Spätzünder
Be n Hu tc h i nson
Spätstil
1 Walter Pater: Die Renaissance.
Studien in Kunst und Poesie,
hg. von Sven Brömel u. Viktor
Otto, übers. von Wilhelm
Schölermann, Berlin 2008,
S. 177 [Übers. mod., A.d.Ü].
Im letzten Kapitel seiner Studien zur Geschichte der Renaissance von 1873 zitiert Walter Pater den Ausdruck der Verzweiflung, die den Klassizisten Johann Heinrich Winckelmann nach
seiner Ankunft in Rom überkam: «‹Unglücklicherweise gehöre ich
zu denen›, ruft er aus (und zwar auf Französisch, dessen er sich
gern beim Ausdruck lebhafter Gefühle bediente), ‹welche die Griechen Nachzügler, opsimatheis, Spätkluge nannten. Ich bin zu spät
auf die Welt und zu spät nach Italien gekommen.›»1 Winckelmanns platonische Kategorie des ‹Opsimathen› zur Bezeichnung
von jemandem, der erst spät im Leben lernt, kann in seinem Gebrauch einen Nachteil anzeigen – oder aber auch einen Vorteil,
schließlich kann man «zu spät» kommen oder gerade spät genug.
Der Eindruck der Spätzeitlichkeit, der weite Teile der modernen
Kultur umtreibt, deutet darauf hin, dass diese opsimathische Perspektive weniger dem Mechanismus als unserem Verständnis von
Spätzeitlichkeit geschuldet ist. Wir, die wir aus der Perspektive
des frühen 21. Jahrhunderts auf die Ideengeschichte der Moderne
zurückblicken, kommen natürlich zwangsläufig reichlich spät
und finden bereits einen Kanon fertiger Begriffe von Spätzeitlichkeit und Spätstil vor. Doch unser später Auftritt mag auch ein
Segen sein, insofern er uns eine Form der «späten Lektüre» ermöglicht, mit der wir die Annahmen und stillschweigenden Voraussetzungen dieses Kanons überdenken können. Kann es Erlass für
diese Art von Erkennen geben, wie T. S. Eliots «alter Mann in
einem dürren Monat» sinniert?
Zweifellos schlägt sich im zeitgenössischen Interesse an Formen des Späten das generationelle Altern der geburtenstarken
Nachkriegsjahrgänge nieder. Doch drückt sich darin im engeren
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Rahmen der Künste zugleich die beharrliche Neigung aus, im
Spätstil so etwas wie eine künstlerische Fassung des Erhabenen
zu erblicken, die dabei einem erstaunlich konstanten Schema
folgt: Tödlich verwundet, aber ästhetisch inspiriert verflucht der
Künstler im Spätstil mit dem ganzen hartnäckigen Pathos eines
durchdringenden Schwanengesangs den Tod des Lichts. Die wichtigste singuläre Leistung jener Disziplin von Spätzeitlichkeitsstudien, die sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre herausgebildet
hat, besteht nun gerade darin, diesen verallgemeinernden Mythos
des Spätstils zu entlarven – und tatsächlich zu zeigen, dass es so
etwas wie einen Spätstil gar nicht gibt, nur unzählige Spätstile, eine Vielfalt kreativer und kritischer Konstrukte. Um Malvolio zu
paraphrasieren: Einige Künstler werden spät geboren, einige erarbeiten sich Spätzeitlichkeit, und einigen wird sie zugeworfen.
Das Wortspiel bietet einen besonders günstigen Ausgangspunkt,
um Herangehensweisen an das Phänomen Spätstil zu betrachten,
weil die ursprünglich in Shakespeares Was ihr wollt erörterte Eigenschaft nicht Spätzeitlichkeit ist, sondern Hoheit: nicht late style,
sondern great style. Gerade sie aber ist, kurz gesagt, der Subtext
von vielem, was unter dem Begriff Spätstil verstanden wird. Denn
obwohl er beschreibenden Status beansprucht, ist der Begriff in
der Praxis wertend, ein Mittel, um einem ausgewählten Kanon an
Künstlern eine elitäre, quasi-transzendentale Statur zu verleihen.
Was nicht heißen soll, dass sich dieser Kanon nicht im Nachhinein, nach dem Vorbild von Eliots «Tradition»,2 verändern ließe,
wenn ein neues Modell von Spätzeitlichkeit Einzug hält. Theodor
W. Adornos kurzer, stupend einflussreicher Essay von 1937 über
Beethoven ist das einschlägige Beispiel hierfür. Dennoch bleibt
der Kanon jener Künstler, denen durchgängig der Status des
Späten zuerkannt wird, nicht nur erstaunlich klein – Tizian,
Shakespeare, Rembrandt, Goethe, Beethoven, Picasso –, sondern
er entspricht auch weitgehend den konventionellen Vorstellungen
künstlerischen «Genies». Wie zeitgenössische Kritiker zunehmend
registrieren, wirft dies eine Reihe interessanter Fragen auf. Kann
es Abstufungen von Spätzeitlichkeit geben – vom Spät- zum Spätesten-Stil? –, oder handelt es sich um einen absoluten Begriff?
Wie oft hört man von einem «mittelmäßigen» oder «mediokren»
Spätstil? Und sind bestimmte Künstler per se schon spät? Der Ter6
2 Vgl. Eliots Essay «Tradition
und individuelles Talent»
[1919], in: T. S. Eliot: Werke,
Bd. 2: Essays, Bd. 1,
Frankfurt/M. 1967,
S. 345–356.
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Ben Hutchinson: Spätstil
3 Vgl. Ben Hutchinson: Lateness
and Modern European
Literature, Oxford 2016.
4 Francis Bacon: Neues
Organon. Lateinisch-deutsch.
Teilbd. 1, hg. von Wolfgang
Krohn, übers. von Rudolf
Hoffmann, Hamburg 1990,
S. 179 (Nr. 84).
5 Ein Überblick über die
frühneuzeitlichen Argumentationen findet sich bei Foster
E. Guyer: «C’est nous qui
sommes les anciens», in:
Modern Language Notes 36.5
(1921), S. 257–264.
6 Charles Perrault: Parallèle des
Anciens et des Modernes en ce
qui regarde les Arts et les
Sciences (1688–1697), hg. von
Hans Robert Jauss, München
1964, Bd. 1, S. 113.
minus, so scheint es, ist vorgegeben; allzu oft haben Wissenschaftler und Kritiker gemeinsame Sache gemacht und ihren bevorzugten Helden Spätzeitlichkeit – und damit zugleich Hoheit,
Größe – «zugeworfen». Sie haben auf diesem Wege eine postromantische Mythologie des späten Erhabenen geschaffen.
Dass im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts immer wieder Versionen dieser Auffassung von Spätzeitlichkeit auftauchen, deutet
auf ihren verführerischen Reiz für endliche Menschen hin, die
nach einer Form von Linderung der Sterblichkeit durch ästhetische Verwandlung streben. Es spricht allerdings auch für unsere
Gewöhnung an ein normatives Modell, das – bis vor kurzem – erstaunlich selten in Frage gestellt wurde. Mit Malvolio gesprochen
also umfasst die erste Kategorie, unter der man Spätzeitlichkeit
betrachten kann, all jene, die «spät geboren» sind. Das mag widersinnig für den Begriff eines Spätstils klingen, der sich, wie immer
er sonst konzipiert ist, zweifellos auf den letzten Teil eines Lebens
beziehen muss. Versteht man sie jedoch nicht als individuelles,
sondern als epochales Phänomen, erscheint die Spätzeitlichkeit
als bestimmendes Merkmal zahlreicher Phasen der Moderne – ja,
als hermeneutische Prämisse kann man in ihr gar ein Synonym für
die Moderne sehen, ein Spiegelbild der nachaufklärerischen Fortschrittsbesessenheit. Ein Gutteil der modernen europäischen Literatur – um nur einen Bereich ästhetischen Wirkens herauszugreifen – lässt sich als ein Versuch verstehen, sich mit ihrem verspäteten
historischen Status auseinanderzusetzen und diesen letztlich zu
überwinden.3 Schon in der frühen Neuzeit hatte Francis Bacon
behauptet: Das «Greisen- und großväterliche Alter der Welt […]
muss von unserer Zeit ausgesagt werden»,4 ein Gefühl, das Descartes auf die plakative Formel herunterbrach, «c’est nous qui
sommes les anciens».5 Am Ende des 17. Jahrhunderts hatte der
Streit der Alten und der Neuen die Frage des historischen Selbstverständnisses in den Mittelpunkt der Debatte um die Legitimität
der Moderne gerückt – in den Worten von Charles Perraults Parallèle des Anciens et des Modernes: «nos premiers pères ne doivent-ils
pas être regardés comme les enfants & nous comme les vieillards
& les véritables Anciens du monde?»6 Perrault projiziert hier die
kulturelle Entwicklung auf die menschliche Geschichte, um das
späte 17. Jahrhundert nicht als ein Zeitalter der juvenilen Potenz,
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sondern als eines der Vergreisung darzustellen: Nach der Kindheit
des Altertums und dem Erwachsenenalter der Renaissance ist die
Menschheit nunmehr in den Lebensabend der Moderne eingetreten. Aus dieser Perspektive erweist sich die «moderne» Literatur
als eine Art Spätstil der kraftvollen Jugend der Antike.
Im 19. Jahrhundert waren die Dichter dann zu den geheimen
Gesetzgebern der Spätzeitlichkeit geworden. «Um diess zu können», argumentiert Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches,
«müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete
Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten
und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer
und nothwendig Epigonen.»7 Die Kategorie des Epigonen, die mit
Immermanns post-Goetheschem Roman Die Epigonen von 1836
im modernen Europa endgültig fest etabliert war, zeichnet den
Spätgekommenen als passives Opfer, das durch die historische
Kontingenz seiner Geburt dazu verurteilt ist, zu spät zu kommen;
neben dieser Kategorie lässt sich eine ödipale Variante postulieren,
in der der Spätgekommene zum aktiven Autor seiner eigenen Authentizität wird, indem er eine überdeterminierte Vergangenheit
in Frage stellt. Dass diese zwei Formen – wie die Kategorie des
Opsimathen und die Termini der Querelle – beide auf die klassische Antike zurückblicken, ist kein Zufall: Das Ringen der Moderne um ein Selbstverständnis aus sich heraus ist im Kern ein
philologisches Unterfangen.
Die Fin-de-siècle-Dekadenz bietet unterdessen das offensichtlichste Beispiel für eine Epoche, in der das künstlerische Bewusstsein mit dem Gefühl «angeborener Grauhaarigkeit» (Nietzsche)
verbunden war.8 Doch die Spätlinge des späten 19. Jahrhunderts
erbten ihr graues Haar von der Romantik und vermachten es dem
Modernismus. Im Wesentlichen erfand die Romantik das moderne Verständnis des Spätstils – indem sie es als logische Erweiterung ihrer Betonung des subjektiven, biographischen Selbst
fasste –, während das modernistische Streben nach einer «dynamischeren Erschöpfung als der Erschöpfung der glorreichen Neunziger» (Ezra Pounds programmatische Formulierung von 1914)9
auf die anhaltende Bedeutung epochaler Modi von Spätzeitlichkeit verweist. Ob es in Adornos postmarxistischen Begriffen als
8
7 Friedrich Nietzsche: Sämtliche
Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von
Giorgio Colli und Mazzino
Montinari, Bd. 2, München
1999, S. 143.
8 Nietzsche: KSA, Bd. 1, S. 303.
9 Ezra Pound: Ferrex on
Petulance, in: The Egoist,
1. Januar 1914, S. 9.
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Ben Hutchinson: Spätstil
10 Gordon McMullan:
Shakespeare and the Idea of
Late Writing. Authorship in
the Proximity of Death,
Cambridge 2007, S. 277.
Kritik einer «spätbürgerlichen» Subjektivität oder in den postfreudianischen Begriffen Harold Blooms als Verspätungsangst gedeutet wird, stets stellt das Gefühl der «späten Geburt» eine der treibenden Kräfte der ästhetischen Moderne dar. Damit bietet es
zugleich im engeren Sinn den Kontext für eine Genealogie des
Spätstils: von der romantischen Anwendung biographischer
Paradigmen auf Beethoven und Mozart über die Patersche Betonung der erquickenden Heiterkeit von Shakespeares späten «Romanzen» bis zum modernistischen Verständnis des Spätstils als
eines Fragments, das seine eigenen Ruinen stützt.
Dass es sich hierbei um eine weitgehend im deutschsprachigen
Kulturraum ausgeprägte Genealogie handelt, gehört zu den beachtlichen Lektionen der Geschichte des Spätstils. Von der Musikkritik des mittleren 19. Jahrhunderts (Wilhelm von Lenz’ Bestimmung der «drei Stile» Beethovens) bis zur Kunstkritik des frühen
20. Jahrhunderts (Heinrich Wölfflins Stiltypologie und Alois Riegls Erforschung der «Spätantike»), vom Hervortreten Goethes als
normatives Modell eines abgeklärt heiteren Spätstils bis zur modernistischen Neufassung der Kategorie durch so unterschiedliche
Denker wie Adorno, Gottfried Benn, Hermann Broch und Erich
Neumann prägten die deutsche Literaturwissenschaft und Philosophie die Paradigmen. Wie Gordon McMullan in seiner einflussreichen Studie Shakespeare and the Idea of Late Writing (2007) bemerkt: «War somit die deutschsprachige Romantik für die
Erfindung des Spätstils verantwortlich, dann der deutschsprachige Modernismus in gewissem Sinne für seine Neuerfindung.»10
Selbst die Vorstellung einer epochalen Spätzeitlichkeit scheint im
deutschen Sprachraum entstanden zu sein – Winckelmanns Opsimathe, Immermanns Epigonen –, um anschließend in der französischen Dekadenz wieder aufzutauchen. Man könnte weidlich
über die Gründe für diese nationale Dominanz spekulieren: Liegen sie im Erbe der organizistischen Metaphorik der Romantik?
In der Etablierung der Germanistik Mitte des 19. Jahrhunderts als
Kompensation für eine «verspätete Nation»? In dem schieren kontingenten Umstand, dass Goethe und Beethoven Deutsche waren? Doch worin auch immer ihre Gründe bestanden, färbte die
Vorherrschaft der deutschen Philologie die historischen Umstände und Begriffe der Debatte. Ein besonders folgenreicher Aspekt
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dieser Konfiguration bestand in der international verbreiteten Verschmelzung von Spätstil und Altersstil – in einem Maße, dass man
unter «late style» im Englischen heute fast selbstverständlich den
Stil des hohen Alters versteht.
Die bei weitem einflussreichste deutschsprachige Theorie des
Spätstils war die Adornos. Als ausgebildeter Komponist verfügte
Adorno über die Voraussetzungen, um einen Begriff zu reflektieren, der in der Musiktradition besondere Bedeutung genießt. Beethovens späte Streichquartette galten lange als das Paradigma für
ein Spätwerk, wie Eliots Vier Quartette bestätigen.11 Adornos Theorie der Spätzeitlichkeit – die sich nicht nur in seinem frühen Beethoven-Aufsatz und den dazugehörigen Fragmenten findet, sondern auch in seiner Philosophie und Ästhetik insgesamt – umfasst
Elemente aller drei «Malvolioschen» Kategorien: Er betrachtet die
Modernisten als Spätgeborene (Modernismus verstanden als «das
Veraltete an der Moderne»),12 er sieht Beethoven als jemand, der
sich Spätzeitlichkeit «erarbeitet», und ganz gewiss wirft er sie
zahlreichen Musikern und Schriftstellern zu, darunter Schönberg,
Kafka und Beckett. Es überrascht daher nicht, dass nahezu alle
jüngeren Kritiker sich in der einen oder anderen Form mit Adornos Theorie des unversöhnlichen, «katastrophischen» Spätwerks13
auseinandersetzen – Adornos jüngster Exeget Edward Said folgt
dem Meister, wenn er den Spätstil als eine Art ontologisches
«Exil» versteht.14 Überraschend ist hingegen, dass eine Reihe von
ihnen Einwände gegen diese Theorie erhebt und geltend macht –
um die Einleitung zu einer neueren, dem Thema Spätzeitlichkeit
gewidmeten Ausgabe der New German Critique zu zitieren –, dass
«die biographische Einmaligkeit des ‹Genies› den sozialen Kontext
verdeckt».15 Zum Teil lässt sich dies als eine Reaktion auf die Neigung verstehen, Spätzeitlichkeit toten weißen Männern zuzuerkennen; traditionell ist der Spätstil eine höchst männliche und
elitäre kritische Kategorie. Die Bemerkung signalisiert aber auch
eine grundlegendere Gegenreaktion gegen jeden Versuch, Spätzeitlichkeit als abstrakten und essentiellen Begriff zu fassen.
Wenn wir uns nun unserer zweiten Kategorie zuwenden – jenen Künstlern, die sich Spätzeitlichkeit «erarbeiten» –, zeigt sich,
dass diese nicht unabhängig von der dritten Kategorie gedacht
werden kann. Denn dies ist die bleibende Einsicht aus den jüngs10
11 Vgl. den Aufsatz von Thorsten
Valk in dieser Ausgabe.
12 Theodor W. Adorno: Versuch,
das Endspiel zu verstehen, in:
Gesammelte Schriften, Bd. 11:
Noten zur Literatur,
Frankfurt/M. 1974, S. 281.
13 «In der Geschichte der Kunst
sind Spätwerke die Katastrophen». Vgl. Theodor W.
Adorno: Spätstil Beethovens,
in: Gesammelte Schriften, Bd.
17: Musikalische Schriften IV,
Frankfurt/M. 1982, S. 13–17.
14 Edward Said: On Late Style,
London 2006.
15 Karen Leeder: Figuring
Lateness in Modern German
Culture, in: New German
Critique, Bd. 42, 2/125,
August 2015, S. 8.
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Ben Hutchinson: Spätstil
16 Jacques Derrida: Die Schrift
und die Differenz [1967],
übers. von Rodolphe Gasché,
Frankfurt/M. 1985, S. 312.
ten Kritiken: Einen Spätstil in irgendeinem gehaltvollen Sinne als
künstlerische «Leistung» zu betrachten, impliziert eine Zuschreibung von außen. Was schließlich sollte es bedeuten, sich Spätzeitlichkeit zu erarbeiten? Wäre es gleichbedeutend damit, sich auf
den Tod vorzubereiten, wie Ciceros bekanntlich von Montaigne
übernommene Definition der Philosophie lautete? Vielleicht würden sich jene Künstler, die Spätzeitlichkeit bewusst reflektieren,
dieser Definition anschließen, doch selbst dann ist nicht offensichtlich, dass daraus zwanglos identifizierbare und leicht übertragbare stilistische Merkmale hervorgingen. Und was ist, davon
abgesehen, mit jenen Künstlern, die nicht wussten, dass sie bald
sterben würden, oder die jung starben, «vor ihrer Zeit»? Wenn
Spätzeitlichkeit angemessen nur ex post facto zuzuschreiben ist,
ist nicht evident, dass sie sinnvoll in Echtzeit erreicht werden
kann.
Denn die Erarbeitung eines Spätstils impliziert eine kritische
Perspektive, die sich nur dann vollständig einnehmen lässt, wenn
keine weitere Entwicklung mehr möglich ist. Nicht umsonst interessierte sich Jacques Derrida für Spätzeitlichkeit, da sie, darin der
Bedeutung gleich, im Prinzip immer «aufgeschoben» werden kann
– will sagen, bis es zu spät ist. In Die Schrift und die Differenz betont
Derrida die Freudschen Begriffe der «Nachträglichkeit» und der
«Verspätung», jene «leitenden Begriffe des Freudschen Denkens»,
wie er sie nennt, aus denen er seine zentrale Idee des «Supplements» ableitet.16 Selbst Derridas hochtheoretisches Modell von
Spätzeitlichkeit besteht jedoch auf der Spezifizität der künstlerischen Erfahrung. Im Fall der Künstler, deren Entwicklung eine
leicht feststellbare «Zäsur» aufweist – sei es durch Krankheit oder
Gebrechlichkeit (Beethoven, Schubert, Monet), sei es durch den
Eintritt katastrophaler Ereignisse wie Krieg oder Exil (Ravel, Conrad, Thomas Mann) –, ist die als spät bestimmte Periode genau
aus diesem Grund kontingent und nicht Ausdruck irgendeiner
transzendentalen Essenz. Und dies gilt natürlich, bevor man auch
nur an die vielen Fälle denkt, in denen der «Spätstil» nicht dem
üblichen Modell entspricht, sei es, weil ihm keine «mittlere» Periode vorausgeht, weil er keinen Künstler, sondern einen Wissenschaftler charakterisiert, weil er einer Frau oder jemand Frühverstorbenem zugesprochen oder auf Künstler geringeren Ranges
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ausgedehnt wird. Kurzum: Je näher man sie in Augenschein
nimmt, desto deutlicher scheint die Auszeichnung «Spätstil» eine
rein postume Ruhmeszuschreibung zu sein.
Damit soll der Spätzeitlichkeit nicht ihr diskursiver Wert abgesprochen werden. Es geht vielmehr darum, wie die Entwicklung
der Disziplin in den letzten Jahren nachweislich bezeugt, etwas
mehr Klarheit über unsere entscheidende Mitwirkung an ihrer
Konstruktion zu gewinnen. Es wird immer möglich sein, eine
künstlerische Laufbahn in eine frühe, mittlere und späte Periode
zu unterteilen; die Frage ist, was man davon hat. Treffen die Besonderheiten der letzten Jahre im Leben von Künstler A auch auf
die letzten Jahre von Künstler B zu? Wenn sich das Hauptaugenmerk der jüngsten Arbeiten zum Spätstil auf «Malvolios» dritte
Kategorie richtet – auf die Frage, wie Künstlern Spätzeitlichkeit
«zugeworfen» wird –, hat dies seinen Grund darin, dass der Spätstil letztlich ebenso sehr eine hermeneutische wie eine künstlerische Kategorie ist. Nicht nur ist er ein Mittel, um einen Kanon
der «Hochkultur» aufzustellen und abzugrenzen – einen Kanon,
in dem «hoch» letztlich als spät statt als reif verstanden wird –,
sondern er ist auch ein Mittel, um ausgewählte Künstler für die
Nachwelt zu reklamieren, um sie, praktisch gesprochen, der Moderne einzuverleiben. «Rechtzeitigkeit und Spätzeitlichkeit», so
der Titel des ersten Kapitels von Saids postum veröffentlichtem
Buch On Late Style, hat sich als eine der umstrittensten idées reçues
erwiesen. Künstler sollen in ihrer späten Periode sowohl am Ende
ihrer Zeit als auch ihrer Zeit voraus sein, fin de partie und avantgarde in einem. Die modernistischen Konstruktionen des Spätstils
bieten ein schillerndes Beispiel für diese zeitliche Doppelwertigkeit – neben seiner rückwirkenden Projektion einer modernen Ästhetik auf Beethovens Spätstil betrachtet Adorno Kafka und Beckett als die avanciertesten modernen Schriftsteller, gerade weil
sie die Spätzeitlichkeit der Moderne zum Ausdruck bringen. Doch
implizieren diese Konstruktionen zugleich die Probleme solcher
Doppelwertigkeit: Denn wenn der Spätstil als spezifisch modern
verstanden wird, wie kann er dann zugleich zeitlos und übertragbar sein? Statt eine feste Menge von Eigenschaften aufzuweisen,
scheint der Spätstil eher einem Rorschachtest zu gleichen, bei dem
der Betrachter in den Tintenklecksen sehen kann, was er will.
12
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Ben Hutchinson: Spätstil
17 Sandro Zanetti:
Avantgardismus der Greise?
Spätwerke und ihre Poetik,
München 2012, S. 22.
18 Theodor W. Adorno /
Thomas Mann: Briefwechsel
1943–1955, hg. von Christian
Gödde u. Thomas Sprecher,
Frankfurt/M. 2002, S. 87.
Tatsächlich eignet sich dieser psychologische Ansatz letztlich
vielleicht am besten, um die fortdauernde Aktualität des Begriffs
zu verstehen. Künstler und Kritiker – Menschen – spekulieren auf
Spätzeitlichkeit, weil sie auf «Hoheit», auf Größe spekulieren, darauf, die Sterblichkeit zu verwandeln, wenn nicht zu überwinden.
Doch wie jede Spekulation ist auch diese mit Kosten verbunden:
Die ästhetische Wertschätzung riskiert, in metaphysische Mythologisierung abzugleiten. Will man der simplen Gleichsetzung von
Spätzeitlichkeit und Größe widerstehen, dann ist es an der langsamen, argwöhnischen Arbeit der Kritik, der allzumenschlichen
Sehnsucht nach einem glücklichen Ende zu widerstehen. Klarheit
über eine «späte Lektüre» im 21. Jahrhundert zu erlangen heißt,
das kulturkritische Pathos der Spätzeitlichkeit beiseite zu setzen,
um sich umso besser auf ihre ästhetischen Eigenschaften konzentrieren zu können. Wie Sandro Zanetti in einer wichtigen Studie
zum Thema anmerkt: «Entscheidend bleibt, ob es gelingt, die
Spätzeitlichkeit als interne Veränderungsqualität aufzuweisen
und zu analysieren.»17
Dies soll jedoch nicht heißen, dass die Spätzeitlichkeit kein
wertvolles interdisziplinäres und internationales Paradigma eröffnet; in einer von der Interdisziplinarität besessenen Zeit liegt einer
der Gründe für das jüngste Revival der Studien zur Spätzeitlichkeit zweifellos an ihrer breiten Anwendbarkeit auf eine ganze Palette von Themen und Kulturen. Von ihrer strategischen Zweckdienlichkeit einmal abgesehen findet sich das vielleicht
bestechendste intellektuelle Modell für die allgemeine Resonanz
der Spätzeitlichkeit nach wie vor bei Adorno, dem Hohepriester
der Disziplin. In einem Brief an Thomas Mann von 1951 über
dessen Roman Der Erwählte weist Adorno die Spätzeitlichkeit geradezu als Kulminationspunkt europäischer Identität aus: «Die
Kühnheit und Modernität dieser Dinge ist, sieht man von Joyce
ab, beispiellos, nicht geringer aber die Behutsamkeit, mit der die
Suspension des ‹Deutschen› vollzogen wird. Manches klingt, als
wäre Ihnen an einer Verfallsstufe der Sprache, dem Emigrantendeutsch, die latente Möglichkeit eines Europäisch aufgegangen,
die durch die nationale Spaltung verhindert ward, aber nun am
Ende, wie eine Urschicht, durchleuchtet kraft des Spätesten […].»18
Bereits für Adorno ein Ausdruck der ästhetischen Bewunde-
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13
Spätzünder
rung, wird die Spätzeitlichkeit hier buchstäblich zu ihrem eigenen
Superlativ. Die Moderne – wie sie Joyce und Mann repräsentieren
– wird nicht nur als das Späte, sondern als das Späteste verstanden,
als eine Kategorie, die Trennungen sowohl geographischer (als europäische Metasprache) als auch historischer Natur (als eine nun,
«am Ende», freigelegte «Urschicht») nivelliert. Mit dem ganzen
Pathos der Versöhnungssehnsucht der Nachkriegszeit empfiehlt
Adorno Spätzeitlichkeit als eine Lingua franca der Ideengeschichte.
Seine Darstellung impliziert jedoch auch, dass es letztlich wechselnde Grade an Spätzeitlichkeit geben könnte, von beginnender
bis radikaler. Wo es einen Superlativ gibt, muss auch ein Komparativ existieren. Solche Relationen und semantischen Unterscheidungen zwischen dem Späten, dem Späteren und dem Spätesten
zu treffen, ist gerade die Aufgabe des Kritikers; ein Alter schickt
sich nicht für alle. Nicht alle Spätgeborenen erarbeiten sich Spätzeitlichkeit; jene aber, denen sie zugeworfen wird, verdienen
zweifellos eine so genaue Differenzierung wie möglich. Wenn
wir zweihundert Jahre, nachdem der Terminus mit den Romantikern in Umlauf kam, Künstlern, Musikern, Dichtern und sogar
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens auch weiterhin Spätzeitlichkeit attestieren wollen, sollte dies in voller Kenntnis der Kontingenz des Konzepts geschehen. Das späte Lernen muss ein Lernen über Spätzeitlichkeit sein.
Aus dem Englischen von Michael Adrian
14
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