son. I,6,Titel), der, »hoch am Holtz« (Son. I,6,12), »herab [s]ein bluttig An___gesicht« (Son. I,6,13) neigen möge. »HJr« meint damit, so konsequent wie paradox,
___in metrischer Tiefe die Position unten, zu Füßen des geopferten Heilands, damit
___aber einen privilegierten, existentiell entscheidenden Ort, bei dessen Benennung
___man kaum umhin kann, ihn zu betonen, ihn ›hoch‹ zu setzen. Die zweite Silbe,
___»wil«, bezeichnet – metrisch betont und betonungswürdig – die heilsrelevante
___gläubige Ausrichtung hin zu jenem Ort der Erlösung. Das nachfolgende »ich« wäre,
___auf Senkungsposition, noch am ehesten unbetont vorstellbar; seine Hebung hätte
___indes nichts Egozentrisches. Vielmehr scheint die Lesart bedenkenswert, daß in
___einem Sonett aus lutherischer Feder ein dennoch betontes ›ich‹ zu Anfang des Ein___gangsverses womöglich auf die eben nicht, wie im katholischen Verständnis, kirch___lich-institutionell vermittelte, sondern direkte Beziehung des einzelnen zu Gott
___zielt;54 und so dürfte hier das spezifisch protestantische metrische Phänomen alter___nierender deutscher Verse55 dazu genutzt werden, durch den Eintrag metrischer
___Spannungen als lutherisches »ich« eine entsprechende konfessionalistische Posi___tion zu beziehen. Die vierte Silbe wiederum, »gantz«, benennt die vollständige Aus___richtung dieses Ichs auf seinen Erlöser und besetzt derart mit Fug eine Hebungspo___sition – während das anschließende »nicht« aus der Tiefe der Unbetontheit
___geradezu hervorgeholt werden muß, damit der Sinn des Halbverses nicht ins heillo___se Gegenteil umschlägt. Das bedeutungsentscheidende Adverb »weg« schließlich,
___mit dem der Halbvers endet, verdient als Ausdruck von Heilsferne (oder eben
___»nicht«) die Betonung, die ihm das metrische Schema zuweist.
›HJ́r wíl ích gántz nícht wég!‹ – so lautet schier der Sonettbeginn, dessen Mehr___
___wert als Versrede sich nicht in bloßer Intensivierung einer theologischen Aussage
___erschöpft; und erst recht nicht darin, daß hier auf prominenter Position insofern ein
___verstechnisches Kunststück vorgeführt wird, als dieser gelungene Halbvers ganz
___
___
___
___53 Die metaphorische Diktion »hoch […] niedrig« steht am Beginn »Deutscher Poeterey«, vgl. Opitz
___(Anm. 1), fol. Gijr.
___54 Zumal sich das Sonett durch seinen Untertitel als eine Übertragung lateinischer Jesuitendich___tung zu erkennen gibt – und sich insgesamt lutherisch gegen die katholische Rechtfertigungslehre
wendet; vgl. Mauser (Anm. 12), S. 214f.
___55 Opitz hatte die »Deutsche Poeterey« ja mit Lutherversen jambisch-trochäisch reformiert, vgl.
___Opitz (Anm. 1), fol. Gijr; zum konfessionalistischen Charakter der Opitzschen Versreform vgl. grund___legend Kaminski (Anm. 6), ferner ↗ Kap. II.2.d zum Buch von der Deutschen Poeterey.
_____
752 | II.10 Systematische Aspekte
___ aus einsilbigen Wörtern besteht, ein poetisches Verfahren, vor dem wiederholt ge___ warnt wird.56 Diese Dinge machen nicht die spezifische Leistung des Alexandriners
___ aus. Wo ist sie? Anders gefragt: wo ist das »HJr«, der Ort unter dem Kreuz Christi,
___ von dem der erste Halbvers aus erhöhter metrischer Tiefe spricht? Zu diesem Ort
___ wird das Sonett selbst, und zwar durch sein erstes Wort, indem »HJr« schriftbildlich
___ (Verstechnik ist entschieden auch ein optisches Phänomen) als Beginn des ›eigent___ lichen‹ Gedichttexts unter dessen Überschrift und damit unter dem »gecreutzigten
___ JEsu[ ]« zu stehen kommt – und als dieser Heilsort erfährt das Gedicht eine Versteti___ gung in der Zeit seiner metrisch korrekt vollzogenen Rezeption. Solche Verstetigung
___ nun, die den Ort unter dem Kreuz zu einem Aufenthaltsort werden läßt, ist die spezi___ fische Leistung des ersten Halbverses als Teil eines Alexandriners: denn in dieser
___ Eigenschaft schließt er mit einer performativen Pointe, vollzieht seine Lektüre jenes
___ Nicht-weg-Wollen.
Nicht umsonst schließt der Halbvers mit »nicht weg« – denn danach fällt die
___
___ Mittelzäsur des Alexandriners, tritt der »Stilstand im mitten des Verses«57 ein und
___ das Gedicht damit auf der Stelle. Das »HJr«, von dem das Sprecher-»ich« ›gantz
___ nicht weg wil‹ und aufgrund der Zäsur zunächst auch ›nicht weg‹ kommt, ist nicht
___ zuletzt das Hier und Jetzt des Vollzugs alexandrinischer Versrede. So wird die geist___ liche Aussage des Sonetts durch dessen metrische Gestaltung nicht nur in gesteiger___ ter Intensität erfahren, sondern zugleich vollzogen; kunsthandwerklich gekonnt
___ gestaltete gebundene Rede wird in ihrer angemessenen Rezeption zum geeigneten
___ Instrument, dem Menschen den Weg zu seinem Heil zu eröffnen. Und daß der erste
___ Halbvers auf solches Verweilen poetischer Rede bei sich selbst hin angelegt ist, zeigt
___ sich auch darin, daß der unausweichliche Gedichtfortgang, der jenem performati___ ven »nicht weg« plus Zäsur zuwiderläuft, wenigstens teilweise neutralisiert wird:
___ Dreimal nämlich kehrt das ›hir wil ich‹ des Sonettbeginns wieder (Son. I,6,5.8.11), so
___ daß das Fortschreiten der Lektüre wenigstens teilweise in einen Kreislauf umgebo___ gen wird,58 das »stille« Halten59 der Zäsur, soweit sich ein solch paradoxes Vorhaben
___ bewerkstelligen läßt, in die Bewegung wörtlicher Rede übersetzt erscheint.
___
___
___
___ 56 Zur Kritik an r(Halb-)Versen, die ausnahmslos aus einsilbigen Wörtern bestehen, vgl. u.a. Opitz
(Anm. 1), fol. Eiij ; JUSTI-GEORGII SCHOTTELII Einbeccensis, Teutsche Sprachkunst / Darinn die Aller___
wortreichste / Prächtigste / reinlichste / vollkommene / Uhralte Hauptsprache der Teutschen auß
___ jhren Gründen erhoben / dero Eigenschafften und Kunststücke völliglich entdeckt / und also in eine
___ richtige Form der Kunst zum ersten mahle gebracht worden. Abgetheilet in Drey Bücher. Braun___ schweig / Gedruckt bey Balthasar Grubern / Jm Jahr 1641, S. 646; Bödiker/Frisch (Anm. 30), S. 363.
___ 57 Schottel (Anm. 18), S. 83.
58 Besonders markant geschieht dies durch den letzten Halbvers des zweiten Quartetts: Durch
___
anaphorisches »hir wil ich« (Son. I,6,8) wiederholt er den Beginn des ersten Halbverses des Quar___ tetts sowie den des Gedichts, so daß mit ihm sowohl das Quartett als auch das Sonett zu seinem
___ Anfang zurückkehrt.
___ 59 Schottel (Anm. 18), S. 83.
_____
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 753
___
2. Damit zur Semantisierung des zäsuranalogen alexandrinischen Versschlus___ses. Durch sie bringt in der Catharina von Georgien die Dienerin der Protagonistin,
___Salome, in beredtem Schweigen das Elend der gefangenen Königin und ihres Gefol___ges zu Gehör:
___
Die braune Nacht vergeht / Diane wil erbleichen /
___
Der Wagen kehrt sich umb / der Sternen Heer’ entweichen /
___
Der Himmel steht gefärbt / die Morgenröthe lacht /
___
Das grosse Licht der Welt die edle Sonn erwacht.
___
Die angenehme Lufft spillt durch die grünen Wälder /
___
Der Perlne Taw erquickt die ausgedörrten Felder /
___
Die Welt steht als erneut. Wir aber / wir allein
Vergehen in der Angst. (Cath. II,169–176)
___
___
___Die ersten drei Verse, sie gelten der zuendegehenden Nacht, sind im Halbzeilenstil
___gehalten, jeder alexandrinische Halbvers formuliert einen vollständigen Satz; mit
___der anschließenden Beschreibung des Sonnenaufgangs herrscht dann für drei Verse
___Zeilenstil. So tragen Syntax und Alexandriner gemeinsam der Steigerung im Fort___schritt von der Nacht zum Tag Rechnung; Satzbau und Versform entwerfen in ihrer
___Kooperation das optimistische Bild eines natürlichen ordo, in dem eine Heilung des
___Verletzten, des bloß Halben in der freudevollen Harmonie eines vollgültigen Ganzen
___zu erwarten steht.
Solche Hoffnung indes widerrufen die nachfolgenden nurmehr eineinhalb Ver___
___se: Der siebte Vers fällt zunächst in den Halbzeilenstil zurück, um solche problema___tische Nicht-Ganzheit mit dem zweiten Halbvers noch zu unterbieten: »Wir aber /
___wir allein | Vergehen in der Angst.« Erstmals in jener Passage schließt mit einem
___Vers kein vollständiger Satz, denn das hierfür notwendige finite Verb gehört durch
___hartes Enjambement erst dem Folgevers an. Das »Wir« der Gefangenen ist derart
___selbst als grammatisches Subjekt handlungsunfähig, darf in ›seinem‹ Halbvers nicht
___einmal, wie doch eingangs die Nacht, ›vergehen‹; so steht es außerhalb des vorher
___umrissenen lichten natürlichen Weltgefüges – eben »allein«. Eine Alleinstellung,
___die ihren verstechnisch performativen Ausdruck in einem Enjambement findet, das
___sich im Versvortrag gerade nicht (bzw. nur gewaltsam) überbrücken läßt: Mit dem
___zäsuranalogen pausierten Jambus am Ende des Alexandriners verhallt dessen
___Schlußwort »allein« tatsächlich ›allein‹ in der wortlosen Leere der anschließenden
___Stille. Auf diese Weise befinden sich Catharina und ihre Jungfrauen gerade auch
___metrisch-akustisch konkret in hoffnungsloser Isolation außerhalb jenes ordo, dem
___der Alexandriner vorher das Wort redet – um nun auch das Jenseits solcher Ord___nung (un-)hörbar werden zu lassen.60
___
___
___60 Ein ausgesprochen konsequentes Verfahren insofern, als jener schönen Weltordnung, die sich
___in der Klimax des Sonnenaufgangs spiegelt, zugleich eine Bewegung des Niedergangs eingeschrie-
_____
754 | II.10 Systematische Aspekte
3. Nehmen wir die Möglichkeit der Bedeutungszuweisung an die markante
___
___ Zweigeteiltheit des Alexandriners, die sich offenkundig keineswegs darauf be___ schränkt, ›alles unter die Regel des Gegensatzes zu stellen‹, genauer in den Blick.
___ Das bedeutet tatsächlich, genau hinzusehen und bei der Untersuchung verstechni___ scher Phänomene auch den potentiellen Aussagegehalt des Schriftbilds einzubezie___ hen – etwa im Fall von
___
Des HErren Abendmahl.
___
___
Der HErr ist selber Brodt / soll Brodt sein Leib nicht seyn?
___
Er ist der Weinstock selbst. Sein Blutt ist freilich Wein. (Ep. III,I,37)
___
___ Infolge des Zeilenumbruchs, jenes versus, dessen Wendung Verse typographisch
___ markant von Prosa abhebt, kommen die ersten und zweiten Halbverse der Alexan___ driner jeweils untereinander zu stehen – wodurch ein doppelter Chiasmus sichtbar
___ wird: Die vorderen Halbverse verschränken »selber Brodt« und »Weinstock selbst«,
___ die hinteren »Brodt […] Leib« und »Blutt […] Wein«. Solche Figur der Überkreuzstel___ lung verweist auf den Opfertod Christi;61 das ist, zugegeben, wenig aufregend, aber
___ darin liegt ja auch noch nicht die verstechnische Pointe des Epigramms. Für sie ist
___ entscheidend, daß der Alexandriner als gleichmäßig zweigeteilter Vers dazu genutzt
___ wird, solche Passionssymbolik gleichberechtigt zu doppeln und den Alexandriner
___ derart zum Vehikel, gewissermaßen sogar, soweit dies möglich ist, zum Vollzug lu___ therischer Abendmahlsauffassung werden zu lassen, die der erste Vers rhetorisch in
___ Frage stellt.
___
Die ersten Halbverse rekurrieren auf zwei Herrenworte, »Jch bin das Brot des
___ Lebens« (Joh 6,48) und »JCh bin der Weinstock« (Joh 15,5), so daß in jenem ersten
___ Chiasmus Jesus »selber« sich »selbst« im Bild von Brot und Wein als Opfer am Kreuz
___ entwirft. Im zweiten, ›späteren‹ Halbverspaar agiert Jesus nicht mehr ›selbst‹ – und
___ dennoch gelingt poetisch-verstechnisch die Wiederholung seiner Opfertat, indem
___ mit dem Neben- und Untereinander von »Brodt« und »Leib« sowie »Blutt« und
___ »Wein« das Kreuz eines weiteren Chiasmus sich jener früheren Figur gleichartig
___ beigesellt. Hierin dürfte eine Art lutherischer Abendmahlsfeier mit poetischen Mit___ teln zu sehen sein: Indem verstechnischer Artistik mit jenem Alexandrinerpaar die
___
___
___
___ ben ist: Vom Himmel (»Diane«, »Wagen«, »Sternen Heer’«) über den Horizont (»die […] Sonn er___ wacht«) und erdnahen Wind (»die […] Lufft spillt durch die […] Wälder«) hin zum Boden (»[d]er […]
___ Taw erquickt […] die […] Felder«).
61 Eine zeitgenössisch wohl gängige Allegorese: »Chiasmus; est figura decussata, wie ein ¬.
___
Creutz.« Grosses vollständiges UNJVERSAL LEXJCON Aller Wissenschafften und Künste, Welche
___ bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. […] Fünffter
___ Band, C–Ch. Halle und Leipzig, Verlegts Johann Heinrich Zedler. Anno 1733, Sp. 2109 s.v. ›Chias___ mus‹.
_____
II.10.11 Verstechnik (Alexandriner, vers
vers commun)
commun) | 755
___Wiederholung der Erlösungstat Jesu im Zeichen des Abendmahls gelingt, wider___spricht das Epigramm der calvinistischen Auffassung, die die Einmaligkeit des
___Selbstopfers Christi betont und die Realpräsenz von Leib und Blut Jesu in der
___Abendmahls- als einer bloßen Gedächtnisfeier bestreitet.62
___
4. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der recht triviale passionssymbolische Ein___satz des Chiasmus zur gediegenen verstechnischen Pointe zu avancieren vermag,
___bietet das Epigramm
___
Uber die Geburt des HErren.
___
___
Der Mensch / das Spill der Zeit verlohr die Ewigkeit /
___
Und Gott der ewig ist / nimt an sich Fleisch und Zeit /
___
Und trägt der63 Zeitten Fluch / den Tod / daß er das Leben
___
Dem was hir sterblich ist auf ewig könne geben.
___
So wird / was noch bißher auf diser Welt gefehlt
Die Zeitt und ewigkeit! O Wunderding! vermählt. (Ep. III,I,8)
___
___
___Beim »Epigramma«, so Martin Opitz, ist die »spitzfindigkeit gleichsam seine seele
___vnd gestallt; die sonderlich an dem ende erscheinet / das allezeit anders als wir ver___hoffet hetten gefallen soll: in welchem die spitzfindigkeit vornemlich bestehet«.64
___Aber inwiefern besteht hier die Pointe darin, daß der Schluß anders als erwartet
___ausfällt? Zunächst wohl dahingehend, daß er sich inhaltlich nur mäßig pointiert
___ausnimmt – denn die Feststellung, daß mit der Inkarnation Gottes in Jesus Christus,
___um durch dessen Kreuzestod die Menschheit zum ewigen Leben zu erlösen, sich Zeit
___und Ewigkeit verbinden, dürfte kaum überraschen. Doch in bloßer Erwartungsent___täuschung erschöpft sich die gattungstypische Spitzfindigkeit dieses Epigramms
___nicht; sie liegt zuletzt vielmehr darin, daß sein Schluß die poetologisch geordneten
___Gattungsverhältnisse auf den Kopf stellt und wir es mit einer artistischen Pointe zu
___tun haben.
Auf der Ebene der Textfaktur nämlich ist es schlicht falsch, daß die Vermählung
___
___von »Zeitt und ewigkeit« im Zeichen des Kreuzes »bißher auf diser Welt gefehlt«
___hat – wurde sie doch sogleich mit den beiden Eingangsversen vollzogen: durch die
___chiastische Verteilung von ›Zeit‹ und ›Ewigkeit‹ auf die vier Halbverse der zwei
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___62 Es sei dahingestellt, ob das Epigramm sich mit dem Nebeneinander von »Brodt […] Leib« und
___»Blutt […] Wein« womöglich auch gegen den Katholizismus richtet, der zwar die Annahme der
___Realpräsenz Christi im Abendmahl mit dem Luthertum gemein hat, jedoch die Transsubstantiation
___von Brot und Wein in und nicht ›nur‹ deren Konsubstantiation mit Leib und Blut Christi lehrt. Vielleicht aber ist das Epigramm durchaus als lutherisch-katholisches poetisches Simultaneum lesbar.
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63 Verbessert aus »den« nach der Breslauer Ausgabe (Anm. 48), S. 4. Zum Verhältnis der beiden
___Ausgaben vgl. ↗ Kap. II.4.5 zum Weicher-Stein, S. 153, Anm. 1.
___64 Opitz (Anm. 1), fol. Dijv.
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756 | II.10 Systematische Aspekte
___ Alexandriner. Mithin besteht die unerwartete Spitzfindigkeit des Epigrammschlus___ ses darin, daß das dort emphatisch verkündete, angeblich noch unerhörte »Wun___ derding« als textuelles Ereignis bereits maximal weit zurückliegt, schon anfangs in
___ den ersten zwei Versen als verstechnische Pointe stattgefunden hat.
Nicht nur dieses Epigramm steht mit seinem Schluß wieder am Anfang; mit
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___ meinen Ausführungen zu barocker bzw. Gryphiusscher Verstechnik verhält es sich
___ ähnlich: Zum einen bin ich mit diesem, meinem letzten Beispiel wieder bei dem
___ spielerischen verstechnischen Witz angelangt, von dem meine exemplarischen In___ terpretationsskizzen ihren Ausgang genommen haben. Und zum andern markieren
___ meine Darlegungen hoffentlich dahingehend einen Anfang, daß sie ein vielverspre___ chendes Untersuchungsfeld ausweisen konnten – wollen sie doch den schönen
___ Verdacht nahelegen, daß wohl fast allüberall in opitzianischer Dichtung eine ge___ konnt gehandhabte Verstechnik das Ihrige dazu beizutragen sucht, daß »die Teut___ schen Wörter auffs eigentlichste die Eigenschafft jhrer Dinge außdeuten«.65
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___ 65 Schottel (Anm. 56), S. 645.
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