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Die Sprache des Raums

2017, transcript Verlag eBooks

Raum ist ein Welterkenntnis- und Weltbeschreibungssystem sowie Weltvermittlungs- und Weltgestaltungssystem.1 Die Arbeit des Architekten ist politischer Natur, da er mit der Gestaltung des menschlichen Lebensraums zugleich auch die Wahrnehmung von Gesellschaft formt, die wiederum seinen Handlungsspielraum vorgibt. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen, unserem Gefühl und Verstand wahr. Daher ist es nicht nur von Bedeutung, wie ein Raum aussieht, sondern ebenso wie er sich anfühlt, wie er riecht, klingt, sich verändert oder sich verhält, wenn wir mit ihm interagieren. 2 In Bezug auf unsere Wahrnehmung funktioniert Raum wie eine Sprache, da die Wechselwirkungen zwischen Körper und Umwelt nicht nur unser Überleben gewährleisten, sondern auch zum Gegenstand von Wissen und Erkenntnis werden können. Der Mensch ist in der Lage, die Bedingungen seiner Existenz in der Umwelt wahrzunehmen, zu kommunizieren und willentlich zu gestalten. Jeder Eingriff in die Umwelt verändert die Form unseres Lebensraums und hat damit zugleich Konsequenzen auf die Form unseres Zusammenlebens, die Entwicklungsdynamik von Individuen und Gesellschaften.3 Durch das Erleben und den Gebrauch des Kulturraums erschließen wir uns die überlebenswichtigen Praktiken und Funktionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Raumwahrnehmung initiiert und fördert einen generationsübergreifenden Lernprozess, der stetiger Erneuerung bedarf und daher niemals abgeschlossen sein kann. Junge Menschen nehmen wahr, wie Gesellschaft funktioniert und wo sie versagt. Am Gebrauch des Raums zeigt sich, was uns wichtig und nützlich ist oder seinen Zweck verloren hat, was es zu bewahren oder zu erneuern gilt. Die psychologisch-ästhetische Erforschung der Raumwahrnehmung ist daher die Leitwissenschaft der Umweltgestaltung, von der Stadtplanung über die Architektur bis zur Innenarchitektur und Szenografie.

Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 1/18 Die Sprache des Raums Abstract Raum ist ein Welterkenntnis- und Weltbeschreibungssystem sowie Weltvermittlungs- und Weltgestaltungssystem.1 Die Arbeit des Architekten ist politischer Natur, da er mit der Gestaltung des menschlichen Lebensraums zugleich auch die Wahrnehmung von Gesellschaft formt, die wiederum seinen Handlungsspielraum vorgibt. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen, unserem Gefühl und Verstand wahr. Daher ist es nicht nur von Bedeutung, wie ein Raum aussieht, sondern ebenso wie er sich anfühlt, wie er riecht, klingt, sich verändert oder sich verhält, wenn wir mit ihm interagieren. 2 In Bezug auf unsere Wahrnehmung funktioniert Raum wie eine Sprache, da die Wechselwirkungen zwischen Körper und Umwelt nicht nur unser Überleben gewährleisten, sondern auch zum Gegenstand von Wissen und Erkenntnis werden können. Der Mensch ist in der Lage, die Bedingungen seiner Existenz in der Umwelt wahrzunehmen, zu kommunizieren und willentlich zu gestalten. Jeder Eingriff in die Umwelt verändert die Form unseres Lebensraums und hat damit zugleich Konsequenzen auf die Form unseres Zusammenlebens, die Entwicklungsdynamik von Individuen und Gesellschaften.3 Durch das Erleben und den Gebrauch des Kulturraums erschließen wir uns die überlebenswichtigen Praktiken und Funktionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Raumwahrnehmung initiiert und fördert einen generationsübergreifenden Lernprozess, der stetiger Erneuerung bedarf und daher niemals abgeschlossen sein kann. Junge Menschen nehmen wahr, wie Gesellschaft funktioniert und wo sie versagt. Am Gebrauch des Raums zeigt sich, was uns wichtig und nützlich ist oder seinen Zweck verloren hat, was es zu bewahren oder zu erneuern gilt. Die psychologisch-ästhetische Erforschung der Raumwahrnehmung ist daher die Leitwissenschaft der Umweltgestaltung, von der Stadtplanung über die Architektur bis zur Innenarchitektur und Szenografie. Psychologische Ästhetik des Raums als Leitwissenschaft der Raumgestaltung Am Ende seines 104-jährigen schaffensreichen Lebens bringt Oscar Niemeyer, der neben Le Corbusier wohl wichtigste Architekt der Moderne, seine Entwurfshaltung auf den Punkt: „Ich glaube, dass sich die Frage nach der politischen Funktion in jedem Beruf stellt, besonders aber in der Architektur, weil sie in einen der wichtigsten Bereiche des menschlichen Lebens eingreift, in die gesellschaftlichen Beziehungen. Sie setzt sich mit der Stadt, dem Zusammenleben, dem Alltag und unser aller Raum auseinander. Der Architekt übt seine Funktion nämlich nur dann wirklich positiv aus, wenn er seinen Beruf als bewusste politische Tat begreift.“4 Der Politiker Winston Churchill brachte diese Erkenntnis 1943 anlässlich der Diskussionen um den Wiederaufbau der „Old Chamber“ des britischen Parlaments aus seiner Perspektive zum Ausdruck: „we shape our buildings and afterwards our buildings shape us“5. Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen. Die Kausalität der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum, Gesellschaft und Kulturraum, Architekt und Nutzer, ermöglicht die wissenschaftliche Erforschung der Raumwahrnehmung und Raumgestaltung. Durch die Analyse der Ursachen und Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten des Menschen erhalten wir eine empirische Grundlage für die 1 Alexander Gosztonyi; Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Alber 1976 Siehe hierzu auch: Franz Xaver Baier; Der Raum, König 2000 3 Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess, Burg Giebichenstein 2010 4 Oscar Niemeyer; Wir müssen die Welt verändern, Kunstmann 2013, S.15 5 http://www.parliament.uk/about/living-heritage/building/palace/architecture/palacestructure/churchill/ 2 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 2/18 methodische Gestaltung der Formen unseres Zusammenlebens. Wenn wir Räume für Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische Verantwortung für die Formung des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte und Funktionen von Gesellschaft. Die Wahrnehmung des Kulturraums legt entscheidende politische Erfolgsfaktoren moderner Gesellschaften offen, wie Bildung, Kultur, Sozialisierung, Verantwortung, Zeit, Arbeit, Familie, Freunde, Nachbarschaften, Mobilität, Sicherheit, Angst, Chancen, Risiken und Motivation. Raumgestalter müssen lernen, sich methodisch mit der Raumwahrnehmung von Menschen in konkreten Lebenssituationen auseinanderzusetzen und hieraus Strategien für die erfolgreiche und nachhaltige Gestaltung guter Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir müssen in jeder Raumsituation neu bestimmen und aushandeln, was gut für den Menschen und die Gesellschaft ist. Entwurfshandeln ist ethisches Handeln und gründet auf Verantwortung. Die Wirkungen von Räumen auf Menschen werden durch die empirische Erforschung der Raumwahrnehmung erkennbar. Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist entwicklungspsychologisch geprägt und damit abhängig von körperlichen und geistigen Faktoren des Individuums wie kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, klimatischen und topografischen Umweltfaktoren. Die Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten von Menschen sind daher nicht verallgemeinerbar, sondern müssen für jede Aufgabe neu bestimmt werden, was zum integrativen Bestandteil von Entwurf und Planungsleistungen werden muss. Für den nachhaltigen Erfolg gebauter Räume reicht es nicht aus, wenn wir alle Normen, Verordnungen, Gesetze und den Stand der Technik beachten. Die kontextbezogene Untersuchung und verantwortungsgeleitete Bestimmung der Bedingungen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens bildet die Kernaufgabe der Raumgestaltung. Die Wirkungen gebauter Räume müssen sich heute in einem komplexen Feld technischer Rahmenbedingungen entfalten, die in Regelwerken, Gesetzestexten und Verordnungen erfasst sind und auf konkrete Anwendungssituationen übertragen bzw. angepasst werden müssen. Die meisten technischen Parameter werden vor Beginn der Planung definiert, wie Raumprogramm, Raumgrößen, Funktionszuordnungen, Nutzungsanforderungen, Baukosten, Bauelemente, Baukonstruktionen, Ausnutzung, Baugrenzen, Abstandsflächen und Sicherheitsbestimmungen. Eine große Anzahl räumlicher Standards sind in nützlichen Regelwerken wie dem „Neufert“6 zusammengefasst, der jedoch leichtfertig oder grob fahrlässig als „Bauentwurfslehre“ bezeichnet wird. Raumprogramme werden nicht entworfen, sondern ermittelt. Sie sind eine Vorleistung für den Planungsprozess wie die Lastenermittlung der Tragwerksplanung. Entwerfen sollten wir vor allem die Beziehungen zwischen Menschen und ihrem Lebensraum, die sozialer, kultureller, wirtschaftlicher oder anderer Art sein können. Dieser Verantwortung müssen sich Entwerfer stellen. An der erreichten Qualität dieser Beziehungen misst sich der Erfolg von Entwurfsleistungen für Nutzer, Investoren und Gesellschaft. Wichtig sind Meinungsbildungsprozesse aller Beteiligten, die vor Planungsbeginn auf Grundlage einer zielgruppen- und situationsbezogenen Analyse aller sinnvollen Handlungsmöglichkeiten erfolgen sollten. Wer diesen Schritt auslässt und sich stattdessen auf Standards verlässt, gefährdet den nachhaltigen Erfolg der Investition und nimmt absehbare Risiken für Individuen und Gesellschaft in Kauf. Es dauert lange, bis Gesellschaften aus Fehlern lernen und Konsequenzen aus gescheiterten Planungsstrategien ziehen, weshalb sich diese trotz vieler kritischer Stimmen zu prekären Stadtquartieren und Bauprojekten der Nachkriegsmoderne stetig wiederholen. Problematisch sind zudem Fehleranalysen, die sich auf formale Aspekte konzentrieren. Nicht das Ornament war 1908 ein „Verbrechen“ 7, wie es Loos provokant formulierte, sondern die Verweigerung der Eliten, die Modernisierung der Wirtschaft auf die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens auszudehnen. Die schmucklosen Kuben moderner Architektur sind heute auch nicht das 6 Ernst Neufert; Bauentwurfslehre: Grundlagen, Normen, Vorschriften, Springer 2015 (Erste Auflage 1936) Siehe hierzu Schrift und Vortrag: Adolf Loos; Ornament und Verbrechen (1908), Quelle Commons https://de.wikisource.org/wiki/Ornament_und_Verbrechen 7 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 3/18 Problem, sondern das viel zu selten eingelöste Versprechen einer freiheitlicheren, sozialeren, gesünderen und kostengünstigeren Lebensform, wie es von der Avantgarde verkündet wurde.8 Um Oskar Niemeyer zur Ehrenrettung der Moderne noch einmal zu zitieren: „Vor vielen Jahren zeigte ich einmal dem deutschen Architekten Walter Gropius meine Casa das Canoas, die ich für ein Waldgebiet oberhalb von Rio de Janeiro entworfen hatte. Nach der Besichtigung sagte Gropius zu mir: Ihr Haus ist sehr schön, aber man kann es nicht vervielfältigen. Diese Worte erschienen mir unglaublicher Blödsinn.“9 Hier prallen zwei geistige Strömungen der Moderne aufeinander, das funktionale und das ästhetische Raumdenken. Im Funktionalismus tritt der Verwendungszweck eines Produkts in den Fokus der Problemlösung. Global gedachte Produkte werden in Bezug auf Nutzerstudien, Wirtschaftlichkeitsanalysen und technische Neuerungen standardisiert, um Gebrauch und Vermarktung unabhängig vom Kontext spezifischer Anwendungssituationen und Nutzerbedürfnisse zu gewährleisten. Der Entwurfsprozess funktionalistisch gedachter Architektur unterscheidet sich nicht mehr grundlegend vom Designprozess eines Automobils oder Rasierapparates. Für die andere Strömung ist Architektur Baukunst, die in Bezug auf individuelle, gesellschaftliche und situative Kontexte nach ästhetischer Qualität strebt. Ästhetik stammt vom altgriechischen Begriff „aísthēsis“, der sich mit „Wahrnehmung“ oder „Empfindung“ übersetzen lässt. Im Mittelpunkt der „Ästhetik des Raums“ steht die Auseinandersetzung mit den Formen unserer Raumwahrnehmung und den daraus ableitbaren Raumstrategien. Die Inhalte und Methoden der Raumwahrnehmung müssen wir nicht neu erfinden, sondern für spezifische Anforderungen der Raumgestaltung adaptieren, da sie bereits in der Psychologie erforscht und angewendet werden. Eine ergiebige doch noch immer weitgehend unerschlossene Quelle für das Raumdenken und die Raumgestaltung ist der Stand der Forschung in der Hermeneutik10, der Psychologischen Ästhetik11 und der Neuropsychologie12. Die Auseinandersetzung mit den Formen menschlicher Raumwahrnehmung kann zudem von vielen weiteren sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik oder den Kommunikations- und Medienwissenschaften profitieren. Hierdurch eröffnen sich im Vorfeld oder als Begleitung zum Entwurfs- und Planungsprozess viele produktive Felder transdisziplinärer Zusammenarbeit, die je nach Aufgabe und Möglichkeit variiert werden können. Da jeder Mensch einzigartig ist und jede Raumsituation individuell betrachtet werden muss, brauchen wir wahrnehmungspsychologisch fundierte Raumstrategien für die verständnisbildende Analyse und ästhetische Gestaltung von Baukunst. Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist subjektiv, folgt jedoch erklärbaren Bedürfnissen sowie verstehbaren Erlebens- und Verhaltenspräferenzen, die sich auf allgemeine Anforderungen, individuelle Neigungen und Stärken sowie soziokulturelle Prägungen zurückführen lassen. Evolutionär gebildete Bedürfnisse wie Orientierung, Sicherheit und Gemeinschaft sind bei allen Menschen vorhanden, jedoch nicht in gleicher Weise ausgeprägt oder situativ gefordert. Die Raumwahrnehmung eines Menschen verändert sich mit der körperlichen und geistigen Entwicklung im Verlauf des Lebens und wird von persönlichen Indikatoren wie Erfahrung und Wissen, Gesundheit und Krankheit, von Erfolgen, Misserfolgen, Neigungen, Abneigungen und Interessen beeinflusst. Menschen sind nicht nur verschieden, sie verändern sich zudem im lebenslangen Prozess der 8 Le Corbusier; Städtebau, Deutsche Verlags-Anstalt 2015 (Original: Urbanisme, 1925) und Le Corbusier; Ausblick auf eine Architektur, Birkhäuser 1981 (Original: Vers une architecture, 1923) Adolf Behne; Der moderne Zweckbau, Bauwelt Fundamente 1964 (Original 1926) Sigfried Giedion; Befreites Wohnen. Orell Füssli, Europäische Verlagsanstalt 1992 (Original 1929) 9 Oscar Niemeyer; Wir müssen die Welt verändern, Kunstmann 2013, S.25 10 Jürgen Habermas; Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp 2011 11 Die „Psychologische Ästhetik“ ist eine Unterdisziplin der Psychologie. Ästhetik wird hier als „Wissenschaft von der sinnlichen Erfahrung“ betrachtet. Vgl. Christian G. Allesch; Einführung in die psychologische Ästhetik, UTB 2006 12 Gerhard Roth; Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Surhkamp 2003 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 4/18 Individualentwicklung. Was dem Einen zu groß, offen, bunt, laut und geschäftig ist, kann den Bedürfnissen eines Anderen exakt entsprechen. Was heute zu unserer Lebensweise passt, kann morgen schon damit in Widerspruch stehen. Ebenso verhält es sich mit unseren Bedürfnissen nach Öffentlichkeit und Privatheit, Technik und Sinnlichkeit, Gemütlichkeit und Askese, Ruhe und Aktivität, Zeitgeist und Nachhaltigkeit, Spiritualität und Materialität, um nur einige Wirkungsgrößen unserer Raumwahrnehmung zu nennen. Fazit: 1. Die „Psychologische Ästhetik des Raums“ ist die Leitwissenschaft der Raumgestaltung. 2. Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen. 3. Wenn wir Räume für Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische Verantwortung für die Formung des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte und Funktionen von Gesellschaft. Raumqualität durch Personalisierung und Kontextualisierung der Wahrnehmung Die ästhetische Gestaltung unseres Lebensraums fordert eine humanistische Haltung von allen Beteiligten, von Architekten wie Investoren, Politikern, Fachplanern und Produzenten. Verantwortungsträger dürfen ihr Verhalten nicht an formalen Größen oder abstrakten Zielen ausrichten, sondern an konkreten lebensweltlichen Bedürfnissen von Individuen und Gemeinschaften im Kontext von Umwelt und Gesellschaft. Erfolgreiche Raumstrategien gründen sich auf exakte empirische Beobachtungen der Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten aller von der Baumaßnahme betroffenen Menschen in allen relevanten Handlungssituationen. Das sind in der Regel die bereits feststehenden oder angestrebten Nutzer und Nutzergruppen, aber auch Anwohner, Besucher, Bauherren, Investoren und andere gesellschaftliche Interessengruppen. Wer die legitimen Interessen anderer Beteiligter in den Blick nimmt und objektiv analysiert, kann einen verständnisfördernden Dialog führen, den Ausgleich unterschiedlicher Interessen bewirken und in seinen Entscheidungen der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Die aus der Analyse resultierenden Anforderungen an die Qualität der Raumwahrnehmung bilden die Planungs- und Diskussionsgrundlage im gemeinsamen diskursiven Ringen um die beste Lösung eines Raumproblems. Die funktionalen Anforderungen eines Raumproblems müssen zuerst situativ, problemorientiert und kontextbezogen wahrgenommen und analysiert werden, bevor sie im Entwurfsprozess gelöst werden können. Jede Raumform muss ihrer psychologischen Funktion folgen, das heißt entwicklungs- und verhaltenspsychologische, bildungs- und sozialpädagogische Ziele bei allen davon mittelbar und unmittelbar betroffenen Menschen erreichen. Die Ermittlung formaler Rahmenbedingungen wie Nutzfläche und Baukosten ist Teil der Analyse, doch niemals das Ziel und schafft daher auch keine Legitimation für gescheiterte Bauprojekte. Denn wem nutzen Räume und vor allem was für Schäden richten Lebensumwelten an, die zwar exakt nach formalen Vorgaben geplant wurden, jedoch dauerhaft negative Wirkungen auf das Lebensgefühl und die Handlungsmotivation ihrer Nutzer haben? Doch wie bekommen wir belastbare Fakten zur Wahrnehmungsqualität von Räumen? Die ästhetische Qualität von Räumen lässt sich mit qualitativen und quantitativen Methoden evaluieren. Durch eigene empirische Beobachtungen sowie wissenschaftlich korrekte Umfragen können differenzierte qualitative Aussagen über die Wahrnehmungsqualität von Räumen ermittelt werden. Umso konkreter, verständlicher und persönlicher die Fragestellung erarbeitet und die Umfrage durchgeführt wird, je höher ist der Aussagewert der Antworten. Darüber hinaus besitzen gezielte Exkursionen und Raumbesichtigungen einen hohen Aussagewert für die Analyse der Qualität von Räumen, wenn: Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 5/18 a) Die Wirkungen konkreter Raumsituationen auf das Nutzerverhalten beobachtet, dokumentiert und analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral erfolgen muss b) Die Nutzererfahrungen und Werturteile in Gesprächen erforscht, dokumentiert und analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral erfolgen muss c) Die Wirkungen konkreter Raumsituationen durch Selbstbeobachtung (Introspektion) erforscht, dokumentiert und analysiert werden, was subjektiv und durch eigene Werturteile erfolgen muss Menschen nehmen ihren Lebensraum immer personalisiert und situativ wahr, da sie sich stets eigenleiblich zur Umgebungssituation verhalten und die mit allen Sinnen erlebten Wahrnehmungsqualitäten unwillkürlich bewerten. Die emotionale Bewertung der Wirkungen von Räumen auf unseren Körperzustand erfolgt unwillkürlich durch die Aktivierung von Neurotransmittern im Gehirn. Die Ausschüttung von Hormonen wie Dopamin, Adrenalin oder Noradrenalin löst Belohnungsgefühle, Stress oder Angst aus. Melatonin hingegen sorgt dafür, dass wir zur Ruhe kommen und gesund schlafen. Das Hormon Oxytocin fördert Vertrauen, soziale Bindungen und soziales Verhalten. Wir können uns dieser unbewussten Bewertung der Erlebnisqualität von Raumen nicht entziehen, da sie in Bruchteilen einer Sekunde erfolgt, also lange bevor wir die Ursache für die Veränderung unseres Körperzustandes bewusst wahrgenommen haben. Es ist daher nicht einfach, den ersten emotional geprägten Eindruck einer Raumsituation zu überwinden und mittels rationaler Kriterien zu einer anderen Bewertung zu gelangen. Aus diesem Grund sind Details von entscheidender Bedeutung für die Raumwahrnehmung, da ein freudiger Moment, wie ein schöner Ausblick, eine angenehme Oberflächentextur oder eine anregende Farbe bereits ein positives Werturteil bewirken kann. Aus diesem Grund müssen wir spontane Gefühlsreaktionen aller Menschen erst nehmen wie Äußerungen: „das finde ich schön bzw. hässlich, das gefällt mir bzw. gefällt mir nicht“ oder Verhaltensreaktionen wie: „Interesse bzw. Interesselosigkeit, Freude bzw. Unmut, Enthusiasmus bzw. Aggression“. Die methodische Auseinandersetzung mit den Ursachen spontaner Gefühls- und Verhaltensreaktionen ermöglicht uns die Bildung rationaler Kriterien für die Analyse und Bewertung der Qualität konkreter Raumsituationen. Gefühle sind immer wahrhaftig. Es ist zwecklos, mit rationalen Argumenten dagegen anzureden. Wenn wir negative Gefühlsreaktionen ändern wollen, müssen wir die Ursachen erkennen, beseitigen und mit geeigneten Maßnahmen für Vertrauen sorgen. Moderne Gesellschaften brauchen hochdifferenzierte Räume für individuelle, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Praktiken des Zusammenlebens von Menschen. Wer die Formen unseres Zusammenlebens an idealtypischen Vorstellungen ausrichtet, die unserer Natur zuwiderlaufen, wird damit scheitern. Der Raum formt den Menschen nur insoweit, wie es in seiner Natur liegt. Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären Dimensionen und folgt entwicklungsbiologischen Prinzipien. Der Zeitraum, in dem Umweltfaktoren genetische Anpassungen auslösen, ist weitaus länger als die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit. Das menschliche Genom hat sich nach dem Stand der Forschung in den letzten hunderttausend Jahren nicht mehr nachweisbar verändert. Die Formen unseres Zusammenlebens hingegen umso mehr. Jeder Mensch spürt instinktiv, welche Raumsituationen gut oder schlecht für ihn sind und meidet daher negative Raumerlebnisse, soweit es möglich ist. Prekäre, gefährliche oder triste Raumsituationen, denen Menschen dauerhaft ausgeliefert sind, verursachen psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen wie Depressionen, Bewusstseinsstörungen, Antriebslosigkeit, Aggressionen, Gewalt oder Drogenkonsum. In den Städten und Landschaften von Entwicklungsländern wie Industriestaaten lassen sich zahlreiche Räume finden, die dauerhaft negative Wirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen haben. Soziale Probleme der Vormoderne wurden nicht nachhaltig gelöst, sondern haben durch den Städtebau und die Architektur der Moderne eine neue Dimension erhalten. Die Transformation weiter Teile des öffentlichen Raums in gesundheitsgefährdende Verkehrsflächen, wachsende Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten, der Mangel an Versorgungseinrichtungen oder die fehlende Urbanität ganzer Stadtquartiere haben Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 6/18 Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Handlungsspielraum aller Bürger. Ausdehnung und Verteilung von Problemlagen und begehrte Lagen lassen sich an Statistiken von Wohn- und Gewerbemieten ablesen, während die Qualität einzelner Objekte am Mietpreis oder Verkaufswert erkennbar wird. Wie alle mobilen Lebewesen suchen Menschen nach dem Lebensraum, der ihnen die besten Lebensbedingungen bietet. Sie ziehen weiter, wenn sie die Bedingungen darin nicht optimal finden, wodurch sich negative Effekte prekärer Raumsituationen immer weiter verstärken und auf die Umgebung ausdehnen. Andersherum steigen auch die Attraktivität, der Wert und die Nachfrage positiv wahrgenommener Lebens- und Arbeitsräume, weil Menschen ständig nach optimalen Lebensbedingungen suchen und einen hohen Aufwand dafür betreiben. Überlassen wir den Kulturraum allein dem ökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage, fördert das Spannungen, Neid, Gewalt, Verteilungskämpfe, Verdrängungen und soziokulturelle Segregation. Fazit: 1. Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären Dimensionen, weshalb erfolgreiche Raumgestaltung nicht an abstrakt gefassten Funktionen, sondern an den Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten der Nutzer im Kontext konkreter Umweltsituationen ausgerichtet sein muss. 2. Erfolgreiche Raumgestaltung muss nach wahrnehmungspsychologischen Prinzipien erfolgen. Zielvorgaben sollten nicht an formalen, sondern psychischen Faktoren ausgerichtet werden, wie die Schaffung von Sicherheit, Vertrauen und Orientierung, die Bildung von Identität, Gemeinschaft und Gesellschaft, den nachhaltigen Erhalt der Spezies und die Förderung des Nachwuchses, die Bewahrung und Pflege des eigenen Lebensraums, die Sicherung von Nahrung und Gesundheit, die Ermöglichung von Kommunikation und Wissenserwerb. 3. Positive und negative Wirkungen von Räumen verstärken sich durch evolutionär determiniertes Nutzerverhalten, da Menschen beständig auf der Suche nach dem optimalen Lebensraum für sich und ihre Bezugspersonen sind. Der Kulturraum als primäre Wissensform des Menschen Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Phänomen des Raums folgt der Frage nach der Natur unseres Seins in der Umwelt.13 Räumlich und zeitlich wirksame Veränderungen im Verhältnis von Körper und Umwelt bestimmen die Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit. Durch jede Interaktion mit der Umwelt erfahren wir etwas mehr über die Art und Weise unserer lebensweltlichen Existenz. Die körperhaften Formen unserer haptischen Wahrnehmung sind Material und Oberfläche. Die bildhaften Formen unserer visuellen Wahrnehmung sind Licht und Farbe. Die musischen und sprachlichen Formen unserer auditiven Wahrnehmung sind Töne und Klänge. Die Formen unserer Wahrnehmung werden zu Sinnesmedien, wenn wir uns mit ihren kommunikativen Funktionen auseinandersetzen. Die Synthese unserer sinnlich erworbenen und gedanklich reflektierten Erfahrungen erfolgt im Gehirn, in dem sich ein räumlich und zeitlich strukturiertes Wissensmodell unserer Lebenswelt bildet, das wir durch Lernprozesse lebenslang erweitern und aktualisieren. Unser Erfahrungswissen können wir über gedankliche Reflexion in unserem Vorstellungsraum aktivieren und durch die Herstellung neuer komplexerer Sinnzusammenhänge permanent restrukturieren. Dennoch bleibt das Vorstellungsvermögen und Wissen jedes Menschen auf das Leistungsvermögen seines Gehirns begrenzt, weshalb Gesellschaften andere Formen 13 Zur Phänomenologie des Raums siehe auch: Edmund Husserl; Ding und Raum, Meiner 1991 (Vorlesungen 1907) oder Maurice Merleau-Ponty; Phänomenologie der Wahrnehmung, de Gruyter 1966 (Original: Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard, 1945) Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 7/18 der Speicherung, Vermittlung und Bildung von Wissen benötigen, die sich mit den baulichen, inhaltlichen und funktionalen Strukturen ihres Kulturraums selbst geschaffen haben. Raum und Zeit bestimmen die Formen unserer Wahrnehmung und determinieren hierüber auch all unsere Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Alle Wissenschaften entwickeln und nutzen daher spezifische Raummodelle, in deren Grenzen sich die Beziehungen abstrakt definierter Entitäten wie Punkte, Linien und Zahlen oder qualitativ definierter Größen wie Kräfte, Elemente, Masseteilchen oder Energiequanten verorten, beschreiben und erklären lassen. Formal-, Natur-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften nutzen unterschiedliche Raummodelle, die jedoch eines gemeinsam haben. Sie orientieren sich an der räumlichen Form unseres Erlebens, Handelns, Denkens und Wissens. Unser Wissen ist a priori räumlich strukturiert, da es sich auf eigenleibliche Erfahrungen gründet und nur durch lebensweltliche Bezüge erklärt und verstanden werden kann! Der Begriff Wissen geht zurück auf das althochdeutsche Wort „wizzan“, dessen indogermanische Wurzel auf die Tätigkeit des „Erblickens“ und „Erkennens“ verweist. Mit der Wahrnehmung einer Sache bildet sich Wissen um den Sachverhalt, die Art und Weise, wie wir den Gegenstand im Kontext der Erlebnissituation erfahren haben. Unser Erfahrungswissen (griech. empeiría) ist Grundlage der empirischen Wissenschaften, in denen Theorien durch empirische Methoden wie Experimente, Beobachtungen oder Befragungen bestätigt oder falsifiziert werden. Unser subjektiv gewonnenes Erfahrungswissen wird durch Beweise bzw. die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit von Erkenntnis objektiviert. Das Verhältnis zwischen dem Subjekt und Objekt der Wahrnehmung ist immer zeitlich und räumlich bestimmt, da es nicht nur die Dauer und Art unseres Erlebens, sondern ebenso auch die von uns erfahrenen Eigenschaften und Verhaltensweisen beinhaltet. Jedes Objekt unserer Wahrnehmung erlangt hierdurch seine zeitliche, räumliche, quantitative und qualitative Bestimmtheit, seine Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, sein hier oder dort, davor oder dahinter, darüber oder darunter, darauf oder daneben, um nur einige unserer Bezugsgrößen zu nennen. Wahrnehmung ist daher niemals absolut, sondern immer relational. Das trifft in gleicher Weise auf die Natur unseres Wissens zu. Spätestens seit dem Erfolg der von Albert Einstein entwickelten „Relativitätstheorie“14 gilt es auch in den Naturwissenschaften als akzeptiert, das sich die Struktur von Zeit und Raum mit der Beobachterperspektive verändert. Empirisch gewonnenes Wissen ist ein Produkt unserer Raumwahrnehmung. Wissen ist relational, weil es von unserer Erkenntnisfähigkeit begrenzt, über unsere Erinnerungstätigkeit reproduziert und durch unseren Meinungsbildungsprozess emotional bewertet wird. Ohne die Erinnerung an unsere Vorerlebnisse, die andere Orte, Zeiten und Ereignisse beinhaltet, lässt sich die Gegenwart unseres Erlebens nicht verstehen und erklären. Im Wahrnehmungsprozess bilden und aktualisieren wir unser Wissen, da von Außen kommende Informationen vorhandene Inhalte im Gedächtnis aktivieren, die nach den Prinzipien höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit, Verständlichkeit und Widerspruchsfreiheit erweitert und aktualisiert werden. Weit über 90% unseres Wissens bleibt uns zeitlebens unbewusst. Wir nutzen es, ohne es zu bemerken, zum Beispiel bei der Orientierung im Natur- und Kulturraum. Auch ohne das Erscheinungsbild unserer Städte vor Augen zu haben, können wir viele Wege finden. Sollen wir einen Weg beschreiben, können wir uns meist nur an besonders markante Wegmarken erinnern. Wir stutzen jedoch sofort, wenn wir etwas Außergewöhnliches bemerken oder sich etwas verändert hat, wie ein Baugerüst oder eine auffällige Farbgestaltung, die am Vortag noch nicht da war. Handlungsroutinen zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie sehr schnell und intuitiv ausführen können, ohne ein Bewusstsein davon zu entwickeln. Der größte Teil unserer Wahrnehmungen bleibt als implizites Wissen im gleichnamigen Gedächtnis und sichert unser Überleben in komplexen Umweltsituationen. Wir haben keinen direkten Zugang zu diesem Wissensarchiv, können es jedoch durch Vergegenwärtigung und Reflexion vergangener Ereignisse in explizites Wissen 14 Albert Einstein; Über die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie, Springer 2012 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 8/18 transformieren. Nur das explizite Wissen steht uns unmittelbar für das Denken, Planen und bewusste Handeln zur Verfügung. Diese Wissenstransformation erfolgt in unserem Arbeitsgedächtnis, einem bewusstseinsfähigen Gedächtnisareal, dessen Speicherkapazität jedoch auf wenige Sekunden und sehr geringe Datenmengen beschränkt ist. Aus diesem Grund wird es auch als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet. Die Verweildauer von Informationen im Arbeitsgedächtnis lässt sich gezielt verlängern, wenn wir diese wie beim Skizzieren, Zeichnen oder Malen von Umweltsituationen oder beim Memorieren von Text in kurzen Intervallen erneut aufrufen. Versuche haben gezeigt, dass wir etwa sieben verschiedene Informationseinheiten (Chunks)15 im Arbeitsgedächtnis behalten können. Diese Beschränkung unserer bewussten Wahrnehmungskapazität kann für die Raumgestaltung von erheblicher Bedeutung sein, wenn Orientierung hergestellt und erhalten werden soll oder Botschaften in kurzer Zeit vermittelt werden müssen. Die Aktivierung von Wissen im Arbeitsgedächtnis können wir durch die Richtung unserer Aufmerksamkeit gezielt steuern. Im Denkprozess bleibt unsere Aufmerksamkeit auf den inneren Vorstellungsraum fokussiert. Ereignisse, die von außen kommen und für uns nichts mit dem Sachverhalt zu tun haben, werden daher als Ablenkungen oder Störungen wahrgenommen. Im Wahrnehmungsprozess hingegen oszilliert unsere Aufmerksamkeit zwischen äußerer Realität und innerer Vorstellung. Durch die Geschwindigkeit dieser Wechsel verschmelzen gegenwärtige mit vergangenen Ereignissen. Wir sehen, hören, tasten, spüren, riechen, schmecken daher immer auch das, was wir bereits vom Objekt oder Sachverhalt wissen. Die räumliche und zeitliche Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit beinhaltet in jedem Moment die komplette Ereigniskette unserer Existenz in der Umwelt. Fazit: 1) Wir erwerben Wissen durch die unbewusste und bewusste Wahrnehmung der Wirkungen von Umweltsituationen auf unser Erleben und Verhalten. 2) Wir können unser Wissen gezielt und methodisch durch Denken und bewusstes Handeln erweitern. 3) Wissen ist durch die leibliche Natur unseres Seins in der Umwelt zeitlich, räumlich, quantitativ und qualitativ strukturiert und in Bezug darauf beschreibbar. Die Bedeutung der Raumwahrnehmung für die Bildung Aus neurowissenschaftlicher Perspektive hat unser Kulturraum die Funktion eines ausgelagerten Gedächtnisses und Wissensarchivs, da wir ihn nicht nur als Lernort, sondern auch als Form unserer kollektiven Erinnerungen, gelebten Gegenwart und erhofften Zukunft verstehen, gebrauchen und gestalten. Der Kulturraum erzählt uns nicht seine, sondern unsere Geschichte, die wir aus der aktuellen Perspektive unserer Wahrnehmungssituation interpretieren und zugleich aktualisieren. Wenn wir wissen wollen, wie moderne Gesellschaften funktionieren, woraus sie bestehen, was sie voranbringt, behindert oder zerstört, müssen wir uns daher aktiv mit den Inhalten, Funktionen und der Formung unseres Kulturraums auseinandersetzen. Die Wissensarchivierung in Form von Büchern, Filmen, Bildern und Artefakten bildet einen festen Bestandteil in der großen Geschichte des gebauten Raums, in dem jedes Ding seinen Ort, seine Funktion und seinen Sinnzusammenhang erhält. Jeder Wahrnehmungsakt beinhaltet einen Lernvorgang, der uns jedoch nur dann bewusst wird, wenn wir uns den Wissenstransfer vergegenwärtigen. Wir bilden uns nicht nur in ausgewiesenen Lernräumen wie Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, sondern 15 The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Informationby Georg A. Miller, The Psychological Review, 1956, vol. 63, pp. 81-97 (http://www.musanim.com/miller1956/) Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 9/18 weit mehr noch über informelle Lernprozesse an den unzähligen Lernorten des Natur- und Kulturraums. Jeder Weg, jeder Aufenthaltsort schafft Raum für mannigfaltige Begegnungen, Entdeckungen und Interaktionen. Es gibt keinen Wahrnehmungsakt, durch den wir nicht etwas lernen, denn Wahrnehmung bewirkt neuronale Veränderungen im Gehirn wie die Bahnung neuer, die Verfestigung vorhandener oder den Abbau überflüssiger Verbindungsnetze. Die Qualität und Quantität des erworbenen Wissens steigt und fällt mit dem Lernpotenzial der Umweltsituationen und unserem Verhalten. Umso offener, neugieriger und aktiver wir uns Verhalten, je mehr können wir von der Umweltsituation lernen. Entscheidend für unseren Lernerfolg sind der Fokus der Aufmerksamkeit und der Neuheitswert der Information. Wiederholungen hingegen sind wichtig, wo vorhandenes Wissen verfestigt und in Form von Denk- und Handlungsroutinen reproduziert werden soll. Setzen wir uns längere Zeit nicht mehr mit einem Sachverhalt auseinander, weil er uns nicht mehr interessiert oder keine Anknüpfungsmöglichkeiten zu aktuellen Ereignissen bestehen, werden unsere Erinnerungen schwächer oder verschwinden ganz. Unsere Neugier ist ein angeborener Lerntrieb, den wir durch unsere Spielfähigkeit realisieren. Unsere Interessen hingegen werden von kognitiv erworbenen Denk- und Handlungsfähigkeiten bestimmt. Alle Menschen wollen etwas lernen und ahnen intuitiv oder nehmen bewusst wahr, wo sie spannende Spielmöglichkeiten oder interessante Herausforderungen für ihre Denk- und Handlungsfähigkeiten finden. Lernorte für spielerische Lernformen finden wir von selbst, wohingegen Lernorte für interessengeleitete Lernformen nur dann wahrgenommen werden, wen die Interessen durch den Erwerb von Denk- und Handlungsfähigkeiten geweckt wurden. Ausstellungen oder Museen werden daher nur dann zu Lernorten, wenn wir bereits ein Interesse an den präsentierten Objekten, Praktiken oder Sachverhalten entwickelt haben oder dieses durch die Art ihrer Präsentation entwickeln können. Im Naturraum funktioniert das evolutionäre Lernprinzip perfekt, da höher entwickelte Lebewesen ihre Lebensumwelt aktiv erkunden und über verschiedene Formen von Selbstund Umweltwahrnehmung nützliches Wissen sowie alle überlebensnotwendigen Verhaltenstechniken erwerben. Für das Überleben im Kulturraum können wir nicht allein auf intuitive Lerntechniken vertrauen, wollen wir ein freies, selbstbestimmtes und sinnerfülltes Leben führen. Für den Erwerb komplexerer Lerntechniken, Wissensbereiche und Handlungskompetenzen, die den Erfolg von Individuen in modernen Gesellschaften ermöglichen, haben wir institutionalisierte Lernorte geschaffen. Durch Interaktionen mit ihrem Lebensraum erwerben Kinder nicht nur alle überlebenswichtigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern auch die Voraussetzungen für den Beginn ihrer schulischen Bildung. In den gebauten Strukturen des Kulturraums leben sie mit Menschen, die ihnen etwas vorleben, zeigen und erklären. Jeder Ort schafft eine potenzielle Lernsituation, jeder Gegenstand kann zum Lernobjekt werden. Das informelle Lernen durch die Auseinandersetzung mit dem Kulturraum kann sich lebenslang fortsetzen, da Individuen in modernen Gesellschaften eine nahezu unerschöpfliche Vielfalt außerschulischer Lernorte zur Verfügung stehen. Informelles Lernen findet in privaten Räumen statt, bei Spiel und Austausch mit Familie und Freunden wie im öffentlichen Raum. Plätze, Straßen und Höfe, Museen, Theater, Konzerthallen, Galerien und Kinos oder Messen, Läden, Fabriken und andere Arbeitsstätten sind Orte der Begegnung und des Lernens. Unser Kulturraum ist der wichtigste Bildungsfaktor moderner Gesellschaften! Der Naturraum hingegen verliert zunehmend an evolutionärer Bedeutung für das Überleben unserer Spezies. Der evolutionäre Erfolg unserer Spezies zeigt sich nicht nur in der Zunahme der Weltbevölkerung, sondern mehr noch in der Besiedlung und Überformung des in gleichem Maße schrumpfenden Naturraums. In der entwicklungsbiologisch kurzen Zeitspanne unserer „kulturellen Evolution“ hat sich der Lebensraum Erde sehr stark zu unseren Gunsten verändert. Millionen von Arten müssen sich dem kulturellen Transformationsprozessen unseres Lebensraums anpassen, sich eine Nische suchen oder sie sterben aus.16 Wir 16 Jedes Jahr verschwinden etwa 10.000 - 50.000 Arten für immer von der Erde. Quelle: An animal-rich future, Joshua J. Tewksbury / Haldre S. Rogers, Science 25 Jul 2014: Vol. 345, Issue 6195, pp. 400 DOI: 10.1126/science.1258601 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 10/18 passen den Naturraum unseren gesellschaftlichen Bedürfnissen an, in dem wir ihn mit einem dichten Infrastrukturnetz topografisch gliedern und bautypologisch überformen. Die hierdurch erschlossenen Ressourcen ermöglichen das Wachstum und die Verdichtung von Siedlungsräumen, die wieder neue Infrastrukturen nach sich ziehen. Der Kulturraum wächst in Form eines nichtlinearen dynamischen Systems, dessen Entwicklung trotz städtebaulicher Planungsanstrengungen unvorhersehbar erscheint. Der Kulturraum ist der Lebensraum des Menschen, ein Ökosystem, das sich selbst reguliert. Erfolg hat, was einen gesellschaftlichen Nutzen bringt und einen kulturellen Wert für Individuen, Gruppen oder die Gesellschaft hat. Kulturelle Bildung erfolgt nach dem kulturevolutionären Prinzip der Nützlichkeit von Individuen für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Gesellschaft. Wir sind daher gar nicht so frei in der Gestaltung des Kulturraums, sondern folgen den Prinzipien der kulturellen Evolution. Die kulturelle Überformung der Natur spiegelt die Entwicklungsdynamik menschlicher Gesellschaften und schafft die Formen unseres Zusammenlebens. Die Gestaltung des Kulturraums muss grundlegende Forderungen von Gesellschaften wie Sicherheit, Orientierung, Ernährung, Gemeinschaft, Partnerschaft, Austausch, Fortbewegung oder Arbeit erfüllen. Der Kulturraum ist unser wichtigster Lernraum, der das Erleben und Verhalten von Individuen prägt und steuert. Die unzähligen informellen Lernprozesse finden unwillkürlich und weitgehend unbewusst statt, wenn immer wir Menschen, Dingen und Orten begegnen, um zu kommunizieren oder auf andere Weise zu interagieren. Der Kulturraum formt unser Bewusstsein, unsere Art zu Denken und zu Handeln und wird hierdurch zu unserer kulturellen Heimat. Wir spüren die Wirkungsmacht unseres Kulturraums am stärksten, wenn wir ihn zeitweise oder ganz verlassen. Ungewohnte Kulturräume wirken fremd und können je nach Lebenssituation instinktive emotionale Reaktionen wie Neugier oder Angst auslösen. Was wir wissen und was wir lernen können, gründet sich auf unsere Raumwahrnehmung. Der gesamte Wahrnehmungsraum ist ein Lernraum, da wir durch die Konsequenzen unserer Handlungen Erfahrungen bilden. Unser Gehirn stellt dabei beständig neue assoziative Verknüpfungen zwischen Ursache und Wirkung von Ereignissen her oder stärkt und schwächt die vorhandenen. Unser Gedächtnis enthält dennoch keine Ansammlung von Fakten oder Gestaltparametern, kein Formenarchiv und keine Vokabelsammlung. Durch die Wahrnehmung der Umwelt bildet sich im Gedächtnis unser Vorstellungsraum, das Modell der von uns erfahrenen Lebenswirklichkeit, in dem sich unser Wissen in anschaulicher wie sprachlicher Form repräsentiert. Wir können dieses Wissen auch in der Vorstellung aktivieren und neue Sinnzusammenhänge entdecken, in dem wir Nachdenken oder frei Fantasieren. Durch die hierdurch erzielte höhere und effizientere Vernetzung des vorhandenen Wissens erhöhen wir die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns. Wissen wird verständlicher, ist schneller verfügbar, kann effizienter für Problemlösungen eingesetzt und auf andere Handlungsfelder übertragen werden. Fazit: 1) Wir speichern Wissen nicht nur im Gedächtnis, sondern vielmehr noch im Wissensarchiv unseres Kulturraums in Form von Praktiken, Sprache, Texten, Büchern, Bildern, Filmen, Artefakten, Bauten und Infrastrukturen. 2) Raumwahrnehmung impliziert lernen, in positiver wie in negativer Hinsicht. Das Lernpotenzial des Kulturraums ist daher ein wichtiger Faktor für die Raumgestaltung. Jeder Ort ist eine potenzielle Lernsituation. 3) Die Lernmotivation des Menschen ist abhängig vom Erlebniswert und Handlungsangeboten des Kulturraums. Entscheidend für den Lernerfolg sind die Interessen des Menschen sowie der subjektiv empfundene Neuheitswert der Information. 4) Die Qualität und Quantität des informell durch Wahrnehmung erworbenen Wissens ist abhängig von der Dauer und Intensität der inhaltlichen Auseinandersetzung. Die Erregung und Steuerung von Aufmerksamkeit ist daher von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung von Lernsituationen. Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 11/18 5) Umso offener, neugieriger und explorativer sich Menschen im Raum Verhalten, je mehr können sie von der Umweltsituation lernen. Der Raum als Sprachsystem Der Kulturraum ist nicht nur unser Lebensraum, sondern hat darüber hinaus die Funktion eines Sprachsystems. Wir nehmen die in ihm versammelten Menschen, Objekte und Sachverhalte anhand ihrer Zeichenbedeutung wahr, wofür wir meist nur wenige konkrete Anhaltspunkte wie eine prägnante Form, Farbe, Geste, einen Laut, Geruch oder Geschmack benötigen. Das Zeichenprinzip der Lautsprache bildet einen festen Bestandteil im Sprachsystem unseres Kulturraums, da Worte und Bildelemente gleichermaßen auf konkrete Bedeutungen und Handlungszusammenhänge verweisen. Sobald wir mechanisch oder energetisch auf Umweltsituationen einwirken, können wir die Konsequenzen unserer Handlungen am eigenen Leibe spüren. Als Ursache unserer Sinnesempfindungen nehmen wir ein Objekt oder Sachverhalt wahr, der hierdurch zum Repräsentanten aller erfahrenen Erlebnis- und Verhaltenszustände wird. Objekt und Sachverhalt verlieren hierdurch die Einzigartigkeit ihrer Erscheinung in Zeit und Raum und werden zum Vertreter einer Kategorie, die im semantischen Gedächtnis angelegt und beständig erweitert wird. Das mit dem Objekt oder Sachverhalt verbundene Handlungspotenzial hingegen erzeugt eine andere Kategorie, die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert wird, damit wir es erkennen und gebrauchen können. Damit wir von einem Sprachsystem sprechen können, müssen vier Korrelate im Raum identifizierbar sein. 4 Korrelate einer Semiotik des Raums: a) b) c) d) Medium der Wahrnehmung Objekt der Wahrnehmung Subjekt der Wahrnehmung Kontext der Wahrnehmungssituation Dieser Zeichenprozess lässt sich als „Semiose“ bezeichnen, wobei ich mich nicht auf die Theorien von Charles Sanders Pierce oder Charles Morris, sondern auf Umberto Eco17 beziehe, dessen Betrachtungen der „Architektur als Massenkommunikation“ viele Gedanken einer „Zeichentheorie des Raums“ beinhalten. Ebenso grundlegend sind die Gedanken von Ernst Cassirer, der in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ bereits eine „Semiotik des Kulturraums“ entwirft.18 Cassirer verwendet den Symbolbegriff in einer umfassenden Form, die ich in ihrer Anwendung auf den gebauten Raum jedoch für problematisch halte. Die Formgebung nach Kriterien der Symbolwirkung ist eine Fehlinterpretation dieser Theorie mit häufig fatalen Folgen für Individuen und Gesellschaft. Sprache hat eine andere Aufgabe als die Formung von Sinnbildern oder Symbolen. Sie dient der Verständigung des Menschen und der Ermöglichung von Verstehensprozessen. Symbolische Formen können in Städtebau, Architektur und Innenraumgestaltung berechtigt sein, wo sie eine lebensweltliche Bedeutung und einen konkreten Nutzen für den Menschen haben, der keine unverhältnismäßigen Nachteile, Zwänge und Probleme verursacht. Ein runder Tisch ist nicht nur ein Symbol für die allseitige Bereitschaft zur Konfliktlösung, sondern er fördert auf Grund fehlender hierarchischer Merkmale und die Möglichkeit gegenseitiger Wahrnehmung tatsächlich Vertrauen, Respekt und Dialog. Die „Zeichentheorie des Raums“ ist als Mittel zur Analyse und Gestaltung von Räumen geeignet, wenn wir hierdurch zu einem tieferen Verständnis von Raumproblemen und zur Entwicklung von Raumstrategien gelangen, die sich in der Praxis bewähren. Unser Lebensraum ist ein Sprachsystem, dessen Zeichen zugleich die Objekte unserer leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sind. Im lateinischen Ursprung des 17 18 Umberto Eco; Einführung in die Semiotik, Wilhelm Fink 2002 Ernst Cassirer; Philosophie der symbolischen Formen, Meiner 2010 (Originalausgaben Band 1-3 1923-1929) Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 12/18 Wahrnehmungsbegriffes „percipere“ steckt die Handlung des Nehmens und Empfangens. Bevor wir etwas „für-wahr-nehmen“, müssen wir es zuerst aktiv mit Hilfe unserer Sinne erforschen, müssen es Ansehen, Nehmen, Fassen, Greifen, Tasten, Legen, Stellen, Transformieren, Bewegen, Fühlen, Riechen oder Schmecken. Die Qualität dieser Erfahrungen bestimmt, was wir verstehen, begreifen und wie wir das Erlebnis bewerten. Jede Sprache folgt den Formen unserer Wahrnehmung. Wir nehmen wahr, wohin wir uns orientieren müssen, wie wir Dinge benutzen oder mit was wir interagieren können. Alle bewussten Wahrnehmungen und Vorstellungen unserer Existenz in der Umwelt sind nicht nur räumlich und zeitlich, sondern auch sprachlich strukturiert. Über die sprachliche Strukturierung eignen wir uns die Umwelt an. Wir transformieren Umwelt in einen personalisierten Lebensraum, in dem uns alle Dinge Sinn und Bedeutung vermitteln, in dem sie ihren Platz haben und unseren Aufenthaltsort bezeichnen, in dem sie Verhaltenseigenschaften besitzen und Handlungsangebote signalisieren. Durch die sprachliche Strukturierung unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeit gelangen wir zur Erkenntnissen und Ausdrucksmitteln, über die wir mit anderen Menschen in Kommunikation treten können. Wir sind in der Lage, Umwelt so zu gestalten, dass sie von anderen Menschen verstanden und genutzt werden kann. Die sprachliche Strukturierung unseres Wahrnehmungsraums folgt dem Prinzip größtmöglichen Handlungserfolgs. Es sind die erkannten Irrtümer, Fehler und Misserfolge, durch die wir lernen, da unser Gehirn widersprüchliche Raumvorstellungen unwillkürlich korrigiert. Wird die sprachliche Struktur unseres Wahrnehmungsraums durch Alter, Krankheiten oder Unfälle beeinträchtigt, hat das Konsequenzen für unsere Erlebnis- , Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Wir können Menschen, Dingen und Orten plötzlich nicht mehr ansehen, warum sie da sind, wie sie sich verhalten oder wozu wir sie gebrauchen können. Andersherum vergrößern sich die anschaulichen oder verbalen Formen unseres Sprachvermögens, wenn wir uns gezielt mit dem Wahrnehmungsraum auseinandersetzen und lernen, Bedeutungen zu erkennen und Handlungsangebote zu nutzen. Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften weisen darauf hin, dass sich Fortschritte in der Raumwahrnehmung und Raumvorstellung in den Leistungsmerkmalen der neuronalen Strukturen unseres Gehirns repräsentieren. So lässt bei Taxifahrern eine messbare Vergrößerung des Gedächtnisareals feststellen, in dem wir innere Landkarten speichern.19 Jede Form der Umweltgestaltung hat Konsequenzen für ein grundlegendes Leistungspotenzial des Gehirns, unsere „räumliche Intelligenz“, die sich durch Interaktionen mit der Umwelt bildet und durch bildliche wie sprachliche Reflexion methodisch weiterentwickeln lässt. Unsere Fähigkeit zum „Raumdenken“ gründet sich auf die Reflexion der Raumwahrnehmung. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit der Raumwahrnehmung und die kritische Hinterfragung der Wirkungen von Raum auf unser Erleben und Verhalten können wir die sprachliche Struktur von Räumen sichtbar machen: 1. Im ersten Schritt müssen wir bewusst wahrnehmen, welche Raumelemente eine Zeichenbedeutung entfalten und uns hierdurch über den situativen Kontext des Ortes, das Erleben und Verhalten der hier versammelten Menschen und die Gebrauchsmöglichkeiten der verfügbaren Objekte informieren. 2. Im zweiten Schritt können wir wahrnehmen, worauf die Raumelemente inhaltlich referieren und welchen Gebrauchszweck oder welche Nutzungsmöglichkeiten sie uns hierdurch eröffnen. 3. Im dritten Schritt können wir wahrnehmen, wie der Raum auf Rezipienten bzw. Besucher oder Nutzer wirkt, deren emotionale und kognitive Reaktionen beobachten, erfragen und verstehen. 19 Maguire EA, Woollett K, Spiers HJ.; London taxi drivers and bus drivers: a structural MRI and neuropsychological analysis, PMID: 17024677, DOI: 10.1002/hipo.20233 (Department of Imaging Neuroscience, Institute of Neurology, University College London) Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 13/18 4. Im vierten Schritt können wir wahrnehmen, welche Interpretationsmöglichkeiten sich aus der Auseinandersetzung mit dem Raum eröffnen, welche Strategien zur Verräumlichung von Wissen existieren oder angewendet wurden. Raumstrategien – Atmosphärenforschung und Sprachforschung Für die Erforschung und Analyse unserer Raumwahrnehmung sowie der hieraus folgenden Raumstrategien zur Gestaltung des Kulturraums möchte ich zwei Wege skizzieren: 1) Mit der „intuitiven Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums“ lassen sich die sinnlich spürbaren Wirkungen von Atmosphären auf unser Erleben und Verhalten untersuchen. Die hieraus folgende Raumstrategie „Szenografie und Atmosphärenforschung“ eignet sich für die Inszenierung atmosphärischer Räume, die Erzeugung emotionaler Stimmungen und spontaner Gefühlsreaktionen, die Erzählung fantasievoller Geschichten oder die Entwicklung künstlerischer Interventionen. 2) Mit der „diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums“ lassen sich die kognitiv erklärbaren Wirkungen von Zeichen auf unser Erleben und Verhalten untersuchen. Die hieraus folgende Raumstrategie „Raumsemiotik und Sprachforschung“ eignet sich für diskursive Planungsverfahren, bei denen klar definierbare Zielvorgaben im Kontext konkreter Raumsituationen entwickelt, abgestimmt, definiert, erreicht und evaluiert werden müssen, wie die Wahrnehmung von Botschaften, die Herstellung von Orientierung, die Schaffung von Gebrauchswerten, Handlungsoptionen und Erlebnisqualität oder die Steuerung von Nutzerverhalten. Raumstrategie Szenografie und Atmosphärenforschung „Atmosphären“ sind der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Raumwahrnehmung, da sie unsere emotionale Stimmung im Erlebnis konkreter Raumereignisse widerspiegeln. Jede Veränderung unseres Körperzustandes wird von den emotionalen Zentren unseres Gehirns in Bruchteilen einer Sekunde unwillkürlich bewertet. Bis wir sehen, hören, tasten, schmecken oder riechen, worum es sich handelt, vergeht hingegen mehr als eine Sekunde, weshalb wir Räume immer in einer inneren Gestimmtheit wahrnehmen. Unsere emotionale Stimmung im Wahrnehmungsprozess spiegelt sich in der Atmosphäre der Raumsituation. Auf Grund unseres Einfühlungsvermögens wirken Räume auch dann noch auf den Menschen, wenn wir sie in Form von Bildern oder Filmen betrachten. Die Empathie nimmt mit der Immersion zu, weshalb uns Gemälde, Fotografien, Filme oder Rauminszenierungen oftmals mehr bewegen, als unsere Lebenswirklichkeit. Ein Gradmesser für die ästhetische Wirkung der Immersion (Eintauchen) ist die Faszination, die wir im Wahrnehmungsprozess einer Raumsituation erleben. Stimmungen haben eine überlebenswichtige Funktion für den Menschen, da sie Reflexe, Triebe und Instinkte aktivieren und spontane Gefühlsreaktionen fördern: a) durch Angstgefühle vor Gefahren warnen und Fluchtreflexe aktivieren b) durch Appetit auf Nahrungsangebote hinweisen und Nahrungsaufnahme aktivieren c) durch Lust auf Arterhaltungsangebote aufmerksam machen und Verführungsstrategien aktivieren d) durch Aggressionen die Kampfbereitschaft stärken und Angriffsstrategien aktivieren e) durch Motivation Handlungsmotivation steigern und Aktivitäten aktivieren f) durch Müdigkeit Entspannung hervorrufen und Schlafbereitschaft aktivieren g) durch Vertrauen Freundlichkeit hervorrufen und Partnersuche aktivieren h) durch Schmerz Mitleid hervorrufen und Hilfeleistungen aktivieren In der Regel haben Menschen ihre emotionalen Reaktionen soweit unter Kontrolle, dass sie spontane Handlungsreflexe unterdrücken können, was bei unwillkürlichen Gefühlsreaktionen Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 14/18 jedoch weit weniger gelingt. Die emotionalen Wirkungen einer Raumsituation lassen sich daher recht gut an der Gestik und Mimik von Menschen ablesen. Fragt man nach, können Menschen ihre Stimmung zudem oft recht präzise zum Ausdruck bringen. Durch die atmosphärischen Wirkungen von Raumsituationen auf unsere emotionale Stimmung ist es unmöglich, eine Raumsituation unvoreingenommen und wertneutral wahrzunehmen. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir uns in einem realen oder imaginierten Raum aufhalten. Worauf es ankommt, ist die suggestive Kraft der Bildwelten, Klangwelten, Geschichten oder Musik. Diese Erkenntnis nützt Architekten, Planern, Bauherrn, Investoren und anderen Planungsbeteiligten ganz konkret, wenn sie Wettbewerbsergebnisse verstehen und bewerten, Meinungsbildungsprozesse initiieren und moderieren oder Entscheidungen im Entwurfs- und Planungsprozess treffen und verantworten müssen. Die Atmosphäre eines Raumes prägt den ersten Eindruck, löst spontane Gefühlsreaktionen aus und beeinflusst das Werturteil, welches von rationalen Argumenten gestärkt, nur schwerlich revidiert werden kann. Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr, weshalb es für die Analyse der ästhetischen Wirkungen von Bedeutung ist, wie ein Raum aussieht, wie Farben und Licht erscheinen, wie er sich anfühlt, wie er klingt, riecht, schmeckt, sich verhält oder unsere Handlungen beeinflusst. Die Atmosphäre einer Raumsituation setzt sich aus allen sinnlich wahrnehmbaren Ereignissen zusammen. Unverständliche Geräusche, Töne, Klänge, Sprachfetzen, Musikfragmente, Gerüche, Farben, Licht, Reflexionen, Spiegelungen, Transparenzen, Bewegungen oder Berührungen werden in der Regel unbewusst verarbeitet. Wir nehmen sie nur dann wahr, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen oder wir darauf achten. Auch wenn atmosphärische Merkmale fehlen, spüren wir die ungewohnte Leere sofort, da Räume plötzlich künstlich und befremdlich wirken. In der Filmproduktion werden Atmosphären daher mit großem Aufwand für jede einzelne Szene entworfen und produziert. Hierbei werden alle filmisch darstellbaren Ebenen der Raumwahrnehmung sorgfältig in Szene gesetzt bzw. inszeniert. In der Szenografie wird die Raumstrategie der atmosphärischen Inszenierung für die Gestaltung von Theateraufführungen, Ausstellungen, Messen oder Events eingesetzt. In der Szenografie werden Menschen, Objekte, Handlungen, Lichtstimmungen, Farbthemen, Sprache und Sound professionell entworfen und in Bezug auf die ästhetische Wirkung und inhaltliche Funktion des Ganzen in Szene gesetzt. Im Städtebau und in der Architektur der Gegenwart werden die atmosphärischen Wirkungen häufig vernachlässigt. Das ist problematisch, da jeder Gang, jede Fahrt oder jeder Flug über Landschaften und Siedlungsräume starke atmosphärische Wirkungen auf den Menschen ausübt, die seine emotionale Stimmung prägen und sein Verhalten beeinflussen. Die atmosphärische Qualität von Plätzen, Straßen und Gebäuden steigt, wenn sie für die Handlungen von Menschen perspektivisch, dynamisch, haptisch, klanglich in Szene gesetzt wird, was bei der Stadtgestaltung und Architektur der Vormoderne sehr häufig beobachtet werden kann. Zum Klangbild historischer Stadträume gehören Menschen, die sich dort aufhalten, sich begegnen, arbeiten, streiten, vergnügen und austauschen. In den Sichtachsen und an den Eckpunkten wurden häufig besonders wichtige Gebäude angeordnet und durch Formung, Materialität und Oberflächengestaltung herausgehoben. Das ermöglicht einfache Orientierung und bildet Identität. Besonders wichtige Plätze wurden häufig durch Wasserspiele und Brunnen aufgewertet, die zentrale Elemente für die Menschen sind, ganz gleich ob sie sich dort aufhalten oder die dort versammelten Menschen in den Blick nehmen. Wir nehmen fließendes Wasser als Teil der Geräuschkulisse und haptisch spürbare Erfrischung wahr, auch wenn wir das kühle Nass nicht direkt am Körper spüren. Die Materialien historischer Plätze, Straßen und Wege wurden häufig aus dem Naturstein der Umgebung gefertigt, was regionale Identität vermittelt und zudem nachhaltig ist, da Naturmaterialien sehr langsam und in „Würde“ altern. Dem gegenüber stehen heute häufig Infrastrukturen für den motorisierten Verkehr, dessen schmutzig graue übelriechende, vielfach geflickte Asphaltflächen weder Aufenthaltsqualität noch Identität erzeugen. Noch problematischer ist die Formung der Gebäude, die sich häufig vom lauten schmutzigen öffentlichen Verkehrsraum abwendet. Die im Raster angelegten schmucklosen Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 15/18 ungegliederten Fassaden, die versteckten anonymen Eingangssituationen oder die von dicken Kunststoffrahmen gefassten kleinen Fensteröffnungen, die oft nur wenig Licht in winzige Innenräume lassen. Die visuelle Haptik historischer Fassaden wird oftmals von Putzflächen geprägt, die durch Texturen, mineralische Farbanstriche oder Ornamente und Wandmalereien gegliedert und personalisiert werden. Häuser, Quartiere, Städte erhalten hierdurch ihren Charakter und ihre Aufenthaltsqualität für den Menschen, ganz gleich ob es sich um Bewohner oder Besucher handelt. Beim Spaziergang durch historische und moderne Quartiere lassen sich die unterschiedlichen Raumstrategien und ihre Konsequenzen für den Menschen empirisch beobachten und systematisch auswerten. Die ästhetische Attraktivität von Städten, Quartieren und einzelnen Immobilien ist heute ein wichtiger Standortfaktor für Unternehmen und Arbeitnehmer, der soziale, kulturelle und wirtschaftliche Konsequenzen für jedes Gemeinwesen hat. Wir sollten daher beginnen, die Raumstrategie der Szenografie auf den Städtebau und die Architektur unserer Zeit anzuwenden, zumal es einzelne gelungene Beispiele bereits gibt. Eine Rückkehr zu tradierten Formensprachen wäre lediglich Zeichen mangelnden Willens, sich mit der Qualität menschlicher Raumwahrnehmung auseinanderzusetzen und die hieraus folgen Raumstrategien anzuwenden. Bei der Raumstrategie Szenografie stehen die atmosphärischen Wirkungen aller wahrnehmbaren Raumsituationen auf die emotionale Stimmung und das Verhalten von Menschen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Menschen sollen in Situationen eintauchen und die präsentierten Inhalte sinnlich erleben. Durch die Kraft der Erlebnisse sollen sie motiviert und bewegt werden, etwas Bestimmtes zu tun und zu lernen. Die ästhetische Wirkung von Atmosphären kann den Wert von Ereignissen in Szene setzen, wie Auftaktfeiern großer Sportveranstaltungen oder das Auftreten wichtiger Machtinhaber in weltlichen oder geistlichen Kontext wie die Papstpredigt zu Ostern, die Haddsch in Mekka, Militärparaden oder Gipfeltreffen. Die Inszenierung von Ausstellungen und Museen dient primär Bildungszwecken, während Messeauftritte von Unternehmen einen wirtschaftlichen Nutzen verfolgen. Alle Wahrnehmungen sind assoziativ miteinander vernetzt und werden im Augenblick des Erlebens aktiviert.20 Aus diesem Grund können Farben frisch wirken, Appetit anregen oder Übelkeit verursachen. Atmosphären wirken emotional, da sie unseren gesamten Körper auf das Raumerlebnis einstimmen, was sich auf Veränderungen des Hormonspiegels und Stoffwechselfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Appetit und Motivation auswirkt. Die Atmosphäre eines Raums bestimmt die Intensität und Qualität unseres Erlebens.21 Licht, dass durch ein Fenster auf einen gut ausgewählten Leseplatz fällt, kann von größerer Bedeutung für die Raumwahrnehmung sein, als die Größe des Zimmers oder die Höhe der Decke. In der Raumwahrnehmung verschmilzt, was außerhalb von uns existiert mit dem, was wir in unserer Vorstellung oder durch unsere Handlungen daraus machen. Für den Menschen ist nichts einfach da, denn um etwas wahrnehmen zu können, es zu verstehen und zu begreifen, müssen wir uns die Bedeutungen und das Handlungspotenzial des Objekts oder Sachverhalts in zumeist aufwendigen wiederholten Explorationsvorgängen aneignen. Das führt uns zur diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums. Raumstrategie Raumsemiotik und Sprachforschung Die erfahrenen Wirkungen unserer Interaktionen mit der Umwelt spiegeln sich in der Bedeutungs- und Handlungsstruktur unserer Raumwahrnehmung. Wahrnehmungen werden von unserem Gehirn nicht einfach gespeichert, sondern in Bezug auf ihre Bedeutung und ihren Sinnzusammenhang mit unseren Vorerlebnissen archiviert. Vereinfacht lässt sich der Speicherungs- und Memorierungsprozess erklären, wenn wir uns eine Verschlagwortung der 20 Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und Kommunikationsprozess, Burg Giebichenstein 2010 21 Gernot Böhme; Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Suhrkamp 2013 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 16/18 wahrgenommenen Objekte und Sachverhalte in Bezug auf ihre Eigenschaften denken, die wiederum assoziativ mit allen erfahrenen Verhaltenszuständen und Handlungsangeboten verknüpft sind. Wenn Licht mit der Wellenlängen von etwa 570nm auf unsere Netzhaut fällt, werden durch das Ereignis spezifische Assoziationen im Gedächtnis aktiviert, die aussagen, dass es sich um ein reines leuchtendes Gelb handelt, dass auf Grund seiner Helligkeit, Brillanz und Intensität und den Bezug zur Wahrnehmungssituation sofort als Sonne interpretiert wird. Dieser Anblick hebt unsere Stimmung, steigert unsere Motivation und regt uns zu körperlichen Aktivitäten im Außenraum an. Diese Effekte sind selbst dann noch spürbar, wenn es sich um eine gelbe Wand- oder Objektfarbe handelt, die entsprechend hell ausgeleuchtet ist. Sie sind wahrnehmbar, wenn sonnig gelbes Scheinwerferlicht auf eine Bühne, ein Objekt oder ein Gesicht fällt. Über die Raumstrategie Sprachforschung werden diese Effekte erkennbar, wenn wir wie bei der Sprachanalyse vorgehen. Im ersten Schritt erfolgt die „Semantische Analyse, dann die „Syntaktische Analyse“ und zuletzt die „Stilanalyse“. Diese Analysemethode lässt sich gleichermaßen auf die Wortsprache, wie auf Städtebau, Architektur und Innenarchitektur anwenden. Die Semantik und Syntax des Wahrnehmungsraums zeigt sich zudem an Bildung und Verlauf der wichtigsten Gehirnströme im visuellen Wahrnehmungsprozess22: Was-Strom => Raumsemantik => Analyse Eigenschaften, Stimmung und Werturteil Der in den Neurowissenschaften als „Was-Strom“ bezeichnete Informationsfluss vom visuellen Kortex zum „semantischen Gedächtnis“ aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ verknüpften Bedeutungen. Sobald ein Zeichen die gespeicherten Eigenschaften eines Objekts oder Sachverhalts wie Formen, Farben oder Geruchsmerkmale aktiviert, nehmen wir wahr, um was für ein Ereignis es sich handelt. Wir können daher eine Orange oder eine orangefarbene Wand nicht ansehen, ohne den süßsauren Geschmack und ätherische Geruch der Frucht wahrzunehmen. Im semantischen Gedächtnis definieren wir die Kategorie „Orange“ durch die Beschreibung aller erfahrenen Eigenschaften, weshalb diese sofort präsent sind, wenn wir den Namen hören oder lesen, die Gestalt oder Farbe sehen, einen zitrusartigen Geruch oder süßsäuerlichen Geschmack spüren. Die Gestaltwahrnehmung hat eine wichtige Funktion bei Objekten, die wir ganz in den Blick nehmen können, während ihre Bedeutung für die Raumgestaltung überschätzt wird. Entwurfsskizzen, Planzeichnungen, Modelle, Fotografien und Visualisierungen vermitteln uns eine Ästhetik, die unter realen Umweltbedingungen nicht wahrnehmbar ist. Lassen wir uns hiervon täuschen, kann das fatale Konsequenzen für die ästhetische Qualität von Stadträumen, Gebäuden und Innenräumen haben. Die Formen von Gebäuden spielen nur dann die entscheidende Rolle für die Raumwahrnehmung, wenn wir sie als Ganzes in unser Blickfeld bekommen, was bei Solitärbauten wahrscheinlich, bei Wohn- und Geschäftsbauten in der Regel unmöglich ist. Unser Gesichtsfeld beträgt ca. 180° in der Horizontalen und 130° in der Vertikalen. Auf Grund der ungleichmäßigen Verteilung der Sehzellen in der Netzhaut, die sich im winzigen Areal der Fovea konzentrieren, können wir lediglich 2° davon bewusst, scharf konturiert und farbig wahrnehmen. Die Peripherie des Gesichtsfeldes ist auf Grund der geringen Dichte von Sehzellen nicht mehr bewusst wahrnehmbar. Durch permanente Augenbewegungen erreichen wir ein Blickfeld mit dem Radius von 45-60°. Wenn der Abstand zwischen Augpunkt und Blickpunkt nicht ausreicht, um die Raumform in den Blick zu nehmen, dann gewinnen andere Wahrnehmungsqualitäten an Bedeutung. Bei einem Stadtspaziergang in dicht bebauten Innenstadtquartieren können wir uns empirisch davon überzeugen, dass der Fokus unserer Wahrnehmung auf Raumsituationen wie Läden, Eingänge, Balkone oder Fenster begrenzt bleibt, während Gebäudeformen nur selten erfasst werden. Das gilt in der Regel auch für Innenraumsituationen, da wir selten weite Perspektiven erhalten. Durch die größere Nähe gewinnen andere Sinnesqualitäten wie Oberflächen-, Material-, Farb-, Lichtwirkungen oder Geräusche, Akustik und Gerüche an Bedeutung. 22 E. Bruce Goldstein (Hg. K. Gegenfurtner); Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs, Springer 2014 Karl R. Gegenfurtner; Gehirn und Wahrnehmung: Eine Einführung, Fischer 2011 Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 17/18 Bei der Analyse der semantischen Elemente einer Raumsituation, müssen wir nicht nur die Raumform oder die Objektformen der darin versammelten Objekte, sondern vielmehr noch alle wahrnehmbaren Eigenschaften beschreiben. Es reicht nicht aus, wenn wir die Position eines Fensters oder einer Leuchte angeben, sondern wir müssen uns mit den Eigenschaften des Lichts und dessen Wirkungen auf den Menschen in der konkreten Raumsituation auseinandersetzen. Diese Sorgfaltspflicht gilt für alle Raumelemente, weshalb die semantische Analyse einer Raumsituation umfangreich und zeitintensiv ist. Doch nur so lässt sich die Komplexität der sprachlichen Struktur eines Raums verstehen. In Projektseminaren wird dieser Grad der Objektbestimmung allenfalls exemplarisch eingefordert und ist in der Regel mit der Auswahl einiger Muster erledigt. In der architektonischen Praxis erfolgt die nähere Bestimmung der Eigenschaften von Räumen und Objekten oft erst bei der Erstellung von Leistungsverzeichnissen. Das ist viel zu spät, da die meinungsbildende Entwurfsphase abgeschlossen, die Ausführungsplanung fertig, die Genehmigungen erteilt und die Kosten geschätzt sind. Ist die Bauphase zeitlich eng geplant, besteht in dieser Planungsphase kaum noch Handlungsspielraum. Problematisch kann es werden, wenn Leistungsverzeichnisse nicht vom oder mit den Entwurfsarchitekten, sondern von Spezialisten erstellt werden, die auf Bürostandards zurückgreifen oder Vorgaben von Investoren umsetzen. Die atmosphärische Qualität von Räumen zeigt sich besonders an den Eigenschaften der Details, die jedoch nicht für sich beurteilt werden dürfen, sondern auf die Wirkung der gesamten Wahrnehmungssituation bezogen werden müssen. In der Sprachanalyse werden Eigenschaftswörter als „Adjektive“ bezeichnet. Adjektive entfalten eine herausragende Wirkung in der Sprachgestaltung, wenn sie gezielt und effektiv eingesetzt werden. Das trifft gleichermaßen auf die Raumgestaltung zu. Die systematische Untersuchung der semantischen Struktur von Raumsituationen sollte in Bezug auf unsere Sinneswahrnehmungen erfolgen, damit alle wesentlichen Effekte erfasst werden: Kriterien für die semantische Analyse von Raumsituationen: a) Beschreibung der wesentlichen Farb- und Lichtwirkungen aller Details und des Gesamtraums b) Beschreibung der wesentlichen Form-, Material- und Oberflächenwirkungen aller Details und des Gesamtraums c) Beschreibung der wesentlichen Proportions- und Gleichgewichtswirkungen aller Details und des Gesamtraums d) Beschreibung der wesentlichen dynamischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums e) Beschreibung der wesentlichen Geruchs- und Geschmackswirkungen aller Details und des Gesamtraums f) Beschreibung der wesentlichen akustische Wirkungen aller Details und des Gesamtraums Wie/Wo => Strom Raumsyntax => Analyse Sinn, Zweck und Nutzen Der in den Neurowissenschaften als „Wie/Wo-Strom“ bezeichnete Informationsfluss vom visuellen Kortex zum „prozeduralen Gedächtnis“ aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ verknüpften Handlungszusammenhänge und Verhaltenszustände. Die Wirkungen von Räumen auf unser Erleben und Verhalten lassen sich nicht nur auf die Bestimmung der qualitativen Eigenschaften von Objekten und Sachverhalten zurückführen, sondern auch auf die Möglichkeiten und Konsequenzen ihres Gebrauchs. Wenn wir etwas über Sinn, Zweck, Funktion und Nutzen von Räumen aussagen wollen, müssen wir uns fragen, was wir darin tun, erfahren und lernen können. Dieser Analyseschritt folgt der Bestimmung des Verbs oder Prädikats im Satzbau und wird in der Sprachanalyse daher auch als „Syntaktische Analyse bezeichnet. In der syntaktischen Analyse der Raumwirkungen wird die Satzaussage jedoch nicht durch logisches Denken, sondern durch Wahrnehmung ermittelt. Während die intuitiven Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums nach den Ursachen für emotionale Stimmungen und gefühlsbezogene Werturteile fragt, richtet sich die diskursive Analyse der sprachlichen Struktur des Raums auf den Sinn, Zweck und Nutzen. Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether Stand: 01.09.16 18/18 Kriterien für die syntaktische Analyse von Raumsituationen: a) Beschreibung der wesentlichen gestischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums - Zu welchem Zweck zeigt sich etwas? b) Beschreibung der wesentlichen typologischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums - Wie zeigt sich etwas? c) Beschreibung der wesentlichen topologischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums - Wo und wann zeigt sich etwas? d) Beschreibung der wesentlichen perspektivischen Wirkungen aller Details und des Gesamtraums - Zu wem und zu was zeigt sich etwas? Die Entwicklung unserer Raumwahrnehmung folgt den evolutionären Prinzipien von Neugier, Spieltrieb und Handlungserfolg. Jede Handlungssituation lässt uns mehrere Möglichkeiten zur Interpretation und Problemlösung, weshalb wir uns bei vernunftgeleiteten Wahrnehmungsprozessen von der wahrscheinlichsten Aussicht auf Erfolg leiten lassen. Bei instinktgeleiteten Wahrnehmungsprozessen folgen wir hingegen angeborenen Trieben, was bei der Analyse und Gestaltung von Räumen, aber auch bei der Bewertung von Raumkonzepten zu beachten ist. Die attraktive Frau, der erfolgreiche Geschäftsmann oder vergnügt spielende Kinder im Rendering eines Wettbewerbsbeitrages oder auf dem Titel eines Hausprospekts erzielen häufig positive Wirkungen, da sie symbolisch auf beabsichtigte Verhaltenszustände hinweisen. Faktisch lenken sie uns vom tatsächlichen Sinn, Zweck und Nutzen dargestellter Raumsituationen ab, wenn wir uns mit dem ersten Eindruck zufrieden geben. Den Gebrauchswert und Nutzen von Räumen können wir nur dann präzise analysieren und nachhaltig gestalten, wenn wir die Gebrauchseigenschaften und Handlungspotenziale in den Blick nehmen.