Academia.eduAcademia.edu

Apperzeption (2010)

Published in: Gander, H.-H. (ed.) (2010). Husserl-Lexikon. Darmstadt: WBG. Apperzeption A II. Die A. sind nicht nur beseelte Lebewesen, sondern auch selbst zur Beseelung, das heißt zur Sinngebung befähigte Wesen. Husserl nennt dementsprechend sowohl den Leib als auch geistig bedeutsame Gegenstände „psychophysische Objekte“ (Psychophysik). Das bedeutet, dass nicht nur der Leib als beseelter Körper gilt, sondern auch Gegenstände – insbesondere menschliche Kunst-, Kultur- und Gebrauchsgegenstände – können mit Sinn „beseelt“ sein: „Und jedes menschliche Erzeugnis in der sichtbaren Wirklichkeit, als Erzeugnis des beseelten Leibes, ist beseelt […]. Und dann weiter ein Werk, ein Bild, jeder Pinselstrich drückt eine Tätigkeit aus und ist charakterisiert als Tat.“ (XIII, 69) Dennoch ist diese „Beseelung“, die den menschlichen Werken eigen ist, vom „Seelischen“ des animal zu unterscheiden, auch wenn beide Phänomene in engem Zusammenhang stehen: „Natürlich ist hier ein wesentlicher Unterschied zwischen der Beseelung, die als solcher Sinn menschlichen Werken […] anhaftet, und dem Seelischen des animal selbst, in dem der Ursprung aller solcher Sinngebung liegt.“ (XIII, 68) Miriam Fischer Literatur Cabestan, P.: La constitution de l’animal dans les Ideen, in: Alter No. 3 (1995), 39–79. Depraz, N.: Y a-t-il une animalité transcendentale?, in: Alter No. 3 (1995), 81–83. Apperzeption Anschauung siehe Erfüllung und Originarität Antizipation siehe Erfahrung und Apperzeption Anzeichen siehe Zeichen Apodiktizität siehe Evidenz Apperzeption ! I. Der in der Philosophie seit Leibniz und später auch in der Psychologie (z. B. bei Wundt) zentrale Begriff der Apperzeption (A.) ist bei Husserl weitgehend gleichbedeutend mit Auffassung (Deutung, Interpretation), also demjenigen mentalen Prozess, durch den sich aus sinnlich gegebenem Empfindungsmaterial ein intentionaler Gegenstand konstituiert bzw. erlebte Inhalte gegenständlichen Sinn erhalten (s. XIX/1, 198 f.; Noesis/ Noema). A. ist eine Sinnesübertragung, die vor aller bewussten Verfügung geschieht, wenn man etwas als etwas wahrnimmt, z. B. ein scherenartiges Ding als Werkzeug zum Schneiden. Im Vergleich zur Perzeption liegt in der A. ein Sinnüberschuss, der im Erlebnis selbst begründet und als Aktcharakter dafür verantwortlich ist, dass aus der diffusen Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungsmöglichkeiten distinkte Einheiten hervortreten (s. XIX/1, 399). Die apperzeptive Funktion spielt sowohl bei der inneren wie bei der äußeren Wahrnehmung eine Rolle. Ebenso wie ich empfundene Töne unwillkürlich z. B. als Töne eines Leierkastens deute und damit eben einen Leierkasten höre, so „nehme ich apperzipierend meine psychischen Erscheinungen wahr, die ,mich‘ durchschauernde Seligkeit, den Kummer im Herzen usw.“ (XIX/2, 762). Die A. macht dabei als Aufmerksamkeit und Interesse auch die Selbstbezüglichkeit in der Zuwendung des egos zu seinen Gegenständlichkeiten aus: Sie erst macht ein betrachtetes Objekt zu meinem Objekt und das wahrnehmende Durchlaufen von Kinästhesen im Bezug auf dieses Objekt zu meinem Durchlaufen (s. EU, 90). 33 A Appräsentation II. In seiner Phänomenologie der Intersubjektivität thematisiert Husserl die „analogisierende Apperzeption“ (Appräsentation) als „mittelbare Intentionalität der Fremderfahrung“ (I, 138), als Prozess, durch den der erscheinende Körper des Anderen von mir als Leib, d. h. als Träger von seelischen Zuständen, aufgefasst wird. Durch apperzeptive Übertragung von meinem Leib und den leiblichen Ähnlichkeiten des Anderen her gewinnt der wahrgenommene Körper die Qualität eines alter ego. Diese Sinnübertragung vollzieht sich auf Grundlage der „Paarungsassoziation“, die eine spezielle Form der Assoziation, dem Grundprinzip der genetischen Konstitution, darstellt. Husserls genetische Betrachtungen haben zum Ziel, die Geschichte des Bewusstseins im Sinne einer „Geschichte aller möglichen Apperzeptionen“ (XI, 339) durchsichtig zu machen. Die Bildung von A. unterliegt hierbei den „allgemeinen Wesensgesetzmäßigkeiten der passiven Genesis“ (XVII, 320), durch die bereits auf vorgegenständlicher Ebene assoziative Einheitsbildung stattfindet. III. Aus methodologischer Sicht ist für Husserl die Unterscheidung von empirischer und reiner (transzendentaler) A. von Bedeutung. Während er in den LU das Bewusstsein noch in natürlich-empirischer A. analysiert, als in den objektiven Raum und die objektive Zeit eingebetteter Teil des menschlichen Wesens, versucht er ab den Ideen I eine reine A.-Weise des Bewusstseins vermöge der transzendentalphänomenologischen Reduktion zu entwickeln. Insofern die natürliche Auffassungsweise der objektiven Welt durch die Reduktion eingeklammert wird, um zur „phänomenologisch reinen Erfahrung“ (XVII, 290) vorzudringen, hat dieser methodische Schritt stets etwas Unnatürliches (s. VIII, 120). Aufgabe der transzendentalen Reduktion ist es, auf die transzendentale Geschichtlichkeit, die letztfundierende Schicht der Subjektivität, „aus der letztlich die Sinnes- und Geltungsleistung dieser A. [d. i. der Selbst- wie auch der Fremd-A.] herstammt“ (VI, 212 f.), zurückzufragen. Gefragt wird nach der Bildung des ego als „letzter Ichpol“ von habituellen Erwerben, die sich auf das Selbst (Selbst-A.) und auf die dingliche Welt beziehen. Demnach hängt die Art und Weise, wie ich die Dinge und mich selbst apperzipiere, von den Sedimentierungen ab, die sich im Verlauf des Erwerbs einer „inneren Tradition“ (XI, 10) eingelagert haben. Thiemo Breyer Literatur Aguirre, A.: Genetische Phänomenologie und Reduktion. Zur Letztbegründung der Wissenschaft aus absoluter Skepsis im Denken E. Husserls. Den Haag 1970, 119–141, 170 –173. Dwyer, D. J.: Husserl’s appropriation of the psychological concepts of apperception and attention, in: Husserl Studies 23/2 (2007), 83–118. Holenstein, E.: Phänomenologie der Assoziation. Zur Struktur und Funktion eines Grundprinzips der passiven Genesis bei E. Husserl. Den Haag 1972, 144 –152. Appräsentation 34 Appräsentation ! Appräsentation (A.) meint das mittelbare Darstellen bzw. Auffassen von etwas, das selbst nicht direkt wahrgenommen ist, sondern am gegenwärtig Erscheinenden „mitpräsentiert“ (IV, 162) wird. Allgemein gilt dies (1) für die Dingwahrnehmung, die Wahrnehmung von „Gegenständen der äußeren Sinnlichkeit“ (I, 134), sowie (2) für höherstufige Evidenzerfahrungen im Bereich der Intersubjektivität (s. I, §§ 50 –56), die nicht auf Dingwahrnehmung reduzierbar ist. I. Was sich in der Dingwahrnehmung appräsentativ anzeigt, ist zunächst das Mitgegebensein der verborgenen Seite(n) eines gegenwärtigen Dinges, dessen aktuelle Erscheinung stets transzendiert wird, d. h. noematisch „mehr“ (XVI, 43 f.) enthält, als unmittelbar sinnlich erscheinen kann (s. III/1, § 44; Noesis/Noema). Schaue ich auf die Vorderseite eines Schrankes, die sich mir „wirklich, im Original“, in „Urpräsenz“ (IV, 162) zeigt, so sehe ich zwar nur die