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»Pause«

2024, Zeitschrift für Medienwissenschaft 30 (Was uns ausgeht)

https://doi.org/10.25969/mediarep/22001

Heft 30 der Zeitschrift für Medienwissenschaft ist ein Glossar, ein unvollständiges und undiszi- pliniertes Wörterbuch, das auf Erweiterbarkeit angelegt ist. Unter 52 Lemmata versammelt es in alphabetischer Reihenfolge kurze Beiträge von Autor*innen aus der Medienwissenschaft und ver- wandten Disziplinen, die wir anlässlich des Heft- jubiläums eingeladen haben, darüber nachzuden- ken, was uns ausgeht. Der Titel ist ein Bekenntnis zur (Dis-)Kontinuität.

1/2024 zeitschrift für medienwissenschaft WAS UNS AUSGEHT DREIßIG — INHALT Editorial WAS UNS AUSGEHT 35 Batterien JAN MÜGGENBURG A 12 ABC 37 AMA JOSEPHINE BUDGE D I E Z F M - R E DA K T I O N 12 JOHNSTONE Adapter T H O M A S WA I T Z 14 Albedo-Effekt C 40 Alter E NANNA HEIDENREICH 20 Arbeiter*innenkinder 43 Atemluft L I N DA WA A C K 25 Enden PETER BEXTE K AT R I N K Ö P P E R T 23 Commons S H I N TA R O M I YA Z A K I ANNE-SOPHIE BALZER 17 Bestäubung F 45 Aufmerksamkeit Forschungszeit FA B I A N S C H M I D T PETRA LÖFFLER 27 MAREN HAFFKE 31 G Ausgehen 48 ÖMER ALKIN Ausschalter TILL A. HEILMANN Gastarbeiter*innen 50 Geduld SUSANNE LUMMERDING GABRIELE WERNER B 33 Bargeld SEBASTIAN GIEßMANN 53 Grammatik N OA H B U B E N H O F E R N H 56 Halbleiter 83 JASMIN MEERHOFF 57 S T E P H A N T R I N K AU S Hohlozän O MARTIN SIEGLER 60 Nichts Horoskop 86 Overheadprojektor KRISTOFFER GANSING LUKAS DIESTEL M A X I M I L I A N H E PA C H P G I A C O M O M A R I N S A LTA SYBILLE NEUMEYER 88 J O N A S PA R N OW BIRGIT SCHNEIDER M AY E E WO N G I 63 Pause GLORIA MEYNEN 90 Perspektive CHRISTOPHER LUKMAN 93 Phänomen M A X I M I L I A N H E PA C H Intelligenzschichten FELIX HÜTTEMANN R K 66 97 Räume JANA MANGOLD Kanon MAJA-LISA MÜLLER SARAH HORN ELISA LINSEISEN S LEONIE ZILCH 68 Klasse 101 MAJA-LISA MÜLLER ANDREA SEIER 72 Klebstoff 103 106 Landschaft T BIRGIT SCHNEIDER Lust 108 M Material F L O R I A N K R AU T K R Ä M E R Trance ERHARD SCHÜTTPELZ SUSANNE HUBER 82 Solidarität JASMIN DEGELING L 79 Seetang SAM NIGHTINGALE ULRIKE BERGERMANN 76 Schreiblust U 109 Übersicht MAREN MAYER-SCHWIEGER VA N E S S A G R A F 110 Universität 142 K AT H R I N P E T E R S Verlust Nachruf auf MARIE LUISE ANGERER von K AT H R I N P E T E R S V 112 Verlustkontrolle MARIE-LUISE ANGERER 114 Vertrauen MAREN LEHMANN 116 TAFELN 145 I. Übersicht MAREN MAYER-SCHWIEGER Vielfalt VA N E S S A G R A F M AT T H I A S W I T T M A N N 148 N I L A N JA N B H AT TAC H A RYA W 119 Wald LISA CRONJÄGER 121 II. Zurückhaltung 150 III. Seetang SAM NIGHTINGALE Wasser N ATA L I E LETTENEWITSCH 123 Wissenschaftsfreiheit ANONYM X 126 Xerografie K AT E E I C H H O R N Z 129 Zeit CHRISTINE HANKE 131 Zeitlupe WINFRIED GERLING F L O R I A N K R AU T K R Ä M E R 133 Zeug*innenschaft HENRIETTE GUNKEL 136 Zimmerpflanzen P H I L I P PA H A L D E R 138 Zurückhaltung N I L A N JA N B H AT TAC H A RYA 154 159 160 AU T O R * I N N E N B I L D N AC H W E I S E IMPRESSUM KRISTOFFER GANSING | GLORIA MEYNEN P— O PAUSE In einem Wörterbuch des britischen Studienabbrechers, Privatlehrers, Juristen und späteren Einsiedlers George Crabb, English Synonyms Explained, in Alphabetical Order (1826), steht das Schlagwort idle gleich neben ideal, idiom und idiot. Reiner Zufall? Freizeit wird in vielen Unternehmen nicht selten als Vorschuss ausgezahlt, die Pause als gewinnbringende Investition betrachtet. Ein kurzer Schlaf steigere die Leistungsfähigkeit um 35 Prozent, nehmen manche an. Ist die Pause darum Idiom und Ideal des Flows, oder sind Menschen und Maschinen mit idle time lediglich aus der Zeit gefallen? Und was ist mit den Inselmenschen, die sich in eine Sekunde zurückziehen – setzen sie sich geradliniger der Unterbrechung und Hemmung aus, jenem Mechanismus, der in den Uhren zwischen dem Räderwerk und dem Pendel, der Unrast und dem Gewicht vermittelt? Paradoxerweise sorgen ruhende Hemmungen für den präziseren Lauf der Uhren. Sie zwingen den Uhren ihren Takt auf. IDLE , ahd. îtal, nhd. eitel. Drei Heringe schlägt Crabb in den Boden seines Wörterbuchbeitrags 88 ein, um die Bedeutungen von idle zwischen ihnen aufzuspannen: vain, lazy und vacant. 1. VAIN, von lat. vanus, leer, unbedeutend, nichtig, erfolglos, vergeblich. Eine Tätigkeit, schreibt Crabb, könne entweder müßig oder eitel sein. Im ersten Fall folge man nur der eigenen Nase – man «arbeitet, um sich selbst zu erfreuen»; im zweiten Fall bleibe die Arbeit ohne jeden Nutzen: unbedeutend und nichtig. Ein Makel, schreibt Crabb, am Apparat, die Vergänglichkeit: Wenn wir rationale Wesen seien, müssten wir alle sinnlosen Tätigkeiten einstellen, die Zeit, die uns der Allmächtige gegeben habe, gewissenhaft nutzen (Crabb 1826, 458). «Nichts tun. Zuschauen, wie das Gras wächst. Sich in den Lauf der Zeit gleiten lassen. Leben, als sei immer Sonntag», sagt Roland Barthes 1979 in einem Interview und beteuert, dass ihm das schlechte Gewissen das Nichtstun versage (Barthes 2002, 367). Dass die leere Zeit überhaupt zum Gegenstand des Gewissens werden kann, hängt mit der Entwicklung der mechanischen Uhren zusammen. Um 920 messen die Benediktinermönche von Cluny die Zeit noch mit der Brenndauer einer Kerze, aber schon um 1160 werden die ersten Kirchenglocken erwähnt, und um 1330 entstehen mit der Unruh präzisere, mechanische Uhren. Mit den ersten Kirchenglocken wird auch eine neue Verwandtschaft sichtbar: Das Nichtstun steht im Verdacht, eine Schwester der Trägheit, der Todsünde acedia, zu sein. Mit der Unrast und der immer genaueren Taktung des Tages wandelt sich indes die leere Zeit von der Todsünde zu einer physischen Müdigkeit. Die Arbeit hat ihre Gegenspielerin gefunden: das Nichtstun, den Müßiggang. 2. LAZY, von lat. lassus, ‹lässïg›. Müde sein, nichts tun. Schmarotzer, Drohne, Tagedieb, Nichtstuer, Müßiggänger, Faulenzer – so poltert es aus DeepL heraus, sobald man das Wort ‹idler› eintippt. Gegen die Faulpelze die Versuche des Herrn von Montaigne, «Wider den Müßiggang»: «[…] ein Philosoph sollte nicht einmal Athem holen, nämlich den Nothwendigkeiten des Körpers nicht mehr nachgeben, als was unumgänglich nöthig ist, und sowohl ihre Seele als ihrem Körper allezeit zu vortrefflichen, großen, tugendhaften Handlungen geschickt halten»; selbst auf dem Sterbebett müsse man immer zu großen Taten bereit sein, schreibt Montaigne (ebd. 1992, 530). Im Alt- und Mittelhochdeutschen kann man das Wort ‹faul› über lat. putor, Fäulnis oder den faulen, modrigen Geruch, direkt auf den Wundbrand zurückführen. Faulheit und Zf M 30, 1/2024 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 16, Heft 30 (1/2024), https://doi.org/10.14361/zfmw-2024-160133. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons Attribution CC -BY -NC -ND 4.0 DE licence. Lecture, gehalten beim Workshop Kunst und Musik mit dem Tageslichtsprojektor, Moltekerei Köln, 25.08.2007, www.derstrudel.org/tageslicht/tageslichtprojektor.html (28.11.2023). · Mansoux, Aymeric u. a. (2023): Permacomputing Aesthetics: Potential and Limits of Constraints in Computational Art, Design and Culture (Konferenzbeitrag), in: Ninth Computing within Limits, doi.org/10.21428/ bf6fb269.6690fc2e (17.11.2023). · Schumpeter, Joseph A. (1994 [1942]): Capitalism, Socialism and Democracy, London. · Schuppli, Susan (2020): Material Witness. Media, Forensics, Evidence, Cambridge (MA), London. · Traversal Network of Feminist Servers (Website der Gruppe), www. ooooo.be/atraversalnetworkoffeministservers (28.11.2023). · Tsing, Anna Lowenhaupt (2019): Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin. OVERHEADPROJEKTOR | PAUSE Verwesung hinterlassen ihre Spuren auf den Körpern. Die Negation der Arbeit ist bei Strafe verboten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat der weiße Atem der Dampfmaschinen die leere Zeit rehabilitiert. Müde sein ist keine Todsünde mehr. Pausis, das Aufhören. Respiratio, der Verzug im Reden, um Atem zu schöpfen. Intermissio, der Zustand, wenn etw. auf einige Zeit aufhört, überh., der Ruhepunkt. Die Unterbrechung, das Schweigen in der Musik. Noch ehe Paul Lafargue mit dem Ohr an der Dampfmaschine ein «Recht auf Arbeit» fordert, erwähnt Crabb das Nichtstun: Faulpelze sind nicht zwangsläufig müde oder träge. Sie neigen nicht zum Nichtstun, sondern lediglich zur Hemmung. «Still, blass und mechanisch» treffe diese Haltung meist jene Angestellten, die fremdbestimmt arbeiten: «[D]iejenigen, die arbeiten sollten, sind oft am wenigsten gewillt, sich überhaupt zu bewegen, […] da die Triebfeder fehlt, die sie zum Handeln bewegen sollte.» Die «Bediensteten und arbeitenden Klassen» zeichne womöglich lediglich eine Abneigung gegen körperliche Tätigkeiten, aber nicht gegen das Denken» aus (Crabb 1826, 458). 3. VACANT , frei. Crabb unterscheidet zwischen Freizeit, leisure, und Vakanz. Die Freizeit komme von leasure, to lease, release – lösen, loslassen, befreien. Die Freizeit befreit uns von der Arbeit. Die Vakanz bezeichnet daneben die Unterbrechung der Arbeit. Doch nicht unbedingt. Die Freizeit, schreibt Crabb, können wir selbst bestimmen, aber wir können auch notgedrungen frei haben, d. h. wider Willen ohne Arbeit sein (Crabb 1826, 459). Im Fall von leisure gestalten wir selbst die freie Zeit, im Fall der Vakanz erleiden wir sie. Die Freizeit beschreibt Crabb aus der Perspektive der Menschen, die Vakanz dagegen aus der Perspektive des Amts. Die Arbeit nimmt Urlaub vom Menschen. Die Vakanz bezeichnet zunächst die Ruhetage. Das Licht geht aus. Die Werkstätten, Kontore, Manufakturen atmen auf. Endlich frei. Die Pause aus der Perspektive der Arbeit betrachten auch die Brüder Schnelle aus Quickborn, als sie Ende der 1950er Jahre die Bürolandschaften erfinden. Sie ordnen die Schreibtische im freien Rhythmus im Großraumbüro an, nachdem sie die Büros von Vorzimmern, Türen, Korridoren und Wänden befreit und die menschengemachte Verwaltung dem digitalen Fluss der Belege unterworfen haben. Mit den Bürolandschaften wurden auch die Pausenräume erfunden. Der Geruch von Kaffee und Stulle ist die stumme Aufforderung und Erlaubnis zur Pause, jederzeit und immer. Curd Alsleben, WAS UNS AUSGEHT der Architekt des Großraumbüros, notiert, dass die Angestellten auch in den Pausen über nichts anderes als die Arbeit reden – das gemeinsame Nichtstun fördere die Arbeit. Nahezu zeitgleich führte der Wiener Peter Drucker die Zielvereinbarungen ein, die das Nichtstun der Arbeit unterordnen. Die leere Zeit wird dabei nicht nur als Teil der Arbeit betrachtet. Sie ist die Unrast im Uhrwerk der Arbeit. Die Hemmung hilft dabei, nicht aus dem Takt zu fallen, die Vorgaben in vielen Fällen sogar überzuerfüllen. Wenn Nichtstun Arbeit ist, kann auch die Arbeitslosigkeit zur Ressource von Arbeit werden. Die ersten Entwürfe, die längere Pausen in die Arbeit integrieren, entstehen um 1982 in der Autostadt Flint in Michigan im Schatten einer Krise. Um Entlassungen zu vermeiden, solle die Arbeitszeit halbiert, die Freizeit mit selbstbestimmter Arbeit gefüllt werden: sechs Monate Arbeit, sechs Monate Freizeit. Man feiert die Teilzeitarbeitslosigkeit – den Hausbau, die Selbstversorgung, die Permakultur, das Urban Gardening – als Rückbesinnung auf eine «Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen» (Bergmann 2020, 323) und rehabilitiert so die Arbeit, an der man sich nur selbst erfreut, die Crabb noch als nichtiges Tun beschrieben hat. Mit der Arbeit an der Pause wirbt Frithjof Bergmann, der Erfinder von New Work. Bergmann hatte Philosophie in Princeton gelehrt, war unzufrieden und kündigte. Das «wahre Leben» wollte er auf den Spuren Henry David Thoreaus (1995, 59) in den Wäldern von New Hampshire finden: mit dem Anbau von Mais, Kohl, Kartoffeln und 20 anderen Gemüsesorten sich die Pause selbst verdienen. Aber das Low-Tech-Leben in den Wäldern war ihm wie schon Thoreau zu mühsam. Ohne Strom und Motorsäge fiel zu viel Zeit auf die Selbstversorgung. Bergmann träumte darum von einer «High-Tech-EigenProduktion» (Bergmann 2020, 22), von Apparaten, Materialien, Maschinen und Herstellungsarten, die es einer kleinen Gruppe ermöglichen, das Lebensnotwendige zu 60 bis 80 Prozent selbst herzustellen. Das ging nicht auf. Doch viele Entwürfe des bedingungslosen Grundeinkommens haben die Pause in ähnlicher Weise fortgedacht: die Nichtarbeit als Teil der Arbeit begriffen. Das unbedingte Grundeinkommen im Globalen Norden ist ein Leben an der Existenzgrenze, das mit Billigproduktionen im Globalen Süden rechnet – die Freiheit von Arbeit entkommt der Ökonomie nicht. «Blass, unscheinbar, bedauernswert anständig und rettungslos verloren, das war Bartleby». Er «saß in 89 P P seiner Einsiedelei über der eigenen Arbeit, blind für alles andere» (Melville 2010, 15 f.). Er arbeitete Tag und Nacht, machte niemals Pause bis zu jenem Satz, der uns seitdem unaufhörlich auf Anstecknadeln, Stoffbeuteln, T-Shirts und Kaffeetassen entgegeneilt: «Ich möchte lieber nicht.» Die Abschriften, die Herman Melvilles Schreiber Bartleby bis zuletzt dem Bürovorsteher schuldet, verweisen auf keine Etymologie, aber auf einen Namenszwilling: «ein Säckchen von Leinwand, mit Kohlen-, Kreide- oder Rötelstaub gefüllt, das der Maler, die Stickerin etc. durch eine durchstochene Zeichnung klopft, um dadurch die Zeichnung der Umrisse auf den Malgrund, den Stoff, etc. zu bringen (durchpausen, durchstäuben, kalkieren)» – das ist die Pause. «P. heißt auch eine mittels durchscheinenden Papiers von der Zeichnung genommene Kopie» (Meyer 1906, 521). Was faul ist an der Pause, kann man diesem Lexikoneintrag gut entnehmen. Die Pause entspringt keiner anderen Zeit. Sie ist keine Utopie, sondern Negativ und Kopie der Arbeit. «Die Abschriften! Die Abschriften! […] Ich möchte lieber nicht» (Melville 2010, 19). Wir wissen, wie das endet. «I would prefer not to» ist kein Protest, sondern nur «ein Säckchen von Leinwand, mit Kohlen-, Kreide- oder Rötelstaub gefüllt»: ein Spiegel, der jedem Satz unmittelbar seine Negation vor Augen hält. Wie kann man also die Freiheit finden, etwas ausgehen oder sein zu lassen? Indem wir dem Gras beim Wachsen zuschauen? – Nicht gießen! Die Hemmung wächst mit den Don’t-do-Listen. Nicht fliegen. Nicht tanken. Nicht kaufen. Nicht wachsen. Nicht lügen. Die Schwierigkeit, nein zu sagen, ist «ein Problem der Sprache im Zustand der Sprachlosigkeit», schreibt Klaus Heinrich. Protestari bedeute, vor Gericht das Schweigen zu brechen, damit das Schweigen nicht als Zustimmung gedeutet werden könne (2020, 43, 109). «Wo wird aus der Verweigerung Revolte, aus der zufälligen Blockade der organisierte Generalstreik?«, fragt Milo Rau (2023, 89). Aus Heinrichs Zustand, dem Wann und Wie des Protests, wird bei Rau ein konkreter Ort der 90 Utopie in der Gegenwart und in Melvilles A Story of Wall Street ein Problem der Zustellung. Über den toten Bartleby erzählt der Bürovorsteher rückblickend, er habe als kleiner Angestellter im Büro für unzustellbare Briefe gearbeitet. «Tote Briefe! Klingt das nicht wie tote, nicht zugestellte Menschen?» (Melville 2010, 64) Die Briefe verstummten, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten, die Revolte wurde nicht zugestellt. Am Fenster stehen, zur kahlen Wand hinüberträumen. Das Briefeschreiben lieber gleich sein lassen? Es fällt schwer, nein zu sagen – für das, was uns ausgeht, eine Perspektive zu finden. Das Nichtstun oder die leere Zeit stehen weniger für den Sonntag: die lange oder vermeintlich unendliche Weile. Die aufgebrauchte Zeit ist in vieler Hinsicht kein Haben, sondern ein Soll. Das Phlegma des Seinlassens kann nur überwinden, wer nicht nichts tut. GLORIA MEYNEN Lit.: Barthes, Roland (2002): Mut zur Faulheit, Christine Eff, Le Monde Dimanche, 16. September 1979, in: ders.: Die Körnung der Stimme, Interviews 1962 – 1980, Frankfurt / M., 367 – 374. · Bergmann, Frithjof (2020): Neue Arbeit, neue Kultur, Freiburg. · Crabb, George (1826): English Synonyms Explained, in Alphabetical Order, with Copious Illustrations and Examples Drawn from the Best Writers, New York. · Heinrich, Klaus (2020): Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Freiburg, Wien. · Melville, Herman (2010 [1856]): Bartleby, The Scrivener. A Story of Wall Street, New York, London. · Meyer, Hermann Julius (1906): Meyers Großes Konversationslexikon, Bd. 15, Leipzig, Wien. · Rau, Milo (2023): Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay, Hamburg. · Montaigne, Michel de (1992): Wider den Müßiggang, in: ders.: Essais. (Versuche) nebst des Verfassers Leben nach der Ausgabe von Pierre Coste, Bd. 2, Zürich, 527 – 535. · Thoreau, Henry David (1995 [1854]): Walden; or, Life in the Woods, New York. PERSPEKTIVE In den Principia philosophiae stellt sich René Descartes das System der Wissenschaften als einen Baum des Wissens vor. Aus einigen metaphysischen Prinzipien, die als Wurzeln tief in die Erde hineinragen und dem Gebilde ein stabiles Fundament geben, wächst der Stamm der Physik, Zf M 30, 1/2024 Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 16, Heft 30 (1/2024), https://doi.org/10.14361/zfmw-2024-160134. Published by transcript Verlag. This work is licensed under the Creative Commons Attribution CC -BY -NC -ND 4.0 DE licence. GLORIA MEYNEN | CHRISTOPHER LUKMAN Repositorium für die Medienwissenschaft Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.) Was uns ausgeht 2024 https://doi.org/10.25969/mediarep/22001 Veröffentlichungsversion / published version Teil eines Periodikums / periodical part Empfohlene Zitierung / Suggested Citation: Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.): Was uns ausgeht, Jg. 16 (2024), Nr. 1. DOI: https://doi.org/10.25969/mediarep/22001. Nutzungsbedingungen: Dieser Text wird unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0/ Lizenz zur Verfügung gestellt. Nähere Auskünfte zu dieser Lizenz finden Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/ Terms of use: This document is made available under a creative commons Attribution - Non Commercial - No Derivatives 4.0/ License. For more information see: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/