Academia.eduAcademia.edu

Spätstil

2017, Zeitschrift für Ideengeschichte

Spätzünder Be n Hu tc h i nson Spätstil 1 Walter Pater: Die Renaissance. Studien in Kunst und Poesie, hg. von Sven Brömel u. Viktor Otto, übers. von Wilhelm Schölermann, Berlin 2008, S. 177 [Übers. mod., A.d.Ü]. Im letzten Kapitel seiner Studien zur Geschichte der Renaissance von 1873 zitiert Walter Pater den Ausdruck der Verzweiflung, die den Klassizisten Johann Heinrich Winckelmann nach seiner Ankunft in Rom überkam: «‹Unglücklicherweise gehöre ich zu denen›, ruft er aus (und zwar auf Französisch, dessen er sich gern beim Ausdruck lebhafter Gefühle bediente), ‹welche die Griechen Nachzügler, opsimatheis, Spätkluge nannten. Ich bin zu spät auf die Welt und zu spät nach Italien gekommen.›»1 Winckelmanns platonische Kategorie des ‹Opsimathen› zur Bezeichnung von jemandem, der erst spät im Leben lernt, kann in seinem Gebrauch einen Nachteil anzeigen – oder aber auch einen Vorteil, schließlich kann man «zu spät» kommen oder gerade spät genug. Der Eindruck der Spätzeitlichkeit, der weite Teile der modernen Kultur umtreibt, deutet darauf hin, dass diese opsimathische Perspektive weniger dem Mechanismus als unserem Verständnis von Spätzeitlichkeit geschuldet ist. Wir, die wir aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts auf die Ideengeschichte der Moderne zurückblicken, kommen natürlich zwangsläufig reichlich spät und finden bereits einen Kanon fertiger Begriffe von Spätzeitlichkeit und Spätstil vor. Doch unser später Auftritt mag auch ein Segen sein, insofern er uns eine Form der «späten Lektüre» ermöglicht, mit der wir die Annahmen und stillschweigenden Voraussetzungen dieses Kanons überdenken können. Kann es Erlass für diese Art von Erkennen geben, wie T. S. Eliots «alter Mann in einem dürren Monat» sinniert? Zweifellos schlägt sich im zeitgenössischen Interesse an Formen des Späten das generationelle Altern der geburtenstarken Nachkriegsjahrgänge nieder. Doch drückt sich darin im engeren https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 5 Spätzünder Rahmen der Künste zugleich die beharrliche Neigung aus, im Spätstil so etwas wie eine künstlerische Fassung des Erhabenen zu erblicken, die dabei einem erstaunlich konstanten Schema folgt: Tödlich verwundet, aber ästhetisch inspiriert verflucht der Künstler im Spätstil mit dem ganzen hartnäckigen Pathos eines durchdringenden Schwanengesangs den Tod des Lichts. Die wichtigste singuläre Leistung jener Disziplin von Spätzeitlichkeitsstudien, die sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre herausgebildet hat, besteht nun gerade darin, diesen verallgemeinernden Mythos des Spätstils zu entlarven – und tatsächlich zu zeigen, dass es so etwas wie einen Spätstil gar nicht gibt, nur unzählige Spätstile, eine Vielfalt kreativer und kritischer Konstrukte. Um Malvolio zu paraphrasieren: Einige Künstler werden spät geboren, einige erarbeiten sich Spätzeitlichkeit, und einigen wird sie zugeworfen. Das Wortspiel bietet einen besonders günstigen Ausgangspunkt, um Herangehensweisen an das Phänomen Spätstil zu betrachten, weil die ursprünglich in Shakespeares Was ihr wollt erörterte Eigenschaft nicht Spätzeitlichkeit ist, sondern Hoheit: nicht late style, sondern great style. Gerade sie aber ist, kurz gesagt, der Subtext von vielem, was unter dem Begriff Spätstil verstanden wird. Denn obwohl er beschreibenden Status beansprucht, ist der Begriff in der Praxis wertend, ein Mittel, um einem ausgewählten Kanon an Künstlern eine elitäre, quasi-transzendentale Statur zu verleihen. Was nicht heißen soll, dass sich dieser Kanon nicht im Nachhinein, nach dem Vorbild von Eliots «Tradition»,2 verändern ließe, wenn ein neues Modell von Spätzeitlichkeit Einzug hält. Theodor W. Adornos kurzer, stupend einflussreicher Essay von 1937 über Beethoven ist das einschlägige Beispiel hierfür. Dennoch bleibt der Kanon jener Künstler, denen durchgängig der Status des Späten zuerkannt wird, nicht nur erstaunlich klein – Tizian, Shakespeare, Rembrandt, Goethe, Beethoven, Picasso –, sondern er entspricht auch weitgehend den konventionellen Vorstellungen künstlerischen «Genies». Wie zeitgenössische Kritiker zunehmend registrieren, wirft dies eine Reihe interessanter Fragen auf. Kann es Abstufungen von Spätzeitlichkeit geben – vom Spät- zum Spätesten-Stil? –, oder handelt es sich um einen absoluten Begriff? Wie oft hört man von einem «mittelmäßigen» oder «mediokren» Spätstil? Und sind bestimmte Künstler per se schon spät? Der Ter6 2 Vgl. Eliots Essay «Tradition und individuelles Talent» [1919], in: T. S. Eliot: Werke, Bd. 2: Essays, Bd. 1, Frankfurt/M. 1967, S. 345–356. https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ben Hutchinson: Spätstil 3 Vgl. Ben Hutchinson: Lateness and Modern European Literature, Oxford 2016. 4 Francis Bacon: Neues Organon. Lateinisch-deutsch. Teilbd. 1, hg. von Wolfgang Krohn, übers. von Rudolf Hoffmann, Hamburg 1990, S. 179 (Nr. 84). 5 Ein Überblick über die frühneuzeitlichen Argumentationen findet sich bei Foster E. Guyer: «C’est nous qui sommes les anciens», in: Modern Language Notes 36.5 (1921), S. 257–264. 6 Charles Perrault: Parallèle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences (1688–1697), hg. von Hans Robert Jauss, München 1964, Bd. 1, S. 113. minus, so scheint es, ist vorgegeben; allzu oft haben Wissenschaftler und Kritiker gemeinsame Sache gemacht und ihren bevorzugten Helden Spätzeitlichkeit – und damit zugleich Hoheit, Größe – «zugeworfen». Sie haben auf diesem Wege eine postromantische Mythologie des späten Erhabenen geschaffen. Dass im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder Versionen dieser Auffassung von Spätzeitlichkeit auftauchen, deutet auf ihren verführerischen Reiz für endliche Menschen hin, die nach einer Form von Linderung der Sterblichkeit durch ästhetische Verwandlung streben. Es spricht allerdings auch für unsere Gewöhnung an ein normatives Modell, das – bis vor kurzem – erstaunlich selten in Frage gestellt wurde. Mit Malvolio gesprochen also umfasst die erste Kategorie, unter der man Spätzeitlichkeit betrachten kann, all jene, die «spät geboren» sind. Das mag widersinnig für den Begriff eines Spätstils klingen, der sich, wie immer er sonst konzipiert ist, zweifellos auf den letzten Teil eines Lebens beziehen muss. Versteht man sie jedoch nicht als individuelles, sondern als epochales Phänomen, erscheint die Spätzeitlichkeit als bestimmendes Merkmal zahlreicher Phasen der Moderne – ja, als hermeneutische Prämisse kann man in ihr gar ein Synonym für die Moderne sehen, ein Spiegelbild der nachaufklärerischen Fortschrittsbesessenheit. Ein Gutteil der modernen europäischen Literatur – um nur einen Bereich ästhetischen Wirkens herauszugreifen – lässt sich als ein Versuch verstehen, sich mit ihrem verspäteten historischen Status auseinanderzusetzen und diesen letztlich zu überwinden.3 Schon in der frühen Neuzeit hatte Francis Bacon behauptet: Das «Greisen- und großväterliche Alter der Welt […] muss von unserer Zeit ausgesagt werden»,4 ein Gefühl, das Descartes auf die plakative Formel herunterbrach, «c’est nous qui sommes les anciens».5 Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte der Streit der Alten und der Neuen die Frage des historischen Selbstverständnisses in den Mittelpunkt der Debatte um die Legitimität der Moderne gerückt – in den Worten von Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes: «nos premiers pères ne doivent-ils pas être regardés comme les enfants & nous comme les vieillards & les véritables Anciens du monde?»6 Perrault projiziert hier die kulturelle Entwicklung auf die menschliche Geschichte, um das späte 17. Jahrhundert nicht als ein Zeitalter der juvenilen Potenz, https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 7 Spätzünder sondern als eines der Vergreisung darzustellen: Nach der Kindheit des Altertums und dem Erwachsenenalter der Renaissance ist die Menschheit nunmehr in den Lebensabend der Moderne eingetreten. Aus dieser Perspektive erweist sich die «moderne» Literatur als eine Art Spätstil der kraftvollen Jugend der Antike. Im 19. Jahrhundert waren die Dichter dann zu den geheimen Gesetzgebern der Spätzeitlichkeit geworden. «Um diess zu können», argumentiert Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches, «müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig Epigonen.»7 Die Kategorie des Epigonen, die mit Immermanns post-Goetheschem Roman Die Epigonen von 1836 im modernen Europa endgültig fest etabliert war, zeichnet den Spätgekommenen als passives Opfer, das durch die historische Kontingenz seiner Geburt dazu verurteilt ist, zu spät zu kommen; neben dieser Kategorie lässt sich eine ödipale Variante postulieren, in der der Spätgekommene zum aktiven Autor seiner eigenen Authentizität wird, indem er eine überdeterminierte Vergangenheit in Frage stellt. Dass diese zwei Formen – wie die Kategorie des Opsimathen und die Termini der Querelle – beide auf die klassische Antike zurückblicken, ist kein Zufall: Das Ringen der Moderne um ein Selbstverständnis aus sich heraus ist im Kern ein philologisches Unterfangen. Die Fin-de-siècle-Dekadenz bietet unterdessen das offensichtlichste Beispiel für eine Epoche, in der das künstlerische Bewusstsein mit dem Gefühl «angeborener Grauhaarigkeit» (Nietzsche) verbunden war.8 Doch die Spätlinge des späten 19. Jahrhunderts erbten ihr graues Haar von der Romantik und vermachten es dem Modernismus. Im Wesentlichen erfand die Romantik das moderne Verständnis des Spätstils – indem sie es als logische Erweiterung ihrer Betonung des subjektiven, biographischen Selbst fasste –, während das modernistische Streben nach einer «dynamischeren Erschöpfung als der Erschöpfung der glorreichen Neunziger» (Ezra Pounds programmatische Formulierung von 1914)9 auf die anhaltende Bedeutung epochaler Modi von Spätzeitlichkeit verweist. Ob es in Adornos postmarxistischen Begriffen als 8 7 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 2, München 1999, S. 143. 8 Nietzsche: KSA, Bd. 1, S. 303. 9 Ezra Pound: Ferrex on Petulance, in: The Egoist, 1. Januar 1914, S. 9. https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ben Hutchinson: Spätstil 10 Gordon McMullan: Shakespeare and the Idea of Late Writing. Authorship in the Proximity of Death, Cambridge 2007, S. 277. Kritik einer «spätbürgerlichen» Subjektivität oder in den postfreudianischen Begriffen Harold Blooms als Verspätungsangst gedeutet wird, stets stellt das Gefühl der «späten Geburt» eine der treibenden Kräfte der ästhetischen Moderne dar. Damit bietet es zugleich im engeren Sinn den Kontext für eine Genealogie des Spätstils: von der romantischen Anwendung biographischer Paradigmen auf Beethoven und Mozart über die Patersche Betonung der erquickenden Heiterkeit von Shakespeares späten «Romanzen» bis zum modernistischen Verständnis des Spätstils als eines Fragments, das seine eigenen Ruinen stützt. Dass es sich hierbei um eine weitgehend im deutschsprachigen Kulturraum ausgeprägte Genealogie handelt, gehört zu den beachtlichen Lektionen der Geschichte des Spätstils. Von der Musikkritik des mittleren 19. Jahrhunderts (Wilhelm von Lenz’ Bestimmung der «drei Stile» Beethovens) bis zur Kunstkritik des frühen 20. Jahrhunderts (Heinrich Wölfflins Stiltypologie und Alois Riegls Erforschung der «Spätantike»), vom Hervortreten Goethes als normatives Modell eines abgeklärt heiteren Spätstils bis zur modernistischen Neufassung der Kategorie durch so unterschiedliche Denker wie Adorno, Gottfried Benn, Hermann Broch und Erich Neumann prägten die deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie die Paradigmen. Wie Gordon McMullan in seiner einflussreichen Studie Shakespeare and the Idea of Late Writing (2007) bemerkt: «War somit die deutschsprachige Romantik für die Erfindung des Spätstils verantwortlich, dann der deutschsprachige Modernismus in gewissem Sinne für seine Neuerfindung.»10 Selbst die Vorstellung einer epochalen Spätzeitlichkeit scheint im deutschen Sprachraum entstanden zu sein – Winckelmanns Opsimathe, Immermanns Epigonen –, um anschließend in der französischen Dekadenz wieder aufzutauchen. Man könnte weidlich über die Gründe für diese nationale Dominanz spekulieren: Liegen sie im Erbe der organizistischen Metaphorik der Romantik? In der Etablierung der Germanistik Mitte des 19. Jahrhunderts als Kompensation für eine «verspätete Nation»? In dem schieren kontingenten Umstand, dass Goethe und Beethoven Deutsche waren? Doch worin auch immer ihre Gründe bestanden, färbte die Vorherrschaft der deutschen Philologie die historischen Umstände und Begriffe der Debatte. Ein besonders folgenreicher Aspekt https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 9 Spätzünder dieser Konfiguration bestand in der international verbreiteten Verschmelzung von Spätstil und Altersstil – in einem Maße, dass man unter «late style» im Englischen heute fast selbstverständlich den Stil des hohen Alters versteht. Die bei weitem einflussreichste deutschsprachige Theorie des Spätstils war die Adornos. Als ausgebildeter Komponist verfügte Adorno über die Voraussetzungen, um einen Begriff zu reflektieren, der in der Musiktradition besondere Bedeutung genießt. Beethovens späte Streichquartette galten lange als das Paradigma für ein Spätwerk, wie Eliots Vier Quartette bestätigen.11 Adornos Theorie der Spätzeitlichkeit – die sich nicht nur in seinem frühen Beethoven-Aufsatz und den dazugehörigen Fragmenten findet, sondern auch in seiner Philosophie und Ästhetik insgesamt – umfasst Elemente aller drei «Malvolioschen» Kategorien: Er betrachtet die Modernisten als Spätgeborene (Modernismus verstanden als «das Veraltete an der Moderne»),12 er sieht Beethoven als jemand, der sich Spätzeitlichkeit «erarbeitet», und ganz gewiss wirft er sie zahlreichen Musikern und Schriftstellern zu, darunter Schönberg, Kafka und Beckett. Es überrascht daher nicht, dass nahezu alle jüngeren Kritiker sich in der einen oder anderen Form mit Adornos Theorie des unversöhnlichen, «katastrophischen» Spätwerks13 auseinandersetzen – Adornos jüngster Exeget Edward Said folgt dem Meister, wenn er den Spätstil als eine Art ontologisches «Exil» versteht.14 Überraschend ist hingegen, dass eine Reihe von ihnen Einwände gegen diese Theorie erhebt und geltend macht – um die Einleitung zu einer neueren, dem Thema Spätzeitlichkeit gewidmeten Ausgabe der New German Critique zu zitieren –, dass «die biographische Einmaligkeit des ‹Genies› den sozialen Kontext verdeckt».15 Zum Teil lässt sich dies als eine Reaktion auf die Neigung verstehen, Spätzeitlichkeit toten weißen Männern zuzuerkennen; traditionell ist der Spätstil eine höchst männliche und elitäre kritische Kategorie. Die Bemerkung signalisiert aber auch eine grundlegendere Gegenreaktion gegen jeden Versuch, Spätzeitlichkeit als abstrakten und essentiellen Begriff zu fassen. Wenn wir uns nun unserer zweiten Kategorie zuwenden – jenen Künstlern, die sich Spätzeitlichkeit «erarbeiten» –, zeigt sich, dass diese nicht unabhängig von der dritten Kategorie gedacht werden kann. Denn dies ist die bleibende Einsicht aus den jüngs10 11 Vgl. den Aufsatz von Thorsten Valk in dieser Ausgabe. 12 Theodor W. Adorno: Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: Gesammelte Schriften, Bd. 11: Noten zur Literatur, Frankfurt/M. 1974, S. 281. 13 «In der Geschichte der Kunst sind Spätwerke die Katastrophen». Vgl. Theodor W. Adorno: Spätstil Beethovens, in: Gesammelte Schriften, Bd. 17: Musikalische Schriften IV, Frankfurt/M. 1982, S. 13–17. 14 Edward Said: On Late Style, London 2006. 15 Karen Leeder: Figuring Lateness in Modern German Culture, in: New German Critique, Bd. 42, 2/125, August 2015, S. 8. https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ben Hutchinson: Spätstil 16 Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz [1967], übers. von Rodolphe Gasché, Frankfurt/M. 1985, S. 312. ten Kritiken: Einen Spätstil in irgendeinem gehaltvollen Sinne als künstlerische «Leistung» zu betrachten, impliziert eine Zuschreibung von außen. Was schließlich sollte es bedeuten, sich Spätzeitlichkeit zu erarbeiten? Wäre es gleichbedeutend damit, sich auf den Tod vorzubereiten, wie Ciceros bekanntlich von Montaigne übernommene Definition der Philosophie lautete? Vielleicht würden sich jene Künstler, die Spätzeitlichkeit bewusst reflektieren, dieser Definition anschließen, doch selbst dann ist nicht offensichtlich, dass daraus zwanglos identifizierbare und leicht übertragbare stilistische Merkmale hervorgingen. Und was ist, davon abgesehen, mit jenen Künstlern, die nicht wussten, dass sie bald sterben würden, oder die jung starben, «vor ihrer Zeit»? Wenn Spätzeitlichkeit angemessen nur ex post facto zuzuschreiben ist, ist nicht evident, dass sie sinnvoll in Echtzeit erreicht werden kann. Denn die Erarbeitung eines Spätstils impliziert eine kritische Perspektive, die sich nur dann vollständig einnehmen lässt, wenn keine weitere Entwicklung mehr möglich ist. Nicht umsonst interessierte sich Jacques Derrida für Spätzeitlichkeit, da sie, darin der Bedeutung gleich, im Prinzip immer «aufgeschoben» werden kann – will sagen, bis es zu spät ist. In Die Schrift und die Differenz betont Derrida die Freudschen Begriffe der «Nachträglichkeit» und der «Verspätung», jene «leitenden Begriffe des Freudschen Denkens», wie er sie nennt, aus denen er seine zentrale Idee des «Supplements» ableitet.16 Selbst Derridas hochtheoretisches Modell von Spätzeitlichkeit besteht jedoch auf der Spezifizität der künstlerischen Erfahrung. Im Fall der Künstler, deren Entwicklung eine leicht feststellbare «Zäsur» aufweist – sei es durch Krankheit oder Gebrechlichkeit (Beethoven, Schubert, Monet), sei es durch den Eintritt katastrophaler Ereignisse wie Krieg oder Exil (Ravel, Conrad, Thomas Mann) –, ist die als spät bestimmte Periode genau aus diesem Grund kontingent und nicht Ausdruck irgendeiner transzendentalen Essenz. Und dies gilt natürlich, bevor man auch nur an die vielen Fälle denkt, in denen der «Spätstil» nicht dem üblichen Modell entspricht, sei es, weil ihm keine «mittlere» Periode vorausgeht, weil er keinen Künstler, sondern einen Wissenschaftler charakterisiert, weil er einer Frau oder jemand Frühverstorbenem zugesprochen oder auf Künstler geringeren Ranges https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 11 Spätzünder ausgedehnt wird. Kurzum: Je näher man sie in Augenschein nimmt, desto deutlicher scheint die Auszeichnung «Spätstil» eine rein postume Ruhmeszuschreibung zu sein. Damit soll der Spätzeitlichkeit nicht ihr diskursiver Wert abgesprochen werden. Es geht vielmehr darum, wie die Entwicklung der Disziplin in den letzten Jahren nachweislich bezeugt, etwas mehr Klarheit über unsere entscheidende Mitwirkung an ihrer Konstruktion zu gewinnen. Es wird immer möglich sein, eine künstlerische Laufbahn in eine frühe, mittlere und späte Periode zu unterteilen; die Frage ist, was man davon hat. Treffen die Besonderheiten der letzten Jahre im Leben von Künstler A auch auf die letzten Jahre von Künstler B zu? Wenn sich das Hauptaugenmerk der jüngsten Arbeiten zum Spätstil auf «Malvolios» dritte Kategorie richtet – auf die Frage, wie Künstlern Spätzeitlichkeit «zugeworfen» wird –, hat dies seinen Grund darin, dass der Spätstil letztlich ebenso sehr eine hermeneutische wie eine künstlerische Kategorie ist. Nicht nur ist er ein Mittel, um einen Kanon der «Hochkultur» aufzustellen und abzugrenzen – einen Kanon, in dem «hoch» letztlich als spät statt als reif verstanden wird –, sondern er ist auch ein Mittel, um ausgewählte Künstler für die Nachwelt zu reklamieren, um sie, praktisch gesprochen, der Moderne einzuverleiben. «Rechtzeitigkeit und Spätzeitlichkeit», so der Titel des ersten Kapitels von Saids postum veröffentlichtem Buch On Late Style, hat sich als eine der umstrittensten idées reçues erwiesen. Künstler sollen in ihrer späten Periode sowohl am Ende ihrer Zeit als auch ihrer Zeit voraus sein, fin de partie und avantgarde in einem. Die modernistischen Konstruktionen des Spätstils bieten ein schillerndes Beispiel für diese zeitliche Doppelwertigkeit – neben seiner rückwirkenden Projektion einer modernen Ästhetik auf Beethovens Spätstil betrachtet Adorno Kafka und Beckett als die avanciertesten modernen Schriftsteller, gerade weil sie die Spätzeitlichkeit der Moderne zum Ausdruck bringen. Doch implizieren diese Konstruktionen zugleich die Probleme solcher Doppelwertigkeit: Denn wenn der Spätstil als spezifisch modern verstanden wird, wie kann er dann zugleich zeitlos und übertragbar sein? Statt eine feste Menge von Eigenschaften aufzuweisen, scheint der Spätstil eher einem Rorschachtest zu gleichen, bei dem der Betrachter in den Tintenklecksen sehen kann, was er will. 12 https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. Ben Hutchinson: Spätstil 17 Sandro Zanetti: Avantgardismus der Greise? Spätwerke und ihre Poetik, München 2012, S. 22. 18 Theodor W. Adorno / Thomas Mann: Briefwechsel 1943–1955, hg. von Christian Gödde u. Thomas Sprecher, Frankfurt/M. 2002, S. 87. Tatsächlich eignet sich dieser psychologische Ansatz letztlich vielleicht am besten, um die fortdauernde Aktualität des Begriffs zu verstehen. Künstler und Kritiker – Menschen – spekulieren auf Spätzeitlichkeit, weil sie auf «Hoheit», auf Größe spekulieren, darauf, die Sterblichkeit zu verwandeln, wenn nicht zu überwinden. Doch wie jede Spekulation ist auch diese mit Kosten verbunden: Die ästhetische Wertschätzung riskiert, in metaphysische Mythologisierung abzugleiten. Will man der simplen Gleichsetzung von Spätzeitlichkeit und Größe widerstehen, dann ist es an der langsamen, argwöhnischen Arbeit der Kritik, der allzumenschlichen Sehnsucht nach einem glücklichen Ende zu widerstehen. Klarheit über eine «späte Lektüre» im 21. Jahrhundert zu erlangen heißt, das kulturkritische Pathos der Spätzeitlichkeit beiseite zu setzen, um sich umso besser auf ihre ästhetischen Eigenschaften konzentrieren zu können. Wie Sandro Zanetti in einer wichtigen Studie zum Thema anmerkt: «Entscheidend bleibt, ob es gelingt, die Spätzeitlichkeit als interne Veränderungsqualität aufzuweisen und zu analysieren.»17 Dies soll jedoch nicht heißen, dass die Spätzeitlichkeit kein wertvolles interdisziplinäres und internationales Paradigma eröffnet; in einer von der Interdisziplinarität besessenen Zeit liegt einer der Gründe für das jüngste Revival der Studien zur Spätzeitlichkeit zweifellos an ihrer breiten Anwendbarkeit auf eine ganze Palette von Themen und Kulturen. Von ihrer strategischen Zweckdienlichkeit einmal abgesehen findet sich das vielleicht bestechendste intellektuelle Modell für die allgemeine Resonanz der Spätzeitlichkeit nach wie vor bei Adorno, dem Hohepriester der Disziplin. In einem Brief an Thomas Mann von 1951 über dessen Roman Der Erwählte weist Adorno die Spätzeitlichkeit geradezu als Kulminationspunkt europäischer Identität aus: «Die Kühnheit und Modernität dieser Dinge ist, sieht man von Joyce ab, beispiellos, nicht geringer aber die Behutsamkeit, mit der die Suspension des ‹Deutschen› vollzogen wird. Manches klingt, als wäre Ihnen an einer Verfallsstufe der Sprache, dem Emigrantendeutsch, die latente Möglichkeit eines Europäisch aufgegangen, die durch die nationale Spaltung verhindert ward, aber nun am Ende, wie eine Urschicht, durchleuchtet kraft des Spätesten […].»18 Bereits für Adorno ein Ausdruck der ästhetischen Bewunde- https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig. 13 Spätzünder rung, wird die Spätzeitlichkeit hier buchstäblich zu ihrem eigenen Superlativ. Die Moderne – wie sie Joyce und Mann repräsentieren – wird nicht nur als das Späte, sondern als das Späteste verstanden, als eine Kategorie, die Trennungen sowohl geographischer (als europäische Metasprache) als auch historischer Natur (als eine nun, «am Ende», freigelegte «Urschicht») nivelliert. Mit dem ganzen Pathos der Versöhnungssehnsucht der Nachkriegszeit empfiehlt Adorno Spätzeitlichkeit als eine Lingua franca der Ideengeschichte. Seine Darstellung impliziert jedoch auch, dass es letztlich wechselnde Grade an Spätzeitlichkeit geben könnte, von beginnender bis radikaler. Wo es einen Superlativ gibt, muss auch ein Komparativ existieren. Solche Relationen und semantischen Unterscheidungen zwischen dem Späten, dem Späteren und dem Spätesten zu treffen, ist gerade die Aufgabe des Kritikers; ein Alter schickt sich nicht für alle. Nicht alle Spätgeborenen erarbeiten sich Spätzeitlichkeit; jene aber, denen sie zugeworfen wird, verdienen zweifellos eine so genaue Differenzierung wie möglich. Wenn wir zweihundert Jahre, nachdem der Terminus mit den Romantikern in Umlauf kam, Künstlern, Musikern, Dichtern und sogar Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch weiterhin Spätzeitlichkeit attestieren wollen, sollte dies in voller Kenntnis der Kontingenz des Konzepts geschehen. Das späte Lernen muss ein Lernen über Spätzeitlichkeit sein. Aus dem Englischen von Michael Adrian 14 https://doi.org/10.17104/1863-8937-2017-2-5 Generiert durch IP '207.241.231.83', am 09.12.2020, 16:46:17. Das Erstellen und Weitergeben von Kopien dieses PDFs ist nicht zulässig.