Grenzen und Migration – eine dynamische Interdependenz
Bastian A. Vollmer und Franck Düvell
Abstract
Zwischen Grenzen und Migration besteht eine Wechselbeziehung voller Ambivalenzen und
humanitärer Implikationen. Definitorisch sind sowohl politisch-territoriale Grenzen wie auch
internationale Migration politische Konstruktionen des Staates und seiner Akteure. Ein kurzer
Überblick dieses Feldes zeigt dessen Komplexität und die dementsprechend große Diversität
an Forschungsansätzen und eine zunehmende Pluralität des Gegenstands Grenze im Feld
der Migration. Die Figur und Perspektive der Migranten und Migrantinnen wird bei diesem
Überblick in den Vordergrund gestellt. Forschungsdesiderata sind einerseits die vernachlässigte
empirische Erforschung der tatsächlichen Abläufe an Grenzen sowie andererseits die Berücksichtigung einer Perspektive in der Diskursforschung.
Schlagwörter
Migration, Grenzen, (Un-)Sicherheit, Staatlichkeit, Politik
1. Einleitung
Grenzen im Feld der Migration1 waren und sind mit steigender Signifikanz eine politische
Konstruktion. Im vorliegenden Beitrag wird der Zusammenhang von Migration und Grenzen
unter besonderer Berücksichtigung der politischen Dimension dargestellt. Der Artikel wird in
einem ersten Teil dazu einen kurzen Überblick dieses Feldes bieten, wobei die Komplexität
und expandierende Diversität an Forschungsansätzen und in einem zweiten Teil die Pluralität
des Gegenstands Grenze im Feld der Migration gezeigt wird. Es wird in diesem Beitrag die
Figur und Perspektive der Migranten und Migrantinnen in den Vordergrund gestellt und Forschungsdesiderata der empirischen Erforschung der tatsächlichen Abläufe an Grenzen benannt.
Ein letzter Teil wird anschließend Perspektiven der Diskursforschung vorstellen und weiterführende Fragestellungen vorschlagen.
In der Vormoderne wurden Grenzen durch natürliche Barrieren wie Flüsse, Meere oder Gebirgszüge sowie landschaftliche Markierungen wie Gräben, Bäume oder Feldreihen, aber auch
durch menschgemachte Frontlinien zwischen zwei Armeen sowie architektonische Konstruktionen wie den Limes oder die Chinesische Mauer repräsentiert (vgl. Waldron 1990; Heather
2010). Demgegenüber haben Abgrenzungen im Zeitalter der Emergenz von Nationalstaaten,
Staatlichkeit, Staatsbürgertum und territorialen Ansprüchen eine andere Qualität und Bedeutung erhalten (vgl. Herrmann/Vasilache in diesem Band). Gleichzeitig wanderten und veränderten sich Grenzen seit der Erfindung und Entwicklung des Staates (vgl. Anderson 1997). Staaten
gingen unter, Staatsterritorien wurden verkleinert oder erweitert und mit ihnen verschwanden
Grenzen oder wurden neue geschaffen. Manche Menschen, wie zum Beispiel in der heutigen
Westukraine, lebten, ohne ihren Lebensstandort zu verlassen, in mehreren verschiedenen Staaten.
Im Jahr 2017 wurden weltweit 1,2 Milliarden internationale Einreisen mit zumindest einer
Übernachtung verzeichnet, dies ist nahezu eine Verdoppelung seit 1997 (vgl. UNWTO 2016,
1 Migrantische Bewegungen inkludieren Fluchtbewegungen.
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Grenzen und Migration – eine dynamische Interdependenz
2018). Im selben Jahr wurden 258 Millionen internationale Migrantinnen und Migranten
registriert, eine Zunahme von 120 Millionen seit 1990, der Anteil von Migrantinnen und
Migranten an der Weltbevölkerung ist seit 1990 um 50 Prozent auf nunmehr 3,4 Prozent
angestiegen (vgl. UN 1997; UNDESA 2018). Darin enthalten sind 25,4 Millionen Flüchtlinge,
die in einem anderen Staat Schutz suchen, was ebenfalls nahezu eine Verdoppelung seit 1997
darstellt (vgl. UNHCR 1997, 2018). Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von irregulären
Migrantinnen und Migranten, in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts dürfte es sich um 20
bis 40 Millionen weltweit gehandelt haben (vgl. Düvell 2006) – dies hat sich seither nicht fundamental geändert. Während die absoluten Zahlen demnach seit Ende der 1990er-Jahre stark
angestiegen sind, bleiben sie aber proportional zur ebenfalls wachsenden Weltbevölkerung
etwas zurück, zudem zeigt sich der Anteil von Migrantinnen und Migranten sowie Flüchtlingen an internationalen Reisen wie auch an der Weltbevölkerung sehr gering und damit eher
als Ausnahmeerscheinung. Allerdings geben weltweit weitere 710 Millionen Menschen an,
immerhin 10 Prozent der Weltbevölkerung, migrieren zu wollen (vgl. Gallup 2017).
2. Migration als Gegenstand der Forschung
Nationalstaaten üben Souveränität über ihr Territorium aus und entwickeln Migrationspolitiken, Institutionen und Gesetze sowie Praktiken und Diskurse (vgl. Betts 2011), um das Verhalten von Menschen im Hinblick auf Auswanderung, Einwanderung, Rückkehr und Integration
vor dem Hintergrund nationaler wirtschaftlicher, demografischer und politischer Interessen zu
steuern (vgl. United Nations 2013). Demnach bestimmen sie über die Aufnahme und deren Bedingungen oder auch Abweisung von Bürgern und Bürgerinnen anderer Staaten. Dies spiegelt
sich u.a. in der Visapolitik oder der Tatsache wider, ob z.B. die Einreise ohne Visum möglich
ist oder ein Visum und damit eine Kontrolle erst bei oder bereits vor Einreise erforderlich
ist. Die Gesamtheit dieser Politiken, Praktiken und damit zusammenhängenden Diskurse kann
auch als Migrationsregime bezeichnet werden (vgl. Collinson 1993; siehe auch Krasner 1982).
Grenzen zwischen Nationalstaaten sind dabei nur ein Element von Migrationspolitik (vgl.
Vogel 2003), spielen aber eine entscheidende Rolle bei der Definition, Registrierung und
Kontrolle von Reisenden, Migrierenden und Flüchtenden. Für die meisten Reisenden ist eine
Grenze kaum mehr als eine Institution, an der man, wenn überhaupt, auf Aufforderung
von Grenzpolizist*innen bei der Aus- und/oder Einreise die Identitätsdokumente vorweist,
wodurch die Reise kurz aufgehalten wird. Ärgerlich wird es vor allem dann, wenn dies zu
längeren Wartezeiten führt oder man sogar zurückgehalten, abgewiesen und zurückgeschickt
wird. Im Sommer 2015 konnte man in Europa nicht nur die Grenzübertritte von über einer
Millionen Menschen beobachten, die keine Einreiseerlaubnis hatten, es kam sogar zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen einer besonderen Kategorie von Reisenden, Migrantinnen
und Migranten, oder genauer gesagt Flüchtlingen, die Einlass forderten, und Grenzschutztruppen, insbesondere in Mazedonien und Ungarn, die dies zu verhindern suchten (vgl. Düvell
2017). In diesem Zusammenhang macht die Menschenrechtsorganisation United for Intercultural Action (2018) darauf aufmerksam, dass entlang der Außengrenzen der Europäischen
Union regelmäßig Menschen bei dem Versuch, ohne die benötigten Papiere und Erlaubnisse
einzureisen, ihr Leben riskieren oder gar zu Tode kommen: 34.361 Opfer wurden zwischen
2009 und 2018 bekannt.
Internationale Migration ist ein gesellschaftliches und politisches Konstrukt. Es ist die politische Organisation der Menschheit in Nationalstaaten, die Definition von geografischem Raum
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als souveränem Raum, die Zuteilung von gesellschaftlicher Zugehörigkeit nach dem Prinzip
der Nationalität und die daran gekoppelte Zuteilung von Ressourcen, Rechten und Mitgliedschaftsregimen, die räumliche Mobilität als internationale Migration konstruiert (vgl. auch
Schindler in diesem Band). Dies wird unter anderem an dem Gegenbeweis deutlich, wonach
für die geografische Mobilität innerhalb eines Nationalstaates in der Regel die Freizügigkeit
gilt und sie dementsprechend in der Regel nicht als Migration im politischen Sinne verstanden
wird, ebenso wenig spricht man bei Ortswechseln innerhalb der Europäischen Union – wo
Grenzkontrollen abgeschafft wurden – politisch von Migration, sondern oft vielmehr von Mobilität (vgl. Europäische Kommission 2018). Dies zeigt, dass Mobilität innerhalb von Staaten
überwiegend als selbstverständlich hingenommen, sie aber zwischen Staaten als normatives
Problem betrachtet wird (vgl. Bommes/Geddes 2000). Daneben spielt Temporalität bei der
Konzeptualisierung von menschlicher geografischer Bewegung eine Rolle. Die Vereinten Nationen, vor allem die Abteilung für Bevölkerung (vgl. UNDESA 1998), definieren temporäre
Migration als die Anwesenheit in einem anderen Nationalstaat von mehr als drei aber weniger
als 12 Monaten und sprechen von Immigration, als einem dauerhaften Phänomen, wenn der
Aufenthalt 12 Monate oder länger dauert. Demgegenüber definiert die UN-Unterorganisation
International Labour Office (2015) jeden Aufenthalt in einem anderen Staat zum Zweck
der Arbeit als Arbeitsmigration, ganz unabhängig von der Aufenthaltsdauer. Zudem werden
nur zwangsweise Vertriebene, die eine staatliche Grenze übertreten, als Flüchtlinge betrachtet,
alle anderen gelten als intern Vertriebene. Allerdings gelten international Vertriebene ebenfalls
vom ersten Tag an als Flüchtlinge und das Kriterium der Dauer fällt weg (vgl. UNHCR
2020). Mitunter weichen auch nationale Praktiken von denen der UN ab. Diese zeigt, dass
das Kriterium Zeit sowohl willkürlich festgelegt wird als auch uneinheitlich geregelt ist (vgl.
Leutloff-Grandits in diesem Band).
Grenzen oder präziser die Außengrenzen von Nationalstaaten spielen demnach bei der Konstruktion von Migration und Flucht eine zentrale Rolle. Zum einen wird geografische Mobilität erst durch die Übertretung einer solchen Grenze als Flucht oder Migration definiert.
Zum anderen ist es die Grenze beziehungsweise sind es die Bürokratien und Institutionen,
die an dieser imaginären Linie zwischen zwei souveränen Territorien eingerichtet und eingesetzt werden, die Migration als solche registrieren, kontrollieren und entweder zulassen oder
verhindern. Grenzen und die dort in Stellung gebrachten Behörden sind zudem ein wichtiges
Mittel der Durchsetzung von Migrations- und Grenzpolitik. An der Grenze werden Zäune,
Wachtürme, Minenfelder, Patrouillen und Kontrollposten installiert, teils werden diese auch
ins Hinterland ausgedehnt, aber immer im Hinblick auf die vor- oder nachgelagerte Kontrolle
von Bewegung über die eigentliche Grenzlinie hinweg. Dies führt dazu, dass durch Grenzen
zusätzliche Migrationskosten entstehen, etwa weil Visa benötigt werden, und dadurch der
Preis für Migration insgesamt steigt. Mitunter erhöhen Grenzen auch das Risiko von Migration, etwa wenn die Migrierenden keine Erlaubnis erhalten und dementsprechend klandestine
Formen und Routen wählen (vgl. Eschbach et al. 1999).
Bislang wenig erforscht ist eine bedeutende Konsequenz von Grenzen: die Durchsetzung von
Immobilität oder Sesshaftigkeit (vgl. dazu auch Nail in diesem Band). Inwiefern besteht also
die Auswirkung von Grenzen darin, Migration zu verhindern? Nichtereignisse wie etwa Nichtmigration wecken selten das Forschungsinteresse. Ausnahmen sind hier die Untersuchungen
von Flüchtlingen und Migranten und Migrantinnen in Staaten entlang der Außengrenzen
der EU, wie etwa in der Türkei, Libyen und Ukraine, die dort gestrandet sind (vgl. Düvell
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et al. 2014). Sie beschäftigen sich mit den problematischen und oft sogar menschenrechtsverletzenden Lebens- oder Haftbedingungen jener, denen die Einreise verunmöglicht oder verweigert wurde. Bestimmte Orte und Räume, wie der Fluss Evros zwischen der Türkei und
Griechenland, die Ägäis-Insel Lesbos sowie Lampedusa und die Straße von Sizilien haben
in diesem Zusammenhang notorische Berühmtheit erlangt. Schließlich geht Carling (2002;
siehe auch Houtum/Naerssen 2001) soweit, die gegenwärtige Debatte umzudrehen und spricht
von einem Zeitalter der unfreiwilligen Immobilität statt von einem Zeitalter der Migration
(vgl. Castles/Miller 1998). Dies ist angesichts des kleinen Anteils weltweiter Migranten und
Migrantinnen eine durchaus plausible Lesart.
An der internationalen Grenze stoßen deshalb die Ziele eines Staates – beziehungsweise der
Bürger dieses Staates – und die Aspirationen von Angehörigen anderer Staaten und damit von
Individuen aufeinander (vgl. Shrestha 1987). Grenzen sind demnach nicht nur die Faltlinien
zwischen zwei politischen Mächten, sondern determinieren Inklusions- und Exklusionsprozesse und können sogar „Faltlinien des Überlebens“ darstellen (vgl. Petryna/Follis 2015). Insofern
sind sie ein Ort des Zusammentreffens zwischen der Macht des Staates und menschlicher
Wirkungsmacht (human agency) und damit letzten Endes der Ort einer potenziellen sozialen
Konfrontation zwischen potenziell entgegengesetzten Zielen und Ansprüchen (vgl. z.B. Rodriguez 1996). Migration, so Glick-Schiller et al. (1995, S. 50) „ist ein wichtiges Mittel, durch das
Grenzen angefochten und übertreten werden“. Zwar verhindert eine Vielzahl von Faktoren
(z.B. Mangel an finanziellen Mitteln, sozialen Netzwerken, Humankapital) die Realisierung
der Migration jener 710 Millionen, die eine dementsprechende Aspiration haben, aber Grenzen und dort durchgesetzte Aus- und Einreisebeschränkungen spielen ebenfalls eine bedeutende
Rolle. Allerdings verläuft der Großteil der internationalen Mobilität und Migration innerhalb
der Gesetze, das heißt, die Ziele von Staaten und die Aspirationen von Individuen sind
entweder teils deckungsgleich oder führen in der Regel zumindest nicht zu einem offenen
Zusammenstoß. Dennoch sollte das Konfliktpotenzial nicht überschätzt werden.
An der Grenze manifestiert sich auch der Unterschied zwischen erlaubter und unerlaubter
Migration, der Gegensatz von Inklusion und Exklusion, der Kampf von Ordnung und Unordnung, der (potenzielle) Widerspruch zwischen politischen Zielen und individuellen Aspirationen sowie zwischen Staat und Individuum. Irreguläre Migration, unerlaubte Grenzübertritte,
Proteste gegen geschlossene Grenzen sowie die Konsequenzen nicht zugelassener Migration
sind deshalb auch die deutlichste Manifestierung der normativen Probleme mit Grenzen.
3. Zentrale Konzepte und Grundannahmen der Migrations- und
Migrationspolitikforschung
Die Grenzforschung innerhalb der Migrations- und Migrationspolitikforschung hebt sich von
der allgemeinen Grenzforschung dadurch ab, dass sie sich vor allem mit dem Wechselverhältnis von Grenze und menschlicher Mobilität befasst, und zwar sowohl im Hinblick auf die
eigentliche Wanderung als auch im Hinblick auf die nachgeordneten In- und Exklusionsprozesse. Für einige Autorinnen und Autoren ist Migration nur mehr ein Prisma, um andere Themen
wie die Transformation von Territorialität, Souveränität und politischer Imagination zu untersuchen (vgl. Walters 2009), für andere ist Migration der zentrale Forschungsgegenstand, in
dem Grenze nur implizit auftaucht (vgl. z.B. Triandafyllidou/Maroukis 2012; Crawley et al.
2017).
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Die Forschung zu Migration und Grenze befasst sich einerseits mit den Erfahrungen von
Migrierenden mit Grenze oder mit der Um- und Durchsetzung von Grenze und wird von
einigen wenigen Themen dominiert:
a) irreguläre, also unerlaubte Migration und Grenzübertritte (vgl. z.B. Düvell 2006) sowie die
damit zusammenhängende sogenannte Transitmigration (Collyer et al. 2012). Insbesondere
erhält die Migration mit Booten von sogenannten boat people oder boat refugees aufgrund
ihrer Sichtbarkeit und Devianz besondere Aufmerksamkeit (vgl. Mountz 2010; Weber/Pickering 2011; Crawley et al. 2017);
b) die Vorverlagerung von Migrationskontrollen in Nachbarstaaten, insbesondere die der
Europäischen Union, die als Externalisierung oder Extraterritorialisierung von Migrationskontrolle bezeichnet wird (vgl. z.B. Ryan/Mitselegas 2010; Gammeltoft-Hansen 2011);
c) die Wirksamkeit, Digitalisierung (vgl. Broeders 2007) und Militarisierung von Migrationskontrolle (vgl. Lutterbeck 2006) sowie die Rolle von Sicherheitsüberlegungen und -diskursen bei der Gestaltung von Migrationspolitik, die als Versicherheitlichung von Migration
analysiert wird (vgl. Adamson 2006; Vollmer 2014);
d) die Ein- und Ausgrenzungsfunktion von Grenz- und Migrationspolitik innerhalb von Staaten (vgl. z.B. Takikawa 2016);
e) die Privatisierung und Kommerzialisierung von Migrations- und Grenzkontrolle (vgl. Infantino 2016);
f) die humanen Kosten von Ausgrenzung und damit zusammenhängend Fragen von Verantwortung (vgl. Weber/Pickering 2011) und Ethik (vgl. Pecoud/Guchtenaire 2006; Bauder
2017) sowie
g) transnationale Praktiken (transnationale Migration, Diasporas; vgl. Basch et al. 1994), die
die Idee des Nationalen und damit die abgrenzende Funktion von Grenze unterminieren
und individuelles deviantes Verhalten, welches u.a. als Widerstand oder Autonomie der
Migration diskutiert wird (vgl. Moulier-Boutang 2002), aufzeigen.
Bei all diesem stehen hauptsächlich die Außengrenzen der EU und der USA im Fokus; andere
Grenzen, z.B. die der Staaten im Mittleren Osten, in Südasien oder Zentralasien, finden vergleichsweise wenig Beachtung (Ausnahmen u.a. bei Raghuram/Piper 2011).
Die Forschung zu Grenze und Migration nimmt je nach Disziplin spezifische Perspektiven
ein, die hier einmal zugespitzt und vereinfacht zusammengefasst werden. Ethnologinnen und
Ethnologen und teils auch Humangeografinnen und Humangeografen geht es, vereinfacht
ausgedrückt, eher um die Mikroebene und die Verhaltensweisen sowie Deutungsprozesse der
Migrierenden sowie um die Interaktionen der beteiligten Akteure und Akteurinnen: der Migrierenden, deren Helfern und Helferinnen (‚Schmugglern‘) sowie den street level bureaucrats,
welche gemeinsam die „Grenze täglich herstellen“ (Mountz 2010, S. xix). Historikerinnen und
Historiker weisen beispielsweise nach, dass Migration ein anthropologisches Kontinuum ist
(vgl. Hoerder 2002), während Grenzen und Migrationskontrollen eher neuzeitliche Phänomene darstellen (vgl. Caplan/Torpey 2001). Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern hingegen geht es um die Rolle von Staat und Politik und insbesondere um die politische
Beeinflussung von menschlichem (Migrations-)Verhalten oder auch dessen Scheitern, wobei
sie auch Diskurse analysieren (s.u.). Soziologinnen und Soziologen analysieren Gesellschaft,
gesellschaftliche Organisation und Zusammenleben, Ungleichheit, Ausgrenzung und in diesem
Kontext auch die gesellschaftliche Funktion von Grenzen, etwa die Konstruktion ungleicher
Rechte sowie um Rassismus (vgl. Faist 2016). Juristinnen und Juristen studieren nationales
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Grenzen und Migration – eine dynamische Interdependenz
und internationales Flüchtlings- und Migrationsrecht sowie die teilweise bestehenden Widersprüche zwischen diesen und damit auch die normative Seite der Funktion von Grenze. Kriminologen und Kriminologinnen untersuchen die strukturelle Gewalt und Verantwortung für die
Opfer von Grenzkontrollen (vgl. Weber/Pickering 2011). Und in den Wirtschaftswissenschaften werden der Nutzen von Orten für Migrierende, rationale Wahlhandlungen, der Einfluss
von Migration auf Arbeitsmarkt, Einkommen und Steueraufkommen sowie die Rolle von
Grenze bei der Determinierung der Rahmenbedingungen untersucht (vgl. Goldin 2018).
In einem Feld wie der Migrationsforschung werden diese disziplinären Grenzen allerdings häufig überwunden, wobei die Übergänge fließend sind. Daraus resultiert eine ganze Bandbreite
von dichten und teils separaten Diskursen und Forschungstraditionen, wovon im Folgenden
nur die wichtigsten Perspektiven vorgestellt werden. Aus Platzgründen kann nicht auf alle
Positionen im Einzelnen eingegangen werden.
Innerhalb dieser diversen Studien verfolgt eine prominente Gruppe von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern einen eher philosophischen Foucault’schen Ansatz, sowohl in der Analyse der Institution Grenze als auch von individuellem Verhalten. Grenzpolitik wird hier auch als
Biopolitik verstanden, d.h. als Politik und Ausübung von Macht, die ein Bevölkerungsmanagement zum Ziel hat (vgl. z.B. Walters 2002). Ein weiterer, teils verwandter, eher systemischer
und teils normativer Forschungsstrang interpretiert Grenze (border) als Abgrenzung (bordering) und formuliert die These „Grenzen sind überall“ (vgl. z.B. Balibar 2004 oder auch
Rumford 2006). Um bei dieser Vielfalt von Grenz- und Abgrenzungsprozessen die analytische
Schärfe nicht zu verlieren, sollte aus unserer Sicht zwischen vorgelagerten (Visa-)Kontrollen,
Grenz- und Migrationskontrollen an den äußeren Staatsgrenzen sowie Kontrollen an den
internen administrativen Grenzen und den diese Kontrollen durchführenden unterschiedlichen
Agenturen (Botschaft, Grenzschutz, Polizei und zivile Behörden) unterschieden werden.
Eine weitere prominente Forschungslinie übt fundamentale Kritik an der Kontrolle und
Beschränkung von Migration. Etliche Autoren und Autorinnen (vgl. u.a. Hayter 2000; Pecoud/Guchtenaire 2006) stellen fest, dass es im internationalen Recht der Erklärung der
Menschenrechte, Artikel 13, zwar ein Recht auf Verlassen eines Staates, aber kein Recht auf
Einreise in einen anderen gibt. Diese Inkonsistenz wird zum Anlass genommen, für offene
oder keine Grenzen sowie ein Recht auf Migration einzutreten. Andere Autorinnen und Autoren hinterfragen den Nutzen von Grenzen, zeigen, dass Grenzbarrieren und Grenzen deshalb
teilweise wirkungslos seien, und implizieren demnach, dass Grenzen bzw. Grenzkontrollen in
der bisherigen Form abgeschafft gehören. So weist Jagdish Bhagwati (2003) darauf hin, dass
irreguläre Migration trotz intensivierter Kontrollen sogar noch weiter zunimmt, Franck Düvell
(2006) zeigt, dass die Anziehungskraft von Arbeitskraftnachfrage, aber auch menschliche Wirkungsmacht stärker sind als Migrations- und Grenzkontrollen. Und der Ökonom Nigel Harris
(2007) hält Grenzen für ökonomisch unsinnig, da sie die freie Migration von Arbeit nach den
Gesetzen von Angebot und Nachfrage blockieren und für diverse ökonomische und politische
Verzerrungen sorgen.
Ein anderer Forschungsstrang geht mikrosoziologisch und ethnografisch vor. So untersuchen
Federica Infantíno (2016) sowie Vassilis Tsianos und Sabine Hess (2010) Migrationskontrollen
bzw. die Implementierung von Visapolitik außerhalb der Grenzen der Europäischen Union.
Martin van der Velde und Ton van Naerssen (2015) untersuchen Grenze aus der Perspektive der unterschiedlichen menschlichen Perzeptionen sowie Reaktionen und Entscheidungsfindungsprozesse und damit das Zusammenspiel von strukturellen und kognitiven Faktoren. Sie
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zeigen einerseits auf, dass Grenzen als Schwelle von Migration fungieren, aber auch, dass
Grenzen nicht absolut sind, sondern dynamisch und abhängig von den sich verändernden
Bedingungen auf beiden Seiten der Grenze. Zudem wirken sie sich auf unterschiedliche Individuen verschieden aus. Schließlich verfasste Shahram Khosravi (2010) eine vielbeachtete Autoethnografie eines „illegalen Reisenden“ und dessen Formen des Widerstands. Er analysiert
Grenze eher aus der Perspektive des Individuums, welches auf die Macht, die an der Grenze
ausgeübt wird, mit Widerstand reagiert (vgl. auch Rodriguez 1996; Yaghmaian 2005).
Demnach befassen sich Grenzstudien aus ethnografischer oder soziologischer Perspektive in
methodischer Hinsicht eher mit Phänomenen von unten und untersuchen z.B. die Praktiken
Migrierender und Flüchtender. Aus einer eher politikwissenschaftlichen, kriminologischen oder
normativen Perspektive von oben wird vornehmlich Grenze als Institution erforscht. Eine
dritte minoritäre Zwischenperspektive untersucht zwar auch die Grenze, aber nicht politikwissenschaftlich, sondern ebenfalls ethnografisch aus der Perspektive der individuellen Akteure
und Akteurinnen (street level bureaucrats, vgl. u.a. Tuckett 2018).
Nahezu alle Studien im Feld Grenze und Migration sind von qualitativer, normativer oder
philosophisch-theoretischer Natur, einige wenige gehen gar mit forensischen Methoden an das
Feld heran (vgl. Weber/Pickering 2011; Last et al. 2017). Quantitative Erhebungen zur Durchsetzung von Grenze oder zur Erfahrung von Grenzübertritten sind selten, wenn nicht gänzlich
absent. Deshalb lässt sich bislang auch wenig statistisch Belastbares über die Wirkung von
Grenze sagen. Beispielsweise kann nicht bestimmt werden, ob und welchen Abschreckungseffekt Grenze, Grenzkontrollen und die Risiken eines unerlaubten Grenzübertritts auf die 710
Millionen Migrationswilligen (vgl. Gallup 2017) weltweit haben.
4. Perspektivische Weiterentwicklungen
Strömungen der Grenzforschung im Bereich Migration werden immer deutlicher von alternativen und innovativen Perspektiven aus inter- und transdisziplinären Feldern u.a. der Anthropologie, Geografie, Soziologie sowie der Rechtwissenschaft und der Politikwissenschaft
erweitert. Ende der 1980er-Jahre wurden wissenschaftliche Sichtweisen der Grenzforschung
durch neue und drastische Bewegungen von Grenzen (territorial und politisch) liberalisiert.
In der Entwicklung im Feld Grenzen und Migration wurde zunehmend die vorherrschende
Perspektive einer Analyse von innen nach außen hinterfragt (vgl. Walker 1993). Einen Perspektivwechsel vorzunehmen und eine andere Wahrnehmung der äußeren Seite der Grenze
aufzunehmen oder die Grenze als eigenständigen Forschungsgegenstand zu sehen, wurde über
viele Jahre vernachlässigt, ist inzwischen aber ein Kernbestandteil vieler migrantischer Bewegungen und auch einer steigenden Zahl von Studien geworden (s.o.). Begriffe wie Bedrohung,
Kontrolle, Überwachung und Undurchlässigkeit wurden entsprechend neu diskutiert (vgl. Bigo
2002; Huysmans 2006; Balibar 2009; Vaughan-Williams 2009; Bauman/Lyon 2012; Fassin
2012). Zunehmend wurden Grenzen jedoch als Barrieren zur Disposition gestellt und im Fall
von Staatsgrenzen die Manifestation dieser staatspolitisch konstruierten Barriere und ihrer
verschiedenartigster Repräsentation infrage gestellt (vgl. Genova 2002; Shields 2006; Vollmer
2012; Papadopoulos/Tsianos 2013; Cooper/Rumford 2013).
Behält man aber die Perspektive der sich bewegenden Menschen im Auge – wie oben als
mikrosoziologischer/ethnografischer Forschungsstrang aufgeführt –, dann erscheinen Grenzen
als Gefährdung und lebensbedrohliche Realitäten für migrantische Bewegungen. Damit drän-
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gen sich neue und andere Forschungsansätze in den Vordergrund und ermöglichen neue Analysen zum Gegenstand Grenze. Die Perspektive der Migration und die der Migranten und
Migrantinnen trägt zum Verständnis und zu einer Neukonfiguration von Grenzen bei, d.h.
dieser Ansatz dreht die Perspektive auf Grenzen um. Grenzen sind demnach nicht nur schlicht
Anlagen, Institutionen oder Symbole sowie Instrumente zur Durchsetzung von Sicherheit, sondern Ursache von Unsicherheit. Dadurch ändert sich das Verständnis von Grenzen und ihren
primären Funktionen (vgl. Schwell in diesem Band).
Im Prozess einer migrantischen Bewegung finden multiple Entscheidungsfindungen statt, die
auf einer Genese von Imaginationen und Aspirationen basiert (vgl. Carling 2002). Imaginationen anderer Ort und Räume werden produziert und mit Aspirationen verknüpft. Hoffnung
kann als eine der zentralen Kräfte einer Entscheidungsfindung der Migration bezeichnet werden (vgl. Appadurai 2013). Zu differenzieren sind diese Prozesse im Fall einer erzwungenen
Bewegung. Der Verlauf dieser Prozesse findet in einer anderen Zeitspanne und unter einer
erhöhten Situation von Gefahr bis hin zu Ausweglosigkeit und Todesängsten statt. Staatliche
Grenzziehungen verschiedenartiger Form stellen im Prozess der Migration zusätzliche Hindernisse dar, die die Bewegungen von Menschen erschweren, aufhalten oder auch beenden
können. Dadurch können migrantische Imaginationen und Aspirationen zu Illusionen und
Enttäuschungen werden. Gleichzeitig zeugen Migrationserfahrungen und Verläufe von einer
hohen Diversität und erzeugen verschiedenste Narrative. Beispielsweise konnte Bastian Vollmer (2016) zeigen, dass die EU-Außengrenze von Ukrainern und Ukrainerinnen, die eine Emigration in Erwägung ziehen, als Problem, Barriere oder auch als abstoßend, ausgrenzend und
desillusionierend erfahren wird. Andererseits können Grenzen auch genutzt werden und haben
in manchen Fällen sogar eine verbindende Wirkung. Das Phänomen findet sich an Grenzgebieten weltweit (vgl. u.a. Paasi/Prokkola 2008). Chris Rumford und Anthony Cooper (2013)
gehen einen Schritt weiter und sehen das Potenzial, dass Grenzen eine effektive Konnektivität
erzeugen können, d.h. nicht Teilung, sondern Konnektivität durch erweiterte Netzwerke repräsentieren können.
Der empirische Ansatz aus einer migrantischen Perspektive (vgl. z.B. Khosravi 2010) eröffnet
aber alternative Narrative der Grenze über Harmlosigkeit, Überflüssigkeit oder einen bump
on the road, um den es sich lediglich zu kümmern gilt, der ein Management der Umstände
benötigt, wie es Vollmer (2012) in seinem Beitrag beschreibt. Damit verkörpert Grenze, in
diesem Fall die EU-Außengrenze, nicht nur eine Gefahr oder eine festungsartige Abschreckung,
sondern gegebenenfalls nur ein kurzzeitiges Hindernis, das zu überschreiten ist und beinahe
einer Spielerei gleicht. Diese Perspektive weist auf die Autonomie von Migranten und Migrantinnen hin. Es zeigt die Wirkungsmacht der sich bewegenden Menschen gegenüber dem
scheinbaren Bollwerk Grenze. Die Figur des Migranten bzw. der Migrantin repräsentiert einen
wirkungsmächtigen und autonomen Akteur und wird nicht zu einem verletzbaren Objekt
reduziert (vgl. u.a. Papadopoulos/Tsianos 2013). Allerdings soll auch keine Romantisierung
von Migration mit dem Begriff der Autonomie einhergehen (vgl. Mezzadra 2010; Scheel
2013). Vielmehr werden durch diesen Blickwinkel die Prozesse der Entrechtung, der Exklusion
und des „humanitären Grenzspektakels“ (vgl. Cuttitta 2014, S. 200) aus einer ‚direkten‘ und
nichtmedialisierten Quelle beschrieben. Das Eigene der migrantischen Subjekte steht hier im
Zentrum des Ansatzes. Migrantische Subjektivität ist jedoch nicht lediglich als empirische
Datenquelle zu sehen, sondern diese „Praktiken der Migration“ (Hess/Tsianos 2010, S. 44;
Hess/Schmidt-Sembdner in diesem Band) sind in einem Regime von Grenzen zu situieren und
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zu analysieren. Mit verschiedenen Ansätzen lassen sich durch diese Prozesse und Praktiken
der Migration die Funktionen und Konfigurationen von Grenzen erörtern. Dies steht auch
im Gegensatz zur Frequenz und Qualität von Medienberichten, die auf die Wahrnehmung
von Migration und auf Diskurselemente der Migration im Zusammenhang mit Grenzen zunehmend einwirken.2
Die Sicht auf und die Analyse von Diskursen eröffnet eine weitere Perspektive (vgl. Schindel
2016; Lehner/Rheindorf 2018; Rheindorf/Wodak 2020). Die Wahrnehmung und das Verständnis von Migration sind durch sprachliche Konstruktionen und Narrative, die einen Diskurs
entstehen lassen können und damit ein bestimmtes Verständnis von Migration schaffen und
etablieren, änderbar. Diese sich ständig verändernden Migrationsdiskurse haben damit eine
Auswirkung auf die Deutung und Bedeutung von Grenzen.
Vollmer (2017a; 2019) zeigte Verschiebungen in Migrationsdiskursen und Änderungen der
Wahrnehmung von Grenzen. Die Bedeutung und der Stellenwert von Grenzen schwanken,
jedoch ist im vergangenen Jahrzehnt, insbesondere in den Jahren 2014 bis 2018, ein neuer
Stellenwert und ein neues Image von Grenzen im öffentlichen Raum, z.B. der EU, entstanden.
Die Signifikanz der Wahrnehmung von Grenzen und ihrer Bedeutung im digitalen, vernetzten
Zeitalter verzeichnet einen expansiven Trend durch eine symbolische Verunsicherung und
imaginiert „innere Bedrohung“ (vgl. z.B. Buzan 1991; Côté-Boucher et al. 2014). Jedoch hat
sich nicht nur die diskursive Bedeutung und die Symbolik der Grenze erweitert, sondern auch
die Praxis der Staatsgrenze. Kontrollmechanismen sind nicht lediglich linear, also an der territorialen Grenzziehung an sich, zu finden, sondern an unzähligen weiteren Kontrollpunkten
innerhalb des Territoriums, wie z.B. Bahnhöfen, Banken, Schulen, Universitäten etc. (vgl. z.B.
Parker/Vaughan-Williams 2012). Bethan Loftus (2013) spricht beispielsweise von einer Vertiefung von Grenzen. Jedoch auch hierbei spielen Sprache und die Konstruktion neuer dominanter Diskursströmungen und Bedeutungsschemata eine tragende Rolle. Der Topos Sicherheit
hat sich zu einem der zentralen diskursiven Elemente etabliert – auch aus einer historischen
Sicht (vgl. Huysmans 2000; Bigo 2002). Durch eine historische Diskurs- und Policy-Analyse
wurde nachgewiesen, wie Versicherheitlichung sukzessiv eine politische Legitimierung erhalten
hat und dadurch politische Maßnahmen und ihre Auswirkungen normalisiert wurden (vgl.
Vollmer 2014; 2017b).
Gleichzeitig haben jedoch migrantische Bewegungen die Prinzipien und Prozesse der Versicherheitlichung auf ihre Umsetzbarkeit geprüft und ihre Legitimation herausgefordert. Migrationsund Fluchtbewegungen über das Mittelmeer haben dazu geführt, dass humanitäre Fragestellungen vordergründiger wurden und beispielsweise vermehrt auf das Prinzip des Festungsbaus
und des Rechtsentzugs durch bordering aufmerksam gemacht wurde (vgl. z.B. Ticktin 2011;
2014). Die globale humanitäre Krise, wie sie an europäischen und anderen Grenzen weltweit
vorzufinden ist, hat ihre Wurzeln in der Konstruktion von Staaten und Grenzziehungen jeglicher Art, die imperialistische, rassistische und andere exkludierende Prozesse und Entwicklungen mit sich brachten bzw. nach sich zogen. Durch Globalisierungsprozesse, transnationale
Praktiken und Migrationsbewegungen sowie zunehmende Diversität und wachsende Ungleichheit findet sich ein diffuses Verhältnis vom Innen und Außen und der konstitutiven Funktionen
von Grenzen. Es treten nicht gesicherte, sondern zunehmend verunsicherte Wahrnehmungen
2 Gegenwärtig hat die Coronavirus-Krise 2020 allerdings gezeigt, dass Grenze nach wie vor insbesondere eine
repressive Funktion hat und dass Staaten die Macht haben, Grenze durchzusetzen und nahezu jegliche Migration
zu unterbinden.
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Grenzen und Migration – eine dynamische Interdependenz
und Bedeutungen von dem Objekt Grenze auf (vgl. Vollmer 2019). Es deutet auf die Frage
hin, ob sich die analytische Linse bezüglich des Konzepts und des Gegenstands Grenze ändern sollte? Innovative analytische Ansätze aus der Disziplin der Sicherheitsstudien (security
studies), wie z.B. die Anwendung von endemischen Sicherheitskonzepten (vernacular security;
vgl. Bubandt 2005; Vaughan-Williams/Stevens 2016), können wegweisend sein, um Fragen der
Sicherheit aus der Perspektive der Bevölkerung sowie auch der Migrierenden anstatt aus der
Perspektive des Staates oder der beteiligten politischen Akteure zu beantworten (vgl. Vollmer
2019).
Es stellen sich neue Fragestellungen bezüglich des Verhältnisses von Grenzen und Migration.
Anzeichen für Xenophobie und ihre Implikationen haben sich seit 2014 in mehreren europäischen Ländern offenkundig gehäuft. Die Symbolik der Unsicherheit von Grenzen und die
damit assoziierte schwindende Kontrolle des Inneren und des Äußeren, der suggerierten unkontrollierten Migration, hat neue politische Diskurse mobilisiert und neue politische Akteure
gestärkt. Unsicherheit wurde durch populistische Strategien instrumentalisiert. Neue Feindbilder wurden produziert und neue Grenzen und Abgrenzungen sollen um ein weiteres Mal in der
Geschichte für Recht, Ordnung und Sicherheit sorgen. Der Angst vor dem imaginären Feind
– derzeit nochmals verstärkt durch die Coronavirus-Krise 2020 – soll mit dem Glauben an
neue Grenzkonstruktionen Einhalt geboten werden. Trotz fortschreitender globaler Integration
scheint sich im 21. Jahrhundert paradoxerweise eine Renaissance der Grenze abzuzeichnen.
5. Fazit
Zwischen Migration und Grenzen besteht eine dynamische Interdependenz. Sie werden von
einem reziproken Verhältnis bestimmt, wobei gleichzeitig eine wachsende Pluralität an Bedeutungen von Migration und Grenzen beobachtet werden kann.
In der Grenzforschung stellen mikrosoziologische und ethnografische Ansätze wie auch Diskursforschung neue zukunftsträchtige Forschungszweige dar (siehe auch Lehner in diesem
Band). Die migranten- und flüchtlingszentrierte Forschung wird zunehmend durch die Erforschung der street level bureaucrats an der Grenze ergänzt. Empirische (ethnografische oder
quantitative) Erforschung tatsächlicher Abläufe an Grenzen, die der Politikproduktion sowie
der Durchführung politischer Richtlinien behilflich sein kann, darf nicht vernachlässigt werden. Aus diesem Grund besteht ein Mangel, Auswirkungen der Politikproduktion sowie der
nicht intendierten Nebeneffekte oder dem gänzlichen Versagen von politischen Maßnahmen zu
erfassen. Insbesondere die Erforschung von Protesten an Grenzen und gegen Einreisebeschränkungen könnte eine Brücke zwischen diesen beiden Aufgaben bilden. Hierbei bleibt allerdings
eine große Hürde bestehen – und das ist der Zugang zum Feld Grenze oder Grenzanlagen.
Auch wenn der Zugang zum Feld zugegebenermaßen eine Herausforderung darstellt und
mitunter unbequem sein mag, so bleibt die Erforschung von Grenzen oder Grenzanlagen doch
eine zentrale Aufgabe der Forschung.
Ebenso versprechen innovative Methoden der Diskursforschung durch Anwendung von neuen
Technologien und Verfahren in Zukunft die Möglichkeit, große Textkorpora in Verbindung
mit Visualisierungen zu erforschen. Weitere Entwicklungen innovativer Mixed-methods-Ansätze nehmen beispielsweise eine weitere Triangulierung von Methoden der Diskursforschung mit
der ethnografischen Feldforschung oder teilnehmenden Beobachtungen vor.
Zusätzlicher Motor der komplementären Phänomene wachsender Migrationsbewegungen und
der Renaissance von Abgrenzungen ist das veränderte politische Klima. Politischer Populismus
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nutzt die steigende Diffusion der Phänomene sowie die sich ändernde politische Kommunikation: durch eine strategische Dämonisierung in Migrationsdiskursen, die von produktiven
Narrativen ‚neuer Helden‘, ‚neuer Schurken‘ und ‚neuen unschuldigen Opfern‘ gespeist, ausgeschmückt und effektiv mobilisiert werden (vgl. Anderson 2013), bis hin zur Verteufelung
von Migration im Zuge der Coronavirus-Krise zeichnet sich keine Empörung in der Öffentlichkeit ab, sondern eine ernst zu nehmende subversive Aushöhlung liberaler Demokratien.
Politische Kulturen leiden in Europa unter einem Neopopulismus, der vor allem in Feldern
wie Migration in Verbindung mit Grenzen erste Erfolge verzeichnet. Eine ständige Ausweitung
unerwünschter Kategorien von Außenseitern und Außenseiterinnen oder ‚anderen‘ zeigt sich
jedoch nicht lediglich in populistischen Bewegungen, sondern auch in den etablierten politischen Kreisen und Parteien (vgl. z.B. Koppetsch 2019). Diese Entwicklung steht für einen
notwendigen Aufruf an die Grenz- und Migrationswissenschaft, innovative Perspektiven und
Ansätze in ihre wissenschaftlichen Agenden nachhaltig aufzunehmen.
Im Rahmen dessen stellt sich die Frage nach der ausbleibenden öffentlichen Empörung in den
Zielstaaten von Migration aufgrund von Aussagen von politischen Akteuren und Akteurinnen
innerhalb Europas oder der Vereinigten Staaten. Scheinbar besteht ein legitimierter diskursiver
Raum für Donald Trump, irreguläre Migranten und Migrantinnen als „Tiere“ zu bezeichnen
(vgl. Hirschfeld Davis 2018). Das heißt, wenn diskursive Kräfte regionale oder nationale Migrationsregime formen (vgl. z.B. Wodak 2015; Rheindorf/Wodak 2020), muss sich Forschung
damit dringend auseinandersetzen.
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