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Ostrom, Elinor (2010)

Schlüsselwerke der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung

Der Klimawandel als globales oder planetares Problem ist als Ergebnis des Zusammenspiels von vielen einzelnen Handlungen diverser Akteurinnen auf unterschiedlichen Ebenen zu sehen-und ihm ist damit auch unter Einbeziehung all dieser Ebenen und möglicher Interaktionen zu begegnen. Dies ist die zentrale Einsicht der USamerikanischen Politikwissenschaftlerin und Institutionenökonomin Elinor Ostrom, die ihrer Aufforderung zugrunde liegt, den Polyzentrismus für die Bewältigung globaler Probleme ins Auge zu nehmen. Den Begriff des Polyzentrischen entlehnt Ostrom der älteren Forschung zur Governance von Metropolregionen um ihren Kollegen und Ehemann Vincent Ostrom (Ostrom et al. 1961). In dieser Tradition versteht sie unter Polyzentrismus eine Vielfalt an Entscheidungsebenen, die miteinander verbunden, aber formal unabhängig voneinander sind, also nicht hierarchisch oder zentral kontrolliert und gesteuert werden. Bereits in ihrem Klassiker zur Verfassung der Allmende verweist Elinor Ostrom (1999) mit den von ihr identifizierten Gestaltungsprinzipien für selbstorganisierte Managementsysteme von Common-Pool-Ressourcen auf die Verschachtelung von Governanceregeln auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene. Diese Vorarbeiten dienen als Gerüst für die Erörterung polyzentrischer Klimagovernance, der sich Ostrom gegen Ende ihrer Schaffensund Lebenszeit widmet. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass zu globalen Problemen nicht nur internationale Organisationen beitragen, sondern auch staatliche oder kommunale Politiken sowie Handlungen von Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch von privaten Einzelpersonen, Familien und Haushalten. Gleichzeitig verursachen Maßnahmen gegen den Klimawandel in höchst unterschiedlichem Maße Kosten und stiften ebenso ungleich verteilt Nutzen. Ostrom weist in diesem nur sieben Seiten umfassenden Aufsatz sowie in verwandten Publikationen (Ostrom 2012, 2014) daher Analysen und Politiken zurück, welche die Lösung globa

Ostrom, Elinor (2010) Polycentric Systems for Coping with Collective Action and Global Environmental Change Philipp Degens Erschienen in: Global Environmental Change 20(4): 550-557. Der Klimawandel als globales oder planetares Problem ist als Ergebnis des Zusammenspiels von vielen einzelnen Handlungen diverser Akteurinnen auf unterschiedlichen Ebenen zu sehen – und ihm ist damit auch unter Einbeziehung all dieser Ebenen und möglicher Interaktionen zu begegnen. Dies ist die zentrale Einsicht der USamerikanischen Politikwissenschaftlerin und Institutionenökonomin Elinor Ostrom, die ihrer Aufforderung zugrunde liegt, den Polyzentrismus für die Bewältigung globaler Probleme ins Auge zu nehmen. Den Begriff des Polyzentrischen entlehnt Ostrom der älteren Forschung zur Governance von Metropolregionen um ihren Kollegen und Ehemann Vincent Ostrom (Ostrom et al. 1961). In dieser Tradition versteht sie unter Polyzentrismus eine Vielfalt an Entscheidungsebenen, die miteinander verbunden, aber formal unabhängig voneinander sind, also nicht hierarchisch oder zentral kontrolliert und gesteuert werden. Bereits in ihrem Klassiker zur Verfassung der Allmende verweist Elinor Ostrom (1999) mit den von ihr identifizierten Gestaltungsprinzipien für selbstorganisierte Managementsysteme von Common-Pool-Ressourcen auf die Verschachtelung von Governanceregeln auf lokaler, regionaler und überregionaler Ebene. Diese Vorarbeiten dienen als Gerüst für die Erörterung polyzentrischer Klimagovernance, der sich Ostrom gegen Ende ihrer Schaffensund Lebenszeit widmet. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass zu globalen Problemen nicht nur internationale Organisationen beitragen, sondern auch staatliche oder kommunale Politiken sowie Handlungen von Unternehmen, zivilgesellschaftlichen Organisationen und auch von privaten Einzelpersonen, Familien und Haushalten. Gleichzeitig verursachen Maßnahmen gegen den Klimawandel in höchst unterschiedlichem Maße Kosten und stiften ebenso ungleich verteilt Nutzen. Ostrom weist in diesem nur sieben Seiten umfassenden Aufsatz sowie in verwandten Publikationen (Ostrom 2012, 2014) daher Analysen und Politiken zurück, welche die Lösung globa- 180 Philipp Degens ler Probleme ausschließlich auf der globalen Ebene, mittels internationaler Abkommen und Organisationen, verorten. Ostroms kurzer Aufsatz adressiert ein breites Publikum aus Wissenschaft und Politik und enthält zwischen Einleitung und Schluss fünf Abschnitte, welche jeweils eine theoretische Fragestellung erörtern, die zusammengenommen die Eignung des polyzentrischen Ansatzes darlegen sollen. Er enthält analytische, deskriptive und präskriptive Elemente (vgl. Jordan et al. 2018a). Erstens argumentiert Ostrom in analytischer Hinsicht, dass ein polyzentrischer Ansatz die Funktionsweise und die Problemlagen der vielschichtigen Klimagovernance besser erklären könne. Hierzu hinterfragt Ostrom aus ihrer institutionenökonomischen Perspektive die Adäquanz herkömmlicher rationalistischer Theorien kollektiven Handelns (551). Die Problematik kollektiven Handelns (vgl. klassisch Olson 1965) bezieht sich auf Situationen, in denen einzelne Akteurinnen unabhängig voneinander über gemeinschaftliche Handlungen entscheiden, deren Kosten sie individuell tragen, deren Vorteile aber allen zugutekommen. Jedes Individuum hat daher Anreize, seine individuellen, kurzfristigen Nutzenkalküle (und nicht kollektive, langfristige) zum entscheidenden Kriterium des Handelns zu machen. Dies erzeugt das Trittbrettfahrerproblem: Es mangelt an Anreizen, zum kollektiven Handeln beizutragen, dessen Erfolg gerade nicht vom Beitrag einer Einzelnen abhängt. Eine Lösung des Problems bieten starke hierarchische und zentrale Steuerung und Kontrolle. Bezogen auf die Klimakrise lässt sich mit diesem herkömmlichen Theoriegerüst vermuten, dass freiwillige Maßnahmen individueller oder kollektiver Akteure zur Emissionsreduktion nicht zu erwarten sind. Ostrom kritisiert diesen theoretischen Ansatz unter anderem aufgrund seiner mangelnden empirischen Evidenz und verweist hierbei auf die tatsächlich vorfindbaren, unzähligen Fälle kooperativen kollektiven Handelns (vgl. Ostrom 1999; Agrawal 2003). Zudem argumentiert sie (552), dass sowohl die Kosten als auch der Nutzen von Emissionsreduktionen auf unterschiedlichen Ebenen höchst ungleich verteilt sind, also nicht schlicht auf globaler Ebene zu verorten sind. Die Anreizstruktur in der globalen Klimagovernance entspricht also nicht dem klassischen Dilemma kollektiven Handelns. Daher ist nach Ostrom ein polyzentrischer Ansatz konzeptionell besser geeignet, Klimapolitik zu analysieren. Mit diesem werden die unterschiedlichen Ebenen der Steuerung (vom Lokalen bis zum Globalen) sowie ihre Verschachtelungen ins Zentrum gerückt. Ostrom zufolge ermöglichen oder begünstigen polyzentrische Systeme Innovationen und organisationales Lernen sowie die Herausbildung von Vertrauenswürdigkeit und Kooperation. Zweitens zeigt sie in deskriptiver Hinsicht, dass Antworten auf Klimawandel und Treibhausgasemissionen bereits auf ganz unterschiedlichen Ebenen gegeben werden und somit nicht stets global sind. Ostrom illustriert die bereits bestehenden polyzentrischen Ansätze anhand kurzer Verweise auf verschiedene Politiken auf kommunaler, bundesstaatlicher, (national-)staatlicher und suprastaatlicher Ebene. Hier (553f.) verweist sie konkret auf Ansätze der Emissionsreduktionen unterhalb der globalen Ebene – in Städten oder Städtepartnerschaften wie der Cities Climate Leadership Group, in einzelnen Bundestaaten der USA, etwa im Global Warming Solutions Act Kaliforniens von 2006, oder im Europäischen Emissionshandel. Ostrom möchte zeigen, dass solche Initiativen einerseits freiwillig unterhalb bzw. jenseits globaler Klimaprotokolle entstehen und ku- Ostrom (2010): Polycentric Systems mulative Wirkungen entfalten können; und andererseits, dass sie auch Organisationen und Akteure umfassen, die für die Umsetzung globaler Übereinkünfte verantwortlich wären. Globale Klimagovernance enthält also bereits polyzentrische Elemente. Drittens fordert sie, ohne ein konkretes Programm vorzustellen, eine stärkere Hinwendung zum Polyzentrismus auch bei der Ausgestaltung spezifischer Politiken als Antwort auf den globalen Klimawandel und weiterer ökologischer Probleme. Dabei geht es ihr darum, die polyzentrische Konstellation mit Blick auf das Klima anzuerkennen und auf ihre spezifischen Charakteristiken hin zu untersuchen. Sie konstatiert, dass polyzentrische Klimagovernance Probleme birgt, und verweist etwa auf mögliche Inkonsistenzen, Trittbrettfahrerprobleme oder Leakage-Effekte (554f.). Letztere umfassen beispielsweise, dass eine Verteuerung von Emissionszertifikaten etwa innerhalb der EU nicht-intendierte Effekte wie die Abwanderung von Produktion zur Folge haben könnte, dass also nicht Emissionen reduziert, sondern lediglich in Gebiete außerhalb der EU verlagert werden. Insgesamt betont Ostrom zwar, dass selbstorganisierte, polyzentrische Systeme in politischer Hinsicht nicht als alleiniges Heilmittel anzusehen seien oder gar fungieren können. Jedoch seien sie für die Suche nach funktionsfähigen Lösungsmöglichkeiten für die Klimakrise unabdingbar. Die Kategorie der Polyzentrizität hat in der sozialwissenschaftlichen Klimaforschung in der Dekade seit Erscheinen des Aufsatzes an Bedeutung gewonnen. Der Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, den Ostrom im Jahr 2009 erhalten hat, hat sich sicherlich positiv auf die Rezeption ihrer Arbeiten ausgewirkt. Jedenfalls hat sich die sozialwissenschaftliche Klimaforschung von dem im Aufsatz beklagten Fokus auf globale Politik gelöst. Mit Blick auf die tatsächliche Governancelandschaft – also in deskriptiver Hinsicht, aber letztlich auch als Bestätigung ihrer normativen Forderung nach polyzentrischen Ansätzen in der Politik – zeigt sich seit dem Erscheinen des Textes eine Bedeutungszunahme der Polyzentrizität, wenn auch in unterschiedlichem Maße in verschiedenen Feldern (Jordan et al. 2018b: 361f.). Ostrom schreibt in einer Zeit, in der die mit der Politik globaler Klimagovernance seit dem Kyoto-Protokoll verbundenen Hoffnungen sich immer stärker als gewagt herausstellen (vgl. → Rayner). Nicht zuletzt die erfolglosen Verhandlungen in Kopenhagen 2009 zeugen von den fortlaufenden Enttäuschungen globaler Klimagovernance. Das Paris-Abkommen von 2015 weist demgegenüber verstärkt Ansätze von Polyzentrizität auf, insofern es auf einem Bottom-Up-Ansatz basiert, demgemäß die Vertragsstaaten eigenständige Pläne zur Klimapolitik vorlegen und auch substaatliche wie private Akteure einbezogen werden und sich Selbstverpflichtungen auferlegen sollen (Aykut et al. 2017). Ansätze, die stärker auf bilateraler Ebene (oder multilateraler Ebene unter Einbeziehung einiger weniger Beteiligter) angesiedelt sind, sollen dem Dilemma mangelnden Vertrauens zwischen den einzelnen Akteurinnen begegnen (Cole 2015). Denn wechselseitiges Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit der beteiligten Akteure scheinen notwendig, damit politische Schritte zur Begrenzung von CO2 -Emissionen unternommen werden. Bei internationalen Vereinigungen und insbesondere bei der Umsetzung der gemeinsam gemachten Versprechen scheint es daran aber zu mangeln. In analytischer Hinsicht verspricht ein polyzentrischer Ansatz, die Vielschichtigkeit der Klimapolitiken mit den sich teils ergänzenden, teils aber auch widersprechenden 181 182 Philipp Degens Instrumenten auf unterschiedlichen Ebenen deutlich besser in den Blick nehmen zu können als eine Analyse, die ausschließlich auf globaler Ebene verbleibt. Relevant erscheint dies beispielsweise dann, wenn ein Mix aus Instrumenten und sich überlappenden Maßnahmen Gefahr läuft, nicht effizient oder gar nicht wirksam zu sein, wie aus umweltökonomischer Perspektive etwa im Falle von Inkongruenzen des EU-Emissionshandels und des Kohleausstiegs in Deutschlands argumentiert wird – schließlich bestimmt nicht das Stilllegen von Kohlekraftwerken, sondern die Emissionsberechtigungen über den gesamten CO2 -Ausstoß (Perino et al. 2020). Grundlegend zeugen Forschungsfelder wie die Erdsystemgovernance (Burch et al. 2019) von der hohen Relevanz der Polyzentrizität, auf welche Elinor Ostrom im Bereich der Klimaforschung mit ihrer Intervention aufmerksam gemacht hat. Gleichwohl hat sich die Zuversicht Ostroms, was Klimapolitiken von unten betrifft, zumindest in großen Teilen als zu optimistisch erwiesen (vgl. Jordan et al. 2018a). Dieser Befund gilt mit Blick auf die von ihr tendenziell überschätzten Erfolgsaussichten dezentraler, polyzentrischer Governance, Emissionen zu reduzieren. Auch thematisiert sie nur ansatzweise die Problematiken der Zuschreibung individualisierter Verantwortlichkeit für strukturelle Probleme. Klimagovernance ist polyzentrisch, aber damit eben auch auf globaler Ebene relevant. Literaturverzeichnis Agrawal, Arun (2003): Sustainable Governance of Common-pool Resources: Context, Methods, and Politics. Annual Review of Anthropology 32: 243-262. https://doi.org/ 10.1146/annurev.anthro.32.061002.093112 Aykut, Stefan C., Foyer, Jean & Edouard Morena (Hg.) (2017): Globalizing the Climate: COP21 and the Climatisation of Global Debates. Routledge: New York. Burch, Sarah, Gupta, Aarti, Inoue, Cristina Y.A., Kalfagianni, Agni, Persson, Åsa, Gerlak, Andrea K., Ishii, Atsushi, Patterson, James, Pickering, Jonathan, Scobie, Michelle et al. (2019): New Directions in Earth System Governance Research. Earth System Governance 1: 100006. https://doi.org/10.1016/j.esg.2019.100006 Cole, Daniel H. (2015): Advantages of a Polycentric Approach to Climate Change Policy. Nature Climate Change 5(2): 114-118. https://doi.org/10.1038/nclimate2490 Jordan, Andrew, Huitema, Dave, van Asselt, Harro & Johanna Forster (Hg.) (2018a): Governing Climate Change: Polycentricity in Action? Cambridge: Cambridge University Press. Jordan, Andrew, Huitema, Dave, van Asselt, Harro & Johanna Forster (2018b): Governing Climate Change: The Promise and Limits of Polycentric Governance. S. 359-383 in: Dies. (Hg.), Governing Climate Change: Polycentricity in Action? Cambridge: Cambridge University Press. Olson, Mancur L. (1965): Die Logik kollektiven Handelns. Tübingen: Mohr Siebeck. Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Allmende: jenseits von Staat und Markt. Tübingen: Mohr Siebeck. Ostrom (2010): Polycentric Systems Ostrom, Elinor (2012): Nested Externalities and Polycentric Institutions: Must We Wait for Global Solutions to Climate Change before Taking Actions at Other Scales? Economic Theory 49: 353-369. https://doi.org/10.1007/s00199-010-0558-6 Ostrom, Elinor (2014): A Polycentric Approach for Coping with Climate Change. Annals of Economics and Finance 15: 97-134. https://doi.org/10.1596/1813-9450-5095 Ostrom, Vincent, Tiebout, Charles & Robert Warren (1961): The Organization of Government in Metropolitan Areas: A Theoretical Inquiry. American Political Science Review 55(4): 831-842. https://doi.org/10.1017/S0003055400125973 Perino, Grischa, Ritz, Robert A. & Arthur van Benthem (2020): Overlapping Climate Policies. NBER working paper 25643. 183