Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether
Stand: 01.09.16
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Die Sprache des Raums
Abstract
Raum ist ein Welterkenntnis- und Weltbeschreibungssystem sowie Weltvermittlungs- und
Weltgestaltungssystem.1 Die Arbeit des Architekten ist politischer Natur, da er mit der
Gestaltung des menschlichen Lebensraums zugleich auch die Wahrnehmung von
Gesellschaft formt, die wiederum seinen Handlungsspielraum vorgibt. Wir nehmen Raum mit
allen Sinnen, unserem Gefühl und Verstand wahr. Daher ist es nicht nur von Bedeutung, wie
ein Raum aussieht, sondern ebenso wie er sich anfühlt, wie er riecht, klingt, sich verändert
oder sich verhält, wenn wir mit ihm interagieren. 2 In Bezug auf unsere Wahrnehmung
funktioniert Raum wie eine Sprache, da die Wechselwirkungen zwischen Körper und Umwelt
nicht nur unser Überleben gewährleisten, sondern auch zum Gegenstand von Wissen und
Erkenntnis werden können. Der Mensch ist in der Lage, die Bedingungen seiner Existenz in
der Umwelt wahrzunehmen, zu kommunizieren und willentlich zu gestalten. Jeder Eingriff in
die Umwelt verändert die Form unseres Lebensraums und hat damit zugleich Konsequenzen
auf die Form unseres Zusammenlebens, die Entwicklungsdynamik von Individuen und
Gesellschaften.3 Durch das Erleben und den Gebrauch des Kulturraums erschließen wir uns
die überlebenswichtigen Praktiken und Funktionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Die Raumwahrnehmung initiiert und fördert einen generationsübergreifenden Lernprozess,
der stetiger Erneuerung bedarf und daher niemals abgeschlossen sein kann. Junge
Menschen nehmen wahr, wie Gesellschaft funktioniert und wo sie versagt. Am Gebrauch des
Raums zeigt sich, was uns wichtig und nützlich ist oder seinen Zweck verloren hat, was es
zu bewahren oder zu erneuern gilt. Die psychologisch-ästhetische Erforschung der
Raumwahrnehmung ist daher die Leitwissenschaft der Umweltgestaltung, von der
Stadtplanung über die Architektur bis zur Innenarchitektur und Szenografie.
Psychologische Ästhetik des Raums als Leitwissenschaft der Raumgestaltung
Am Ende seines 104-jährigen schaffensreichen Lebens bringt Oscar Niemeyer, der neben
Le Corbusier wohl wichtigste Architekt der Moderne, seine Entwurfshaltung auf den Punkt:
„Ich glaube, dass sich die Frage nach der politischen Funktion in jedem Beruf stellt,
besonders aber in der Architektur, weil sie in einen der wichtigsten Bereiche des
menschlichen Lebens eingreift, in die gesellschaftlichen Beziehungen. Sie setzt sich mit der
Stadt, dem Zusammenleben, dem Alltag und unser aller Raum auseinander. Der Architekt
übt seine Funktion nämlich nur dann wirklich positiv aus, wenn er seinen Beruf als bewusste
politische Tat begreift.“4 Der Politiker Winston Churchill brachte diese Erkenntnis 1943
anlässlich der Diskussionen um den Wiederaufbau der „Old Chamber“ des britischen
Parlaments aus seiner Perspektive zum Ausdruck: „we shape our buildings and afterwards
our buildings shape us“5.
Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen. Die Kausalität der
Wechselwirkungen zwischen Mensch und Raum, Gesellschaft und Kulturraum, Architekt und
Nutzer, ermöglicht die wissenschaftliche Erforschung der Raumwahrnehmung und
Raumgestaltung. Durch die Analyse der Ursachen und Wirkungen von Räumen auf das
Erleben und Verhalten des Menschen erhalten wir eine empirische Grundlage für die
1
Alexander Gosztonyi; Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften, Alber 1976
Siehe hierzu auch: Franz Xaver Baier; Der Raum, König 2000
3
Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die methodische
Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und
Kommunikationsprozess, Burg Giebichenstein 2010
4
Oscar Niemeyer; Wir müssen die Welt verändern, Kunstmann 2013, S.15
5
http://www.parliament.uk/about/living-heritage/building/palace/architecture/palacestructure/churchill/
2
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methodische Gestaltung der Formen unseres Zusammenlebens. Wenn wir Räume für
Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische Verantwortung für die Formung
des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte und Funktionen von Gesellschaft. Die
Wahrnehmung des Kulturraums legt entscheidende politische Erfolgsfaktoren moderner
Gesellschaften offen, wie Bildung, Kultur, Sozialisierung, Verantwortung, Zeit, Arbeit,
Familie, Freunde, Nachbarschaften, Mobilität, Sicherheit, Angst, Chancen, Risiken und
Motivation. Raumgestalter müssen lernen, sich methodisch mit der Raumwahrnehmung von
Menschen in konkreten Lebenssituationen auseinanderzusetzen und hieraus Strategien für
die erfolgreiche und nachhaltige Gestaltung guter Lebensbedingungen zu entwickeln. Wir
müssen in jeder Raumsituation neu bestimmen und aushandeln, was gut für den Menschen
und die Gesellschaft ist. Entwurfshandeln ist ethisches Handeln und gründet auf
Verantwortung.
Die Wirkungen von Räumen auf Menschen werden durch die empirische Erforschung der
Raumwahrnehmung erkennbar. Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist
entwicklungspsychologisch geprägt und damit abhängig von körperlichen und geistigen
Faktoren des Individuums wie kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen, klimatischen und
topografischen Umweltfaktoren. Die Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten
von Menschen sind daher nicht verallgemeinerbar, sondern müssen für jede Aufgabe neu
bestimmt werden, was zum integrativen Bestandteil von Entwurf und Planungsleistungen
werden muss. Für den nachhaltigen Erfolg gebauter Räume reicht es nicht aus, wenn wir alle
Normen, Verordnungen, Gesetze und den Stand der Technik beachten. Die
kontextbezogene Untersuchung und verantwortungsgeleitete Bestimmung der Bedingungen
des menschlichen Lebens und Zusammenlebens bildet die Kernaufgabe der
Raumgestaltung.
Die Wirkungen gebauter Räume müssen sich heute in einem komplexen Feld technischer
Rahmenbedingungen entfalten, die in Regelwerken, Gesetzestexten und Verordnungen
erfasst sind und auf konkrete Anwendungssituationen übertragen bzw. angepasst werden
müssen. Die meisten technischen Parameter werden vor Beginn der Planung definiert, wie
Raumprogramm, Raumgrößen, Funktionszuordnungen, Nutzungsanforderungen, Baukosten,
Bauelemente, Baukonstruktionen, Ausnutzung, Baugrenzen, Abstandsflächen und
Sicherheitsbestimmungen. Eine große Anzahl räumlicher Standards sind in nützlichen
Regelwerken wie dem „Neufert“6 zusammengefasst, der jedoch leichtfertig oder grob
fahrlässig als „Bauentwurfslehre“ bezeichnet wird. Raumprogramme werden nicht entworfen,
sondern ermittelt. Sie sind eine Vorleistung für den Planungsprozess wie die
Lastenermittlung der Tragwerksplanung. Entwerfen sollten wir vor allem die Beziehungen
zwischen Menschen und ihrem Lebensraum, die sozialer, kultureller, wirtschaftlicher oder
anderer Art sein können. Dieser Verantwortung müssen sich Entwerfer stellen. An der
erreichten Qualität dieser Beziehungen misst sich der Erfolg von Entwurfsleistungen für
Nutzer, Investoren und Gesellschaft.
Wichtig sind Meinungsbildungsprozesse aller Beteiligten, die vor Planungsbeginn auf
Grundlage einer zielgruppen- und situationsbezogenen Analyse aller sinnvollen
Handlungsmöglichkeiten erfolgen sollten. Wer diesen Schritt auslässt und sich stattdessen
auf Standards verlässt, gefährdet den nachhaltigen Erfolg der Investition und nimmt
absehbare Risiken für Individuen und Gesellschaft in Kauf. Es dauert lange, bis
Gesellschaften aus Fehlern lernen und Konsequenzen aus gescheiterten Planungsstrategien
ziehen, weshalb sich diese trotz vieler kritischer Stimmen zu prekären Stadtquartieren und
Bauprojekten der Nachkriegsmoderne stetig wiederholen. Problematisch sind zudem
Fehleranalysen, die sich auf formale Aspekte konzentrieren. Nicht das Ornament war 1908
ein „Verbrechen“ 7, wie es Loos provokant formulierte, sondern die Verweigerung der Eliten,
die Modernisierung der Wirtschaft auf die Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens
auszudehnen. Die schmucklosen Kuben moderner Architektur sind heute auch nicht das
6
Ernst Neufert; Bauentwurfslehre: Grundlagen, Normen, Vorschriften, Springer 2015 (Erste Auflage 1936)
Siehe hierzu Schrift und Vortrag: Adolf Loos; Ornament und Verbrechen (1908), Quelle Commons
https://de.wikisource.org/wiki/Ornament_und_Verbrechen
7
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Problem, sondern das viel zu selten eingelöste Versprechen einer freiheitlicheren,
sozialeren, gesünderen und kostengünstigeren Lebensform, wie es von der Avantgarde
verkündet wurde.8 Um Oskar Niemeyer zur Ehrenrettung der Moderne noch einmal zu
zitieren: „Vor vielen Jahren zeigte ich einmal dem deutschen Architekten Walter Gropius
meine Casa das Canoas, die ich für ein Waldgebiet oberhalb von Rio de Janeiro entworfen
hatte. Nach der Besichtigung sagte Gropius zu mir: Ihr Haus ist sehr schön, aber man kann
es nicht vervielfältigen. Diese Worte erschienen mir unglaublicher Blödsinn.“9
Hier prallen zwei geistige Strömungen der Moderne aufeinander, das funktionale und das
ästhetische Raumdenken. Im Funktionalismus tritt der Verwendungszweck eines Produkts in
den Fokus der Problemlösung. Global gedachte Produkte werden in Bezug auf
Nutzerstudien, Wirtschaftlichkeitsanalysen und technische Neuerungen standardisiert, um
Gebrauch und Vermarktung unabhängig vom Kontext spezifischer Anwendungssituationen
und Nutzerbedürfnisse zu gewährleisten. Der Entwurfsprozess funktionalistisch gedachter
Architektur unterscheidet sich nicht mehr grundlegend vom Designprozess eines Automobils
oder Rasierapparates. Für die andere Strömung ist Architektur Baukunst, die in Bezug auf
individuelle, gesellschaftliche und situative Kontexte nach ästhetischer Qualität strebt.
Ästhetik stammt vom altgriechischen Begriff „aísthēsis“, der sich mit „Wahrnehmung“ oder
„Empfindung“ übersetzen lässt. Im Mittelpunkt der „Ästhetik des Raums“ steht die
Auseinandersetzung mit den Formen unserer Raumwahrnehmung und den daraus
ableitbaren Raumstrategien.
Die Inhalte und Methoden der Raumwahrnehmung müssen wir nicht neu erfinden, sondern
für spezifische Anforderungen der Raumgestaltung adaptieren, da sie bereits in der
Psychologie erforscht und angewendet werden. Eine ergiebige doch noch immer weitgehend
unerschlossene Quelle für das Raumdenken und die Raumgestaltung ist der Stand der
Forschung in der Hermeneutik10, der Psychologischen Ästhetik11 und der
Neuropsychologie12. Die Auseinandersetzung mit den Formen menschlicher
Raumwahrnehmung kann zudem von vielen weiteren sozial- und kulturwissenschaftlichen
Disziplinen wie der Anthropologie, Soziologie, Ethnologie, Pädagogik oder den
Kommunikations- und Medienwissenschaften profitieren. Hierdurch eröffnen sich im Vorfeld
oder als Begleitung zum Entwurfs- und Planungsprozess viele produktive Felder
transdisziplinärer Zusammenarbeit, die je nach Aufgabe und Möglichkeit variiert werden
können. Da jeder Mensch einzigartig ist und jede Raumsituation individuell betrachtet
werden muss, brauchen wir wahrnehmungspsychologisch fundierte Raumstrategien für die
verständnisbildende Analyse und ästhetische Gestaltung von Baukunst.
Die Raumwahrnehmung jedes Menschen ist subjektiv, folgt jedoch erklärbaren Bedürfnissen
sowie verstehbaren Erlebens- und Verhaltenspräferenzen, die sich auf allgemeine
Anforderungen, individuelle Neigungen und Stärken sowie soziokulturelle Prägungen
zurückführen lassen. Evolutionär gebildete Bedürfnisse wie Orientierung, Sicherheit und
Gemeinschaft sind bei allen Menschen vorhanden, jedoch nicht in gleicher Weise
ausgeprägt oder situativ gefordert. Die Raumwahrnehmung eines Menschen verändert sich
mit der körperlichen und geistigen Entwicklung im Verlauf des Lebens und wird von
persönlichen Indikatoren wie Erfahrung und Wissen, Gesundheit und Krankheit, von
Erfolgen, Misserfolgen, Neigungen, Abneigungen und Interessen beeinflusst. Menschen sind
nicht nur verschieden, sie verändern sich zudem im lebenslangen Prozess der
8
Le Corbusier; Städtebau, Deutsche Verlags-Anstalt 2015 (Original: Urbanisme, 1925) und Le Corbusier;
Ausblick auf eine Architektur, Birkhäuser 1981 (Original: Vers une architecture, 1923)
Adolf Behne; Der moderne Zweckbau, Bauwelt Fundamente 1964 (Original 1926)
Sigfried Giedion; Befreites Wohnen. Orell Füssli, Europäische Verlagsanstalt 1992 (Original 1929)
9
Oscar Niemeyer; Wir müssen die Welt verändern, Kunstmann 2013, S.25
10
Jürgen Habermas; Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp 2011
11
Die „Psychologische Ästhetik“ ist eine Unterdisziplin der Psychologie. Ästhetik wird hier als „Wissenschaft von
der sinnlichen Erfahrung“ betrachtet. Vgl. Christian G. Allesch; Einführung in die psychologische Ästhetik, UTB
2006
12
Gerhard Roth; Fühlen, Denken, Handeln: Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Surhkamp 2003
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Individualentwicklung. Was dem Einen zu groß, offen, bunt, laut und geschäftig ist, kann den
Bedürfnissen eines Anderen exakt entsprechen. Was heute zu unserer Lebensweise passt,
kann morgen schon damit in Widerspruch stehen. Ebenso verhält es sich mit unseren
Bedürfnissen nach Öffentlichkeit und Privatheit, Technik und Sinnlichkeit, Gemütlichkeit und
Askese, Ruhe und Aktivität, Zeitgeist und Nachhaltigkeit, Spiritualität und Materialität, um nur
einige Wirkungsgrößen unserer Raumwahrnehmung zu nennen.
Fazit:
1. Die „Psychologische Ästhetik des Raums“ ist die Leitwissenschaft der
Raumgestaltung.
2. Räume werden von Menschen geformt und formen den Menschen.
3. Wenn wir Räume für Menschen gestalten, übernehmen wir damit eine politische
Verantwortung für die Formung des Kulturraums und die Wahrnehmung der Inhalte
und Funktionen von Gesellschaft.
Raumqualität durch Personalisierung und Kontextualisierung der Wahrnehmung
Die ästhetische Gestaltung unseres Lebensraums fordert eine humanistische Haltung von
allen Beteiligten, von Architekten wie Investoren, Politikern, Fachplanern und Produzenten.
Verantwortungsträger dürfen ihr Verhalten nicht an formalen Größen oder abstrakten Zielen
ausrichten, sondern an konkreten lebensweltlichen Bedürfnissen von Individuen und
Gemeinschaften im Kontext von Umwelt und Gesellschaft. Erfolgreiche Raumstrategien
gründen sich auf exakte empirische Beobachtungen der Wirkungen von Räumen auf das
Erleben und Verhalten aller von der Baumaßnahme betroffenen Menschen in allen
relevanten Handlungssituationen. Das sind in der Regel die bereits feststehenden oder
angestrebten Nutzer und Nutzergruppen, aber auch Anwohner, Besucher, Bauherren,
Investoren und andere gesellschaftliche Interessengruppen. Wer die legitimen Interessen
anderer Beteiligter in den Blick nimmt und objektiv analysiert, kann einen
verständnisfördernden Dialog führen, den Ausgleich unterschiedlicher Interessen bewirken
und in seinen Entscheidungen der gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden. Die aus
der Analyse resultierenden Anforderungen an die Qualität der Raumwahrnehmung bilden die
Planungs- und Diskussionsgrundlage im gemeinsamen diskursiven Ringen um die beste
Lösung eines Raumproblems. Die funktionalen Anforderungen eines Raumproblems müssen
zuerst situativ, problemorientiert und kontextbezogen wahrgenommen und analysiert
werden, bevor sie im Entwurfsprozess gelöst werden können. Jede Raumform muss ihrer
psychologischen Funktion folgen, das heißt entwicklungs- und verhaltenspsychologische,
bildungs- und sozialpädagogische Ziele bei allen davon mittelbar und unmittelbar betroffenen
Menschen erreichen. Die Ermittlung formaler Rahmenbedingungen wie Nutzfläche und
Baukosten ist Teil der Analyse, doch niemals das Ziel und schafft daher auch keine
Legitimation für gescheiterte Bauprojekte. Denn wem nutzen Räume und vor allem was für
Schäden richten Lebensumwelten an, die zwar exakt nach formalen Vorgaben geplant
wurden, jedoch dauerhaft negative Wirkungen auf das Lebensgefühl und die
Handlungsmotivation ihrer Nutzer haben?
Doch wie bekommen wir belastbare Fakten zur Wahrnehmungsqualität von Räumen? Die
ästhetische Qualität von Räumen lässt sich mit qualitativen und quantitativen Methoden
evaluieren. Durch eigene empirische Beobachtungen sowie wissenschaftlich korrekte
Umfragen können differenzierte qualitative Aussagen über die Wahrnehmungsqualität von
Räumen ermittelt werden. Umso konkreter, verständlicher und persönlicher die Fragestellung
erarbeitet und die Umfrage durchgeführt wird, je höher ist der Aussagewert der Antworten.
Darüber hinaus besitzen gezielte Exkursionen und Raumbesichtigungen einen hohen
Aussagewert für die Analyse der Qualität von Räumen, wenn:
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a) Die Wirkungen konkreter Raumsituationen auf das Nutzerverhalten beobachtet,
dokumentiert und analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral
erfolgen muss
b) Die Nutzererfahrungen und Werturteile in Gesprächen erforscht, dokumentiert und
analysiert werden, was unvoreingenommen und wertneutral erfolgen muss
c) Die Wirkungen konkreter Raumsituationen durch Selbstbeobachtung (Introspektion)
erforscht, dokumentiert und analysiert werden, was subjektiv und durch eigene
Werturteile erfolgen muss
Menschen nehmen ihren Lebensraum immer personalisiert und situativ wahr, da sie sich
stets eigenleiblich zur Umgebungssituation verhalten und die mit allen Sinnen erlebten
Wahrnehmungsqualitäten unwillkürlich bewerten. Die emotionale Bewertung der Wirkungen
von Räumen auf unseren Körperzustand erfolgt unwillkürlich durch die Aktivierung von
Neurotransmittern im Gehirn. Die Ausschüttung von Hormonen wie Dopamin, Adrenalin oder
Noradrenalin löst Belohnungsgefühle, Stress oder Angst aus. Melatonin hingegen sorgt
dafür, dass wir zur Ruhe kommen und gesund schlafen. Das Hormon Oxytocin fördert
Vertrauen, soziale Bindungen und soziales Verhalten. Wir können uns dieser unbewussten
Bewertung der Erlebnisqualität von Raumen nicht entziehen, da sie in Bruchteilen einer
Sekunde erfolgt, also lange bevor wir die Ursache für die Veränderung unseres
Körperzustandes bewusst wahrgenommen haben. Es ist daher nicht einfach, den ersten
emotional geprägten Eindruck einer Raumsituation zu überwinden und mittels rationaler
Kriterien zu einer anderen Bewertung zu gelangen. Aus diesem Grund sind Details von
entscheidender Bedeutung für die Raumwahrnehmung, da ein freudiger Moment, wie ein
schöner Ausblick, eine angenehme Oberflächentextur oder eine anregende Farbe bereits ein
positives Werturteil bewirken kann. Aus diesem Grund müssen wir spontane
Gefühlsreaktionen aller Menschen erst nehmen wie Äußerungen: „das finde ich schön bzw.
hässlich, das gefällt mir bzw. gefällt mir nicht“ oder Verhaltensreaktionen wie: „Interesse bzw.
Interesselosigkeit, Freude bzw. Unmut, Enthusiasmus bzw. Aggression“. Die methodische
Auseinandersetzung mit den Ursachen spontaner Gefühls- und Verhaltensreaktionen
ermöglicht uns die Bildung rationaler Kriterien für die Analyse und Bewertung der Qualität
konkreter Raumsituationen. Gefühle sind immer wahrhaftig. Es ist zwecklos, mit rationalen
Argumenten dagegen anzureden. Wenn wir negative Gefühlsreaktionen ändern wollen,
müssen wir die Ursachen erkennen, beseitigen und mit geeigneten Maßnahmen für
Vertrauen sorgen.
Moderne Gesellschaften brauchen hochdifferenzierte Räume für individuelle,
gemeinschaftliche und gesellschaftliche Praktiken des Zusammenlebens von Menschen.
Wer die Formen unseres Zusammenlebens an idealtypischen Vorstellungen ausrichtet, die
unserer Natur zuwiderlaufen, wird damit scheitern. Der Raum formt den Menschen nur
insoweit, wie es in seiner Natur liegt. Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären
Dimensionen und folgt entwicklungsbiologischen Prinzipien. Der Zeitraum, in dem
Umweltfaktoren genetische Anpassungen auslösen, ist weitaus länger als die gesamte
Kulturgeschichte der Menschheit. Das menschliche Genom hat sich nach dem Stand der
Forschung in den letzten hunderttausend Jahren nicht mehr nachweisbar verändert. Die
Formen unseres Zusammenlebens hingegen umso mehr. Jeder Mensch spürt instinktiv,
welche Raumsituationen gut oder schlecht für ihn sind und meidet daher negative
Raumerlebnisse, soweit es möglich ist. Prekäre, gefährliche oder triste Raumsituationen,
denen Menschen dauerhaft ausgeliefert sind, verursachen psychische Erkrankungen und
Verhaltensstörungen wie Depressionen, Bewusstseinsstörungen, Antriebslosigkeit,
Aggressionen, Gewalt oder Drogenkonsum. In den Städten und Landschaften von
Entwicklungsländern wie Industriestaaten lassen sich zahlreiche Räume finden, die
dauerhaft negative Wirkungen auf das Erleben und Verhalten von Menschen haben. Soziale
Probleme der Vormoderne wurden nicht nachhaltig gelöst, sondern haben durch den
Städtebau und die Architektur der Moderne eine neue Dimension erhalten. Die
Transformation weiter Teile des öffentlichen Raums in gesundheitsgefährdende
Verkehrsflächen, wachsende Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätten, der Mangel
an Versorgungseinrichtungen oder die fehlende Urbanität ganzer Stadtquartiere haben
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Auswirkungen auf die Lebensqualität und den Handlungsspielraum aller Bürger.
Ausdehnung und Verteilung von Problemlagen und begehrte Lagen lassen sich an
Statistiken von Wohn- und Gewerbemieten ablesen, während die Qualität einzelner Objekte
am Mietpreis oder Verkaufswert erkennbar wird. Wie alle mobilen Lebewesen suchen
Menschen nach dem Lebensraum, der ihnen die besten Lebensbedingungen bietet. Sie
ziehen weiter, wenn sie die Bedingungen darin nicht optimal finden, wodurch sich negative
Effekte prekärer Raumsituationen immer weiter verstärken und auf die Umgebung
ausdehnen. Andersherum steigen auch die Attraktivität, der Wert und die Nachfrage positiv
wahrgenommener Lebens- und Arbeitsräume, weil Menschen ständig nach optimalen
Lebensbedingungen suchen und einen hohen Aufwand dafür betreiben. Überlassen wir den
Kulturraum allein dem ökonomischen Prinzip von Angebot und Nachfrage, fördert das
Spannungen, Neid, Gewalt, Verteilungskämpfe, Verdrängungen und soziokulturelle
Segregation.
Fazit:
1. Die Natur des Menschen ändert sich in evolutionären Dimensionen, weshalb
erfolgreiche Raumgestaltung nicht an abstrakt gefassten Funktionen, sondern an den
Wirkungen von Räumen auf das Erleben und Verhalten der Nutzer im Kontext
konkreter Umweltsituationen ausgerichtet sein muss.
2. Erfolgreiche Raumgestaltung muss nach wahrnehmungspsychologischen Prinzipien
erfolgen. Zielvorgaben sollten nicht an formalen, sondern psychischen Faktoren
ausgerichtet werden, wie die Schaffung von Sicherheit, Vertrauen und Orientierung,
die Bildung von Identität, Gemeinschaft und Gesellschaft, den nachhaltigen Erhalt der
Spezies und die Förderung des Nachwuchses, die Bewahrung und Pflege des
eigenen Lebensraums, die Sicherung von Nahrung und Gesundheit, die
Ermöglichung von Kommunikation und Wissenserwerb.
3. Positive und negative Wirkungen von Räumen verstärken sich durch evolutionär
determiniertes Nutzerverhalten, da Menschen beständig auf der Suche nach dem
optimalen Lebensraum für sich und ihre Bezugspersonen sind.
Der Kulturraum als primäre Wissensform des Menschen
Die Auseinandersetzung des Menschen mit dem Phänomen des Raums folgt der Frage nach
der Natur unseres Seins in der Umwelt.13 Räumlich und zeitlich wirksame Veränderungen im
Verhältnis von Körper und Umwelt bestimmen die Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit.
Durch jede Interaktion mit der Umwelt erfahren wir etwas mehr über die Art und Weise
unserer lebensweltlichen Existenz. Die körperhaften Formen unserer haptischen
Wahrnehmung sind Material und Oberfläche. Die bildhaften Formen unserer visuellen
Wahrnehmung sind Licht und Farbe. Die musischen und sprachlichen Formen unserer
auditiven Wahrnehmung sind Töne und Klänge. Die Formen unserer Wahrnehmung werden
zu Sinnesmedien, wenn wir uns mit ihren kommunikativen Funktionen auseinandersetzen.
Die Synthese unserer sinnlich erworbenen und gedanklich reflektierten Erfahrungen erfolgt
im Gehirn, in dem sich ein räumlich und zeitlich strukturiertes Wissensmodell unserer
Lebenswelt bildet, das wir durch Lernprozesse lebenslang erweitern und aktualisieren. Unser
Erfahrungswissen können wir über gedankliche Reflexion in unserem Vorstellungsraum
aktivieren und durch die Herstellung neuer komplexerer Sinnzusammenhänge permanent
restrukturieren. Dennoch bleibt das Vorstellungsvermögen und Wissen jedes Menschen auf
das Leistungsvermögen seines Gehirns begrenzt, weshalb Gesellschaften andere Formen
13
Zur Phänomenologie des Raums siehe auch: Edmund Husserl; Ding und Raum, Meiner 1991 (Vorlesungen
1907) oder Maurice Merleau-Ponty; Phänomenologie der Wahrnehmung, de Gruyter 1966 (Original:
Phénoménologie de la perception, Paris: Gallimard, 1945)
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der Speicherung, Vermittlung und Bildung von Wissen benötigen, die sich mit den baulichen,
inhaltlichen und funktionalen Strukturen ihres Kulturraums selbst geschaffen haben.
Raum und Zeit bestimmen die Formen unserer Wahrnehmung und determinieren hierüber
auch all unsere Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Alle Wissenschaften entwickeln und
nutzen daher spezifische Raummodelle, in deren Grenzen sich die Beziehungen abstrakt
definierter Entitäten wie Punkte, Linien und Zahlen oder qualitativ definierter Größen wie
Kräfte, Elemente, Masseteilchen oder Energiequanten verorten, beschreiben und erklären
lassen. Formal-, Natur-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften nutzen unterschiedliche
Raummodelle, die jedoch eines gemeinsam haben. Sie orientieren sich an der räumlichen
Form unseres Erlebens, Handelns, Denkens und Wissens. Unser Wissen ist a priori räumlich
strukturiert, da es sich auf eigenleibliche Erfahrungen gründet und nur durch lebensweltliche
Bezüge erklärt und verstanden werden kann! Der Begriff Wissen geht zurück auf das
althochdeutsche Wort „wizzan“, dessen indogermanische Wurzel auf die Tätigkeit des
„Erblickens“ und „Erkennens“ verweist.
Mit der Wahrnehmung einer Sache bildet sich Wissen um den Sachverhalt, die Art und
Weise, wie wir den Gegenstand im Kontext der Erlebnissituation erfahren haben. Unser
Erfahrungswissen (griech. empeiría) ist Grundlage der empirischen Wissenschaften, in
denen Theorien durch empirische Methoden wie Experimente, Beobachtungen oder
Befragungen bestätigt oder falsifiziert werden. Unser subjektiv gewonnenes
Erfahrungswissen wird durch Beweise bzw. die Möglichkeit der Reproduzierbarkeit von
Erkenntnis objektiviert. Das Verhältnis zwischen dem Subjekt und Objekt der Wahrnehmung
ist immer zeitlich und räumlich bestimmt, da es nicht nur die Dauer und Art unseres
Erlebens, sondern ebenso auch die von uns erfahrenen Eigenschaften und
Verhaltensweisen beinhaltet. Jedes Objekt unserer Wahrnehmung erlangt hierdurch seine
zeitliche, räumliche, quantitative und qualitative Bestimmtheit, seine Gegenwart,
Vergangenheit und Zukunft, sein hier oder dort, davor oder dahinter, darüber oder darunter,
darauf oder daneben, um nur einige unserer Bezugsgrößen zu nennen. Wahrnehmung ist
daher niemals absolut, sondern immer relational. Das trifft in gleicher Weise auf die Natur
unseres Wissens zu. Spätestens seit dem Erfolg der von Albert Einstein entwickelten
„Relativitätstheorie“14 gilt es auch in den Naturwissenschaften als akzeptiert, das sich die
Struktur von Zeit und Raum mit der Beobachterperspektive verändert. Empirisch
gewonnenes Wissen ist ein Produkt unserer Raumwahrnehmung. Wissen ist relational, weil
es von unserer Erkenntnisfähigkeit begrenzt, über unsere Erinnerungstätigkeit reproduziert
und durch unseren Meinungsbildungsprozess emotional bewertet wird.
Ohne die Erinnerung an unsere Vorerlebnisse, die andere Orte, Zeiten und Ereignisse
beinhaltet, lässt sich die Gegenwart unseres Erlebens nicht verstehen und erklären. Im
Wahrnehmungsprozess bilden und aktualisieren wir unser Wissen, da von Außen
kommende Informationen vorhandene Inhalte im Gedächtnis aktivieren, die nach den
Prinzipien höchstmöglicher Wahrscheinlichkeit, Verständlichkeit und Widerspruchsfreiheit
erweitert und aktualisiert werden. Weit über 90% unseres Wissens bleibt uns zeitlebens
unbewusst. Wir nutzen es, ohne es zu bemerken, zum Beispiel bei der Orientierung im
Natur- und Kulturraum. Auch ohne das Erscheinungsbild unserer Städte vor Augen zu
haben, können wir viele Wege finden. Sollen wir einen Weg beschreiben, können wir uns
meist nur an besonders markante Wegmarken erinnern. Wir stutzen jedoch sofort, wenn wir
etwas Außergewöhnliches bemerken oder sich etwas verändert hat, wie ein Baugerüst oder
eine auffällige Farbgestaltung, die am Vortag noch nicht da war. Handlungsroutinen
zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie sehr schnell und intuitiv ausführen können, ohne ein
Bewusstsein davon zu entwickeln. Der größte Teil unserer Wahrnehmungen bleibt als
implizites Wissen im gleichnamigen Gedächtnis und sichert unser Überleben in komplexen
Umweltsituationen. Wir haben keinen direkten Zugang zu diesem Wissensarchiv, können es
jedoch durch Vergegenwärtigung und Reflexion vergangener Ereignisse in explizites Wissen
14
Albert Einstein; Über die Spezielle und die Allgemeine Relativitätstheorie, Springer 2012
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transformieren. Nur das explizite Wissen steht uns unmittelbar für das Denken, Planen und
bewusste Handeln zur Verfügung.
Diese Wissenstransformation erfolgt in unserem Arbeitsgedächtnis, einem
bewusstseinsfähigen Gedächtnisareal, dessen Speicherkapazität jedoch auf wenige
Sekunden und sehr geringe Datenmengen beschränkt ist. Aus diesem Grund wird es auch
als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet. Die Verweildauer von Informationen im Arbeitsgedächtnis
lässt sich gezielt verlängern, wenn wir diese wie beim Skizzieren, Zeichnen oder Malen von
Umweltsituationen oder beim Memorieren von Text in kurzen Intervallen erneut aufrufen.
Versuche haben gezeigt, dass wir etwa sieben verschiedene Informationseinheiten
(Chunks)15 im Arbeitsgedächtnis behalten können. Diese Beschränkung unserer bewussten
Wahrnehmungskapazität kann für die Raumgestaltung von erheblicher Bedeutung sein,
wenn Orientierung hergestellt und erhalten werden soll oder Botschaften in kurzer Zeit
vermittelt werden müssen. Die Aktivierung von Wissen im Arbeitsgedächtnis können wir
durch die Richtung unserer Aufmerksamkeit gezielt steuern. Im Denkprozess bleibt unsere
Aufmerksamkeit auf den inneren Vorstellungsraum fokussiert. Ereignisse, die von außen
kommen und für uns nichts mit dem Sachverhalt zu tun haben, werden daher als
Ablenkungen oder Störungen wahrgenommen. Im Wahrnehmungsprozess hingegen
oszilliert unsere Aufmerksamkeit zwischen äußerer Realität und innerer Vorstellung. Durch
die Geschwindigkeit dieser Wechsel verschmelzen gegenwärtige mit vergangenen
Ereignissen. Wir sehen, hören, tasten, spüren, riechen, schmecken daher immer auch das,
was wir bereits vom Objekt oder Sachverhalt wissen. Die räumliche und zeitliche
Wahrnehmung unserer Lebenswirklichkeit beinhaltet in jedem Moment die komplette
Ereigniskette unserer Existenz in der Umwelt.
Fazit:
1) Wir erwerben Wissen durch die unbewusste und bewusste Wahrnehmung der
Wirkungen von Umweltsituationen auf unser Erleben und Verhalten.
2) Wir können unser Wissen gezielt und methodisch durch Denken und bewusstes
Handeln erweitern.
3) Wissen ist durch die leibliche Natur unseres Seins in der Umwelt zeitlich, räumlich,
quantitativ und qualitativ strukturiert und in Bezug darauf beschreibbar.
Die Bedeutung der Raumwahrnehmung für die Bildung
Aus neurowissenschaftlicher Perspektive hat unser Kulturraum die Funktion eines
ausgelagerten Gedächtnisses und Wissensarchivs, da wir ihn nicht nur als Lernort, sondern
auch als Form unserer kollektiven Erinnerungen, gelebten Gegenwart und erhofften Zukunft
verstehen, gebrauchen und gestalten. Der Kulturraum erzählt uns nicht seine, sondern
unsere Geschichte, die wir aus der aktuellen Perspektive unserer Wahrnehmungssituation
interpretieren und zugleich aktualisieren. Wenn wir wissen wollen, wie moderne
Gesellschaften funktionieren, woraus sie bestehen, was sie voranbringt, behindert oder
zerstört, müssen wir uns daher aktiv mit den Inhalten, Funktionen und der Formung unseres
Kulturraums auseinandersetzen. Die Wissensarchivierung in Form von Büchern, Filmen,
Bildern und Artefakten bildet einen festen Bestandteil in der großen Geschichte des
gebauten Raums, in dem jedes Ding seinen Ort, seine Funktion und seinen
Sinnzusammenhang erhält.
Jeder Wahrnehmungsakt beinhaltet einen Lernvorgang, der uns jedoch nur dann bewusst
wird, wenn wir uns den Wissenstransfer vergegenwärtigen. Wir bilden uns nicht nur in
ausgewiesenen Lernräumen wie Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen, sondern
15
The Magical Number Seven, Plus or Minus Two: Some Limits on Our Capacity for Processing Informationby
Georg A. Miller, The Psychological Review, 1956, vol. 63, pp. 81-97 (http://www.musanim.com/miller1956/)
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weit mehr noch über informelle Lernprozesse an den unzähligen Lernorten des Natur- und
Kulturraums. Jeder Weg, jeder Aufenthaltsort schafft Raum für mannigfaltige Begegnungen,
Entdeckungen und Interaktionen. Es gibt keinen Wahrnehmungsakt, durch den wir nicht
etwas lernen, denn Wahrnehmung bewirkt neuronale Veränderungen im Gehirn wie die
Bahnung neuer, die Verfestigung vorhandener oder den Abbau überflüssiger
Verbindungsnetze. Die Qualität und Quantität des erworbenen Wissens steigt und fällt mit
dem Lernpotenzial der Umweltsituationen und unserem Verhalten. Umso offener, neugieriger
und aktiver wir uns Verhalten, je mehr können wir von der Umweltsituation lernen.
Entscheidend für unseren Lernerfolg sind der Fokus der Aufmerksamkeit und der
Neuheitswert der Information. Wiederholungen hingegen sind wichtig, wo vorhandenes
Wissen verfestigt und in Form von Denk- und Handlungsroutinen reproduziert werden soll.
Setzen wir uns längere Zeit nicht mehr mit einem Sachverhalt auseinander, weil er uns nicht
mehr interessiert oder keine Anknüpfungsmöglichkeiten zu aktuellen Ereignissen bestehen,
werden unsere Erinnerungen schwächer oder verschwinden ganz. Unsere Neugier ist ein
angeborener Lerntrieb, den wir durch unsere Spielfähigkeit realisieren. Unsere Interessen
hingegen werden von kognitiv erworbenen Denk- und Handlungsfähigkeiten bestimmt. Alle
Menschen wollen etwas lernen und ahnen intuitiv oder nehmen bewusst wahr, wo sie
spannende Spielmöglichkeiten oder interessante Herausforderungen für ihre Denk- und
Handlungsfähigkeiten finden. Lernorte für spielerische Lernformen finden wir von selbst,
wohingegen Lernorte für interessengeleitete Lernformen nur dann wahrgenommen werden,
wen die Interessen durch den Erwerb von Denk- und Handlungsfähigkeiten geweckt wurden.
Ausstellungen oder Museen werden daher nur dann zu Lernorten, wenn wir bereits ein
Interesse an den präsentierten Objekten, Praktiken oder Sachverhalten entwickelt haben
oder dieses durch die Art ihrer Präsentation entwickeln können.
Im Naturraum funktioniert das evolutionäre Lernprinzip perfekt, da höher entwickelte
Lebewesen ihre Lebensumwelt aktiv erkunden und über verschiedene Formen von Selbstund Umweltwahrnehmung nützliches Wissen sowie alle überlebensnotwendigen
Verhaltenstechniken erwerben. Für das Überleben im Kulturraum können wir nicht allein auf
intuitive Lerntechniken vertrauen, wollen wir ein freies, selbstbestimmtes und sinnerfülltes
Leben führen. Für den Erwerb komplexerer Lerntechniken, Wissensbereiche und
Handlungskompetenzen, die den Erfolg von Individuen in modernen Gesellschaften
ermöglichen, haben wir institutionalisierte Lernorte geschaffen. Durch Interaktionen mit ihrem
Lebensraum erwerben Kinder nicht nur alle überlebenswichtigen Fähigkeiten und
Fertigkeiten, sondern auch die Voraussetzungen für den Beginn ihrer schulischen Bildung. In
den gebauten Strukturen des Kulturraums leben sie mit Menschen, die ihnen etwas
vorleben, zeigen und erklären. Jeder Ort schafft eine potenzielle Lernsituation, jeder
Gegenstand kann zum Lernobjekt werden. Das informelle Lernen durch die
Auseinandersetzung mit dem Kulturraum kann sich lebenslang fortsetzen, da Individuen in
modernen Gesellschaften eine nahezu unerschöpfliche Vielfalt außerschulischer Lernorte
zur Verfügung stehen. Informelles Lernen findet in privaten Räumen statt, bei Spiel und
Austausch mit Familie und Freunden wie im öffentlichen Raum. Plätze, Straßen und Höfe,
Museen, Theater, Konzerthallen, Galerien und Kinos oder Messen, Läden, Fabriken und
andere Arbeitsstätten sind Orte der Begegnung und des Lernens.
Unser Kulturraum ist der wichtigste Bildungsfaktor moderner Gesellschaften! Der Naturraum
hingegen verliert zunehmend an evolutionärer Bedeutung für das Überleben unserer
Spezies. Der evolutionäre Erfolg unserer Spezies zeigt sich nicht nur in der Zunahme der
Weltbevölkerung, sondern mehr noch in der Besiedlung und Überformung des in gleichem
Maße schrumpfenden Naturraums. In der entwicklungsbiologisch kurzen Zeitspanne unserer
„kulturellen Evolution“ hat sich der Lebensraum Erde sehr stark zu unseren Gunsten
verändert. Millionen von Arten müssen sich dem kulturellen Transformationsprozessen
unseres Lebensraums anpassen, sich eine Nische suchen oder sie sterben aus.16 Wir
16
Jedes Jahr verschwinden etwa 10.000 - 50.000 Arten für immer von der Erde. Quelle: An animal-rich future,
Joshua J. Tewksbury / Haldre S. Rogers, Science 25 Jul 2014: Vol. 345, Issue 6195, pp. 400 DOI:
10.1126/science.1258601
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passen den Naturraum unseren gesellschaftlichen Bedürfnissen an, in dem wir ihn mit einem
dichten Infrastrukturnetz topografisch gliedern und bautypologisch überformen. Die hierdurch
erschlossenen Ressourcen ermöglichen das Wachstum und die Verdichtung von
Siedlungsräumen, die wieder neue Infrastrukturen nach sich ziehen. Der Kulturraum wächst
in Form eines nichtlinearen dynamischen Systems, dessen Entwicklung trotz städtebaulicher
Planungsanstrengungen unvorhersehbar erscheint. Der Kulturraum ist der Lebensraum des
Menschen, ein Ökosystem, das sich selbst reguliert. Erfolg hat, was einen gesellschaftlichen
Nutzen bringt und einen kulturellen Wert für Individuen, Gruppen oder die Gesellschaft hat.
Kulturelle Bildung erfolgt nach dem kulturevolutionären Prinzip der Nützlichkeit von
Individuen für das Fortbestehen und die Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Wir sind daher gar nicht so frei in der Gestaltung des Kulturraums, sondern folgen den
Prinzipien der kulturellen Evolution. Die kulturelle Überformung der Natur spiegelt die
Entwicklungsdynamik menschlicher Gesellschaften und schafft die Formen unseres
Zusammenlebens. Die Gestaltung des Kulturraums muss grundlegende Forderungen von
Gesellschaften wie Sicherheit, Orientierung, Ernährung, Gemeinschaft, Partnerschaft,
Austausch, Fortbewegung oder Arbeit erfüllen. Der Kulturraum ist unser wichtigster
Lernraum, der das Erleben und Verhalten von Individuen prägt und steuert. Die unzähligen
informellen Lernprozesse finden unwillkürlich und weitgehend unbewusst statt, wenn immer
wir Menschen, Dingen und Orten begegnen, um zu kommunizieren oder auf andere Weise
zu interagieren. Der Kulturraum formt unser Bewusstsein, unsere Art zu Denken und zu
Handeln und wird hierdurch zu unserer kulturellen Heimat. Wir spüren die Wirkungsmacht
unseres Kulturraums am stärksten, wenn wir ihn zeitweise oder ganz verlassen. Ungewohnte
Kulturräume wirken fremd und können je nach Lebenssituation instinktive emotionale
Reaktionen wie Neugier oder Angst auslösen.
Was wir wissen und was wir lernen können, gründet sich auf unsere Raumwahrnehmung.
Der gesamte Wahrnehmungsraum ist ein Lernraum, da wir durch die Konsequenzen unserer
Handlungen Erfahrungen bilden. Unser Gehirn stellt dabei beständig neue assoziative
Verknüpfungen zwischen Ursache und Wirkung von Ereignissen her oder stärkt und
schwächt die vorhandenen. Unser Gedächtnis enthält dennoch keine Ansammlung von
Fakten oder Gestaltparametern, kein Formenarchiv und keine Vokabelsammlung. Durch die
Wahrnehmung der Umwelt bildet sich im Gedächtnis unser Vorstellungsraum, das Modell
der von uns erfahrenen Lebenswirklichkeit, in dem sich unser Wissen in anschaulicher wie
sprachlicher Form repräsentiert. Wir können dieses Wissen auch in der Vorstellung
aktivieren und neue Sinnzusammenhänge entdecken, in dem wir Nachdenken oder frei
Fantasieren. Durch die hierdurch erzielte höhere und effizientere Vernetzung des
vorhandenen Wissens erhöhen wir die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns. Wissen wird
verständlicher, ist schneller verfügbar, kann effizienter für Problemlösungen eingesetzt und
auf andere Handlungsfelder übertragen werden.
Fazit:
1) Wir speichern Wissen nicht nur im Gedächtnis, sondern vielmehr noch im
Wissensarchiv unseres Kulturraums in Form von Praktiken, Sprache, Texten,
Büchern, Bildern, Filmen, Artefakten, Bauten und Infrastrukturen.
2) Raumwahrnehmung impliziert lernen, in positiver wie in negativer Hinsicht. Das
Lernpotenzial des Kulturraums ist daher ein wichtiger Faktor für die Raumgestaltung.
Jeder Ort ist eine potenzielle Lernsituation.
3) Die Lernmotivation des Menschen ist abhängig vom Erlebniswert und
Handlungsangeboten des Kulturraums. Entscheidend für den Lernerfolg sind die
Interessen des Menschen sowie der subjektiv empfundene Neuheitswert der
Information.
4) Die Qualität und Quantität des informell durch Wahrnehmung erworbenen Wissens
ist abhängig von der Dauer und Intensität der inhaltlichen Auseinandersetzung. Die
Erregung und Steuerung von Aufmerksamkeit ist daher von entscheidender
Bedeutung für die Gestaltung von Lernsituationen.
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5) Umso offener, neugieriger und explorativer sich Menschen im Raum Verhalten, je
mehr können sie von der Umweltsituation lernen.
Der Raum als Sprachsystem
Der Kulturraum ist nicht nur unser Lebensraum, sondern hat darüber hinaus die Funktion
eines Sprachsystems. Wir nehmen die in ihm versammelten Menschen, Objekte und
Sachverhalte anhand ihrer Zeichenbedeutung wahr, wofür wir meist nur wenige konkrete
Anhaltspunkte wie eine prägnante Form, Farbe, Geste, einen Laut, Geruch oder Geschmack
benötigen. Das Zeichenprinzip der Lautsprache bildet einen festen Bestandteil im
Sprachsystem unseres Kulturraums, da Worte und Bildelemente gleichermaßen auf konkrete
Bedeutungen und Handlungszusammenhänge verweisen. Sobald wir mechanisch oder
energetisch auf Umweltsituationen einwirken, können wir die Konsequenzen unserer
Handlungen am eigenen Leibe spüren. Als Ursache unserer Sinnesempfindungen nehmen
wir ein Objekt oder Sachverhalt wahr, der hierdurch zum Repräsentanten aller erfahrenen
Erlebnis- und Verhaltenszustände wird. Objekt und Sachverhalt verlieren hierdurch die
Einzigartigkeit ihrer Erscheinung in Zeit und Raum und werden zum Vertreter einer
Kategorie, die im semantischen Gedächtnis angelegt und beständig erweitert wird. Das mit
dem Objekt oder Sachverhalt verbundene Handlungspotenzial hingegen erzeugt eine andere
Kategorie, die im prozeduralen Gedächtnis gespeichert wird, damit wir es erkennen und
gebrauchen können. Damit wir von einem Sprachsystem sprechen können, müssen vier
Korrelate im Raum identifizierbar sein.
4 Korrelate einer Semiotik des Raums:
a)
b)
c)
d)
Medium der Wahrnehmung
Objekt der Wahrnehmung
Subjekt der Wahrnehmung
Kontext der Wahrnehmungssituation
Dieser Zeichenprozess lässt sich als „Semiose“ bezeichnen, wobei ich mich nicht auf die
Theorien von Charles Sanders Pierce oder Charles Morris, sondern auf Umberto Eco17
beziehe, dessen Betrachtungen der „Architektur als Massenkommunikation“ viele Gedanken
einer „Zeichentheorie des Raums“ beinhalten. Ebenso grundlegend sind die Gedanken von
Ernst Cassirer, der in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ bereits eine „Semiotik
des Kulturraums“ entwirft.18 Cassirer verwendet den Symbolbegriff in einer umfassenden
Form, die ich in ihrer Anwendung auf den gebauten Raum jedoch für problematisch halte.
Die Formgebung nach Kriterien der Symbolwirkung ist eine Fehlinterpretation dieser Theorie
mit häufig fatalen Folgen für Individuen und Gesellschaft. Sprache hat eine andere Aufgabe
als die Formung von Sinnbildern oder Symbolen. Sie dient der Verständigung des Menschen
und der Ermöglichung von Verstehensprozessen. Symbolische Formen können in
Städtebau, Architektur und Innenraumgestaltung berechtigt sein, wo sie eine lebensweltliche
Bedeutung und einen konkreten Nutzen für den Menschen haben, der keine
unverhältnismäßigen Nachteile, Zwänge und Probleme verursacht. Ein runder Tisch ist nicht
nur ein Symbol für die allseitige Bereitschaft zur Konfliktlösung, sondern er fördert auf Grund
fehlender hierarchischer Merkmale und die Möglichkeit gegenseitiger Wahrnehmung
tatsächlich Vertrauen, Respekt und Dialog. Die „Zeichentheorie des Raums“ ist als Mittel zur
Analyse und Gestaltung von Räumen geeignet, wenn wir hierdurch zu einem tieferen
Verständnis von Raumproblemen und zur Entwicklung von Raumstrategien gelangen, die
sich in der Praxis bewähren.
Unser Lebensraum ist ein Sprachsystem, dessen Zeichen zugleich die Objekte unserer
leiblich-sinnlichen Wahrnehmung sind. Im lateinischen Ursprung des
17
18
Umberto Eco; Einführung in die Semiotik, Wilhelm Fink 2002
Ernst Cassirer; Philosophie der symbolischen Formen, Meiner 2010 (Originalausgaben Band 1-3 1923-1929)
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Wahrnehmungsbegriffes „percipere“ steckt die Handlung des Nehmens und Empfangens.
Bevor wir etwas „für-wahr-nehmen“, müssen wir es zuerst aktiv mit Hilfe unserer Sinne
erforschen, müssen es Ansehen, Nehmen, Fassen, Greifen, Tasten, Legen, Stellen,
Transformieren, Bewegen, Fühlen, Riechen oder Schmecken. Die Qualität dieser
Erfahrungen bestimmt, was wir verstehen, begreifen und wie wir das Erlebnis bewerten.
Jede Sprache folgt den Formen unserer Wahrnehmung. Wir nehmen wahr, wohin wir uns
orientieren müssen, wie wir Dinge benutzen oder mit was wir interagieren können. Alle
bewussten Wahrnehmungen und Vorstellungen unserer Existenz in der Umwelt sind nicht
nur räumlich und zeitlich, sondern auch sprachlich strukturiert. Über die sprachliche
Strukturierung eignen wir uns die Umwelt an. Wir transformieren Umwelt in einen
personalisierten Lebensraum, in dem uns alle Dinge Sinn und Bedeutung vermitteln, in dem
sie ihren Platz haben und unseren Aufenthaltsort bezeichnen, in dem sie
Verhaltenseigenschaften besitzen und Handlungsangebote signalisieren. Durch die
sprachliche Strukturierung unserer Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeit gelangen wir
zur Erkenntnissen und Ausdrucksmitteln, über die wir mit anderen Menschen in
Kommunikation treten können. Wir sind in der Lage, Umwelt so zu gestalten, dass sie von
anderen Menschen verstanden und genutzt werden kann. Die sprachliche Strukturierung
unseres Wahrnehmungsraums folgt dem Prinzip größtmöglichen Handlungserfolgs. Es sind
die erkannten Irrtümer, Fehler und Misserfolge, durch die wir lernen, da unser Gehirn
widersprüchliche Raumvorstellungen unwillkürlich korrigiert. Wird die sprachliche Struktur
unseres Wahrnehmungsraums durch Alter, Krankheiten oder Unfälle beeinträchtigt, hat das
Konsequenzen für unsere Erlebnis- , Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Wir können
Menschen, Dingen und Orten plötzlich nicht mehr ansehen, warum sie da sind, wie sie sich
verhalten oder wozu wir sie gebrauchen können. Andersherum vergrößern sich die
anschaulichen oder verbalen Formen unseres Sprachvermögens, wenn wir uns gezielt mit
dem Wahrnehmungsraum auseinandersetzen und lernen, Bedeutungen zu erkennen und
Handlungsangebote zu nutzen. Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften weisen
darauf hin, dass sich Fortschritte in der Raumwahrnehmung und Raumvorstellung in den
Leistungsmerkmalen der neuronalen Strukturen unseres Gehirns repräsentieren. So lässt bei
Taxifahrern eine messbare Vergrößerung des Gedächtnisareals feststellen, in dem wir
innere Landkarten speichern.19
Jede Form der Umweltgestaltung hat Konsequenzen für ein grundlegendes
Leistungspotenzial des Gehirns, unsere „räumliche Intelligenz“, die sich durch Interaktionen
mit der Umwelt bildet und durch bildliche wie sprachliche Reflexion methodisch
weiterentwickeln lässt. Unsere Fähigkeit zum „Raumdenken“ gründet sich auf die Reflexion
der Raumwahrnehmung. Durch die bewusste Auseinandersetzung mit der
Raumwahrnehmung und die kritische Hinterfragung der Wirkungen von Raum auf unser
Erleben und Verhalten können wir die sprachliche Struktur von Räumen sichtbar machen:
1. Im ersten Schritt müssen wir bewusst wahrnehmen, welche Raumelemente eine
Zeichenbedeutung entfalten und uns hierdurch über den situativen Kontext des
Ortes, das Erleben und Verhalten der hier versammelten Menschen und die
Gebrauchsmöglichkeiten der verfügbaren Objekte informieren.
2. Im zweiten Schritt können wir wahrnehmen, worauf die Raumelemente inhaltlich
referieren und welchen Gebrauchszweck oder welche Nutzungsmöglichkeiten sie uns
hierdurch eröffnen.
3. Im dritten Schritt können wir wahrnehmen, wie der Raum auf Rezipienten bzw.
Besucher oder Nutzer wirkt, deren emotionale und kognitive Reaktionen beobachten,
erfragen und verstehen.
19
Maguire EA, Woollett K, Spiers HJ.; London taxi drivers and bus drivers: a structural MRI and
neuropsychological analysis, PMID: 17024677, DOI: 10.1002/hipo.20233 (Department of Imaging Neuroscience,
Institute of Neurology, University College London)
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4. Im vierten Schritt können wir wahrnehmen, welche Interpretationsmöglichkeiten sich
aus der Auseinandersetzung mit dem Raum eröffnen, welche Strategien zur
Verräumlichung von Wissen existieren oder angewendet wurden.
Raumstrategien – Atmosphärenforschung und Sprachforschung
Für die Erforschung und Analyse unserer Raumwahrnehmung sowie der hieraus folgenden
Raumstrategien zur Gestaltung des Kulturraums möchte ich zwei Wege skizzieren:
1) Mit der „intuitiven Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums“ lassen sich
die sinnlich spürbaren Wirkungen von Atmosphären auf unser Erleben und Verhalten
untersuchen. Die hieraus folgende Raumstrategie „Szenografie und
Atmosphärenforschung“ eignet sich für die Inszenierung atmosphärischer Räume, die
Erzeugung emotionaler Stimmungen und spontaner Gefühlsreaktionen, die Erzählung
fantasievoller Geschichten oder die Entwicklung künstlerischer Interventionen.
2) Mit der „diskursiven Analyse der sprachlichen Struktur des Raums“ lassen sich die
kognitiv erklärbaren Wirkungen von Zeichen auf unser Erleben und Verhalten untersuchen.
Die hieraus folgende Raumstrategie „Raumsemiotik und Sprachforschung“ eignet sich für
diskursive Planungsverfahren, bei denen klar definierbare Zielvorgaben im Kontext konkreter
Raumsituationen entwickelt, abgestimmt, definiert, erreicht und evaluiert werden müssen,
wie die Wahrnehmung von Botschaften, die Herstellung von Orientierung, die Schaffung von
Gebrauchswerten, Handlungsoptionen und Erlebnisqualität oder die Steuerung von
Nutzerverhalten.
Raumstrategie Szenografie und Atmosphärenforschung
„Atmosphären“ sind der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Raumwahrnehmung,
da sie unsere emotionale Stimmung im Erlebnis konkreter Raumereignisse widerspiegeln.
Jede Veränderung unseres Körperzustandes wird von den emotionalen Zentren unseres
Gehirns in Bruchteilen einer Sekunde unwillkürlich bewertet. Bis wir sehen, hören, tasten,
schmecken oder riechen, worum es sich handelt, vergeht hingegen mehr als eine Sekunde,
weshalb wir Räume immer in einer inneren Gestimmtheit wahrnehmen. Unsere emotionale
Stimmung im Wahrnehmungsprozess spiegelt sich in der Atmosphäre der Raumsituation.
Auf Grund unseres Einfühlungsvermögens wirken Räume auch dann noch auf den
Menschen, wenn wir sie in Form von Bildern oder Filmen betrachten. Die Empathie nimmt
mit der Immersion zu, weshalb uns Gemälde, Fotografien, Filme oder Rauminszenierungen
oftmals mehr bewegen, als unsere Lebenswirklichkeit. Ein Gradmesser für die ästhetische
Wirkung der Immersion (Eintauchen) ist die Faszination, die wir im Wahrnehmungsprozess
einer Raumsituation erleben.
Stimmungen haben eine überlebenswichtige Funktion für den Menschen, da sie Reflexe,
Triebe und Instinkte aktivieren und spontane Gefühlsreaktionen fördern:
a) durch Angstgefühle vor Gefahren warnen und Fluchtreflexe aktivieren
b) durch Appetit auf Nahrungsangebote hinweisen und Nahrungsaufnahme aktivieren
c) durch Lust auf Arterhaltungsangebote aufmerksam machen und
Verführungsstrategien aktivieren
d) durch Aggressionen die Kampfbereitschaft stärken und Angriffsstrategien aktivieren
e) durch Motivation Handlungsmotivation steigern und Aktivitäten aktivieren
f) durch Müdigkeit Entspannung hervorrufen und Schlafbereitschaft aktivieren
g) durch Vertrauen Freundlichkeit hervorrufen und Partnersuche aktivieren
h) durch Schmerz Mitleid hervorrufen und Hilfeleistungen aktivieren
In der Regel haben Menschen ihre emotionalen Reaktionen soweit unter Kontrolle, dass sie
spontane Handlungsreflexe unterdrücken können, was bei unwillkürlichen Gefühlsreaktionen
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jedoch weit weniger gelingt. Die emotionalen Wirkungen einer Raumsituation lassen sich
daher recht gut an der Gestik und Mimik von Menschen ablesen. Fragt man nach, können
Menschen ihre Stimmung zudem oft recht präzise zum Ausdruck bringen. Durch die
atmosphärischen Wirkungen von Raumsituationen auf unsere emotionale Stimmung ist es
unmöglich, eine Raumsituation unvoreingenommen und wertneutral wahrzunehmen. Dabei
spielt es keine Rolle, ob wir uns in einem realen oder imaginierten Raum aufhalten. Worauf
es ankommt, ist die suggestive Kraft der Bildwelten, Klangwelten, Geschichten oder Musik.
Diese Erkenntnis nützt Architekten, Planern, Bauherrn, Investoren und anderen
Planungsbeteiligten ganz konkret, wenn sie Wettbewerbsergebnisse verstehen und
bewerten, Meinungsbildungsprozesse initiieren und moderieren oder Entscheidungen im
Entwurfs- und Planungsprozess treffen und verantworten müssen. Die Atmosphäre eines
Raumes prägt den ersten Eindruck, löst spontane Gefühlsreaktionen aus und beeinflusst das
Werturteil, welches von rationalen Argumenten gestärkt, nur schwerlich revidiert werden
kann.
Wir nehmen Raum mit allen Sinnen wahr, weshalb es für die Analyse der ästhetischen
Wirkungen von Bedeutung ist, wie ein Raum aussieht, wie Farben und Licht erscheinen, wie
er sich anfühlt, wie er klingt, riecht, schmeckt, sich verhält oder unsere Handlungen
beeinflusst. Die Atmosphäre einer Raumsituation setzt sich aus allen sinnlich
wahrnehmbaren Ereignissen zusammen. Unverständliche Geräusche, Töne, Klänge,
Sprachfetzen, Musikfragmente, Gerüche, Farben, Licht, Reflexionen, Spiegelungen,
Transparenzen, Bewegungen oder Berührungen werden in der Regel unbewusst verarbeitet.
Wir nehmen sie nur dann wahr, wenn sie unsere Aufmerksamkeit erregen oder wir darauf
achten. Auch wenn atmosphärische Merkmale fehlen, spüren wir die ungewohnte Leere
sofort, da Räume plötzlich künstlich und befremdlich wirken. In der Filmproduktion werden
Atmosphären daher mit großem Aufwand für jede einzelne Szene entworfen und produziert.
Hierbei werden alle filmisch darstellbaren Ebenen der Raumwahrnehmung sorgfältig in
Szene gesetzt bzw. inszeniert. In der Szenografie wird die Raumstrategie der
atmosphärischen Inszenierung für die Gestaltung von Theateraufführungen, Ausstellungen,
Messen oder Events eingesetzt. In der Szenografie werden Menschen, Objekte,
Handlungen, Lichtstimmungen, Farbthemen, Sprache und Sound professionell entworfen
und in Bezug auf die ästhetische Wirkung und inhaltliche Funktion des Ganzen in Szene
gesetzt.
Im Städtebau und in der Architektur der Gegenwart werden die atmosphärischen Wirkungen
häufig vernachlässigt. Das ist problematisch, da jeder Gang, jede Fahrt oder jeder Flug über
Landschaften und Siedlungsräume starke atmosphärische Wirkungen auf den Menschen
ausübt, die seine emotionale Stimmung prägen und sein Verhalten beeinflussen. Die
atmosphärische Qualität von Plätzen, Straßen und Gebäuden steigt, wenn sie für die
Handlungen von Menschen perspektivisch, dynamisch, haptisch, klanglich in Szene gesetzt
wird, was bei der Stadtgestaltung und Architektur der Vormoderne sehr häufig beobachtet
werden kann. Zum Klangbild historischer Stadträume gehören Menschen, die sich dort
aufhalten, sich begegnen, arbeiten, streiten, vergnügen und austauschen. In den
Sichtachsen und an den Eckpunkten wurden häufig besonders wichtige Gebäude
angeordnet und durch Formung, Materialität und Oberflächengestaltung herausgehoben.
Das ermöglicht einfache Orientierung und bildet Identität. Besonders wichtige Plätze wurden
häufig durch Wasserspiele und Brunnen aufgewertet, die zentrale Elemente für die
Menschen sind, ganz gleich ob sie sich dort aufhalten oder die dort versammelten Menschen
in den Blick nehmen. Wir nehmen fließendes Wasser als Teil der Geräuschkulisse und
haptisch spürbare Erfrischung wahr, auch wenn wir das kühle Nass nicht direkt am Körper
spüren. Die Materialien historischer Plätze, Straßen und Wege wurden häufig aus dem
Naturstein der Umgebung gefertigt, was regionale Identität vermittelt und zudem nachhaltig
ist, da Naturmaterialien sehr langsam und in „Würde“ altern. Dem gegenüber stehen heute
häufig Infrastrukturen für den motorisierten Verkehr, dessen schmutzig graue übelriechende,
vielfach geflickte Asphaltflächen weder Aufenthaltsqualität noch Identität erzeugen. Noch
problematischer ist die Formung der Gebäude, die sich häufig vom lauten schmutzigen
öffentlichen Verkehrsraum abwendet. Die im Raster angelegten schmucklosen
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ungegliederten Fassaden, die versteckten anonymen Eingangssituationen oder die von
dicken Kunststoffrahmen gefassten kleinen Fensteröffnungen, die oft nur wenig Licht in
winzige Innenräume lassen. Die visuelle Haptik historischer Fassaden wird oftmals von
Putzflächen geprägt, die durch Texturen, mineralische Farbanstriche oder Ornamente und
Wandmalereien gegliedert und personalisiert werden. Häuser, Quartiere, Städte erhalten
hierdurch ihren Charakter und ihre Aufenthaltsqualität für den Menschen, ganz gleich ob es
sich um Bewohner oder Besucher handelt. Beim Spaziergang durch historische und
moderne Quartiere lassen sich die unterschiedlichen Raumstrategien und ihre
Konsequenzen für den Menschen empirisch beobachten und systematisch auswerten. Die
ästhetische Attraktivität von Städten, Quartieren und einzelnen Immobilien ist heute ein
wichtiger Standortfaktor für Unternehmen und Arbeitnehmer, der soziale, kulturelle und
wirtschaftliche Konsequenzen für jedes Gemeinwesen hat. Wir sollten daher beginnen, die
Raumstrategie der Szenografie auf den Städtebau und die Architektur unserer Zeit
anzuwenden, zumal es einzelne gelungene Beispiele bereits gibt. Eine Rückkehr zu
tradierten Formensprachen wäre lediglich Zeichen mangelnden Willens, sich mit der Qualität
menschlicher Raumwahrnehmung auseinanderzusetzen und die hieraus folgen
Raumstrategien anzuwenden.
Bei der Raumstrategie Szenografie stehen die atmosphärischen Wirkungen aller
wahrnehmbaren Raumsituationen auf die emotionale Stimmung und das Verhalten von
Menschen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Menschen sollen in Situationen
eintauchen und die präsentierten Inhalte sinnlich erleben. Durch die Kraft der Erlebnisse
sollen sie motiviert und bewegt werden, etwas Bestimmtes zu tun und zu lernen. Die
ästhetische Wirkung von Atmosphären kann den Wert von Ereignissen in Szene setzen, wie
Auftaktfeiern großer Sportveranstaltungen oder das Auftreten wichtiger Machtinhaber in
weltlichen oder geistlichen Kontext wie die Papstpredigt zu Ostern, die Haddsch in Mekka,
Militärparaden oder Gipfeltreffen. Die Inszenierung von Ausstellungen und Museen dient
primär Bildungszwecken, während Messeauftritte von Unternehmen einen wirtschaftlichen
Nutzen verfolgen. Alle Wahrnehmungen sind assoziativ miteinander vernetzt und werden im
Augenblick des Erlebens aktiviert.20 Aus diesem Grund können Farben frisch wirken, Appetit
anregen oder Übelkeit verursachen. Atmosphären wirken emotional, da sie unseren
gesamten Körper auf das Raumerlebnis einstimmen, was sich auf Veränderungen des
Hormonspiegels und Stoffwechselfunktionen wie Herzschlag, Atmung, Appetit und
Motivation auswirkt. Die Atmosphäre eines Raums bestimmt die Intensität und Qualität
unseres Erlebens.21 Licht, dass durch ein Fenster auf einen gut ausgewählten Leseplatz fällt,
kann von größerer Bedeutung für die Raumwahrnehmung sein, als die Größe des Zimmers
oder die Höhe der Decke. In der Raumwahrnehmung verschmilzt, was außerhalb von uns
existiert mit dem, was wir in unserer Vorstellung oder durch unsere Handlungen daraus
machen. Für den Menschen ist nichts einfach da, denn um etwas wahrnehmen zu können,
es zu verstehen und zu begreifen, müssen wir uns die Bedeutungen und das
Handlungspotenzial des Objekts oder Sachverhalts in zumeist aufwendigen wiederholten
Explorationsvorgängen aneignen. Das führt uns zur diskursiven Analyse der sprachlichen
Struktur des Raums.
Raumstrategie Raumsemiotik und Sprachforschung
Die erfahrenen Wirkungen unserer Interaktionen mit der Umwelt spiegeln sich in der
Bedeutungs- und Handlungsstruktur unserer Raumwahrnehmung. Wahrnehmungen werden
von unserem Gehirn nicht einfach gespeichert, sondern in Bezug auf ihre Bedeutung und
ihren Sinnzusammenhang mit unseren Vorerlebnissen archiviert. Vereinfacht lässt sich der
Speicherungs- und Memorierungsprozess erklären, wenn wir uns eine Verschlagwortung der
20
Axel Buether; Die Bildung der räumlich-visuellen Kompetenz: Neurobiologische Grundlagen für die
methodische Förderung der anschaulichen Wahrnehmung, Vorstellung und Darstellung im Gestaltungs- und
Kommunikationsprozess, Burg Giebichenstein 2010
21
Gernot Böhme; Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik, Suhrkamp 2013
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wahrgenommenen Objekte und Sachverhalte in Bezug auf ihre Eigenschaften denken, die
wiederum assoziativ mit allen erfahrenen Verhaltenszuständen und Handlungsangeboten
verknüpft sind. Wenn Licht mit der Wellenlängen von etwa 570nm auf unsere Netzhaut fällt,
werden durch das Ereignis spezifische Assoziationen im Gedächtnis aktiviert, die aussagen,
dass es sich um ein reines leuchtendes Gelb handelt, dass auf Grund seiner Helligkeit,
Brillanz und Intensität und den Bezug zur Wahrnehmungssituation sofort als Sonne
interpretiert wird. Dieser Anblick hebt unsere Stimmung, steigert unsere Motivation und regt
uns zu körperlichen Aktivitäten im Außenraum an. Diese Effekte sind selbst dann noch
spürbar, wenn es sich um eine gelbe Wand- oder Objektfarbe handelt, die entsprechend hell
ausgeleuchtet ist. Sie sind wahrnehmbar, wenn sonnig gelbes Scheinwerferlicht auf eine
Bühne, ein Objekt oder ein Gesicht fällt. Über die Raumstrategie Sprachforschung werden
diese Effekte erkennbar, wenn wir wie bei der Sprachanalyse vorgehen. Im ersten Schritt
erfolgt die „Semantische Analyse, dann die „Syntaktische Analyse“ und zuletzt die
„Stilanalyse“. Diese Analysemethode lässt sich gleichermaßen auf die Wortsprache, wie auf
Städtebau, Architektur und Innenarchitektur anwenden. Die Semantik und Syntax des
Wahrnehmungsraums zeigt sich zudem an Bildung und Verlauf der wichtigsten
Gehirnströme im visuellen Wahrnehmungsprozess22:
Was-Strom => Raumsemantik => Analyse Eigenschaften, Stimmung und Werturteil
Der in den Neurowissenschaften als „Was-Strom“ bezeichnete Informationsfluss vom
visuellen Kortex zum „semantischen Gedächtnis“ aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ
verknüpften Bedeutungen. Sobald ein Zeichen die gespeicherten Eigenschaften eines
Objekts oder Sachverhalts wie Formen, Farben oder Geruchsmerkmale aktiviert, nehmen wir
wahr, um was für ein Ereignis es sich handelt. Wir können daher eine Orange oder eine
orangefarbene Wand nicht ansehen, ohne den süßsauren Geschmack und ätherische
Geruch der Frucht wahrzunehmen. Im semantischen Gedächtnis definieren wir die Kategorie
„Orange“ durch die Beschreibung aller erfahrenen Eigenschaften, weshalb diese sofort
präsent sind, wenn wir den Namen hören oder lesen, die Gestalt oder Farbe sehen, einen
zitrusartigen Geruch oder süßsäuerlichen Geschmack spüren.
Die Gestaltwahrnehmung hat eine wichtige Funktion bei Objekten, die wir ganz in den Blick
nehmen können, während ihre Bedeutung für die Raumgestaltung überschätzt wird.
Entwurfsskizzen, Planzeichnungen, Modelle, Fotografien und Visualisierungen vermitteln uns
eine Ästhetik, die unter realen Umweltbedingungen nicht wahrnehmbar ist. Lassen wir uns
hiervon täuschen, kann das fatale Konsequenzen für die ästhetische Qualität von
Stadträumen, Gebäuden und Innenräumen haben. Die Formen von Gebäuden spielen nur
dann die entscheidende Rolle für die Raumwahrnehmung, wenn wir sie als Ganzes in unser
Blickfeld bekommen, was bei Solitärbauten wahrscheinlich, bei Wohn- und Geschäftsbauten
in der Regel unmöglich ist. Unser Gesichtsfeld beträgt ca. 180° in der Horizontalen und 130°
in der Vertikalen. Auf Grund der ungleichmäßigen Verteilung der Sehzellen in der Netzhaut,
die sich im winzigen Areal der Fovea konzentrieren, können wir lediglich 2° davon bewusst,
scharf konturiert und farbig wahrnehmen. Die Peripherie des Gesichtsfeldes ist auf Grund
der geringen Dichte von Sehzellen nicht mehr bewusst wahrnehmbar. Durch permanente
Augenbewegungen erreichen wir ein Blickfeld mit dem Radius von 45-60°. Wenn der
Abstand zwischen Augpunkt und Blickpunkt nicht ausreicht, um die Raumform in den Blick
zu nehmen, dann gewinnen andere Wahrnehmungsqualitäten an Bedeutung. Bei einem
Stadtspaziergang in dicht bebauten Innenstadtquartieren können wir uns empirisch davon
überzeugen, dass der Fokus unserer Wahrnehmung auf Raumsituationen wie Läden,
Eingänge, Balkone oder Fenster begrenzt bleibt, während Gebäudeformen nur selten erfasst
werden. Das gilt in der Regel auch für Innenraumsituationen, da wir selten weite
Perspektiven erhalten. Durch die größere Nähe gewinnen andere Sinnesqualitäten wie
Oberflächen-, Material-, Farb-, Lichtwirkungen oder Geräusche, Akustik und Gerüche an
Bedeutung.
22
E. Bruce Goldstein (Hg. K. Gegenfurtner); Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs, Springer 2014
Karl R. Gegenfurtner; Gehirn und Wahrnehmung: Eine Einführung, Fischer 2011
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Bei der Analyse der semantischen Elemente einer Raumsituation, müssen wir nicht nur die
Raumform oder die Objektformen der darin versammelten Objekte, sondern vielmehr noch
alle wahrnehmbaren Eigenschaften beschreiben. Es reicht nicht aus, wenn wir die Position
eines Fensters oder einer Leuchte angeben, sondern wir müssen uns mit den Eigenschaften
des Lichts und dessen Wirkungen auf den Menschen in der konkreten Raumsituation
auseinandersetzen. Diese Sorgfaltspflicht gilt für alle Raumelemente, weshalb die
semantische Analyse einer Raumsituation umfangreich und zeitintensiv ist. Doch nur so lässt
sich die Komplexität der sprachlichen Struktur eines Raums verstehen. In Projektseminaren
wird dieser Grad der Objektbestimmung allenfalls exemplarisch eingefordert und ist in der
Regel mit der Auswahl einiger Muster erledigt. In der architektonischen Praxis erfolgt die
nähere Bestimmung der Eigenschaften von Räumen und Objekten oft erst bei der Erstellung
von Leistungsverzeichnissen. Das ist viel zu spät, da die meinungsbildende Entwurfsphase
abgeschlossen, die Ausführungsplanung fertig, die Genehmigungen erteilt und die Kosten
geschätzt sind. Ist die Bauphase zeitlich eng geplant, besteht in dieser Planungsphase kaum
noch Handlungsspielraum. Problematisch kann es werden, wenn Leistungsverzeichnisse
nicht vom oder mit den Entwurfsarchitekten, sondern von Spezialisten erstellt werden, die
auf Bürostandards zurückgreifen oder Vorgaben von Investoren umsetzen. Die
atmosphärische Qualität von Räumen zeigt sich besonders an den Eigenschaften der
Details, die jedoch nicht für sich beurteilt werden dürfen, sondern auf die Wirkung der
gesamten Wahrnehmungssituation bezogen werden müssen. In der Sprachanalyse werden
Eigenschaftswörter als „Adjektive“ bezeichnet. Adjektive entfalten eine herausragende
Wirkung in der Sprachgestaltung, wenn sie gezielt und effektiv eingesetzt werden. Das trifft
gleichermaßen auf die Raumgestaltung zu. Die systematische Untersuchung der
semantischen Struktur von Raumsituationen sollte in Bezug auf unsere
Sinneswahrnehmungen erfolgen, damit alle wesentlichen Effekte erfasst werden:
Kriterien für die semantische Analyse von Raumsituationen:
a) Beschreibung der wesentlichen Farb- und Lichtwirkungen aller Details und des
Gesamtraums
b) Beschreibung der wesentlichen Form-, Material- und Oberflächenwirkungen aller
Details und des Gesamtraums
c) Beschreibung der wesentlichen Proportions- und Gleichgewichtswirkungen aller
Details und des Gesamtraums
d) Beschreibung der wesentlichen dynamischen Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums
e) Beschreibung der wesentlichen Geruchs- und Geschmackswirkungen aller Details
und des Gesamtraums
f) Beschreibung der wesentlichen akustische Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums
Wie/Wo => Strom Raumsyntax => Analyse Sinn, Zweck und Nutzen
Der in den Neurowissenschaften als „Wie/Wo-Strom“ bezeichnete Informationsfluss vom
visuellen Kortex zum „prozeduralen Gedächtnis“ aktiviert die mit dem Ereignis assoziativ
verknüpften Handlungszusammenhänge und Verhaltenszustände. Die Wirkungen von
Räumen auf unser Erleben und Verhalten lassen sich nicht nur auf die Bestimmung der
qualitativen Eigenschaften von Objekten und Sachverhalten zurückführen, sondern auch auf
die Möglichkeiten und Konsequenzen ihres Gebrauchs. Wenn wir etwas über Sinn, Zweck,
Funktion und Nutzen von Räumen aussagen wollen, müssen wir uns fragen, was wir darin
tun, erfahren und lernen können. Dieser Analyseschritt folgt der Bestimmung des Verbs oder
Prädikats im Satzbau und wird in der Sprachanalyse daher auch als „Syntaktische Analyse
bezeichnet. In der syntaktischen Analyse der Raumwirkungen wird die Satzaussage jedoch
nicht durch logisches Denken, sondern durch Wahrnehmung ermittelt. Während die intuitiven
Analyse der phänomenologischen Struktur des Raums nach den Ursachen für emotionale
Stimmungen und gefühlsbezogene Werturteile fragt, richtet sich die diskursive Analyse der
sprachlichen Struktur des Raums auf den Sinn, Zweck und Nutzen.
Architektur WAHRnehmen Buchbeitrag: Prof. Dr. Axel Buether
Stand: 01.09.16
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Kriterien für die syntaktische Analyse von Raumsituationen:
a) Beschreibung der wesentlichen gestischen Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums - Zu welchem Zweck zeigt sich etwas?
b) Beschreibung der wesentlichen typologischen Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums - Wie zeigt sich etwas?
c) Beschreibung der wesentlichen topologischen Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums - Wo und wann zeigt sich etwas?
d) Beschreibung der wesentlichen perspektivischen Wirkungen aller Details und des
Gesamtraums - Zu wem und zu was zeigt sich etwas?
Die Entwicklung unserer Raumwahrnehmung folgt den evolutionären Prinzipien von Neugier,
Spieltrieb und Handlungserfolg. Jede Handlungssituation lässt uns mehrere Möglichkeiten
zur Interpretation und Problemlösung, weshalb wir uns bei vernunftgeleiteten
Wahrnehmungsprozessen von der wahrscheinlichsten Aussicht auf Erfolg leiten lassen. Bei
instinktgeleiteten Wahrnehmungsprozessen folgen wir hingegen angeborenen Trieben, was
bei der Analyse und Gestaltung von Räumen, aber auch bei der Bewertung von
Raumkonzepten zu beachten ist. Die attraktive Frau, der erfolgreiche Geschäftsmann oder
vergnügt spielende Kinder im Rendering eines Wettbewerbsbeitrages oder auf dem Titel
eines Hausprospekts erzielen häufig positive Wirkungen, da sie symbolisch auf beabsichtigte
Verhaltenszustände hinweisen. Faktisch lenken sie uns vom tatsächlichen Sinn, Zweck und
Nutzen dargestellter Raumsituationen ab, wenn wir uns mit dem ersten Eindruck zufrieden
geben. Den Gebrauchswert und Nutzen von Räumen können wir nur dann präzise
analysieren und nachhaltig gestalten, wenn wir die Gebrauchseigenschaften und
Handlungspotenziale in den Blick nehmen.