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201 3
I
I
-
Mediengeschichte
nach Friedrich l(ittler
-
Friedrich Balke, Bernhard Siegert
loseph Vogl ( Hrsg.)
ARCHIV
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und Forschung
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INTERNATIONALES KOLLEC
FUR KUTTURTECHNIKFORSCHUNC
UND MTDIENPHILOSOPHIE
Diese Publikation entstand in Zusammenarbeit mit dem lnternationalen Kotleg
I
für Kultur-
technikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-lJniversität Weimar und wurde mit
Mitteln
des Bundesministeriums
für Eildung und Forschung unterstützt.
lmpressum
Archiv für Mediengeschichte
- Mediengeschichte nach Friedrich Kittler
Herausgegeben von Friedrich Balke, Bernhard Siegert und Joseph Vogl
Redaktion: Ru pert Caderer
Redaktionsassistenz: Cabriele Schal ler
Unter Mitarbeit von: Anika Höppner, Mark Potocnik, Antonia von
Schöni
ng,
Bu
rkhardt Wolf
Cestaltung: Anya Leidel, KONO
Satz: Anne-Christi n Jyrch
@ 2013 Wilhelm Fink Verlag, München
I SB N : 97 8 -3 -770 5 - 5705 -9
005
REPARATTONEN (1984)
011
Eine originale Syntax. Psychoanalyse, Diskursanalyse
u nd Wissenschaftsgesch ichte
027
Schatten der B ü rokratie.
Ein mediales Phänomen des Rechts
045
I
I
lussi Parikka
Creen Media Times: Friedrich Kittler
and Ecological Media History
o57
.
Nawata Yüji
Weltliteratur im Zeitalter technischer Medien:
August Strindberg, Yamamoto Yüzö und Arthur Schnitzler
o67
Werner Hamacher
Henning Schmidgen
Rupert Caderer
Marian Kaiser
Arndt Niebisch
Nina Wiedemeyer
,Rausch- und Regeltechnik<. Counter Culture als Electronic 079
Revolution bei William S. Burroughs und Friedrich A. Kittler
War in the Age of lntelligent Machines:
ein Buch nach Kittler?
095
Friedrich Kittlers Bücher.
105
Die Montage stammt nicht vom Autor
Christina Vagt
drich Kittler
xeph Vogl
tia von
Came
Postalische Prozessarchitekturen. Die Organisation
des Postdienstes im Medium der Architektur
Moritz Hiller
Diskurs/Signal(l). Literaturarchive nach Friedrich
Maren Haffke
vurde mit
Fiktion und Simulation. Buckminster Fullers World
Susanne lany
Matthias Koch, Christian Köhler
ir Kultur-
-
Editorial
Das kulturtechnische Apriori Friedrich
Kittler
Kittlers
Spielt Charlie Parker in den Wind oder mit ihm?
Bemerkun gen zu Friedrich Kittlers Verständn is von )azz
und >Literatur<
117
135
147
157
167
Matthias l(och, Christian l(öhler
Das kulturtechnische Apriori
Friedrich l(ittlers
u
Es
geht nur um einen Schritt zurück hinter die etablierten
Kopplungen.ol
Einleitendes
Cegenwärtig findet ein Typus von Diskurs- und Medienanalysen großen
Anklang, der sich anrechnen kann, solch ,unscheinbare Wissenstechniken
wie Zettelkästen, Schreibwerkzeuge und Schreibmaschinen, Diskursoperatoren wie Anführungszeichen, Medien der Pädagogik wie die Schiefertafel,
schwer einzuordnende Einzelmedien wie den Phonographen oder Disziplinierungen wie die Alphabetisierung als den Crund kultureller Errungenschaften oder geistes- und kulturgeschichtlicher Umbrüche<2 identifiziertzu
haben. Dieser Ansatz ist als Kulturtechnikforschung mittlerweile institutionalisierter Bestandteil der deutschen Medien- und Kulturwissenschaften
geworden. lm obigen Zitat aus einer der programmatischen Schriften dieser
Forschung wird deutlich, wie prägend Kittler für diesen war und ist.3
Nun sei aber eine derartige >Archäologie kultureller Diskurse<< -
-, >später Serne mit dem Begriff des Medienoder Technodeterminismus verunglimpftuo worden. U nd tatsächlich, kaum
eine Kritik wurde wohl öfter gegen ihn vorgebracht als die des Medienbzw. Technikdeterminismus. Auch wenn sich mittlerweile herumgesprochen
hat, dass diesem Etikett eine verkürzte Rezeption zugrunde liegt, scheint
es doch angebracht, noch einmal genauer hinzusehen, wie es bei Kittler gerade vor dem Hintergrund des Höhenflugs der ANT - um das Verhältnis der Akteure zueinander bestellt ist. Es scheint angebracht, dies aus der
wie Kittler sie eben betrieb
Warte der aktuellen Kulturtechnikforschung vorzunehmen. Denn Kittler
war selbstverständlich nicht nur theoretisch in ihr präsent, sondern auch
faktisch im Rahmen seiner Arbeit als stellvertretender Direktor des Berliner
Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik. Nach Erhard Schüttpelz war Kittler sogar dafür verantwortlich, den Begriff der Kulturtechnik aus der Pädagogik übernommen zu haben. Dort bezeichnete er die Techniken Rechnen,
Schreiben und Lesen, deren Beherrschung als Voraussetzung dafür gesehen
wurde, odaß ein I ndividuum am gesamtgesellschaftlichen Kommunikationsprozeß teilhaben kanno.5 Kulturtechniken waren somit die Techniken, die es
erlauben, Kultur zu produzieren und an Kultur teilzuhaben. Diesen Begriff
(1
) Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900. Vorwort, in: Zeitschrift für Medien-
wissenschaft,
N r.
6, 201 2, s.
11
7-1 26,
h
ier S.
1 1 7.
(2) Lorenz Engell/Bernhard Siegert, Editorial, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 1, 2010, 5. 5-9, hier 5. 5f.
(3) Vgt.auch Jussi Parikka, Afterword: Cultural Techniques and Media Studies, in: Theory,
Culture & Society, vorveröffentlicht am 12.8.2013 als DOI: 10.1177/0263276413501206,
5.6. (wird im November 2013 in Heft 30.5 erscheinen).
(4) Engell und Siegert, Editorial, wie Anm.2, 5.6.
(5) Angela Fritz/Alexandra Suess, Lesen. Die Bedeutung der Kulturtechnik
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Matthias Koch, Christian Köhler
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Lesen
für
den
hat Kittler in den späten 197Oer bis frühen 1980erJahren in Freiburg kennengelernt und dann in den 90er Jahren mit nach Berlin gebracht, wo er
grundlegend geworden ist für zumindest die Berliner Strömung der Kulturtechnikforschungf Wie sich durch das erst vor kurzem posthum veröffentlichte Vorwort plausibilisieren lässt, istAufschreibesysteme 1800/1900 das
Werk Kittlers, das in diesem Theorietransfer die Stelle des Übergangs des
Kulturtechnikbegriffs in den Mediendiskurs markiert.
Das kulturtechnische Apriori
Dies zeigt sich bereits in dessen eröffnenden Worten, mit denen Kittler
den titeltragenden Begriff kommentiert: >Das Wort Aufschreibesystem [...J
scheint ein gutes Wort, um Literaturgeschichte auf einer elementaren Ebene
zu treiben - als Geschichte der Praktiken, deren Zusammenspiel eine Schriftkultur ausmacht. Thema sind also einfach Sprechen und Hören, Schreiben
und Lesen.oT Um dies unmittelbar an die Cegenwart rückzubinden: Kittler formuliert mit diesem Fokus auf die Praktiken das Projekt der heutigen
Kulturtechnikforschung, >vor die Reifizierung von Apparaten und Substantiven zurückzugreifen, um einen Zugriff auf die Verben und Operationen zu
ermöglichen, aus denen die Substantive und Artefakte erst hervorgegangen sind<.8 Wie lässt sich dieser Rückgriff auf die vorgängigen empirischen
Praxen -zumal aus historischer Perspektive - jedoch bewerkstelligen? Dem
Versuch, lokale >Situationen des Nachrichtenffusses zu rekonstruieren<,e
begegnet Kittler zuerst mit der Annahme, dass ,Zeichen und Reden [...] eine
über die lndividuen hinausgehende Vernetzung [bildenJ, die angeschrieben
werden kann,,.10 Daraus leitet sich der Anspruch ab, ,rzu ihrer Zeit effektiv
gewesene Funktionszusammenhänge und bei aller unumgänglichen Standardisierung einen Raum nachweisbarer lnteraktionen,,ll zu identifizieren.
sind somit gerade die standardisierten, regelkreishaften >Entsprechungen
[...] zwischen den Schreib- und Lesetechniken gleichzeitiger Literaturen und
Wissenschaftenol2 zu einem gegebenen Zeitpunkt, die einen Rückschluss
Es
auf ,jene Buchstäblichkeiten, jene Lese- und Schreibsituationen<13 und auf
> lndividuen als Funktionsträgerola eines historischen Aufschreibesystems
erlauben sollen. Die von Kittler durchgeführte systematische Vergleichung
zweier synchroner Zustände führt denn auch den Beweis, dass anhand von
>Daten und Belegelnl [...J diesseits von allem Meinen [ein] Umbruch in den
Kulturtechniken selber,.,l5 die das Sprechen, Hören, Schreiben und Lesen
organisieren, gezeigt werden kann.
(6) So weiß zumindest Bernard Dionysius Geoghegan zu berichten: Bernard Dionysius
Geoghegan,
in:
After Kittler: On the Cultural Techniques of Recent German Media Theory,
& Society, vorveröffentlicht am 12.8.2013 als DOI:10.1 177/
Theory, Culture
0263276413501206, 5.11f. (wird im November 2013 in Heft 3A.5 erscheinen).
(7) Kittler, Vorwort, wie Anm.1,5.117.
(8) Erhard Schüttpelz, Die medienanthropologische
Kehre der Kulturtechniken, in: Lorenz
Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Archiv für Mediengeschichte 6. Kulturgeschichte
als Mediengeschichte (oder vice versa?), Weimar 2006, 5.87-110, hier 5.87.
(9) Kittler, Vorwort, wie Anm.1, 5.123.
(10) Ebenda,5.124.
(11) Ebenda,5.118.
(12) Ebenda,5.123.
(13) Ebenda,5.124.
(14) Ebenda,5.119.
(15) Ebenda, 5.119.
Das kulturtechnische
Apriori Friedrich Kittlers
Eine Relektüre auf dem aktuellen Stand der Diskussion - jedoch ohne dem
Text theoretische Gewalt anzutun - kann Kittlers vermeintliches >technisches Apriori<,,16 von dem dann doch mancherorts noch die Rede ist,
als kulturtechnisches Apriori sichtbar machen. Es sind eben nicht einfach
apparative Medientechniken, die ,fernsteuer[n], was gesagt werden kann
und was nicht<, Kittler ersetzt nicht einfach >Foucaults historisches Apriori [...] durch ein eher unhistorisches Apriorio und am wenigsten geht es
darum, >die Medien zu einer neuen transzendentalen Kategorie zu erheben
und eine Metaphysik der Medien zu betreibenoi7 Canz im Cegenteil: (Kultur-)Techniken, Wissenschaften, Kunstformen sind in einem >co-determining network of historical relations<18 miteinander verwoben, das keine seiner Komponenten als transzendental oder ahistorisch setzt, sondern erst in
ihrer Verschaltung die Möglichkeit ihrer gegenseitigen Stabilisierung bietet.
ln den Blick rücken nämlich vielmehr die >zyklischen Übersetzungsketten
zwischen Zeichen, Personen und Dingenole bzw. die >Ketten von Operationen [, die] den Medienbegriffen, die aus ihnen generiert werden, vorausgeheno.2o lnsofern deren uVorgängigkeit zugleich eine ständige mediale
,Übersetzungs<-Leistung zwischen den involvierten Entitäten erfordertrr,2'
wird ersichtlich, dass ein solches Apriori - im Sinne des hier stark gerafften Mantras der gegenwärtigen Kulturtechnikforschung - nur vor dem Hintergrund von Heterogenität und Rekursivität adäquat zu verstehen ist. Keinesfalls handelt es sich also um eine chronologische oder transzendentale,
sondern in erster Linie um die heuristische Behauptung einer logischen Vor-
gängigkeit der Operationsketten, die in Aussicht stellt, einzelne Relationen von Elementen dingfest machen zu können. Für jede Untersuchung
von Kulturtechniken und auch für Kittlers Literaturgeschichte, die sich >als
Teil der Ceschichte von Kulturtechniken und Datenverarbeitungsmaschinen,.22 versteht, hat dies eine >Methode, die nach Maßgabe ihres Cegenstands vorgehtn,23 zur Konsequenz. Nötig wird also ein Blick in Kittlers
Werkzeugkasten.
Schalten und koppeln
Bekanntlich soll Aufschreibesysteme eine Aktualisierung von Michel Foucaults Archäologie des Wissens darstellen. lnsofern versteht Kittler sein
eigenes Vorhaben als ein Update von Foucaults Verfahren der Diskursanalyse, der er es als Stärke anrechnet, >Systeme als Systeme, also von außen
und nicht bloß in interpretatorischer lmmanenzo2a beschreiben zu können.
(15) Knut Ebeling, Das technische Apriori, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/loseph Vogl
(Hg.), Archiv für Mediengeschichte6. Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice
versa?), Weimar 2005, 5.
11
-22.
(17) Knut Ebeling, Wilde Archäologienl. Theorien der materiellen Kultur, Berlin 2012,
5.71 3.
(18) Jussi Parikka, What is Media Archaeology?, Cambridge 2012,5.69.
(19) Harun Maye, Was ist eine Kulturtechnik?, in: Zeitschrift lür Medien- und Kulturforschung, Nr. 1, 2010, 5. 121-135, hier 5.121.
(20) Bernhard Siegert, Kulturtechnik, in: Harun Maye/Leander Scholz (Hg.), Einführung in
die Kulturwissenschaft, Paderborn 2010, 5.95-11 8, hier S. 97f.
) Erhard Schüttpelz, Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in
Operationsketten, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours
Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, 5.234-261, hier 5.237.
(21
(22) Kittler, Vorwort, wie Anm.1,5.126.
(23) Ebenda,5.117.
(24) Kittler, Friedrich A., Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995, 5.519.
Matthias Koch, Christian Köhler
Dies war ganz im Sinne von Kittlers Cegenprogramm zur Hermeneutik, das
schließlich nicht zuletzt von französischer Theorie inspiriert war, die allerdings nicht mehr auf dem "erreichten technischen Stand( war: >Archä-
ologien der cegenwart müssen auch Datenspeicherung, -übertragung
und -berechnung in technischen Medien zur Kenntnis nehmen.o25 Das
Werkzeug hierfür war die lnformationstheorie, die nicht weniger versprach,
als 'eine so allgemeine Theorie lzu sein], daß man nicht zu sagen braucht,
welche Art von Zeichen betrachtet werden<.26 Dieser Allgemeingültigkeitsanspruch, verbunden mit der methodischen Möglichkeit, von der Bedeutung - im emphatischen sinn - absehen zu können, macht sie zu einem
geeigneten Werkzeug, um die Positivität von nicht nur - aber eben auch Schrift sowie digitalen Medien zu erfassen: >Jede Bibliothek und jeder Briefwechsel bezeugen, daß Speicherung und Übertragung im uralten Medium
Alphabet dieselbe technische Positivität wie bei Computern auch haben.uzz
Durch die lnformationstheorie wird aber nicht nur die formale Beschreibbarkeit von Kommunikationsnetzen ermöglicht, sondern auch deren Vergleichbarkeit: 'Quelle, sender, Kanal, Empfänger und senke von Datenströmen,
also Shannons fünf Funktionen, können von unterschiedlichen lnstanzen
besetzt oder auch offengelassen sein: von Männern oder Frauen, Rhetoren
oder Dichtern, Philosophen oder Psychoanalytikern, Universitäten oder
Technischen Hochschulen. Wo die lnterpretation mit Konstanten arbeitet,
führt der Systemvergleich Variabeln ein.<<2s Kittlers Ansatz - zumindest in
Aufschreibesysteme - ist auf jeden Fall technizistisch, aber, wie die Aufzählung zeigt, noch nicht einmal technikzentriert.2e Was aber die Klärung der
Frage nach einem Technikapriorismus bzw. -determinismus angeht, bedarf
es eines Blicks auf den Text und seine temporale Struktur.
Auch hier ist die Tradition, in der Kittler steht, augenfällig: Auf
der Suche nach dem historischen Apriori von Diskursformationen unterzog
Foucault diese einer scheinbar synchronisierenden Beschreibung, die >die
zeitlichen Serien, die sich darin manifestieren können, außer Acht flässtl;
sie sucht allgemeine Regeln, die gleichermaßen auf dieselbe Weise zu allen
Zeitpunkten gelten.<30 Der Chronologie, so der Eindruck, bedarf sie >einzig
um an den Crenzen der Positivitäten zwei Klammerungspunkte anzubringen(.31 Diese Form der Beschreibung übernimmt Kittler, indem er >Momentaufnahmenn der >allgemeine[nJ Alphabetisierung um 1800 und [der] technischeln] Datenspeicherung um 1900<32 kontrastiert und die Quellen, die in
einem Zeitfenster von *15 )ahren um die gewählte Jahrhundertgrenze liegen, als synchrones System behandelt.
Foucault ist aber sehr daran gelegen, klarzustellen, dass es sich
bei dieser Synchronizität nur um eine scheinbare handelt. Richtig sei, dass
die Archäologie des Wissens ein Historizitätsmodell ablehnt, das einer strikt
linearen Zeitlichkeit folgt, >worin die Ereignisse aufeinanderfolgen, trotz
(25) Ebenda.
(26) Warren Weaver, Ein aktueller Beitrag zur mathematischen Theorie der Kommunikation,
in: Claude E.Shannon/Warren Weaver (Hg.), Mathematische Grundlagen der lnformationstheorie, München 1976, 5.11-39, hier 5.36.
) Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 24, 5. 520.
(27
(28)
Ebenda.
(251 yg1. Hartmut Winkler, Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ,anthropologische, Mediengeschichtsschreibung,
tu
r,
Wei
mar 1 999,
5. 221
in: Claus Pias (Hg.), dreizehn vortraege zur medienkul-
-238.
(30) Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.1981 , 5.236.
(31
)
Ebenda.
(32) Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 24, 5. 520.
Das kulturtechnische
Apriori Friedrich Kittlers
Auswirkungen des Zusammenfalls und der Überlagerung<.33 Das heißt aber
nicht, dass es darum geht, die >Zeit erstarren zu lassen und an die Stelle
ihres Ereignisflusses Korrelationen zu setzen, die eine unbewegliche Figur
zeichnen<, sondern den >zeitlichen Vektoren der Ableitungo nachzugehen,
die aber nicht zwingend die der linearen physikalischen Zeit sind: >ln anderen Worten, die archäologische Verzweigung der Formationsregeln ist kein
einförmig gleichzeitiger Raster: es gibt Beziehungen, Verzweigungen und
Ableitungen, die zeitlich neutral sind; es gibt andere, die eine bestimmte
zeitliche Richtung implizieren.u3a Auf diese Weise geht nun auch Kittler vor.
Es zeigt sich, dass die lnformationstheorie nicht bloß den Beschreibungsrahmen für eine technizistische Mediengeschichte der Literatur bietet, son-
dern das Kommunikationsmodell mit seinen Funktionen von der Quelle
bis zum Nachrichtenziel gleichzeitig auch das Strukturmodell für die Textform von Aufschreibesysteme darstellt: ulch habe im Grunde die Geschichte
von Mutter, Dichtung, Philosophie um 1800 linearisiert: Die Mutter generiert die Masse an Wörtern, die Dichtung nimmt sie auf und macht sie zu
Werken und die Philosophie liest den gesamten Output dieser Produktion
nochmals als Theorie. lch malte das Canze wie eine Schaltung an mir an, es
lag dann halt auch nahe, dass plötzlich technische Metaphern oder Wörter wie >Rückkopplungen. im Vokabular auftauchen. Es sollten aber nicht
bloß technische Metaphern sein, sondern ich versuchte die grossen Blöcke
des Textes auf diese Weise zu strukturieren.<35 Was Kittler hier am Beispiel
des Aufschreibesystems 1800 ausführt, ist das spezifische Niveau der Abfol-
gen, durch die das Kommunikationsnetz des Proto-Deutschlands um 1800
ausgezeichnet ist. Statt auf die lnhalte von Texten zu blicken, geht es Kittler - wie oben beschrieben - um ihre Cegebenheit als Teil eines Nachrichtennetzes. Und als solcher haben Texte, >wie sich pragmalinguistisch zeigen
lässt, grundsätzlich Ränder, die sie in einen Nachrichtenfluss eingliedern<.35
Das Buch der Dichtung um 1800, als >erstels] Medium im modernen Sinne<<,37 nimmt jedoch keine Form an, die materiell groß von der des
Buches der Literatur um 1900 unterschieden wäre. Wie wäre dann aber die
Unterschiedlichkeit beider Aufschreibesysteme zu erklären, wenn Kittler ein
medientechnisches Apriori annähme? Die Antwort ist, dass der entscheidende Unterschied in den Kulturtechniken zu finden ist, die gewährleisten,
dass Dichtung und Philosophie - um beim Beispiel des Aufschreibesystems
1800 zu bleiben - in Austausch treten können, d.h.die >das lnterface zum
anderen System<38 bereitstellen. Es sind also nicht die Substantive >Schrift<
und >Buchu, sondern die Verben >Schreibeno und >>Lesen<<,3e die sich in einer
Weise zeigen, dass auf der einen Seite die Produktion von Dichtern als reiner Ausdruck von Seele geschrieben, aber auf der anderen Seite auch gelesen werden kann. Um 1800 ist es vor allem die Lautiermethode, die dies
ermöglicht und die obendrein noch die Rolle der Mutter als Erziehende
voraussetzt und damit hervorbringt. So weit, so linear: vom Sender zum
Empfängerr von der Mutter zur Philosophie.
(33) Foucault, Archäologie, wie in Anm.30,5.240.
(34) Ebenda,5.239.
(35) Friedrich Kittler, Platz der Luftbrücke. Ein Gespräch mit Stefan Banz, Nürnberg 2011,
s.62.
(35) Kittler, Vorwort, wie Anm.1, 5.121
(37
) Kittler,
.
Aufschreibesysteme, wie Anm. 24, 5. 1 47.
(38) Kittler, Vorwort, wie Anm.1,5.121.
(39) Vgl.Thomas Macho, Zeit und Zahl. Kalender- und Zeitrechnung als Kulturtechniken,
in: Horst Eredekamp/Sybille Krämer (Hg.), Bild-schrift-Zahl, München 2003, 5.179-192;
Cornelia Vismann, Kulturtechnik und Souveränität, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, Nr. 1, 201 0, S. 1 71 -1 81.
Matthias Koch, Christian Köhler
I
Aber bei Kulturtechniken sollte es doch um lnteraktionen zwischen Artefakten und Menschen gehen, >>die durch lineare Abläufe (Sender/Empfänger) nicht mehr hinreichend beschrieben werdencao können. Doch auch die
Aufschreibesysteme gehen nicht in der einen großen linearisierten Schaltung auf, sondern sind von Rückkopplungsschleifen durchsetzt, die ihre Elemente netzwerkförmig miteinander verbinden. Zuerst einmal sind auch Kittlers Kulturtechniken rekursiv:a1 >Das Schreiben über die Erlernung von Lesen
und Schreiben ist eine große Rückkopplungsschleife.oaz Aber auch die restlichen Elemente sind durch eine Reihe von positiven und negativen Rückkopplungen miteinander in Beziehung gesetzt, deren Effekte das Aufschreibesystem überhaupt erst stabilisieren: >An die Stelle der Gegenkopplung,
die den Output der Pädagogik wieder in ihren Ursprung verschlingt, treten Mitkopplungen zwischen Autoren und Lesern und damit eine programmierte Zirkulation, die andere als Die Mutter angeht.oa3 Diese Kopplungen,
ebenso wie die von Leserinnen und Dichternr von Dichtung und philosophie, werden allesamt durch die für das Aufschreibesystem 18OO spezifische
Ausprägung der Kulturtechniken schreiben und Lesen ermöglicht.
Genauso wie die Regeln von Foucaults historischem Apriori sich
nicht von außen den Elementen einer Diskursformation auferlegen, sondern >sie genau in das einbezogen [sind], was sie verbinden,,,oo ist damit
auch Kittlers Apriori - eben als kulturtechnisches - in das Netzwerk einbezogen, das es verbindet. und erst in dieser Verbindung, dieser ,Vorgän-
gigkeit der Operationsketten vor allen beteiligten Menschen, Dingen und
Medien<,a5 bringt es die an einem Aufschreibesystem beteiligten lnstanzen
hervor: >1985 nannte das noch niemand >Akteur-Netzwerk<, aber mit dem
literarisch-psychoanalytisch geborgten Begriff >Aufschreibesysteme< ging
es durchaus darum: Apparate, Sozialtechniken, kulturelle und staatliche
lnstanzen, Methoden und Vorschriften, ceschlechter, Diskurse und wissenschaften, auch Dinge wie Fibeln oder walzen wurden zu Agenten von
etwas.<<46
Knoten/l(etten
>This approach [der Ansatz der Kulturtechnikforschung; M. K., C. K.] is
important for recognition of the mixed nature of the media cultural assemblages: when scrutinized more closely they appear to be meshes of human
and non-human actors - an important dimension that brings a bit of Latour
into Cerman media theory.<a7 Der kulturtechnische Ansatz bringt Latour oder allgemeiner gesprochen: die Akteur-Netzwerk-Theorie - in die deutsche Medientheorie. Und tatsächlich wird von Vertretern der Kulturtechnikforschung diese wiederholt in die Nähe der ANT gestelltJB Die Relektüre
von Kittlers Aufschreibesysteme als Beitrag zur Kulturtechnikforschung
(40) Maye, Kulturtechnik, wie Anm.19,5.135.
G1
) Vgl.ebenda,5.127;
Schüttpelz, Medienanthropologische Kehre, wie Anm.g.
(42) Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 24, 5. 68.
(43) Ebenda,5.88.
(44) Foucault, Archäologie, wie in Anm.30,5.185.
(45) Maye, Kulturtechnik, wie Anm.19,5.132.
(46) ulrike Bergermann, Kittler und Gender. Zum Asyndeton, in: Tumult40,2o12, s.g3-90,
hier 5.85.
(47) Parikka, Cultural Techniques, wie Anm.3,5.5.
G8) vgl. Engell/siegert, Editorial, wie Anm.2, s.7; Maye, Kulturtechnik, wie Anm. 19, 5.127;
Schüttpelz, Medienanthropologische Kehre, wie Anm. g.
Das kulturtechnische
Apriori Friedrich Kittlers
unterstützt diesen Eindruck. Wie zuvor beschrieben, verteilt sich auch
dort die Agentur in Netzwerken auf gleichermaßen menschliche wie nichtmenschliche Akteure. Weitere Ahnlichkeiten wären etwa in der Zuweisung
von sozialen Rollen zu finden. ln der ANT firmiert dies unter dem Begriff
der rÜbersetzung,,, der den Prozess bezeichnet, in dem Akteure in ein
Netzwerk integriert werden, indem sie in Rollen übersetzt werdenie Eine
ähnliche Art der Zuweisung, wenn auch nicht als Mechanismus theoretisch
ausformuliert, existiert auch innerhalb der Aufschreibesysteme, wenn z.B.
Frauen in das Netzwerk eingebunden werden, indem ihnen die Rolle von
Müttern oder Leserinnen zugeordnet wird.
Auch wenn solche Überschneidungen plausibel zu machen sind,
gibt es selbstverständlich eine weitaus größere Reihe von Unterscheidungen. Eine solche Differenz zwischen ANT und den Positionen einer konsequent verstandenen Kulturtechnikforschung ist der Fokus der Beobachtung. Der Fokus der ANT, ihr Name impliziert dies schon, liegt auf den
Akteuren, d.h.den Knoten im Netzwerk, wohingegen sich die Kulturtechnikforschung eher auf die Kanten, die die Knoten verbinden, konzentrieren müsste. Unsere These ist, dass Kittler in Aufschreibesysteme eine solche
Perspektive verfolgt.
Als Ausgangspunkt der Betrachtung von soziotechnischer Netzwerkbildung wählt die ANT immer den Akteur: )Mit einem Slogan der ANT
könnte man sagen, daß man >den Akteuren folgen, muß, das heißt versuchen
sollte, ihren manchmal wilden lnnovationen hinterherzukommen [...].u50 Als
Akteur gilt dabei >jede Entität, die fähig ist, Texte, Menschen, Nicht-Menschen und Celd zu assoziieren. Dementsprechend ist all das eine Entität,
was mehr oder weniger erfolgreich eine von anderen Entitäten mit eigener
Ceschichte, ldentität und Wechselbeziehungen gefüllte Welt definiert und
aufbaut.<51 Voraussetzung dafür ist allerdings, dass ein Akteur zuvor ausreichend stabilisiert wurde, damit ihm der >Name[.] eines Cegenstandes oder
einer Substanz angehängt< werden kann, sodass er Träger von Handlungen
sein kann: >Diese Substanz agiert als Subjekt für alle Prädikate; sie wird
also zum Ursprung von Handlungen.<52 Diese Stabilität ist selbstverständlich prekär, da der Akteur selbst Produkt von Übersetzungen ist, die wiederum von anderen Akteuren ausgehen. Daraus ergibt sich, dass Netzwerke
permanenter Arbeit bedürfen, um stabil gehalten zu werden. Es findet ein
andauernder Austausch innerhalb der wechselseitigen Relationierungen des
Netzwerkes statt, in denen >menschliche wie nicht-menschliche Akteure
sowohl als Agenturen wie auch als Adressaten von Aktivitäten verändernder
Wirksamkeit<53 fungieren. Diese >Aktivitäten verändernder Wirksamkeit<
G9) Vgl.Bruno Latour,
soci
ety,
Cam
b
ridge
1
9
Science in Action. How to
87, 5. 1 09
follow
scientists and engineers through
ff.
(50) Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt/M. 201 0, S. 28.
(51 ) Michel Callon, Techno-ökonomische Netzwerke und lrreversibilität, in: Andröa Belliger/David L Krieger (Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-NetzwerkTheorie, Bielefeld 2006, 5.309-342, hier 5.319.
(52) Bruno Latour, Technik ist stabilisierte Gesellschaft, in: Andräa Belliger/David l.Krieger
(Hg.), ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006,
5.369-397, hier 5.388.
(53) lngo Schulz-Schaeffer, Technik in heterogener Assoziation. Vier Konzeptionen der
gesellschaftlichen Wirksamkeit von Technik im Werk Latours, in: Georg Kneer/Markus
Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des
Sozi al
e
n,
Fran kfu
rt/M.
2OO
I,
S.
1
0 8-1 52,
Matthias Koch, Christian Köhler
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ier S.
11
8.
werden ausgeübt, indem die Akteure >Vermittler<5a wie Texte, technische
Artefakte, menschliche Wesen oder Celd in Umlauf bringen. Michel Callon
betont, dass es >Dinge sind, die Akteure gegenseitig in Beziehung zueinander setzen,..55 Damit ergibt sich als dreigliedrige Cestalt des Übersetzungsprozesses: >Sie umfasst einen Übersetzer, das Übersetzte und ein Medium,
worin diese Übersetzung inskribiert
ist<55
* drei Substantive, aber keine
Verben.
l-
Wenn es aber, wie oben bereits zitiert, das erklärte Ziel der Kulturtechnikforschung ist, >vor die Reifizierung von Apparaten und Substantiven zurückzugreifen, um einen Tugriff auf die Verben und Operationen zu
ermöglichen, aus denen die Substantive und Artefakte erst hervorgegangen sind<,57 ist damit ein deutlicher Unterschied zur ANT benannt. Übernehmen sollte man die Sichtweise, in der >kulturelle Artefakte und Akteure
nicht mehr als ontologische Entitäten, die auch unabhängig von Netzwerken und Operationsketten existieren würden<,58 erscheinen. Cleichwohl
wären diese Operationsketten, will man auf die Verben zugreifen, nicht von
ihren akteurhaften Aufhängungenr sondern von ihren operationalen Verkettungen aus zu denken. Dieser Anspruch einer Untersuchung der Übersetzungsprozesse selbst bzw. ihrer Vorgängigkeit vor den Entitäten wird durchaus vorgebracht, weil gerade sie es seien, die
"die gegenseitige Definition der
Akteure in die Vermittler inskribieren,,.5e Entsprechend sei der Netzwerkbegriff dazu geeignet, solche "Übersetzungsströme zu bezeichnen<50 und den
> Fabrikationsmechanismus<61 eines Netzwerks anhand einer Beschreibung
u[a]lle[r] Entitäten und Beziehungen zwischen diesen Entitäten<62 zu rekonstruieren. Leitend sei dabei die Absicht, Kontinuität zwischen dem Sozialen
und jenem schriftlichen Bericht herzustellen, der es erneut versammeltJ3 All
dem steht vor allem eines entgegen: Der fraktale Charakter der ANT, der es
erlaubt, auch Akteure wieder in Netzwerke aus Akteuren aufzulösen,5a kann
zwischen den Knoten der Netzwerke immer wieder nur weitere Knoten entdecken - die Kanten bleiben, trotz der Unterstellung einer Vorgängigkeit
der Operationen zwischen den Knoten, unbestimmt und in ihrer Wirkung
auf das Verhältnis zwischen den Knoten neutral. Dieser Verdacht lässt sich
anhand einer systematischen Kritik am Vorgängigkeitsverständnis der ANT
erhärten, die uns einen Anschluss an Kittler erlauben wird: >Die Heuristik
einer Priorität der Operationsketten vor ihren Elementen (ihre Behandlung
als ,Effekte( von Verkettungen) kann nur funktionieren, solange man auch
eine Priorität der Operationsketten vor den einzelnen Operationen beher-
zigt. [...J Operationsketten sind mit anderen Operationsketten verbunden und verflochten, daher müssen sie mit ihnen koordiniert werden. t...1
Die von der Akteur-Netzwerk-Theorie zu Recht praktizierte Heuristik einer
(54) Auch Latours Terminologie, die weiter zwischen >Mittlern<, die Einfluss auf die über"Zwischengliedern< trennt, bei denen lnput und Output sich entspre-
setzung nehmen, und
chen, verändert nichts an der folgenden Argumentation. Vgl. Latour, Eine neue Soziologie, wie
Anm.50,5.66-75.
(55) Callon, Techno-ökonomische Netzwerke, wie Anm.51 , 5.311.
(56) Ebenda,5.323.
(57) Schüttpelz, Medienanthropologische Kehre, wie Anm. 8, 5. 87.
(58) Maye, Kulturtechnik, wie Anm.19,5.127.
(59) Callon, Technoökonomische Netzwerke, wie Anm.51 , 5.336.
(50) Latour, Eine neue Soziologie, wie Anm.50,5.229.
(61) Ebenda,5.57.
(62)Callon, Techno-ökonomische Netzwerke, wie Anm.51 , S.329.
(63) Vgl. Latour, Eine neue Soziologie, wie Anm.50, 5.223.
(54) Vgl.Andrda Belliger/David LKrieger, Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, in:
dies. (Hg.), ANThology, Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld
2006, 5.13-50, hier 5.43.
Das kulturtechnische
Apriori Friedrich Kittlers
Priorität der Operationsketten (vor ihren Elementen und Einzeloperationen) ist nur sinnvoll, wenn sie in eine Priorität der Koordination von Operationsketten (vor ihren künstlich isolierten Operationsketten) eingebettet
ist.<65 Entscheidend ist also nicht nur, dass das Prinzip der Verkettung den
einzelnen Aktionen zugrunde liegt - bis hierhin reicht der Netzwerkbegriff
durchaus, wenngleich er die logische Dimension zugunsten eines Realismus
der Beschreibung vernachlässigt. Fundamental ist hier vielmehr das koordinatorische Verhältnis zwischen den Operationsketten, das sich, so unsere
VermutunB, an den Kanten der Akteure zueinander zeigt. Die in diesem
Zusammenhang diagnostizierte >Schwierigkeit lder ANT], die praktische
Koordination der Operationsketten zu veranschaulichen, ohne sie mit einer
Reduktionsleistung der Operationsverkettung zu identifizierenr.,66 betrifft
exakt unsere Kritik an der Konzentration auf den Akteur: Er repräsentiert,
auch noch in vervielfachter Form, jene bereits erfolgte, handlungsmächtige
Reduktionsleistung. Als solcher setzt et zwar Vermittler in Umlauf, tritt in
Aushandlungs- und Übersetzungsprozesse ein und stabilisiert bei Erfolg eine
Operationskette. Die Beschreibung der Akteure, auch in möglichst hoher
Zahl, entspricht jedoch nicht der Frage, wie die Operationsketten in ihrer
gegenseitigen, rekursiven Koordination zueinander stehen. Diese Funktion
ist, ähnlich Foucaults und Kittlers Aprioris, in die Zusammenhänge eingebettet, die sie koordiniert. Sie zeigt sich dort, wo heterogene Praktiken
anhand diskursiver Positivitäten aufeinander transparent gemacht und in
ihrer Verschaltung aufgezeigt werden können; in jener Weise also, wie Kittler es am Verhältnis pädagogischer, poetischer und philosophischer Praktiken des Sprechens, Hörens, Lesens und Schreibens im Aufschreibesystem
von 1800 demonstriert, in dem ,,alle am Verstehen beteiligten Nachrichzusammengeschaltet sind: Pädagogen erschaffen Die Mutter - Dichter halluzinieren Stimmen zwischen den Teilen und erschaffen Die Frau (im Singular), überdie sie
schreiben - Frauen (im Plural) lesen Dichter und erschaffen das Liebesobjekt
Autor - Dichter rekrutieren Leserinnen und Autoren - alphabetisierte SchüIer schreiben Aufsätze über Dichtung - Philosophen interpretieren Dichter
und werden selbst philosophische Literaten. All diese lnstanzen und >mitgekoppelteIn] Schaltkreise<58 adressieren sich fortlaufend gegenseitig und
finden ihre diskursive Mitte in der Dichtung: >Poetische Texte sind eben
darin auf dem technologischen Epochenstand, daß sie wie keine sonst die
alphabetisierten Körper ,anschreiben' und ausnutzen. Sie operieren auf der
Ansprechschwelle selber [...].out
tenkanäle
<<67
Mütter lautieren und machen Kinder sprechen
Matthias Koch und Christian Köhler forschen an der lJniversität Paderborn.
(65) Schüttpelz, Der Punkt des Archimedes, wie Anm.21, 5.246f.
(55) Ebenda,5.241.
(67) Kittler, Aufschreibesysteme, wie Anm. 24, 5. 30.
(68) Ebenda,5.68.
(69) Ebenda,5.150.
Matthias Koch, Christian Köhler