16
Kernspaltung
Obwohl die Kernenergie erst seit etwa 50 Jahren für den Menschen zugänglich ist, hat sie im Jahr 2006 weltweit ca. 13% der Elektrizitätsversorgung
getragen. Länder wie Frankreich, Finnland und Japan, die sich in ihrer Energiewirtschaft bereits stark auf die Kernenergie stützen, planen ebenso wie
China, Indien, Iran und einige Länder Osteuropas den weiteren Ausbau der
nuklearen Energieversorgung.
In einigen westlichen Ländern, insbesondere den USA, Schweden und
Deutschland, befindet sich die Kernenergie aus politischen Gründen in einer
Sackgasse. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die Kernenergie
nur in komplexen und nicht ungefährlichen Anlagen nutzbar gemacht werden kann und diese Technologie sich ferner als weit kostspieliger erwiesen
hat als ursprünglich abgeschätzt. Die Kernenergie bietet aber so viele Nutzungsmöglichkeiten, dass eine Auseinandersetzung mit ihr unumgänglich ist.1
16.1 Grundlagen
16.1.1 Kernaufbau, Kernreaktionen
Wir wissen aus zahlreichen Experimenten, dass Atome einen mittleren Durchmesser von ca. 10−10 m haben, ihre Masse und positive elektrische Ladung
aber in einem kleinen Kern konzentriert ist, der einen Durchmesser von nur
etwa 10−14 m hat.2 Atome sind elektrisch neutral: Für jedes positiv geladene
Proton im Kern gibt es ein negativ geladenes Elektron in der Hülle. Die chemische Identität eines Atoms ist durch die Zahl Z seiner Protonen festgelegt,
die Kernladungszahl oder Ordnungszahl genannt wird. Bei einer chemischen
1
2
Kernspaltung ist keine Erfindung der Ingenieure. 1972 entdeckten französische
Geologen bei der Suche nach Uran in der Gegend von Oklu in Gabun, Westafrika,
Überreste eines natürlichen Kernreaktors, der vor etwa zwei Milliarden Jahren
von selbst entstanden war; für weitere Informationen vgl. www.curtain.edu.au,
Suchwort: Oklu.
In diesem Abschnitt wird an einige Tatsachen aus der Atomphysik erinnert. Für
eine umfassende Darstellung vgl. z.B. [9] und [14].
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2016
K. Strauss, Kraftwerkstechnik, VDI-Buch,
DOI 10.1007/978-3-662-53030-6_16
392
16 Kernspaltung
Z
N=Z
N
Abbildung 16.1. Neutronenzahl N und
Kernladungszahl Z von natürlichen Isotopen
Reaktion ändert sich im Molekülverbund i.allg. die Anzahl der mit einem
Atom verbundenen Elektronen; es gewinnt oder verliert Elektronen an ein
anderes Atom oder teilt sich Elektronen mit diesem. Eine wichtige Größe des
Kerns ist seine Masse. Als atomare Masseneinheit u wurde 1/12 der Masse
des Kohlenstoffisotops 126 C festgelegt:
1 u = 1,6598 · 10−27 kg.
In dieser Masseneinheit hat das Wasserstoffatom, das aus einem Proton und einem Elektron besteht, die Masse von etwas mehr als 1 u. Elektronen haben nur
etwa 1/2 000 der Masse des Protons. Protonen und Elektronen machen nicht
die gesamte Masse eines Atoms aus. Ein großer Teil der Masse eines Kerns
wird von den Neutronen beigetragen. Dies sind elektrisch neutrale Teilchen,
die etwa dieselbe Masse wie ein Proton haben. Die Zahl A der Kernteilchen
oder Nukleonen eines Atoms ist die Summe aus der Zahl Z der Protonen und
der Zahl N der Neutronen:
A=Z +N .
A wird auch Massenzahl genannt.
Wegen der Existenz der Neutronen ist es möglich, dass zwei Atome eine gleiche Kernladungszahl Z haben, und sich daher chemisch gleich verhalten, aber eine unterschiedliche Massenzahl A. Solche Atome nennt man
Isotope. Alle Elemente haben Isotope, die aber zum größten Teil instabil sind.
Natürlich vorkommendes Uran z.B. besteht aus einem Isotopengemisch, das
238
235
0,006% 234
92 U, 0,711% 92 U und 99,283% 92 U enthält. Die hochgestellte Zahl
ist die Massenzahl, der tiefgestellte Wert stellt die Kernladungszahl dar.
In Abb. 16.1 ist die Protonenzahl Z der in der Natur vorkommenden stabilen Isotope als Funktion der Neutronenzahl N aufgetragen. Man erkennt
aus der Abbildung die Variation des Verhältnisses Z zu N . Für A < 40 ist
Z/N ≈ 1 und für A = 200 etwa 0,6. Für den Übergang eines instabilen Kerns
in einen stabilen durch Kernrektionen gibt es drei Wege:
1. β +/− -Zerfall
16.1 Grundlagen
393
Gegeben sei der Kern 116 C, der für seine Masse eine zu große elektrische
Ladung besitzt. Durch Umwandlung eines Protons in ein Neutron erfolgt
ein Übergang in einen anderen Kern, der in diesem Fall stabil ist. Es folgt:
p + Energie −→ n + β + + ν ;
(16.1)
+
β ist ein Positron oder positives Elektron, ν ist ein Neutrino. Für die
Kernumwandlung ergibt sich
11
6C
−→
11
5B
+ β+ + ν .
(16.2)
Der Kohlenstoffkern 116 C wurde in einen Kern des Elements Bor 115 B umgewandelt.
Andere Kerne können das gleiche Ergebnis erreichen, indem sie ein Elektron aus ihrer Elektronenhülle einfangen und so ein Proton in ein Neutron
umwandeln. Man spricht dann von Elektroneneinfang:
7
4 Be
+ β − −→ 73 Li .
(16.3)
Umgekehrt erfolgt bei einer für die Kernmasse zu geringen Ladung der
Übergang durch Umwandlung eines Neutrons in ein Proton:
n −→ p + β − + ν ,
(16.4)
−
wobei β ein Elektron und ν ein Antineutrino ist. Dieser Vorgang heißt
β-Zerfall, z.B.
11
4 Be
−→
11
5B
+ β− + ν .
(16.5)
Die kinetische Energie der β − - und β + -Teilchen liegt im Bereich von 0–
1 MeV.3
2. α-Zerfall
Bei schwereren Kernen, die zu viele Neutronen und zu viele Protonen
enthalten, kann ein Ladungsüberschuss durch Emission eines α-Teilchens,
dies ist ein 42 He-Kern, reduziert werden:
A
K
Z
→
A−4
K
Z−2
+α.
(16.6)
Dabei nimmt die Massenzahl um vier und die Kernladungszahl um zwei
Einheiten ab. Die kinetische Energie der α-Teilchen liegt im Bereich von
einigen MeV. Die Kernreaktionen nach (16.2), (16.5) und (16.6) bezeichnet
man als radioaktiven Zerfall. Auch der so entstandene Kern kann instabil
sein. Ist dies so, kann ein zweiter oder dritter Zerfallsschritt auftreten. So
zerfällt z.B. das Uranisotop 238
92 U in vierzehn Schritten, und die Zerfallskette endet beim stabilen Bleiisotop 206
82 Pb. Blei repräsentiert das obere
Ende des Bereiches der stabilen Elemente – Elemente mit einer größeren
Massenzahl zerfallen spontan. Häufig sendet ein Kern bei einer α- oder βUmwandlung zusätzlich noch γ-Strahlen aus; dies sind sehr hochfrequente Photonen. α-, β- und γ-Strahlen bezeichnet man zusammenfassend als
Radioaktivität.
3
Maßeinheit für die Energie in der Atomphysik ist das Elektronenvolt (eV). Es gilt
die Umrechnung: 1 eV= 1,602 ·10−19 J, entsprechend ist 1 MeV = 106 eV.
394
16 Kernspaltung
3. Spontane Spaltung sehr schwerer Kerne (A > 230)
Schwere Kerne können ohne äußere Einwirkung unter Abgabe von Neutronen und γ-Strahlung in leichtere Kerne zerfallen, die ihrerseits häufig
β-instabil sind:
A
K
Z
−→ K1 + K2 + einige (n + γ) + Energie
(16.7)
Die spontane Spaltung eines schweren Atomkerns setzt etwa 200 MeV an
Energie pro Kern frei, erfolgt aber mit einer sehr geringen Zerfallsrate
(Halbwertszeiten in der Größenordnung von 1015 Jahren). Die spontane
Kernspaltung setzt der Masse der Kerne eine Obergrenze und damit auch
der Zahl der natürlich vorkommenden Elemente.
4. Induzierte Spaltung schwerer Kerne
Der Spaltungsprozess schwerer Kerne kann bei einigen Elementen - insbesondere bei Uran und Plutonium - herbeigeführt und zudem beliebig
beschleunigt werden, wenn man deren Atomkerne mit Neutronen bombardiert. Dabei werden die Kerne durch Neutroneinfang zunächst in einen angeregten Zustand versetzt und zerfallen dann in zwei kleinere Kerne. Wie
bei der spontanen Spaltung werden noch einige Neutronen und Energie
frei. Diesen Prozess nennt man induzierte oder auch kontrollierte Kernspaltung.4
Neutronen sind gebunden in einem Kern im allgemeinen stabil. Als freies
Neutron zerfällt es wie beim β-Zerfall in Proton, Elektron und Antineutrino.
Die zugehörige Halbwertszeit beträgt 636 Sekunden. Im Unterschied dazu ist
ein freies Proton (das ist ein solches, das nicht an einen Kern gebunden ist)
stabil.
Der räumlich und zeitlich völlig ungeordnete radioaktive Zerfall von Isotopen
kann durch ein statistisches Gesetz beschrieben werden. Die Zahl dn der in
der Zeit dt zerfallenden Atome eines Isotops ist gemäß
dn = −λ n dt
(16.8)
der Zahl der vorhandenen Atome n und der Zeitspanne dt proportional. Nach
einer Integration über t erhält man
n = n0 exp (−λ t) .
(16.9)
Hier ist n0 die Zahl der Atome zur Zeit t = 0, n die Zahl der zur Zeit t noch
vorhandenen Atome und λ die Zerfallskonstante, die der mittleren Lebensdauer des Elements entspricht. Für die Halbwertszeit τ , nach der die Zahl der
anfangs vorhandenen Atome auf die Hälfte abgenommen hat, gilt die Gleichung
τ1/2 =
4
ln 2
.
λ
(16.10)
Die induzierte Kernspaltung wurde 1938 von O. Hahn (1879–1968) und F. Straßmann (1902–1980) entdeckt. Die erste korrekte Interpretation des Vorganges gaben L. Meitner (1878–1968) und O.R. Frisch (1904–1979).
16.1 Grundlagen
395
Jedes radioaktive Element besitzt eine eindeutige Zerfallskonstante bzw. Halbwertszeit. Wir kennen keinen Weg, den radioaktiven Zerfall zu beschleunigen
oder zu bremsen. Anzumerken ist, dass der radioaktive Zerfall ein Zufallsprozess ist:
Er verläuft stets mit der von der Natur vorgegebenen Geschwindigkeit
und setzt damit Zeitmaßstäbe.
Beim Auftreffen auf Materie ionisiert radioaktive Strahlung Atome und wird
dabei abgebremst. Die Eindringtiefe hängt hauptsächlich von der Energie der
Strahlung ab. α−, β−, γ− Strahlung von 1 MeV dringt beim Auftreffen auf
Wasser 0,001, 0,5 bzw. 33 cm tief ein, bei 10 MeV sind es 0,01, 7 und 55 cm;
bei Luft ist die Eindringtiefe um den Faktor 1000 größer. Die Unterschiede in
der Eindringtiefe ergeben sich aus der Masse der Partikel: α−Teilchen sind
Helium Kerne, β−Teilchen Elektronen bzw. Positronen, während γ– Strahlen
hochenergetische Lichtquanten sind.
232
Beispiel 16.1. Die Erdkruste enthält radioaktive Elemente wie 238
92 U und 90 Th,
U
in
Granit
beträgt
die durch α-Zerfall Energie abgeben. Der Massenanteil von 238
92
9
heute etwa 5 · 10−6 . Die Halbwertszeit von 238
92 U ist 4,5 · 10 Jahre. Wieviel Zeit
238
vergeht, bis der Massenanteil des 92 U um 10% abgenommen hat?
Lösung. Anzuwenden sind die Gleichungen (16.9) und (16.10). Wegen (16.10) ist
λ=
ln 2
;
τ1/2
aus (16.9) ergibt sich mit n/n0 = 0,9
ln 0,9 = −λ t .
Durch Kombination der beiden Gleichungen erhält man
t = −τ1/2
ln 0,9
= 0,68 · 109 Jahre.
ln 2
Die elektrisch geladenen Teilchen und die γ-Strahlung ionisieren Atome, schlagen also Elektronen aus deren Hülle. Es ist evident, dass die Wirkung der
Strahlung von der Zerfallsrate dn/dt der Kerne abhängt:
R(t) = −
ln 2
dn
n(t).
= λn0 exp (−λ t) = λn(t) =
dt
τ1/2
(16.11)
Die Zerfallsrate R zu einer Zeit t ist also proportional zur Zahl der verbliebenen Kerne n(t) und umgekehrt proportional zur Halbwertzeit. Die Gesamtzerfallsrate einer Materialprobe aus gegebenenfalls mehreren radioaktiven Stoffen
wird als Aktivität bezeichnet. Die Einheit für die Aktivität ist das Becquerel5 :
1 Becquerel = 1 Bq = 1 Zerfall pro Sekunde.
5
Antoine Henri Becquerel (1852–1908); Entdecker der Radioaktivität.
396
16 Kernspaltung
Ursprünglich wurde das Curie als Maßeinheit verwendet6 :
1 Curie = 1 Ci = 3,7·1010 Bq.
Das historische Maß Curie entspricht der Aktivität von 1g Radium.
Die Wirkung von Strahlung auf ein Lebewesen hängt von der durch die Wirkung der Strahlung im betreffenden Lebewesen deponierten Energie ab, der
Energiedosis D:
D =
durch Strahlung deponierte Energie
Körpermasse
1 Gray = 1 Gy = 1
J
kg
Die in einem Körper deponierte Energie7 ist noch kein befriedigendes Maß für
die Schädlichkeit von Strahlung für Lebewesen, da neben der Energie noch
die ionisierende Wirkung anzurechnen ist. Um dies zu berücksichtigen wurde
die Einheit Sievert (Sv)8 eingeführt, mit der die Äquivalenzdosis H gemessen
wird. Es gilt:
H = Q·D
Hierin ist D die Energiedosis in Gray und Q ein Qualitätsfaktor zur Berücksichtigung der Gewebeschädigung der Strahlung. Q hat den Wert 1 für
Röntgen-, γ–, β–Stahlung und 20 für α–Strahlung.
Zusätzlich zu den oben genannten drei Arten der Strahlung gibt es als Folge einer Kernspaltung noch die Neutronenstrahlung, vgl. Gl. (16.7). Auch
Neutronen-Strahlen können indirekt und direkt ionisieren. Langsame Neutronen werden von anderen Kernen eingefangen und wandeln diese zu radioaktiven Kernen um, die ihrerseits unter Emission von α–, β– oder γ– Strahlen
zerfallen. Schnelle Neutronen übertragen bei Stößen mit Atomkernen soviel
Energie, dass die emittierte α–, β– und γ– Strahlung die direkte Folge sind.
Ionisierende Strahlung war in der Natur in Form von kosmischer und terrestrischer Strahlung von jeher vorhanden. Im Mittel absorbiert jeder Erdbewohner daraus eine Dosis von 2 mSv/a. Das Leben auf der Erde hat sich
unter Einwirkung dieser natürlichen Strahlung entwickelt, obwohl jede Art
und jede Dosis von ionisierender Strahlung schädlich für das Zellgewebe sein
kann. Ionisierende Strahlung lässt sich nur mithilfe besonderer Messinstrumente nachweisen. Strahlenschutzmaßnahmen müssen deshalb ständig von
Messungen begleitet werden. Solche Messungen sind nur möglich, wenn Wechselwirkungen der Strahlung mit Materie stattfinden. Erst wenn die Strahlung
eine nachweisbare Veränderung hervorruft, kann diese erfasst und bewertet
werden. Der Grad der Veränderung ist dann ein Maß für die Intensität der
6
7
8
Marie Curie (1867-1934), Entdeckerin des Radiums.
Zum Vergleich: Bei der Behandlung von Krebs ist lokal zur Abtötung der Krebszellen eine Dosis von ca. 100 Gy erforderlich.
Rolf Sievert (1896 – 1966), schwedischer Arzt.
16.1 Grundlagen
397
verursachenden Strahlung.
Die biologische Wirkung von Strahlung auf Menschen kann unterteilt werden
in:
-
Somatische Effekte (Erbrechen, Verlust der Haare, Verbrennungen, Leukämie etc.), die durch die Aufnahme einer Dosis von 1 Sv ausgelöst werden
können. Die Aufnahme einer Dosis von 5 Sv in kurzer Zeit gilt als lethal.
Genetische Effekte (Mutationen), diese werden möglicherweise erst bei
späteren Generationen sichtbar.
-
Über die biologische Wirkung radioaktiver Strahlung und den Strahlenschutz
gibt es eine umfangreiche Literatur, vgl. z. B. [12]
Beispiel 16.2. Angenommen, eine Person nimmt γ− und β−Strahlung mit einer
Energiedosis von 4 Gray auf. Wie ändert sich ihre Körpertemperatur, wenn die
zugeführte Energie vollständig in Wärme umgewandelt wird?
Lösung. Die zugeführte Energiedosis entspricht einer Energiemenge von 4 J/kg, so
dass sich für die Temperaturänderung ∆T folgende Bilanz ergibt:
∆T =
Q/m
4J/kg
= 0, 95 · 10−3 K
=
cp
4180J/kg K
Da der menschliche Körper zum Großteil aus Wasser besteht, wurde für die spezifische Wärme cp der Wert für Wasser genommen.
Die schädliche Wirkung radioaktiver Strahlung entsteht offensichtlich nicht durch
die Erwärmung des Körpers, sondern aufgrund der Störung der Zellfunktion.
16.1.2 Induzierte Kernspaltung
Das Uranisotop 235
92 U hat unter den natürlich vorkommenden Isotopen die
einzigartige Eigenschaft, durch Absorption eines langsamen Neutrons9 zu zerfallen. Die bei der Absorption des Neutrons freiwerdende Bindungsenergie
von 7 MeV regt den entstehenden Zwischenkern 236
92 U so stark an, dass er sich
spaltet. Der Spaltungsprozess kann symbolisch wie folgt beschrieben werden:
235
92 U
+ n −→
236
92 U
−→
A
ZX
′
+A
Z ′ Y + x n + Energie ,
(16.12)
mit Z + Z ′ = 92 und A + A′ + x = 236. x ist die Anzahl der bei der Spaltung freiwerdenden Neutronen. Spaltreaktionen anderer schwerer Kerne sind
in Tabelle 16.1 zusammengestellt.
Aus der Tabelle erkennt man, dass zur Spaltung über Zwischenkerne mit einer
geraden Zahl von Protonen und Neutronen keine zusätzliche kinetische Energie der Neutronen erforderlich ist. Ein Neutron mit der kinetischen Energie
von 1 eV = 1/2 m v2 = kT hat eine Geschwindigkeit von 1,37 × 104 m/s, im
thermischen Gleichgewicht entspricht dies einer Temperatur von ca. 104 K.10
9
10
Langsame, auch thermische Neutronen genannt, befinden sich bei Zimmertemperatur im thermischen Gleichgewicht mit ihrer Umgebung.
k ist die Boltzmann Konstante: k = 1,38·10−23 J/K.
398
16 Kernspaltung
Tabelle 16.1. Neutronenspaltung schwerer Kerne
Zwischenkern
232
90 Th
233
90 Th
233
92 U
234
92 U
234
92 U
235
92 U
235
92 U
236
92 U
236
92 U
237
92 U
238
92 U
239
92 U
237
93 Np
238
93 Np
239
94 Pu
240
94 Pu
240
94 Pu
241
94 Pu
erf. Energie [MeV]
1,3
0
0,4
0
0,8
1,2
0,4
0
>0
Kern
Die ohne zusätzliche Energie der Neutronen spaltbaren Kerne heißen starke,
die anderen schwache Kernbrennstoffe. Bei der Spaltung von schweren Kernen in leichtere wird die in diesen, in Form der größeren Bindungsenergie der
Nukleonen, gespeicherte Energie frei und letztlich über die kinetische Energie
der Spaltprodukte in Wärme umgewandelt. Die Menge der pro Kern gespeicherten Bindungsenergie errechnet sich aus der bekannten Beziehung über die
Äquivalenz von Energie und Masse zu
(16.13)
BKern = Z mp + N mn − mKern c2 .
Die Masse des Kerns mKern ist geringer als die Masse seiner Bausteine im
ungebundenen Zustand. In Abb. 16.2 ist die Bindungsenergie pro Nukleon
BKern /A als Funktion der Massenzahl dargestellt. Aus dem Bild erkennt man,
dass sehr leichte und sehr schwere Kerne geringere Bindungsenergien pro Nukleon aufweisen als die Kerne im mittleren Bereich.
Für das Uranisotop 235
92 U mit einer Massenzahl A von 235 beträgt die im Kern
gespeicherte Bindungsenergie 1 794 MeV, und für einen Kern mit der Massenzahl A = 115 beträgt die Bindungsenergie 977 MeV. Bei der Spaltung eines
schweren in zwei gleichschwere leichtere Kerne wird eine Bindungsenergie von
260 MeV frei. Allerdings ist die Spaltung in zwei gleich große Kerne sehr selten, so dass im Mittel nur mit 200 MeV gerechnet werden kann, vgl. Abb.
24
Atome) ist dies
16.3. Bei der Spaltung von einem Kilogramm 235
92 U (2,56 · 10
8
eine Energiemenge von 1 · 10 MJ. Im Unterschied zu chemischen Reaktionen,
z.B. einer Verbrennung, ist die Spaltung eines schweren Kerns in zwei leichtere
noch nicht abgeschlossen. Sie dauert vielmehr wegen des nachfolgenden Zer10
BKern
A
[MeV]
5
0
0
100
200
A
Abbildung 16.2. Bindungsenergie pro Nukleon als Funktion der
Massenzahl
16.1 Grundlagen
b-
g g
n
90
g
235
n
Sr
399
b-
90
90
Y
29a
64h
g b-
g b
Zr
stabil
236
U
U
g
n
n
143
Xe
1s
143
Cs
g b
143
1,7s
Ba
12s
g b
143
La
14min
b-
g b
143
Ce
33h
143
Pr
3,6d
143
Nd
stabil
Abbildung 16.3. Beispiel für die Spaltung eines U-235 Kerns mit Spaltprodukten
und deren Zerfallsketten. Die Spaltung in zwei Kerne gleicher Masse ist selten. Ein
235
92 U-Kern kann auf viele verschiedene Arten in zwei mittelschwere Kerne zerfallen.
falls von radioaktiven Zwischenkernen mit geringer Energiefreisetzung noch
über Jahre an.
Auch durch die Verschmelzung von leichteren Kernen zu einem schwereren
wird Bindungsenergie frei, bei der Fusion von 4 Wasserstoffkernen zu einem
Heliumkern ist dies eine Menge von 28,3 MeV. Dies sind ca. 6,7 · 108 MJ/kg
Helium.
Ein Vergleich mit dem Brennwert fossiler Brennstoffe (Kohle mit B =
30 MJ/kg) ergibt für die freigesetzte Energie die Relation
BKohle : BU-Spaltung : BH-Fusion = 1 : 3 · 106 : 2 · 107 .
(16.14)
Chemische Reaktionen, wie sie bei der Verbrennung von Kohle auftreten, geschehen in der Elektronenhülle der Atome. Kernreaktionen wie die Spaltung
dagegen im Kern. Die Energieumsätze in der Hülle betragen einige eV pro
Elektron und im Kern einige MeV pro Nukleon. Diese Tatsache spiegelt sich
in den vorstehenden Verhältniszahlen wieder.
Beispiel 16.3. Wir betrachten die Spaltung eines 235
92 U Kerns gemäß Abb. 16.3 und
fragen, welche Energiemenge dabei freigesetzt wird.
Die Reaktionsgleichung für diese Spaltung lautet:
235
92 U
90
143
+ n →236
92 U →40 Zr + 60 N d + 3n
Gegeben sind die folgenden Atom- und Teilchenmassen:
235
92 U
143
60 Nd
90
40 Zr
n
235,0439
142,9098
89,9047
1,00867
u
u
u
u
Lösung. Nach der einsteinschen Relation gilt für die Zerfallsenergie Q:
Q = ∆mc2
400
16 Kernspaltung
Wobei ∆m die Massenänderung durch die Reaktion bezeichnet. Für ∆m folgt aus
der Reaktionsgleichung:
∆m = (142,9098 u + 89,9047 u + 2 · 1,00867 u) − 235,0439 u = −0,21205 u
Für die Zerfallsenergie ergibt sich daraus:
Q = (−0,21205 u)(931, 5 M eV /u) = −197,5 M eV
Dieser Wert stimmt recht gut mit dem vorstehenden Schätzwert überein.
16.1.3 Kettenreaktion
Bei der Spaltung eines Urankerns entstehen zwei mittelschwere Kerne. Außerdem werden dabei einige Neutronen freigesetzt, da das Verhältnis der Zahl der
Neutronen zu den Protonen für die Spaltprodukte kleiner ist als für Uran, vgl.
Abb. 16.1. Pro Spaltvorgang eines 235
92 U-Kerns werden 2 bis 3 Neutronen frei.
Der größte, hier mit a bezeichnete Teil dieser freiwerdenden Neutronen entsteht unmittelbar nach der Spaltung (10−14 s), man bezeichnet sie als prompte
Neutronen. Auch nach der Emission der prompten Neutronen besteht bei den
Spaltprodukten noch ein Neutronenüberschuss, der zum größten Teil durch
β-Zerfall gemäß (16.4), (16.5) abgebaut wird und zu einer Kernumwandlung
führt, vgl. auch Abb. 16.3. Hin und wieder entstehen beim Ablauf der Zerfallskette Zwischenkerne, die verzögert Neutronen abgeben. Die zwei wesentlichen
Beiträge zu der Produktion der verzögerten Neutronen kommen aus dem Zerfall der Zwischenkerne 87 Br, Halbwertszeit τ =55,6 s, und 137 J, mit τ =24,5 s.
Den Anteil der verzögerten Neutronen; bezeichnen wir mit β. Das Auftreten
der verzögerten Neutronen ist für die Leistungsregelung eines Reaktors von
Wichtigkeit. Ihr zeitliches Auftreten ist durch die Zerfallseigenschaften der
Kerne bestimmt, von denen sie ausgesandt werden. Der Einfachheit halber
fassen wir sie zu einer einzigen Gruppe zusammen, die wir durch ihre mittlere
Lebenszeit lp kennzeichnen können. Bei der thermischen Spaltung von 235
92 U
ist beispielsweise β = 0,0065 und lp = 14 s.
Die freigesetzten Neutronen können dazu verwendet werden, um die Reaktion
in einer geeigneten Materialanordnung selbsttätig weiterzuführen, indem mit
ihnen neue Spaltprozesse eingeleitet werden: Es entsteht eine Kettenreaktion.
Die Kettenreaktion wird bei Verwendung von 235
92 U als Spaltmaterial praktisch unterbrochen, wenn die Energie der Neutronen über ca. 1 eV liegt. Bei
Neutronen mit geringer Energie ist nämlich die Wahrscheinlichkeit eines Spaltprozesses größer als bei solchen mit großer Energie. Neutronen, deren Energie
geringer ist als 1 eV, nennt man thermische Neutronen. Diese Bezeichnung besagt, dass die kinetische Energie dieser Neutronen von der Größenordnung der
Energie der thermischen Molekularbewegung bei Betriebstemperatur des Reaktors ist (ca. 500K). Reaktoren, die mit Neutronen in diesem Energiebereich
arbeiten, bezeichnet man als thermische Reaktoren.
16.1 Grundlagen
401
Die beim Spaltprozess emittierten Neutronen haben eine mittlere kinetische Energie von 2 MeV. Zur Fortführung der Kettenreaktion sind die schnellen Spaltneutronen auf das thermische Energieniveau abzubremsen. Dies gelingt mit Hilfe eines Materials, das die Neutronen durch elastische Stöße an
seinen Kernen abbremst. Ein solcher Stoff wird Moderator genannt. Gute Moderatoren haben die Eigenschaft, Neutronen abzubremsen, aber nicht zu absorbieren. Als besonders geeignet dafür haben sich leichtes und schweres Wasser sowie Graphit erwiesen. Leichtes Wasser bremst zwar am besten, absorbiert aber auch Neutronen, D2 O und hochreines Graphit absorbieren dagegen
kaum. DO2 und Graphit moderierte Reaktoren können wegen des geringeren
Neutronenverlusts mit Natururan betrieben werden, bei mit Leichtwasser moderierten Reaktoren ist dagegen das spaltbare 235 U-Isotop anzureichern. Für
eine stationäre Kettenreaktion muss in einem Reaktor eine kritische Brennstoffmasse vorhanden sein. Diese ist temperaturabhängig und bei Betriebstemperatur eines Reaktors um ein mehrfaches größer als bei Umgebungstemperatur. Wenn man verhindert, dass die bei den ersten Reaktionen auftretende Wärmeentwicklung die Kernbrennstoffe auseinander treibt, kann innerhalb
von 10−4 s eine Energie von ca. 1012 J freigesetzt werden. Schon bald nach
der Entdeckung der künstlichen Kernspaltung wurde vorgeschlagen, die Kernspaltung für den Bau von Atombomben zu nutzen.11
In Tabelle 16.2 sind die kritischen Massen für den reinen Brennstoff ohne
Moderator zusammengestellt. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Masse in
Form einer Kugel mit dem Durchmesser d vorliegt und keine Neutronen über
die Kugeloberfläche entweichen.
16.1.4 Spaltreaktionen
Die von einem thermischen Neutron eingeleitete Spaltung eines 235
92 U-Kerns
liefert im Mittel 200 MeV als thermisch verwertbare Energie, die gemäß Tabelle 16.3 über die Reaktionsprodukte verteilt sind.
11
Während des zweiten Weltkrieges wurden in den USA Bomben entwickelt, die
sowohl hochangereichertes 235
92 U als Sprengstoff enthielten, als auch solche, bei
denen 239
94 Pu verwendet wurde. Die am 6. August 1945 um 9.15 Uhr über dem
Stadtzentrum von Hiroshima gezündete Bombe Little Boy“, deren Sprengkraft
”
12 500 t TNT entsprach, bestand aus 235
92 U als Sprengstoff. Dabei wurde rund
1 kg Uran gespalten und 1 g Masse in Energie verwandelt. Am 9. August 1945
wurde um 12.00 Uhr mittags über Nagasaki die aus 239
94 Pu hergestellte Bombe
Fat Man“ mit einer Sprengkraft von 22 000 t TNT gezündet.
”
Bei den Bombenabwürfen kamen in Hiroshima 140 000 und in Nagasaki
100 000 Menschen ums Leben. Von diesen Menschen wurden jeweils fast alle
durch die innerhalb von Sekundenbruchteilen freigesetzte immense Energiemenge getötet und nicht infolge radioaktiver Strahlung. Die freigesetzte Energie erzeugte riesige Feuerbälle von hohem Druck und hoher Temperatur, die sich mit
Überschallgeschwindigkeit ausbreiteten und Gebäude und andere Strukturen der
beiden Städte vollständig zerstörten.
402
16 Kernspaltung
Tabelle 16.2. Kritische Masse von Kernbrennstoffen bei 25◦ C
Brennstoff
Reinheit [%]
m [kg]
d [m]
235
92 U
239
94 Pu
94
99
25
8
0,15
0,1
Die Energie der Spaltprodukte und der β-Strahlung wird praktisch von den
Brennstoffelementen absorbiert; die Neutronen geben ihre Energie an den Moderator ab. Die Energie der γ-Strahlung wird von den Brennstoffelementen,
dem Moderator, aber auch der Reaktorstruktur absorbiert. Die Energie der
Neutrinos geht dem System verloren, denn die Neutrinos kennen fast keine
Wechselwirkung mit der übrigen Materie. Die verwertbare Spaltenergie beträgt demnach
ε = 200 MeV/Spaltung ≈ 3,2 · 10−11 J/Spaltung.
1 kg
235
92 U
enthält
1
= 2, 56 · 1024 Atome.
235 · 1,6598 · 10−27
Der Brennwert von
24
B = 2, 56 · 10
235
92 U
beträgt bei vollständiger Spaltung
Atome/kg · 3,2 · 10−11 J/Atom = 8,19 · 1013 J/kg.
Beispiel 16.4. Ein Kernkraftwerk mit einer elektrischen Leistung von 1 000 MW
arbeitet mit einem Wirkungsgrad von η= 0,32.
Welche Masse m an 235
92 U wird verbraucht, wenn die Anlage ein Jahr (8 000 h) mit
Vollast betrieben wird?
Wie viel Masse ∆m wird dabei in Energie verwandelt?
Lösung. Die thermische Leistung Q̇ des Reaktors beträgt P/η, bei einer Betriebszeit ∆ t = 8000 h ergibt dies eine Wärmemenge:
Q=
s
1000 MW
8000h · 3600 = 9 · 1016 J
0, 32
h
Tabelle 16.3. Energie der Spaltprodukte eines
Spaltprodukte
Neutronen
prompte γ-Strahlung
verzögerte γ-Strahlung
aus Spaltprodukten
β-Strahlung
Neutrinos
Gesamt
235
92 U-Kerns
Energieart
Energie [MeV]
Reichweite [m]
kinetisch
kinetisch
167
5
7
6
< 10−2
<1
< 10
< 10
5
12
202
< 0,1
∞
16.1 Grundlagen
403
Mit dem Brennwert B = 8,19 · 1013 J/kg folgt für die erforderliche Menge an Kernbrennstoff:
m=
Q
9 · 1016 J
=
= 1 098 kg
B
8,19 · 1013 J/kg
Nach der einsteinschen Relation gilt für die in Energie umgewandelte Masse ∆m:
∆m =
9 · 1016 J
Q
=
= 1 kg
2
c
(300 · 106 )2 m2 /s2
Für die induzierte Spaltung eines 235
92 U-Kerns ist es notwendig, dass ein Neutron in die unmittelbare Nähe des Kerns kommt. Neben der Spaltung gibt
es dabei zwei weitere Möglichkeiten für die Wechselwirkung zwischen Kern
und Neutron: Absorbtion und Streuung. Im letzten Fall wird das Neutron aus
seiner Bahn abgelenkt und gibt dabei Energie an den streuenden Kern ab. Bei
der Absorbtion wird das Neutron eingefangen und es entsteht ein Kern mit
einer höheren Massenzahl. Zur quantitativen Erfassung der Wechselwirkung
wird ein Wirkungsquerschnitt σ definiert. Entsprechend der drei Möglichkeiten der Wechselwirkung unterscheiden wir zwischen dem Spaltungsquerschnitt
σf , dem Absorbtionsquerschnitt σa und dem Streuquerschnitt σs .12
Der Wirkungsquerschnitt gibt die Zahl der Reaktionen an, die zwischen den
mit einer Teilchendichte nN in einem Target der Dicke d enthaltenen Kernen
und den mit einer Rate I auftreffenden Neutronen stattfinden. I beschreibt eine Neutronenzahl pro Flächeneinheit und Zeit [ I ] = [cm−2 s−1 ]. Für die Zahl
der Spaltvorgänge in einem Target der Fläche a folgt
F = σf nN a d I .
(16.15)
Der Spaltungsquerschnitt liegt für die meisten Kerne in einem Bereich von
10−22 – 10−26 cm2 . Als Maßeinheit für den Wirkungsquerschnitt wurde die
Größe
1 barn = 10−24 cm2
gewählt.13 Bei Spaltstoffen kennzeichnet σa die Möglichkeit eines Neutroneneinfangs ohne Spaltung und σf entsprechend die Möglichkeit einer Spaltreaktion. Die Gesamtzahl der Neutroneneinfänge ergibt sich durch Addition von
σa und σf . Im Falle von 235
92 U lauten die Zahlen für σa , σf im Falle thermischer
Neutronen (0,025 eV):
σges = σa + σf = 78, 5 + 583, 6 = 682, 1 barn;
Für 238
92 U in Wechselwirkung mit thermischen Neutronen ist σf = 0, σa =
2, 74 barn.
Treffen bereits moderierte thermische Neutronen auf Natururan mit 0,7% 235
92 U
12
13
Die Indizes a, f und s stehen für absorption, fission, scattering.
Die Fläche von 1 barn ist in etwa gleich Quadrat eines Kerndurchmessers.
404
16 Kernspaltung
und 99,3% 238
92 U, so kann die Wahrscheinlichkeit einer Kernspaltung wf bei
bekannten Wikungsquerschnitten bestimmt werden:
wf =
=
0, 7 · σf,235
0, 7(σf,235 + σa,235 ) + 99, 3 · σa,238
=
0, 7 · 583, 6
= 0, 55
0, 7(583, 6 + 78, 5) + 99, 3 · 2, 74
Die Wahrscheinlichkeit wf für die Spaltung eines 235
92 U Kerns im Natururan
beträgt damit 55%. wf kann durch Anreicherung mit 235
92 U erhöht werden, so
erhält man für auf 3% angereichertes Uran eine Spaltwahrscheinlichkeit von
78%.
Analog kann auch die Wahrscheinlichkeit für die Produktion von Konversionskernen durch Absorbtion von Neutronen bestimmt werden. Für 3% angereichertes Uran erhalten wir:
3 · σa,235 + 97 · σa,238
wk =
=
3(σf,235 + σa,235 ) + 97 · σa,238
=
3 · 78, 5 + 97 · 2, 74
= 0, 22 = 22%
3(583, 6 + 78, 5) + 97 · 2, 74
Pro gespaltenem Kern werden noch 22/78 = 0,28 Konversionskerne (236
92 U,
239
Pu)
durch
Absorbtion
von
Neutronen
erzeugt.
93
Wirkungsquerschnitts-Tabellen findet man in einschlägigen Handbüchern [2].
Beispiel 16.5. Ein Neutronenstrahl mit I = 1012 Neutronen pro cm2 und Sekunde
2
trifft auf eine Folie aus reinem 235
92 U. Die Fläche der Folie betrage 10 cm und ihre
2
auf die Fläche bezogene Masse sei ρf = 1 mg/cm , der Spaltungsquerschnitt betrage
σf = 100 barn, vgl. Abb. 16.4. Wie groß ist die Spaltrate?
Lösung. In Anlehnung an (16.15) folgt
F = σf nN a d I
mit
a d nN = a NA
ρf
A
.
Hier ist NA die Avogadrozahl und A die Massenzahl von
eine Spaltrate
235
92 U.
Daraus resultiert
F = 2,56 · 109 s−1 .
238
Abb. 16.4 zeigt die Spaltungsquerschnitte von 235
92 U und 92 U als Funktion
235
der Neutronenenergie E. Der Spaltungsquerschnitt für 92 U nimmt mit E
238
ab, während 238
92 U ein typisches Schwellenverhalten zeigt. 92 U lässt sich nur
durch energiereiche (schnelle) Neutronen spalten, während für langsame Neutronen der Absorptionsquerschnitt σa größer ist als der Spaltquerschnitt σf .
16.1 Grundlagen
405
3
10
barn
1
10
U-235
U-238
-1
10
-3
10
10
-2
10
0
10
2
10
4
6
10
10
Neutronenenergie in eV
Abbildung 16.4. Spaltungsquerschnitte σf von
der Energie der eingefangenen Neutronen
235
92 U
8
und
238
92 U
in Abhängigkeit
Im Bereich zwischen 1 und 1 000 eV zeigt σf für 235
92 U ausgeprägte Maxima
und Minima. Von der kernphysikalischen Deutung her handelt es sich dabei
um eine Resonanzerscheinung in der Wechselwirkung zwischen Kern und Neutron, die durch die Wellennatur beider Partikel bestimmt ist. Bei Resonanzgeschwindigkeit werden auch noch weiter von einem Kern entfernte Neutronen
eingefangen, der Wirkungsquerschnitt ist entsprechend aufgebläht. Resonanzen treten auch bei der Absorption von Neutronen durch 238
92 U auf, dies macht
man sich beim Aufbau der sogenannten Schnellen Brüter zunutze.
Es gibt eine Reihe von Prozessen, die die Anzahl und Energie der für
weitere Spaltvorgänge verfügbaren Neutronen beeinflussen. So erkennt man
aus Abb. 16.4, dass für die schnellen Neutronen mit einer Energie >1 MeV
eine von Null verschiedene Wahrscheinlichkeit für eine Spaltreaktion mit 238
92 U
besteht. Bei dieser Reaktion wird andererseits die Zahl der Neutronen um
einen Faktor ε vermehrt. ε liegt typischerweise zwischen 1,02 und 1,04. Zwei
bis vier Prozent der für die Spaltung verfügbaren Neutronen stammen also
aus schnellen Spaltreaktionen.
Im weiteren Verlauf werden die Neutronen durch elastische und inelastische
Stöße abgebremst. Dabei wird ein Anteil im mittleren Energiebereich von
235
92 U durch Resonanzabsorption absorbiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein
Neutron beim Abbremsen der Resonanzabsorption entgeht, bezeichnen wir
mit p. p liegt bei thermischen Reaktoren im Bereich zwischen 0,74 und 0,85.
Während des Bremsvorgangs diffundieren die Neutronen über größere
Strecken. Ein Anteil lf gelangt dabei an die äußere Oberfläche der Reaktoranordnung und geht nach außen verloren. Den innerhalb der Anordnung
verbleibenden Anteil bezeichnen wir mit (1 − lf ). Von diesen wird ein Teil
f vom Moderator, dem Strukturmaterial des Reaktors, den Spaltprodukten,
sowie dem Material in den Steuerstäben des Reaktors absorbiert, ein weite-
406
16 Kernspaltung
rer Anteil lth geht der Anlage im bereits abgebremsten Zustand nach außen
verloren.
Bezeichnet z die Zahl der Neutronen die ursprünglich durch Spaltung von
235
92 U frei geworden sind, so stehen jetzt noch
z ε p 1 − lf 1 − lth (1 − f )
(16.16)
Neutronen für weitere Reaktionen zur Verfügung. Von diesen wird noch ein
239
235
236
Teil η absorbiert, um 238
92 U in 94 Pu bzw. 92 U in 92 U umzuwandeln. Von
der Anzahl z der Neutronen der ersten Generation der thermischen Spaltung
von 235
92 U bleibt damit für eine thermisch induzierte Spaltung in der zweiten
Generation noch der Anteil
ke = ε p 1 − lf 1 − lth 1 − f η ,
(16.17)
wobei η = z(1 − g) gesetzt wurde. Für den Fortgang der Kettenreaktion muss
ke > 1 gelten. Für ke = 1 heißt der Reaktor kritisch. Der Übersichtlichkeit
halber seien die Definitionen der in (16.17) eingehenden Größen zusammengestellt:
Schnellspaltfaktor
ε=
Zahl der insgesamt durch Spaltung erzeugten Neutronen
Zahl der durch thermische Spaltung erzeugten Neutronen
(16.18)
Regenerationsfaktor
η=
Zahl der durch thermische Spaltung erzeugten Neutronen
Zahl der im Brennstoff absorbierten thermischen Neutronen
(16.19)
thermische Nutzung
(1 − f ) =
Zahl der im Brennstoff absorbierten thermischen Neutronen
Zahl der in der Anordnung absorbierten thermischen Neutronen
(16.20)
Resonanzentkommwahrscheinlichkeit
p=
Zahl der auf thermische Energie moderierten Neutronen
Zahl der in der Anordnung verbliebenen schnellen Neutronen
Verbleibfaktor für schnelle Neutronen
1 − lf =
Zahl der in der Anordnung verbliebenen schnellen Neutronen
Zahl der insgesamt durch Spaltung erzeugten Neutronen
und Verbleibfaktor für thermische Neutronen
1 − lth =
Zahl der in der Anordnung absorbierten thermischen Neutronen
Zahl der auf thermische Energie moderierten Neutronen
(16.21)
(16.22)
(16.23)
Beim Einsetzen der so definierten Faktoren in (16.17) heben sich die in Zähler
und Nenner stehenden Ausdrücke gegeneinander auf. Dies ist kennzeichnend
für Kettenreaktionen.
16.1 Grundlagen
407
Von den sechs Faktoren in (16.17) sind zwei (ε, η) überwiegend von den
Brennstoffeigenschaften abhängig. Man bezeichnet sie deshalb als Brennstofffaktoren. Bei lf und lth ist die Geometrie der Anordnung maßgebend. Bei
p und f kommt es schließlich auf das Mengenverhältnis des Brennstoffes zu
den anderen Stoffen im Kern an. Alle Faktoren werden zudem noch von der
Neutronenenergie beeinflusst.
Die Verteilung der Neutronen im Inneren des Reaktors ist eine komplexe Funktion, die vom Ort, der Zeit und der Energieverteilung der Neutronen
abhängt. In der Randzone des Reaktors ist die Neutronenverteilung in komplexer Weise von der Geometrie abhängig. Aus diesem Grund werden für Grundsatzuntersuchungen vielfach unendlich ausgedehnte Reaktoren vorausgesetzt.
Ein solcher Reaktor hat keine Oberfläche, der Verbleibfaktor für schnelle und
thermische Neutronen ist deshalb gleich Eins. Ein solcher Reaktor hat keine
Leckverluste. Die Gleichung (16.17) vereinfacht sich zu
k∞ = ε p (1 − f ) η .
(16.24)
Diese Beziehung wird häufig als Vier-Faktoren-Formel bezeichnet.
Nach der Herleitung kann k∞ als Vermehrungsfaktor der Neutronenzahl
von der j-ten zur (j + 1)-ten Reaktionsstufe definiert werden:
k∞ =
Neutronenzahl nj+1 der (j + 1)-ten Generation
Neutronenzahl nj der j-ten Generation
(16.25)
Je nach dem Wert von k∞ können drei Betriebsarten eines Reaktors unterschieden werden:
k∞ > 1: überkritisch
k∞ = 1: kritisch
0 < k∞ < 1: unterkritisch
Für einen stationären Betrieb muss k∞ = 1 sein, andernfalls ergibt sich von
einer Generation zur nächsten die Veränderung
n
∆nj = nj+1 − nj = n −
= ρn .
(16.26)
k∞
Die Bedingung k∞ = 1 kann durch Einstellung der Eigenschaften des Moderators erreicht werden , vgl. Abschnitt (16.3.1.2).
Es sei nun Λ die mittlere Lebensdauer der Neutronen einer Generation,
also die Zeit, die vergeht, bis die j-te Generation von Neutronen die (j + 1)te produziert hat, Λ wird auch als Zykluszeit bezeichnet. Bei thermischen
Reaktoren ist Λ die Summe aus der Zeit für die Produktion der Neutronen
lP , der Zeit für die Moderation und der thermischen Diffusion der Neutronen
im Reaktor, vgl. Abschnitt (16.1.3):
Λ = lP + lM + lD
(16.27)
Für die prompten Neutronen ist die Zeitdifferenz zwischen Spaltung eines
Kerns und dem Erscheinen der Neutronen geringer als 10−12 s; für die
408
16 Kernspaltung
verzögerten Neutronen ist lP = 14 s für U-235 und 10,7 s für Pu-239. Bei
mit leichtem Wasser moderierten Reaktoren beträgt der Zeitbedarf für die
Moderation lM = 10−5 s und für die thermische Diffusion lD = 10−3 s. Damit
ergibt sich für U-235 Kerne die mittlere Lebensdauer der prompten Neutronen
Λp ≈ 10−3 s und für das Kollektiv aus 99,35% prompten und 0,65% verzögerten Neutronen Λv zu:
Λv = 0, 9935 · 10−3 s + 0, 0065 · 14 s = 0, 091 s
(16.28)
Für Pu-239 ist Λv =0,032 s.
Obwohl der Anteil der verzögerten Neutronen weniger als ein Prozent ausmacht, haben sie einen entscheidenden Einfluss auf die Lebensdauer. Für die
Änderung der Zahl der Neutronen von der Generation mit der Zahl n zur
nächsten Generation mit der Zahl ni innerhalb einer Zeitspannne dt gilt:
dn
ni − n
n[(ni /n) − 1]
n[k − 1]
nρ
=
=
=
≈
dt
Λ
Λ
Λ
Λ
Statt mit dem Vermehrungsfaktor k wird meist mit der vorstehend eingeführten Größe ρ gearbeitet, die als Reaktivität bezeichnet wird. Denn für k-Werte
in der Nähe von eins gilt in guter Näherung: k − 1 ≈ ρ. Durch Integration der
Gleichung folgt:
n = n0 exp{
ρt
t
(k − 1) t
} = n0 exp( ) = n0 exp( )
Λ
Λ
tR
(16.29)
Darin bezeichnet tR = Λ/ρ die Reaktorperiode; tR ist die Zeit in der sich die
Leistung des Reaktors um den Faktor e vergrößert.
Da die Neutronenpopulation im Reaktor direkt proportional zur Leistung P
des Reaktors ist, gilt auch:
P = P0 exp(
t
)
tR
(16.30)
Die Gln. (16.29), (16.30) zeigen, dass sich Neutronenpopulation und Reaktorleistung exponentiell mit der Zeit ändern. Zur Herleitung beider Gleichungen
wurde für die Lebensdauer Λ der Spaltneutronen ein Mittelwert genommen. In
der Realität variiert Λ der verzögerten Neutronen zwischen 0,23 s und 55,7 s.
Deshalb ist die Anwendbarkeit der Gln. (16.29), (16.30) für ρ auf das Intervall
±0, 005 beschränkt. Für U-235 entspricht dies einer Reaktorperiode von tR =
91 s.
Beispiel 16.6. In einem speziellen Fall betrage die mittlere Lebensdauer der Neutronen eines mit U-235 betriebenen Reaktors Λ = 0,09 s und die Reaktivität ρ =
0,001 und 0,005. Man berechne die Zeit, die vergeht, bis sich die Neutronenpopulation verdoppelt, verzehnfacht bzw. verhundertfacht hat.
Lösung. Aus (16.29) folgt damit unmittelbar
n(t)
= exp
n0
∆t
tR
=2
16.1 Grundlagen
409
und weiter
∆t2 = ln 2 tR
bzw.
∆t10 = ln(10) tR ,
∆t100 = ln(100) tR .
Mit den gegebenen Werten für ρ und Λ ergeben sich für tR = Λ/ρ die Werte: 90 s
und 18 s.
tR [s]
∆t2 [s]
∆t10 [s]
∆t100 [s]
18
90
12,4
62,4
41,5
207,3
82,9
414,5
Die Zahl der Neutronen wächst um den Faktor 1,011 bzw. 1,057 pro Sekunde. Wären
alle Neutronen prompt, so würde sich der Faktor 150 ergeben. Das Vorhandensein
der verzögerten Neutronen setzt die Geschwindigkeit des Neutronenzuwachses stark
herab und macht so die Regelung der Reaktivität möglich.
Wir haben mit β den Anteil der verzögerten Neutronen bezeichnet, so dass
(1 − β) der Anteil der prompten Neutronen ist. Wir können demnach auch
den Vermehrungsfaktor k gemäß Gl.(16.25) in zwei Teile zerlegen. Der erste
(1−β)k stellt den Anteil der prompten Neutronen dar, der zweite, βk, den der
verzögerten Neutronen. Wenn nun die Größe (1 − β)k beim Betrieb des Reaktors so eingestellt wird, dass (1 − β)k ≤ 1 ist, so wird der Neutronenzuwachs
von einer Generation zur nächsten von den verzögerten Neutronen bestimmt.
Man stellt deshalb beim Hochfahren eines Reaktors den Vermehrungsfaktor
zwischen 1 und (1 + β) ein. Die Leistung wächst dann relativ langsam und
eine wirksame Regelung ist sichergestellt.
Wenn der Vermehrungsfaktor k gleich (1 + β) ist, nennt man den Reaktor
prompt kritisch, da die Kettenreaktion allein von den prompten Neutronen
aufrechterhalten werden kann. Überschreitet k diesen Wert, so wird die Zunahme der Neutronen und auch der Reaktorleistung, unabhängig von den
verzögerten Neutronen, allein von den prompten verursacht. Dieser Zustand
muss in der Praxis vermieden werden, da der Reaktor dann nur schwer zu
steuern ist.
Wie beim Hochfahren eines Reaktors wird auch beim Herunterfahren die Reaktorleistung durch die verzögerten Neutronen beeinflusst. Es werden nämlich
für eine gewisse Zeit noch verzögerte Neutronen emittiert und halten so eine
Spaltungsrate aufrecht, die größer ist, als wenn alle Neutronen prompt wären.
Das Abfahren eines Reaktors wird also durch die verzögerten Neutronen langsamer.
Der Vermehrungsfaktor einer Reaktoranordnung hängt von vielen Einflussfaktoren ab. Einer der wichtigsten davon ist die Temperatur T im Reaktor. Wir
definieren dazu einen Reaktivitäts-Koeffizienten αT :
αT =
dρ
dT
(16.31)
410
16 Kernspaltung
Würde in einem Reaktor die Temperatur zunehmen und in der Folge gleichzeitig die Reaktivität ρ wachsen, könnte dies zu einer Selbstzerstörung des
Systems führen. Würde dagegen bei einem Temperaturanstieg die Reaktivität
abnehmen, würde die Spaltungsrate und damit die Wärmeproduktion zurückgehen. Das System ginge selbsttätig in seinen Ursprungszustand zurück. Es
ist also zu untersuchen, ob dρ/dT größer oder kleiner Null ist!
Diese Aufgabe können wir hier nicht exakt untersuchen, stattdessen wollen wir
mit heuristischen Argumenten eine erste Antwort geben. Bei einer Temperaturerhöhung dehnen sich Brennstoffelemente, Moderator und Reaktorstruktur
aus. Die Anzahl der Atomkerne pro Volumen, die für eine Wechselwirkung mit
den Neutronen zur Verfügung stehen, nimmt deshalb ab. Damit wird sich die
mittlere freie Weglänge der Neutronen vergrößern. Daraus
resultiert
eine Zu
nahme der Leckverluste; die Verbleibfaktoren 1 − lf , 1 − lth und damit
auch die Reaktivität werden kleiner. Als Resultat der Temperaturerhöhung
ergibt sich aus diesem Teilaspekt eine Verminderung des Vermehrungsfaktors.
Nach einigen elastischen Stößen mit den Kernen des Moderators ist die
Energie der Neutronen gleich der Energie der thermischen Molekularbewegung
der Moderatoratome. In der Theorie der Neutronenmoderation wird gezeigt,
dass der Spaltungsquerschnitt des Bremsvorgangs gemäß
dσ
1 dT
=−
(16.32)
σ
2 T
von der Temperatur abhängt. Nach dieser Beziehung nimmt der Wirkungsquerschnitt für den Bremsvorgang mit zunehmender Temperatur ab. Wegen
dieses Effektes wird die Reaktivität und damit der Vermehrungsfaktor mit
steigender Temperatur kleiner.
Bei einer Temperaturerhöhung nimmt die Resonanzabsorption zu. Dieser
Effekt kommt durch die geänderte relative Bewegung der Neutronen und der
238
92 U-Kerne zustande und wird in der Literatur als Dopplerverbreiterung bezeichnet. Die Resonanzabsorption der 238
92 U-Kerne kann zu einer Kernumwandlung durch Neutroneneinfang in 239
U
führen
oder zu einer Spaltung. Ersteres
92
vermindert die Reaktivität, während durch die Spaltung die Reaktivität vergrößert wird. Bei thermischen Reaktoren heben sich die beiden Effekte auf,
während bei so genannten schnellen Reaktoren der zweite Effekt überwiegen
kann.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass bei einem thermischen Reaktor
die Reaktivität mit zunehmender Temperatur abnimmt, es ist:
dρ
<0
(16.33)
dT
Ein thermischer Reaktor besitzt daher eine stabile Selbstregulierung. Bei kommerziellen Druckwasserreaktoren ist dρ/dT ≈ −10−4 K−1 .
Bei einer Fehlsteuerung kann es bei thermischen Reaktoren zwar zu einer
Überhitzung des Reaktorkerns und im Grenzfall zu einer Kernschmelze kommen, thermische Reaktoren können aber nicht explodieren“!
”
16.1 Grundlagen
411
16.1.5 Nachwärme
Auch nach Beendigung der Spaltprozesse wird in einem Reaktor durch das
verzögerte Abklingen der Radioaktivität noch Wärmeenergie frei. Diese Nachwärme muss durch geeignete Maßnahmen abgeführt werden. Das zeitliche
Abklingen der Leistung wird durch die Formel von Way und Wigner [6]
−0,2
P = P0 · 6,1 · 10−3 t−0,2 − t + t0
(16.34)
beschrieben, in der P0 die Leistung während der Betriebszeit, t0 die Betriebszeit des Reaktors in Tagen und t die Zeit nach dem Abschalten in Tagen
ist.
Beispiel 16.7. Ein Reaktor war 300 Tage mit einer Leistung von 1 800 MW in
Betrieb. Wie groß ist seine Nachwärmeleistung einen, zehn bzw. hundert Tage nach
dem Abschalten?
Lösung. Aus (16.34) folgt
P (1 Tag) = 7,5 MW,
P (10 Tage) = 3,4 MW,
P (100 Tage) = 1,1 MW.
Um eine Überhitzung des Kerns zu vermeiden, ist dieser Wärmestrom mit einem
Nachkühlsystem abzuführen.
16.1.6 Konversion und Brüten
238
Die Resonanzabsorption von langsamen Neutronen durch 232
90 Th und 92 U
verschlechtert zwar die Neutronenbilanz, wandelt aber andererseits schwache
Kernbrennstoffe in starke um.
Dabei kommt es zu zwei verschiedenen Umwandlungsprozessen, dem UranPlutonium-Zyklus
238
92 U
+ n −→
239
92 U
−→
239
93 Np
+ β − −→
239
94 Pu
+ β−
(16.35)
und dem Thorium-Uran-Zyklus
232
90 Th
+ n −→
233
90 Th
−→
233
91 Pa
+ β − −→
233
92 U
+ β− .
(16.36)
Die Zwischenprodukte haben eine endliche Lebensdauer und können während
dieser Zeit einen weiteren Neutroneneinfang erleiden. Das Ergebnis eines solchen Prozesses sind dann wieder schwache Kernbrennstoffe.
Ein Maß für die Kernumwandlung ist die Konversionsrate
CR =
Zahl der neu erzeugten, thermisch spaltbaren Kerne
Zahl der Neutroneneinfänge in thermisch spaltbaren Kernen
.
(16.37)
Sie kann auch ausgedrückt werden durch
CR = ε η − 1 − L ,
(16.38)
wobei ε der Schnellspaltfaktor und η der Regenerationsfaktor ist, vgl. (16.17),
L steht für den Leckverlust. Im Falle von CR > 1 produziert der Reaktor mehr
412
16 Kernspaltung
0,1
y [-]
0,075
0,05
0,025
0
0
0,25
0,5
CR [-]
0,75
Abbildung 16.5. Brennstoffausnutzung in einem Brutreaktor als
Funktion der Konversionsrate
1
leicht spaltbaren Brennstoff als er selbst verbraucht. Solche Reaktoren nennt
man Brutreaktoren oder kurz Brüter. Ist CR < 1, spricht man von Konversion.
Beispiel 16.8. Man bestimme die Brennstoffausnutzung y eines Reaktors in Abhängigkeit von der Konversionsrate. Der Ausgangsbrennstoff enthalte einen Massenanteil γU-235 = 0,007 an 235
92 U (Natururan).
Lösung. Von dem Massenanteil γU-235 des 235
92 U im Natururan kann ein Anteil
239
γU-235 CR des schwer spaltbaren 238
92 U in 94 Pu konvertiert werden, vom Anteil
γU-235 CR wiederum γU-235 CR CR usw., in Gleichungsform:
y = γU-235 1 + CR + C 2 + C 3 + . . . =
R
R
γU-235
1 − CR
.
Die rechte Seite entspricht einer geometrischen Reihe, die für CR < 1 konvergiert.
Für CR → 1 steigt die Nutzung drastisch an, vgl. Abb. 16.5. Ist CR > 1, kann
232
im Prinzip das im Brennstoff enthaltene 238
92 U bzw. 90 Th vollständig in den star239
233
ken Brennstoff 94 Pu bzw. 92 U konvertiert werden. Der Realisierung stehen aber
technische und wirtschaftliche Fakten entgegen:
•
•
•
241
Beim Brutvorgang werden auch schwache Kernbrennstoffe 240
94 Pu und 94 Pu gebildet
Vor einer Verwendung in einem Brutreaktor muss das im Natururan enthaltene
235
92 U stark angereichert werden
Das erbrütete Material muss aufwendig aufbereitet werden
16.2 Aufbau von Kernreaktoren
16.2.1 Allgemeines
Seit der Entdeckung der Kernspaltung durch Hahn und Straßmann im Jahre
1938 wurde ihre technische Anwendung mit großem Einsatz entwickelt. Auch
wenn die Anstrengungen zuerst der Entwicklung einer Bombe galten, hat man
16.2 Aufbau von Kernreaktoren
413
doch parallel dazu immer die mögliche Anwendung für die Deckung des zivilen Energiebedarfs beachtet. Die Umwandlung der Kernenergie in Elektrizität
wird unter Anwendung des Dampfkraftprozesses durchgeführt. Dem Kernreaktor kommt dabei die Aufgabe zu, die für die Dampferzeugung erforderliche
Wärme bereitzustellen. Er übernimmt damit die der Feuerung bei fossilen
Kraftwerken entsprechende Funktion.
Kernreaktoren sind Systeme, in denen nebeneinander Prozesse der Kernspaltung, Energieumwandlung und Strahlungsfreisetzung ablaufen. Die Erfüllung
der Anforderungen dieser drei Funktionen erfordert die Lösung der drei
Grundaufgaben der Reaktortechnik:
1. Das kernphysikalische System erfordert eine konstruktive und werkstofftechnische Auslegung, so dass die Kernspaltung als kontrollierte Kettenreaktion kontinuierlich abläuft.
2. Die bei der Abbremsung der Reaktionsprodukte in Wämeenergie umgewandelte Kernenergie ist auf einem für die Umwandlung der Wärme in
mechanische Arbeit günstigen Temperaturniveau abzuführen.
3. Die bei der Kernspaltung freiwerdende Strahlung ist durch geeignete
Hüllen derartig abzuschirmen, dass die Umwelt vor schädlichen Einwirkungen geschützt ist.
Seit dem Bau des ersten Reaktors14 im Jahre 1942 wurden mehrere hundert
Reaktoren unterschiedlichen Typs errichtet. Unterschiede zwischen den einzelnen Bauarten bestehen hauptsächlich hinsichtlich der Art des Wärmetransportes vom Reaktor zur Turbine.15 Kernreaktoren können nach verschiedenen
Gesichtspunkten klassifiziert werden:
a) Nach dem überwiegenden Energieniveau EN der Spaltneutronen in
• thermische Reaktoren mit EN < 1 eV, was der Energie der Wärmebewegung des Strukturmaterials entspricht
• epithermische Reaktoren, 1 eV < EN < 100 000 eV,
• schnelle Reaktoren, EN > 0,1 MeV
b) nach der Anordnung von Moderator und Brennstoff in
• homogene Reaktoren und
14
15
Der erste Kernreaktor wurde von Enrico Fermi gebaut und in Betrieb genommen;
er hat damit als erster die technische Möglichkeit einer sich selbst erhaltenden
Kernspaltungs-Kettenreaktion nachgewiesen. Die Untersuchung wurde während
des 2. Weltkrieges in den Vereinigten Staaten im Rahmen des ManhattenProjekts unternommen, das schließlich auch zur Erfindung und Herstellung der
Atombombe führte. Enrico Fermi (1901 – 1954), italienisch – amerikanischer Physiker und Nobelpreisträger.
Das Versuchsatomkraftwerk Kahl (VAK) wurde 1961 in Betrieb genommen und
war das erste Kernkraftwerk in der Bundesrepublik. Es wurde von der AEG gebaut und mit einem Siedewasserreaktor der Firma General Electric ausgestattet.
Auftraggeber und Betreiber des Kraftwerkes waren die Firmen RWE Energie AG
und Bayernwerk AG.
414
16 Kernspaltung
Steuerstäbe
Kühlmittel
Brennelemente
Druckbehälter
Moderator
Abbildung 16.6.
Schematische Darstellung eines Reaktorkerns mit Wasser
als Kühlmittel und
Moderator.
• heterogene Reaktoren
c) nach dem Anwendungszweck
• Leistungsreaktoren
• Forschungsreaktoren
d) nach dem Brennstoff:
• Natururan (0,7% 235
92 U) setzt gute, d.h. wenig Neutronen absorbierende
Moderatoren voraus (D2 O, Graphit)
• schwach angereichertes Uran (< 5% 235
92 U), auch für weniger gute Moderatoren geeignet (z.B. normales Wasser)
• hoch angereichertes Uran, ist für schnelle Brutreaktoren erforderlich
16.2.2 Reaktoren für Kraftwerke
Mit Ausnahme des Hochtemperaturreaktors THTR 300 waren alle der in der
Bundesrepublik zur Stromerzeugung eingesetzten Reaktoren Leichtwasserreaktoren. Es handelt sich dabei um heterogene Reaktoren, bei denen die beim
Spaltprozess entstehenden Neutronen mit normalem Wasser moderiert werden. Der Moderator ist gleichzeitig das Kühlmittel für die Brennstäbe. Bei
den Leichtwasserreaktoren unterscheidet man weiter Druckwasser- und Siedewasserreaktoren. Der heterogene Aufbau des Reaktorkerns eines Leichtwasserreaktors ist in Abb. 16.6 schematisch dargestellt. Das gleichzeitig als Moderator dienende Kühlmittel strömt achsenparallel zwischen den zylindrischen
Brennstäben entlang, die in einem regelmäßigen Raster angeordnet sind.16
Im Prinzip unterscheidet sich der Wärmeaustausch zwischen Brennstab und
Kühlflüssigkeit nicht von der Kühlung der Heizflächen bei fossil gefeuerten
16
Der Grund für die Selektion der Leichtwasserreaktoren für den Einsatz in Kraftwerken liegt wohl darin, dass diese frühzeitig zur kommerziellen Reife entwickelt
wurden und sich in der Folge bei der Energiewirtschaft ein internationaler Trend
für die Auswahl dieses Reaktortyps herausbildete.
16.2 Aufbau von Kernreaktoren
415
Abbildung 16.7. Dargestellt ist der
Kopfbereich eines Brennelements für
einen Druckwasserreaktor.
Ziffer 1–Brennstäbe, Ziffer 2–Steuerstäbe
Die Steuerstäbe sind über eine Spinne zu einem Steuerelement vereint. Die
Steuerung geschieht durch Verschiebung
der Steuerelemente in den Leerrohren der
Brennelemnte mittels Schrittmotoren. Bei
einer Abschaltung fallen die Steuerelemente durch die Schwerkraft in ihre Endposition.
Das linke Teilbild zeigt einen Schnitt
durch einen Brennstab. Durch die in der
linken oberen Ecke des Bildes zu sehende
Feder wird im gasdichten Hüllrohr ein Volumen zur Aufnahme gasförmiger Spaltprodukte freigehalten.
Dampferzeugern. Bei einem Reaktor der 1 200 MW-Klasse enthält der Kern einige zehntausend Brennstäbe mit rund 100 t schwach angereichertem (<4–5%
235
92 U) Urandioxid bzw. einem Gemisch aus Urandioxid und Plutoniumdioxid
(239
94 Pu) als Brennstoff. Die Brennstäbe sind lange zylindrische Gebilde, von
ca. 10 mm Durchmesser und ca. 5 m Länge. Sie bestehen aus einem gasdichten Hüllrohr, in das der Brennstoff in der Form einer Schichtung gesinterter
Brennstofftabletten eingefüllt ist. Das nahtlose Hüllrohr besteht aus Zircaloy,
einer Legierung aus Zirkon und Zinn, die eine nur geringe Neutronenabsorption aufweist. Die Brennstäbe sind mit Helium gefüllt, was den Wärmeübergang zwischen den Brennstofftabletten und dem Hüllrohr verbessert; ferner
wird freies Volumen zur Aufnahme gasförmiger Spaltprodukte vorgehalten.
Jeweils 18×18 Brennstäbe werden mittels Abstandshaltern zu einem Brennelement zusammengefasst, vgl. Abb. 16.7. In dieser Brennstab-Matrix sind
24 Positionen von Leerrohren mit etwa gleichem Durchmesser und gleicher
Länge bestückt. Diese Leerrohre dienen als Führungsrohre für die aus Neutronen absorbierendem Material (Bor, Cadmium) bestehenden Steuerstäbe,
die zur Regulierung des Neutronenhaushaltes eingeführt werden.
Wie die Brennstäbe im Brennelement, sind die Brennelemente im Reaktorkern in einer Matrix fixiert. Der Reaktorkern mit all seinen Einbauten
ist sowohl beim Druck- als auch Siedewasserreaktor in den Reaktordruckbehälter integriert. Dieser Behälter ist bei einem 1 300 MW-Druckwasserreaktor ca. 12 m hoch, hat einen Durchmesser von 6 m, eine Wanddicke von
etwa 150 mm und ein Gesamtgewicht von ca. 500 t. Er ist so ausgelegt, dass
er beim Betriebsdruck (ca. 175 bar) und der Betriebstemperatur (ca. 350◦ C)
ausreichende Sicherheitsreserven besitzt. Er wird aus einem niedriglegierten
Feinkornstahl gefertigt, der gute Schweißqualität mit hoher Zähigkeit und
geringer Versprödungsneigung unter Neutronenbestrahlung verbindet. Durch
416
16 Kernspaltung
bruchmechanische Untersuchungen und umfangreiche Qualitätsprüfungen bei
der Fertigung wird sichergestellt, dass auch nach 40-jähriger Betriebszeit ein
Sprödbruch ausgeschlossen bleibt und Betriebseinschränkungen nicht erforderlich werden.
Die Kühlmitteltemperatur ist so festzulegen, dass die zulässige Temperatur
ϑzul der Brennelementhüllrohre nicht überschritten wird. Bei den üblichen
Werkstoffen (Zircaloy) beträgt ϑzul ca. 350◦ C. Die maximale Kühlmitteltemperatur bestimmt auch den Druck. Beim Siedewasserreaktor ist er gleich dem
Siededruck von ca. 70 bar, und beim Druckwasserreaktor liegt er in einigem
Abstand über dem Siededruck, meist über 150 bar.
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
16.3.1 Leistungsdichte
Die Leistungsdichte L [W/cm−3 ] in einem Reaktorkern ist proportional zur
Neutronenflussdichte Φ [cm−2 s−1 ], der Teilchendichte an spaltbaren Atomkernen nK [cm−3 ] und dem Spaltungsquerschnitt σf :
L = ε nK σf Φ = ε Σ Φ .
(16.39)
ε ist hier die pro Spaltvorgang freigesetzte Energie, Σ heißt im Gegensatz zu
σf makroskopischer Spaltungsquerschnitt.
Beispiel 16.9. Natururan der Dichte ρU = 19 kg/m3 und mit einem Massenanteil
von γU-235 = 0,007 an 235
92 U befindet sich in einem thermischen Neutronenfluss von
Φ = 1013 cm−2 s−1 . Der Spaltungsquerschnitt beträgt σ = 570 barn. Wie groß ist
die Leistungsdichte?
Lösung. Die Leistungsdichte L ergibt sich aus (16.39). Die dabei erforderliche Teilchendichte nK an 235
92 U ermittelt man durch
nK =
NA
AU-235
γU-235 ρU = 3,4 · 1017 cm−3 .
Mit einer Energiefreisetzung pro Spaltvorgang von ε = 200 MeV = 3,2 · 10−11 J folgt
L = ε nK σ Φ = ε Σ Φ = 62 J/cm3 s = 62 MW/m3 .
Die räumliche und zeitliche Verteilung des Neutronenflusses wird durch Diffusionsprozesse bestimmt und hängt weiter stark von der Geometrie ab. Für
die Vorausberechnung wurden leistungsfähige Modelle entwickelt, die wir aber
hier nicht weiter untersuchen wollen.
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
417
16.3.1.1 Temperaturverteilung im Brennstab
Die in den Brennstäben innerhalb des Brennstoffes in Wärme umgewandelte
Energie ist durch Wärmeaustausch am Außenmantel der Stäbe an das Kühlmittel abzugeben. Dabei ergibt sich die Frage nach dem Temperaturverlauf
innerhalb des Stabes.
Für die Berechnung des Temperaturfeldes im Stab steht die Wärmeleitungsgleichung in einem Kontinuum
∂ϑ
= ∇(λ ∇ϑ) + L
∂t
zur Verfügung. Die darin enthaltenen Größen sind:
ρ cp
(16.40)
ρ Dichte
cp spezifische Wärmekapazität
λ Wärmeleitfähigkeit des Brennstoffs
L Leistungsdichte
∇ Nabla-Operator
Nimmt man an, dass das Temperaturfeld stationär und symmetrisch zur Stabachse ist und längs des Stabes nicht variiert, lautet (16.40) in Zylinderkoordinaten
1 d
dϑ
λr
+L=0.
(16.41)
r dr
dr
In erster Näherung nehmen wir weiter an, dass die Leistungsdichte unabhängig
von r sei. Damit kann (16.41) sofort integriert werden. Man erhält
r2
dϑ
=− L+C .
(16.42)
dr
2
Unter der Bedingung, dass die Temperatur in der Mitte des Stabes ihr Maximum erreicht, d.h.
λr
dϑ
dr
=0
(16.43)
r=0
ist, folgt wegen C = 0
dϑ
rL
=−
.
(16.44)
dr
2λ
Dabei wurde eine konstante mittlere Wärmeleitfähigkeit
1
λ=
(16.45)
λ r = 0 + λ r = r1
2
vorausgesetzt. Gibt man die Temperatur ϑ1 bei r = r1 vor, erhält man durch
eine weitere Integration die Temperaturverteilung
L 2
ϑ(r) = ϑ1 +
(16.46)
r − r2
4λ 1
418
16 Kernspaltung
ϑ0 = 1341◦ C (1529◦ C)
Hülle
Spalt
Brennstoff
ϑ1 = 515,6◦ C (538,8◦ C)
ϑ2 = 415,6◦ C (428,7◦ C)
4,55 mm
4,6 mm
5,3 mm
ϑ3 = 350◦ C
✲
✲
✲
Abbildung 16.8. Radiale Temperaturverteilung in einem Brennstab.
Die in Klammern gesetzten Werte entsprechen einer Lastüberschreitung von 20%.
im Brennstab. Die Temperatur ändert sich also mit dem Quadrat des Abstandes von der Achse. Für eine vorgegebene Temperatur ϑ1 und eine maximal
zulässige Temperatur ϑ0 erhält man aus (16.46) die maximal zulässige Leistungsdichte
4 λ ϑ0 − ϑ1
.
(16.47)
Lmax =
r2
1
Der pro Längeneinheit des Brennstabes abzuführende Wärmestrom
q̇ = πr12 L
muss über einen eventuellen Spalt zwischen Brennstoff und Hülle und das
Hüllenmaterial selbst an die Kühlflüssigkeit abgeleitet werden. Da sowohl der
Spalt als auch die Dicke der Hülle klein gegen den Durchmesser des Stabes
sind, ergibt sich in beiden Bereichen eine lineare Temperaturverteilung. Für
den Spalt gilt
(ϑ2 − ϑ1 )kSp π2r1 = πr2 L → ϑ2 = ϑ1 +
1
1 r1 L
kSp 2
(16.48)
kSp ist die Wärmedurchgangszahl des Spaltes, die in der Größenordnung von
1 W/cm2 K liegt. Für die Hülle gilt entsprechend
ϑ3 = ϑ2 +
2
1 r1 L
.
kH 2 r2
(16.49)
kH ist hier die Wärmedurchgangszahl der Hülle; für eine Hülle aus Zircaloy
mit einer Dicke von 0,7 mm und λH = 0,136 W/cmK ist kH = 1,51 W/cm2 K.
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
419
In Abb. 16.8 ist die radiale Temperaturverteilung in einem Brennstab für
eine Leistungsdichte von 440 W/cm3 bei einer mittleren Wärmeleitfähigkeit
von 0,027 W/cmK dargestellt. Im Betrieb einer Anlage muss mit Lastüberschreitung von ca. 20% gerechnet werden. Für diesen Fall ergeben sich die in
Klammern dargestellten Temperaturen. Die errechneten Werte zeigen, dass
die Temperatur in der Stabmitte auch bei einer Lastüberschreitung noch weit
unter dem Schmelzpunkt des Brennstabmaterials liegt.
16.3.1.2 Reaktordynamik und Regelung
Bei den Leichtwasserreaktoren wird während des Betriebes kein Brennstoff
zugeführt und es werden auch die entstehenden Spaltprodukte nicht entnommen. Die Folge ist, dass die Leichtwasserreaktoren zu Beginn des Leistungsbetriebes mit einer Überschussreaktivität ausgestattet sein müssen, die ihrerseits durch Einfang überschüssiger Neutronen entsprechend zu steuern ist,
was durch Änderung der Moderation erreicht werden kann. Zu diesem Zweck
wird bei Druckwasserreaktoren dem Kühlmittel ein Neutronen absorbierender Stoff, z.B. Bor, zugegeben. Durch eine Aufbereitung des Kühlmittels kann
der betreffende Stoff auch wieder aus dem Kühlmittel entfernt werden. Auf
diese Weise kann die Reaktivität des Reaktors auf das erforderliche Niveau
eingestellt werden. Dieses Verfahren wird für Regelvorgänge mit langsamen
Reaktivitätsänderungen benutzt.
Für schnelle Reaktivitätsänderungen werden Regel- oder Steuerstäbe in den
Reaktorkern eingefahren. Diese bestehen aus stählernen Hüllrohren, die mit
einem Neutronen absorbierenden Stoff gefüllt sind, z.B. Bor, Indium oder
Cadmium; sie werden mit speziellen Antrieben durch die in die Brennelemente integrierten Führungsrohre in den Reaktorkern eingeführt. Im Bedarfsfall
ist es möglich, den Reaktor durch schnelles Einfahren der Steuerstäbe rasch
abzufahren.
16.3.2 Druckwasserreaktor
Kennzeichnend für den Druckwasserreaktor (DWR) ist das Bestehen von zwei
Stoffkreisläufen, dem Kühlmittel- oder Primärkreislauf und dem Arbeitsmittel- oder Sekundärkreislauf. Der Primärkreis transportiert die im wesentlichen
in den Brennstäben freigesetzte Wärme zu einem Wärmeaustauscher und gibt
diese an den Sekundärkreis ab. Mit dem Sekundärkreis wird ein Dampfkraftprozess betrieben, wobei der Wärmeaustauscher als Dampferzeuger dient. In
Abb. 16.9 ist das Prinzip der Schaltung dargestellt.
Der Druck im Primärkreislauf wird so hoch über dem Sättigungsdruck
gewählt, dass ein Sieden der Kühlflüssigkeit nicht vorkommt. Unter diesen Bedingungen wird das Auftreten der Siedekrise vermieden, die den Wärmeübergang zwischen der Brennstaboberfläche und der Kühlflüssigkeit drastisch vermindern würde. Die mittlere Volumenleistung im Kern eines Druckwasserreaktors kann wegen der günstigen Bedingungen für die Wärmeabfuhr mit etwa
3
100 MW/m = 100 kW/l ausgeführt werden.
420
16 Kernspaltung
Damferzeuger
Sekundärkreis
G
~
~300°C
Reaktor
~280°C Primärkreis
Umwälzpumpe
Kondensator
Vorwärmer
Speisepumpe
Abbildung 16.9. Schaltung eines Kraftwerks mit Druckwasserreaktor
Die Differenz zwischen Ein- und Austrittstemperatur des Kühlmittels (ϑ1
und ϑ2 ) wird im Interesse eines gleichmäßigen Temperaturniveaus im Kern
möglichst klein gewählt. Ausgeführt wurden ϑ1 = 288◦ C und ϑ2 = 315◦ C bei
einem Druck von 150 bar. Die Siedetemperatur bei diesem Druck liegt bei
342◦ C.
Technische Daten eines ausgeführten Druckwasserreaktors
Kernbrennstoff
UO2 /MOX
Moderator
H2 O, voll entsalzt
Anreicherung U-235 bis 4%
Reaktorleistung 3.750 MW
Brennstoffmenge
103 t
Bruttoleistung
1.440 MW
Brennelemente
193
Nettoleistung
1.3750 MW
Brennstäbe
45.548
Wirkungsgrad
36,4%
Steuerstäbe
61
Leistungsdichte 93,2 MW/m3
Beispiel 16.10. Ein von einem Druckwasserreaktor mit einer thermischen Leistung
von 3 500 MW betriebenes Kernkraftwerk ist mit 92·103 kg Uran in Form von Urandioxid bestückt, das auf 60 000 Brennstäbe verteilt ist und mit 3,2% U235 angereichert ist.
a) Wieviele Spaltreaktionen N finden pro Sekunde statt?
b) Wieviel U235 wird pro Tag verbraucht?
c) Wie lange reicht der in den Brennstäben enthaltene Vorrat
Lösung. a) Wie in Beispiel 16.3 gezeigt, werden bei jeder Spaltung Q = 197,5 MeV
= 197,5 ·1, 60 · 10−13 J frei. Bei konstanter Leistung P= 3500 MW des Reaktors
ergeben sich
N=
3, 5 · 109 J/s
P
=
= 1, 1 · 1020 Spaltungen pro Sekunde.
Q
197, 5 · 1, 60 · 10−13 J
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
421
b) Wie in Beispiel 16.3 genannt, hat U235 die Masse
M = 235, 0439 · u = 235, 0439 · 1, 6598 · 10−27 kg = 390 · 10−25 kg.
V = 390 · 10−25 · 1, 1 · 1020
kg
s
kg
· 3600 · 24
= 3, 7
s
T ag
T ag
Bei Einfang eines Neutrons durch einen U235 kommt es in vier von fünf Fällen
zur Spaltung und in einem Fall zu einem Einfang ohne Spaltung. Deshalb ist der
Verbrauch U235 um den Faktor ∼1,2 größer:
V = 1, 2 · 3, 7 = 4, 44
kg
T ag
c) Im Brennstoff sind 3,2% U235 enthalten, bei einem Verbrauch von 4,4 kg/Tag
reicht dies für
0.032 · 92000
≈ 669T age
4, 4
Die häufigsten Spaltprodukte aus Druck– und Siedewasserreaktoren sind Isotope
von Strontium, Cäsium, Xenon und Barium, mit Halbwertzeiten von einigen
Sekunden bis zu 100 Jahren, vgl. Abb. 16.3. In den Spaltprodukten finden sich
auch Transurane wie Plutonium, ca. 1% der Spaltprodukte. Plutonium Pu239 ist
ein α–Strahler mit einer Halbwertzeit von 24 000 Jahren.
Beispiel 16.11. Bei einem Druckwasserreaktor mit einer thermischen Leistung von
3 500 MW wird als Kühlmittel Wasser verwendet. Die Ein- und Austrittstemperatur
des Kühlmittels ist mit ϑ1 = 288◦ C und ϑ2 = 315◦ C festgelegt. Das Kühlmittel
besitzt eine spezifische Wärmekapazität von cp = 5,5 kJ/kgK.
a) Welcher Massenstrom ist unter diesen Randbedingungen erforderlich?
b) Die Abweichung der maximalen Leistungsdichte im Kern von der mittleren wird
durch den Leistungsformfaktor φ gekennzeichnet. Wie groß ist die maximale Aufheizspanne des Kühlmittels ∆ϑmax für φ = 0,65?
Antrieb für
Steuerstäbe
Kühlmittel
Steuerstäbe
Brennstäbe
Druckbehälter
Abbildung 16.10. Aufbau eines Druckwasserreaktors
422
16 Kernspaltung
270°C (Sattdampf)
70 bar
Turbine
G
~
Umwälzpumpe
Vorwärmer
Speisepumpe
Abbildung 16.11. Schaltschema eines Kraftwerks mit Siedewasserreaktor
Lösung. a) Es gilt
ṁ =
P
= 23,5 · 103 kg/s .
cp ∆ϑ
b) Die maximale Aufheizspanne beträgt
∆ϑmax =
∆ϑ
= 41,5◦ C.
φ
16.3.3 Siedewasserreaktor
Beim Siedewasserreaktor (SWR) – mit Wasser als Kühlmittel und Moderator – lässt man das Wasser zum Sieden kommen. Zur Erzielung einer sicheren
Wärmeabfuhr aus dem Kern wird das System im Zwangumlauf betrieben,
die Umlaufzahl liegt im Bereich von 5–8. Im Oberteil des Reaktordruckbehälters sind Wasserabscheider angeordnet. Das abgetrennte Wasser wird
in den Umwälzkreislauf zurückgegeben und der Dampf zur Turbine geleitet.
Hinter dem Wasserabscheider sind noch Dampftrockner eingebaut, die eventuell vom Dampfstrom mittransportiertes Wasser abtrennen. Beim Sieden werden in der flüssigen Phase gelöste aktivierte Korrosionsprodukte praktisch
vollständig zurückgehalten, so dass der produzierte Dampf sofort zur Turbine
geführt werden kann. Bei Siedewasserreaktoren mit Direktkreislauf ist im Vergleich zu den Druckwasserreaktoren kein Dampferzeuger erforderlich. Dies ist
insofern ein Vorteil, als sich der Dampferzeuger als eine relativ störanfällige
Komponente erwiesen hat. Das Schema eines Kraftwerkes mit einem Siedewasserreaktor ist in Abb. 16.11 dargestellt.
Die Leistungsdichte im Kern ist gegenüber dem Druckwasserreaktor wegen
der in der Tendenz ungünstigeren Wärmeübertragungsverhältnisse geringer;
ein typischer Wert ist 60 MW/m3 .
Wegen des Platzbedarfes der Dampftrockner werden die Steuerstäbe von
unten in den Kern eingeführt, Abb. 16.12. Dies ist insofern ein Vorteil, als
sich damit die Absorberstäbe in der Regel im unteren Kernbereich befinden,
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
423
während im oberen Bereich die Dampfbildung stattfindet. Da ein höherer
Dampfanteil ebenfalls den Neutronenfluss vermindert, wirken beide Maßnahmen im gleichen Sinn.
Ein Systemnachteil des Siedewasserreaktors bestand früher darin, dass er
nicht zur Netzregelung herangezogen werden konnte. Um dies zu illustrieren,
denken wir uns den Reaktor mit einer bestimmten Last und Steuerstabstellung im Betrieb. Wir nehmen nun an, dass das Netz eine höhere Leistung
verlangt. Um dem nachzukommen, wird das Turbinenventil geöffnet. Dadurch
wird sich der Dampfstrom zur Turbine erhöhen und der Druck im System sinken. In der Folge kommt es zu einer Dampfblasenbildung innerhalb des auch
als Moderator fungierenden Kühlmittels und damit zu einer Verminderung
der Moderatorwirkung. Parallel dazu geht die Wärmeleistung zurück. Bei einer Lastabsenkung ist es umgekehrt. Der hier beschriebene Nachteil kann
durch eine dem Verhalten der Regelstrecke angepasste Regelung ausgeglichen
werden.
Die Mehrzahl der kommerziellen Kernkraftwerke der ersten Generation in
der Bundesrepublik waren Siedewasserreaktoren; so Grundremmingen (Auftrag 1962), Lingen (1964) und Würgassen (1967). Zu dieser Zeit wurde der
SWR-Typ wegen seiner Einfachheit bevorzugt, denn im Unterschied zum
DWR schien es möglich zu sein, mit einem Einkreissystem die Wärme aus
dem Reaktorkern abzuführen. Auf diese Weise wurde aber auch das Turbinenhaus zum radioaktiven Schutzbereich, der ein wachsendes Ausmaß an
Schutzmaßnahmen erforderte.
Nach den ersten Betriebsjahren stellte sich in den siebziger Jahren heraus,
dass dieser Typ in der damaligen Bauweise sich nicht gut“ bewährte. Diese
”
Bauweise wurde daher in der Folgezeit praktisch aufgegeben.17
17
Nach 1970 wurden in der Bundesrepublik 17 Druckwasser- und 3 Siedewasserreaktoren in Auftrag gegeben.
Dampf zur
Turbine
Dampftrockner
Speisewasser
Brennelemente
Wasserabscheider
Umwälzpumpe
Steuerstäbe
Antrieb für
Steuerstäbe
Abbildung 16.12.
Aufbau eines Siedewasserreaktors
424
16 Kernspaltung
Sattdampf
zur Turbine
.
mD
Nassdampf
.
mR
Reaktorkern
Wasserabscheider
.
mS
Speisewasser
Abbildung 16.13. Schema eines Umwälzsystems für einen Siedewasserreaktor
Beispiel 16.12. Für die in Abb. 16.13 dargestellte Schaltung eines Siedewasserreaktors ist der Dampfgehalt vor dem Wasserabscheider als Funktion des Umlaufverhältnisses R anzugeben.
Lösung. Eine Masse- und Wärmebilanz liefert die Beziehungen
ṁD = ṁS
und
ṁS + ṁR = ṁE .
Für den Dampfgehalt folgt
xA =
ṁD
ṁS + ṁR
.
Für das Umlaufverhältnis ergibt sich
R=
ṁR
ṁD
=
1 − xA
xA
.
Damit wird
xA =
1
.
1+R
Hinter dem Wasserabscheider und dem Dampftrockner liegt der Wassergehalt im
Bereich von 0,5%.
16.3.4 Brutreaktoren
239
Beim Brutreaktor wird ein Teil der bei der Spaltung von 235
92 U oder 94 Pu
freiwerdenden Neutronen dazu verwendet, um nach den Reaktionsgleichungen (16.35) und (16.36) aus schwachen Kernbrennstoffen starke zu erzeugen.
Nach Vorausberechnungen sollte es möglich sein, Konversionsraten im Bereich
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
425
von 1,1 bis 1,2 technisch zu realisieren. Ein Brutreaktor kann während seines
Betriebes demnach mehr Brennstoff erzeugen, als er selbst für seinen künftigen Betrieb braucht. Es dauert bei den vorhersehbaren Konversionsraten aber
10 bis 20 Jahre, bis ausreichend viel Brennstoff für die Beschickung eines zweiten Reaktors erbrütet wird. Im Prinzip bietet der Brutreaktor die Möglichkeit
einer unbegrenzten Energieversorgung.
Ein Brüter muss nach anderen Gesichtspunkten konzipiert werden als ein
thermischer Reaktor. Nach Abb. 16.4 ist der Einfangquerschnitt von 238
92 U für
schnelle Neutronen um etwa zwei Größenordnungen geringer als für die Spaltung von 235
92 U mit thermischen Neutronen. Zusätzlich werden für den Brutvorgang Neutronen verbraucht. Um kritische Bedingungen zu erreichen, wird als
Spaltstoff ein hoch mit Plutonium angereicherter Kernbrennstoff gewählt, typischerweise enthält ein Brennstab ein Gemisch aus 80% UO2 und 20% PuO2 .
Um das Brennstoffinventar gering zu halten, wird ferner der Neutronenfluss
erheblich höher gewählt als bei thermischen Reaktoren. Um dies zu erreichen,
unterteilt man den Kern eines Brutreaktors in zwei Zonen: in der inneren Zone
befinden sich die Brennstäbe mit der hohen Konzentration an PuO2 , während
239
in der umgebenden äußeren Zone, der Brutzone, 238
92 U in 94 Pu umgewandelt
wird. Um durch Resonanzabsorption von Neutronen durch 238
92 U eine Brutrate > 1 zu erreichen, muss ein Brutreaktor mit schnellen Neutronen betrieben
werden. Daher dürfen sich im Reaktorkern keine Stoffe mit einer geringen
Atommasse befinden - Brutreaktoren arbeiten ohne Moderator.
Die hohe Konzentration an spaltbarem Material ergibt große Leistungsdichten. Für die Wärmeabfuhr sind deshalb hohe Wärmeübergangszahlen erforderlich, die man z.B. mit flüssigem Natrium als Kühlmittel erzielen kann.
Natrium wird auch deshalb gewählt, weil es nur einen geringen Wirkungsquerschnitt für Neutronenabsorption hat und praktisch nicht als Moderator
wirkt.
Auch wenn der Absorptionsquerschnitt von Natrium gering ist, wird das
als Kühlmittel durch den Reaktor strömende flüssige Natrium doch radioaktiv.
Es entsteht radioaktives 24
11 Na, das unter Aussendung eines Betateilchens zu
Magnesium zerfrällt.
23
11 N a
+
24
11 N a
→
1
0n
→
0
−1 e
+
24
11 N a
(Aktivierung)
24
12 M g
(radioaktiver Zerfall)
(16.50)
(16.51)
Um das radioaktive Natrium in der Sicherheitszone des Reaktorgebäudes zu
halten, wird die Wärme über einen zweiten Natrium Kreislauf dem WasserDampf-Prozess zugeführt.
Die Schwierigkeiten bei der Errichtung kommerzieller Brutreaktoren sind
groß. So ist z.B. die Werkstoffbelastung durch den hohen Fluss schneller Neutronen ungleich höher als bei Leichtwasserreaktoren, was den Einsatz hochwertiger, in Testreaktoren erprobter Stähle erfordert. Insgesamt mag dies der
Grund dafür sein, dass heute weltweit nur noch eine derartige Anlage in Betrieb ist.
426
16 Kernspaltung
Das größte Kernkraftwerk mit einem Brutreaktor, die 1 200 MW Anlage Superphénix in Creys-Malville, war mit zahlreichen Unterbrechungen von
1986 bis 1998 in Betrieb. Der Reaktor hat während seiner gesamten Betriebszeit seine Nennleistung nicht erreichen können.
Auch unter den Befürwortern der Kernenergienutzung besteht keine Einigkeit
in der Bewertung der bei Brutreaktoren bestehenden Risiken, vgl.[4].
16.3.5 Hochtemperaturreaktoren
Die Leichtwasserreaktoren haben zwei systembedingte Nachteile: Sie benötigen große Mengen an Natururan und haben wegen der Beschränkung der oberen Prozesstemperatur auf ca. 350◦ C nur einen geringen Wirkungsgrad. Auch
beim natriumgekühlten Brutreaktor ist die Austrittstemperatur aus dem Reaktor wegen der metallischen Hüllen der Brennstoffelemente auf ca. 500◦ C
beschränkt. Zur Erreichung höherer Temperaturen ist eine neue Technologie
für die Wärmeabfuhr aus dem Reaktor und für den Aufbau der Brennelemente
erforderlich.
Die Senkung des Verbrauchs an Natururan kann nur durch eine Verbesserung der Neutronenökonomie erreicht werden. Dazu ist der Reaktor so zu
betreiben, dass wie beim Schnellen Brüter pro Kernspaltung viele Neutronen
freiwerden, die anschließend im Mittel mehr als einen Spaltkern durch Konversion erzeugen. Die Hauptmerkmale einer verbesserten Reaktorbaureihe sind
damit:
• Sie sind gute Brutreaktoren und
• sie haben hohe Austrittstemperaturen.
Bei dem in der Bundesrepublik entwickelten Hochtemperatur-Kugelhaufenreaktor werden diese Vorgaben erreicht, indem für den Reaktorkern nur keramische Materialien zum Einsatz kommen und die Wärmeabfuhr mit Helium
durchgeführt wird.18 Das Spaltmaterial befindet sich in Graphitkugeln von ca.
6 cm Durchmesser, die auch während des Reaktorbetriebes nachgefüllt oder
herausgenommen werden können.
Wegen des Fehlens von neutronenabsorbierenden Strukturmaterialien im
Kern sind die Neutronenverluste gering. Die überschüssigen, d.h. für die Spaltreaktionen nicht notwendigen Neutronen können damit zur Konversion von
Kernbrennstoffen verwendet werden. Graphit ist ein Werkstoff, der außergewöhnlich beständig gegen mechanische und chemische Beanspruchungen ist.
Bis zu einer Temperatur von 2 000◦ C nimmt die mechanische Festigkeit noch
zu. Erst bei 3 600◦ C geht er durch Sublimation vom festen in den gasförmigen
Zustand über. Jede Kugel mit etwa 200 g Masse enthält ca. 1 g 235
92 U und ca.
U
durch
thermische
Neutronen
10 Gramm Thorium. Im Betrieb wird das 235
92
18
In der Nähe von Hamm (Westfalen) wurde von 1985 bis 1989 ein Hochtemperaturreaktor (THTR–300) betrieben. Aus wirtschaftlichen Gründen wird diese
Reaktorlinie in Deutschland zur Zeit nicht weiterverfolgt.
16.3 Grundzüge der Reaktorwärmetechnik
427
Abbildung 16.14.
Prinzipieller Aufbau eines HochtemperaturKugelhaufenreaktors.
Die im Reaktor erzeugte
Wärme wird mittels Helium von den kugelförmigen Brennelementen zu
den Dampferzeugern
transportiert.
gespalten und gibt Wärme ab. Gleichzeitig entsteht aus 232
90 Th durch Neutroneneinfang das Uranisotop 233
92 U, welches ebenfalls ein starker Kernbrennstoff
ist.
Ein Reaktor mit einer Wärmeleistung von 800 MW enthält ca. 650 000
Kugeln, davon ca. 360 000 Brennelementkugeln, 250 000 Graphitkugeln als
zusätzliche Moderatoren und 40 000 Bor-haltige Absorberkugeln zur Einstellung der Reaktivität. Die Kugeln befinden sich in einem zylindrischen Behälter
aus Graphitblocken
von 6 m Durchmesser und 12 m Hohe,
der zur Strahlungs¨
¨
abschirmung mit einem Stahlmantel umgeben ist.
Gekühlt werden die heißen Kugeln im Reaktorkern mit dem Edelgas Helium, das mit Gebläsen durch die Schüttung gedrückt wird. Damit ist sichergestellt, dass auch bei den im Kern vorliegenden hohen Temperaturen keine
chemischen Reaktionen auftreten. Es können Reaktoraustrittstemperaturen
im Bereich von 800 bis 900◦ C erreicht werden.
Die Leistungsregelung und Abschaltung erfolgt mit Hilfe von Steuerstäben,
die in die Kugelschüttung eingefahren werden. Ein Vorteil dieses Reaktortyps
ist auch der stark negative Temperaturtransient bzgl. der Reaktivität, wodurch eine inhärente Abschaltsicherheit bei Temperaturerhöhungen gegeben
ist.
Die hohe Temperatur der vom HTR abgegebenen Wärme eröffnet eine
Vielzahl von Anwendungen: Im Falle der Stromerzeugung kann neben dem
Dampfkraft- auch der Gasturbinenprozess oder eine Kombination von beiden
angewendet werden. Ebenfalls kann Prozesswärme für die chemische Industrie
bereitgestellt werden.
Ein Schema eines Dampfkraftwerkes mit einem Hochtemperaturreaktor ist
in Abb. 16.15 dargestellt. Die Wärmezufuhr zum Dampfkraftprozess erfolgt
durch Wärmeaustausch mit dem heißen Helium aus dem Reaktor in separaten
Wärmeaustauschern.
428
16 Kernspaltung
700°C, 60 bar
530°C, 180 bar 5
G
~
2
1
11
7
10
4
300°C
6
3
8
9
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Reaktor
Dampferzeuger
Heliumkreislauf
Heliumgebläse
Dampfkreislauf
Turbogruppe
Kondensator
Kondensatpumpe
Vorwärmer
Speisewasserbehälter
Speisepumpe
Abbildung 16.15. Schema eines Kraftwerks mit einem Hochtemperaturreaktor
16.4 Die einzigartigen Risiken der Kernenergie
Durch die berühmte Atoms for Peace–Rede des amerikanischen Päsidenten19
im Jahr 1953 wurde in der Weltöffentlichkeit, nach dem Schrecken durch die
Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, die Hoffnung auf eine friedliche
Zukunft mit überall verfügbarer Atomenergie geweckt. Obwohl einige mit der
Atomenergie verbundenen Gefahren damals der Öffentlichkeit durchaus bekannt waren, denn in den Zeitungen wurde offen über die radioaktiven Niederschläge berichtet, die eine direkte Folge der damals zahlreichen Kernwaffenversuche der Großmächte waren. Trotz aller Bedenken hatte Eisenhower
Erfolg, weil es in allen Ländern nur mit Mühe und zu hohen Kosten gelang,
die bestehende Energieknappheit ihrer auf der Nutzung von Kohle basierenden Wirtschaft zu meistern. Bei den politischen Eliten der Industrieländer
löste die Aussicht auf die unerschöpfliche Energiequelle Atomenergie geradezu euphorische Hoffnungen aus, vgl.16.6 Worte von Bloch. Skeptisch stand
der Atomenergie damals eher die Energiewirtschaft gegenüber, sie wurde erst
durch Subventionen dafür gewonnen, in die Kernkraftwerke zu investieren,
vgl. [13].Auch damals war gut bekannt, dass die Nutzung der Kernenergie
mit einzigartigen Problemen und Risiken verknüpft ist, für die es bei anderen
Energiequellen kein Analogon gibt:
19
die friedliche Nutzung ist gedanklich mit der militärischen Anwendung
verknüpft, durch die ganze Landstriche unbewohnbar werden können
die Explosionen, die mit einem Kilo Uran–235 oder Plutonium–239 ausgelöst werden können, sind millionenmal stärker als die von Dynamit
Atoms for Peace war das Thema der Rede, die der Präsident der USA Dwight D
Eisenhower am 8. Dezember 1953 vor der UN-Vollversammlung in New York City
hielt. Er regte die Gründung einer Internationalen Atomenergiekommission an,
die die friedliche Nutzung des radioaktiven Materials, der Kernenergie und der
dazu gehörigen Technologie gewähleisten sollte. Die IAEA (International Atomic
Energy Agency) wurde 1957 mit dem Sitz in Wien gegründet.
16.4 Die einzigartigen Risiken der Kernenergie
-
429
von den bei der Nutzung entstehenden radioaktiven Rückständen gehen
Strahlungen aus, die für Lebewesen schädlich sind
Beim Betrieb eines Kernreaktors werden große Mengen radioaktiver Spaltprodukte gebildet, die sich unter Aussenden von Betastrahlen in schließlich stabile
Kerne umwandeln. Um uns eine Vorstellung über die Mengenströme zu machen, betrachten wir ein 1 200 MW Kraftwerk mit einem Leichtwasserreaktor,
das ein Jahr lang mit Volllast betrieben wird und ≈10 Mrd kWh ins elektrische Netz einspeist. Dabei wird eine Brennstoffmenge von rund 50 Tonnen
angereichertem Uran (3,4% U-235) verbraucht, die zur Entsorgung anfallen.
Abgebrannter Kernbrennstoff enthält neben Uran 238 ca. 3,5% Spaltprodukte
(ca. 1750 kg), ca. 1% Plutonium (ca. 500k̇g), ca. 0.06% Transurane (ca. 30 kg)
und auch noch ca. 0,9% U-235 (ca. 450 kg).
Nach der Entnahme aus dem Reaktor lagert man die Brennelemente
zunächst in einem Wasserbecken im Reaktorgebäude. Während dieser Lagerzeit zerfallen die Radionuklide mit kurzen Halbwertzeiten. Bereits nach einem
Jahr nimmt dabei die Radioaktivität auf etwa 5% des Ausgangswertes ab. Das
Wasser im Becken dient sowohl zur Abschirmung der radioaktiven Strahlung
als auch zur Kühlung, denn beim Zerfall von Nukliden wird Energie in Form
von Wärme frei. Nach ausreichend langer Abklingzeit werden die Brennelemente in ein Zwischenlager gebracht. Es sind Trockenlager mit ausreichender
Kühlung und einer entsprechenden Strahlungsabschirmung.
Für die weitere Entsorgung der abgebrannten Brennelemente gibt es im Prinzip zwei Vorgehensweisen:
• Wiederaufbereitung und Endlagerung
• Direkte Endlagerung
Die Grenzen für die Nutzung werden von der Entsorgung der nuklearen Asche
und ihrer Begleitstoffe gesetzt.
16.4.1 Sicherheit beim Leichtwasserreaktor (LWR)
Wie bei den mit fossilen Brennstoffen gefeuerten Kesseln muss auch beim
Leichtwasserreaktor mit Risiken gerechnet werden. Gefahren gehen zum einen
von der Wärmefreisetzung aus und zum andern von einer möglichen Emission
radioaktiver Stoffe und radioaktiver Strahlung. Um dies zu verhindern, sind
in den Brennstäben, dem Reaktorbehälter und dem Reaktorgebäude mehrere
Barrieren eingebaut, vgl. Abb. 16.16:
1. nach einer Spaltung sind die Spaltkerne immer noch in der Werkstoffmatrix der Brennstäbe gebunden
2. gasförmige Anteile werden in den gasdichten Hüllrohren der Brennstäbe
zurückgehalten
3. der Reaktorkern befindet sich innerhalb des Reaktordruckbehälters
430
16 Kernspaltung
Brennstäbe
Hüllrohre
Reaktordruckbehälter
Schutzschild
(Beton)
Sicherheitshülle
Reaktorgebäude
Abbildung 16.16. Sicherheitsbarrieren bei Leichtwasserreaktoren
4. zur Rückhaltung von Strahlung ist der Reaktordruckbehälter von einem
biologischen Schild aus Beton umgeben
5. der Reaktor mit all seinen Bauteilen ist von einem druckfesten, kugeligen
Sicherheitsbehälter aus 2 cm dickem Stahl umschlossen, der dem Druck
bei Verdampfung des gesamten Kühlmittels standhält
6. den Sicherheitsbehälter schützt der ca. 2 m dicke Betonmantel des Reaktorgebäudes
Für technische Unfälle in heutigen Kernkraftwerken liegt eine ausführliche
Studie vor, der sog. Rasmusen–Bericht [11]. Die entscheidende Aussage des
Berichtes ist, dass auch bei einem größten anzunehmenden Unfall nur ein
Bruchteil der im Reaktor enthaltenen Radioaktivität aus dem Reaktor entweichen würde. Unter dem in der Öffentlichkeit oft diskutierten größten anzunehmenden Unfall (GAU) versteht man den größten Unfall, der noch so wahrscheinlich ist, dass er bei der Systemauslegung berücksichtigt werden muss und
Vorsorge für seine Beherrschung zu tragen ist. Einen Unfall, der nicht mehr
durch technische Maßnahmen zu beherrschen ist, nennt man Super–GAU. Der
Super–GAU eines Leichtwasserreaktors könnte z. B. durch einen Ausfall der
Reaktorkühlung ausgelöst werden.
Kommt es bei einem Leichtwasserreaktor zu einem Totalausfall der Kühlwasserpumpen, verdampft das gesamte Wasser im Reaktorkern. Damit kommt
die Kettenreaktion zum Erliegen, da ohne Wasser die Spaltneutronen kaum
noch moderiert werden. Bei einem Leichtwasserreaktor kann es deshalb nicht
zu einer nuklearen Exkursion kommen, d.h. ein LWR explodiert nicht wie ein
Sprengsatz.
Auch nach Erlöschen der Spaltprozesse muß die durch den radioaktiven
Zerfall der gespaltenen Urankerne anfallende Nachwärme weiter abgeführt
werden, die ca. 10% der bei der Spaltung freigewordenen Wärmeleistung entspricht. Gelingt dies nicht, so beginnt sich der Reaktorkern schon nach ca.
16.4 Die einzigartigen Risiken der Kernenergie
431
1 min aufzuheizen, es kann zum Schmelzen des Reaktorkerns kommen. Reaktoren müssen deshalb so ausgerüstet sein, dass es auch im Falle einer Kernschmelze zu keiner unzulässigen Freisetzung von Radioaktivität kommt.
Im März des Jahres 1979 kam es im Kraftwerk Three–Mile–Island in
der Nähe von Harrisburg in Pennsylvania zu einem schweren Störfall. Durch
menschliche Fehlhandlungen und teilweises Versagen der Technik kam es zu
einer Überhitzung des Reaktorkerns und einer teilweisen Kernschmelze. Es
wurde niemand verletzt oder kam gar ums Leben. Auch die Belastung durch
Radioaktivität war gering. Der Mittelwert der Strahlendosis für die 2 Millionen Menschen in der Umgebung des Kraftwerks entsprach in etwa der Strahlenbelastung aufgrund der natürlichen Höhenstrahlung bei einem Interkontinentalflug von Europa nach Australien. Three–Mile–Island war der erste große
Nuklearunfall in den USA. Hätte dort die Sicherheitsbarriere (das Containment) versagt, so wäre wie später in Tschernobyl (1986) und in Fukushima
Daiichy (2011) ein Landstrich für lange Zeit verloren gewesen.20
Schon beim normalen Betrieb eines Kernkraftwerks fällt fortlaufend radioaktiver Abfall an, der sowohl aus den Spaltprodukten als auch aus durch
Neutroneneinfang des U-238 gebildeten Transuranen (Plutonium, Americium etc.) besteht. Ein Maß für die Radioaktivität dieses Abfalls ist die nach
der Abschaltung eines Reaktors anfallende Wärmeleistung, nach einem Monat
sind dies noch ca. 0,13% und nach einem Jahr 0,02% der ursprünglichen Reaktorleistung. Die in Kernkraftwerken verbrauchten Brennstäbe werden deshalb
vor Ort gelagert, meist unter Wasser in provisorischen Zwischenlagern. Sichere Endlager für radioaktive Abfälle gibt es bisher noch nicht.
16.4.1.1 Inhärente Sicherheit
Die heute im kommerziellen Einsatz befindlichen Leichtwasserreaktoren sind
derart konzipiert, dass sich die Kettenreaktion bei einem Temperaturanstieg
im Kern verlangsamt. Dies hängt damit zusammen, dass die Anzahl der
Moderations- und Spaltreaktionen mit der Temperatur abnimmt, vgl. Abschn. 16.1.4. Man bezeichnet diesen Effekt als inhärente Sicherheit der thermischen Reaktoren. Sollte die Temperatur des Reaktorkerns z.B. wegen Ausfalls der Kühlkreisläufe weiter ansteigen, kommen die Moderationsprozesse
zum Erliegen und die Kettenreaktion wird mangels thermischer Neutronen
unterbrochen. Bei einem thermischen Reaktor kann es damit keine nukleare
”
Exkursion“ geben. Allerdings würde bei einem solch großen Störfall die Anlage
selbst Schaden nehmen, was unter Umständen eine Stillegung des Kraftwerks
bedeuten würde.
20
Ein Reaktorunfall mit einer Kernschmelze war Thema des Hollywood Katastrophenfilms The China Syndrome mit Jane Fonda, Jack Lemmon und Michael Douglas aus dem Jahr 1979, der sich kritisch mit der Kernenergie auseinandersetzt.
In dem Film kommt eine Expertengruppe zu dem Schluss, dass sich der geschmolzene Kern durch die Erdkruste in Richtung China durchfressen würde.
432
16 Kernspaltung
Das Risiko des Reaktorbetriebes liegt also nicht in der Freisetzung großer
Energiemengen; so entsprach auch beim bisher schwerwiegendsten Reaktorunfall in Tschernobyl im Jahr 1986 die insgesamt freigesetzte Energie nur einem
Äquivalent von einigen 100 t Steinkohle.
16.5 Entsorgung
Der Kern eines Leichtwasserreaktors mit 1 GW elektrischer Leistung wird
bei seiner Inbetriebnahme mit 100 t auf ∼4% 235 U angereichertem Uran beschickt. Diese Brennstoffmenge würde im Prinzip ausreichen, um den Reaktor etwa zwei Jahre lang mit Vollast zu betreiben. Um aber die Brennstoffausnutzung zu optimieren, werden beim regulären Betrieb alle 12 Monate während eines etwa vierwöchigen Stillstandes ein Viertel der Brennstäbe
durch solche mit frischem Brennstoff ausgetauscht. Dabei werden alte und
neue Brennstäbe im Reaktor so verteilt, dass im Mittel eine Energieproduktion von 30 MW pro t Brennstoff erreicht wird. Die aus dem Reaktorkern entnommenen ausgebrannten Brennstäbe werden zunächst für eine Zeit
von bis zu zwei Jahren in einem Kompaktlager zwischengelagert, das sich
innerhalb des Reaktorgebäudes befindet. Das Kompaktlager ist im Prinzip
ein Wasserbecken mit einem angeschlossenen Kühlsystem. In diesen Wasserbecken wird die Zerfallswärme der radioaktiven Spaltprodukte, hauptsächlich
Cäsium-137, Strontium-90 und Jod-131, durch natürliche Konvektion abgeleitet. Ohne Kühlung würde die Zerfallswärme die Hüllrohre auf Rotglut erhitzen. Die abzuführende Zerfallswärme unmittelbar nach der Entnahme aus
dem Reaktor entspricht einer Leistung von ca. 20 MW/t. Nach zwei Jahren
klingt die Wärmeentwicklung auf ca. 4 MW/t ab. Entsprechend zur Wärmeentwicklung klingt auch die Aktivität von ca. 8 · 1016 Bq (Becquerel) pro
Tonne Schwermetall ab, so dass diese nach zwei Jahren Lagerzeit noch etwa
1 · 1016 Bq beträgt. Nach ca. zwei Jahren wurden die Brennelemente bisher
in ein externes Zwischenlager überführt, wo sie gegebenenfalls für mehrere
Jahrzente zwischengelagert werden.
Außer den Spaltprodukten (3,2%) enthalten die ausgebrannten Brennelemente noch folgendes radioaktives Material: 95% an 238 U, 0,9% an 235 U,
0,9% an 239 Pu und 0,06% Transurane. Für die Entsorgung der ausgebrannten Brennelemente gibt es grundsätzlich zwei Wege: Wiederaufbereitung und
Direkte Endlagerung. Bis zur Novellierung des Atomgesetzes im Jahr 1994,
die unter dem politischen Druck massiver Proteste einer entschlossenen Minderheit durchgeführt wurde, hatte die Wiederaufbereitung Vorrang vor der
direkten Entsorgung. Nach einer weiteren Novellierung des Gesetzes ist seit
dem Jahr 2000 in Deutschland die Endlagerung ohne Wiederaufbereitung vorgeschrieben. Ein Standort für die Endlagerung ist bisher nicht festgelegt, vorgesehen ist ein Salzstock bei Gorleben. Für die Auswahl eines Standorts gibt
es strenge Kriterien:
1. Tektonische Stabilität für lange Zeiträume
16.5 Entsorgung
433
2. Ausschluss von Wassereinbrüchen, die zu einer Verteilung des radioaktiven
Materials führen könnten
3. Thermische Stabilität des Gesteins gegen die auftretende Abwärme
Ähnlich wie Kohlendioxid müssen auch die radioaktiven Spaltprodukte nicht
für immer aber doch für eine sehr sehr lange Zeit weggeschlossen werden.
Am gefährlichsten ist die Radioaktivität von Stoffen deren Halbwertzeit in
der Größenordnung einer menschlichen Lebensspanne liegt. Strontium–90 hat
z.B. eine Halbwertzeit von 30 Jahren. Es emittiert den größten Teil seiner Radioaktivität innerhalb der Lebensdauer eines Menschen. Erst nach zehn Halbwertzeiten ist die Radioaktivität auf weniger als ein Promille des Anfangswerts
abgeklungen und nach 10.000 Jahren erst auf das Niveau von Uranerz, aus
denen die Kernbrennstoffe ursprünglich gewonnen wurden.
Wegen der langen Zeitspanne bis zum Abklingen der Strahlung ist es unmöglich,
die Erfüllung der oben genannten Forderungen im strengen Sinn zu garantieren. Aus diesem Grund werden weltweit Entsorgungsstandorte als Zwischenlager deklariert. Da zudem die direkte Endlagerung (vorläufig) kostengünstiger
ist als eine Wiederaufbereitung, haben sich die Betreiber von Kernkraftwerken mit der politischen Administration auf diesen Weg verständigt.
Bei der Wiederaufbereitung werden die in den ausgedienten Brennelementen
enthaltenen starken Kernbrennstoffe 235 U und 239 Pu, bei einem 1300 MW
Kraftwerk sind dies zusammen ca. 400 kg pro Jahr, mittels einer chemischen Zubereitung extrahiert und können dann in frischen Brennelementen
weiterverwendet werden. Damit sind die Endlagerprobleme im Prinzip geringer, dafür nimmt aber die Menge schwachradioaktiver Abfälle zu. Es gibt zur
Zeit weltweit zwei Anlagen, eine in La Hague in Frankreich und eine in Sellafield in England, in denen die Aufbereitung ausgebrannten Brennelementen
auf kommerzieller Basis durchgeführt wird.
16.5.1 Wiederaufbereitung
Noch vor Beginn der Entwicklung der ersten Kernreaktoren war man sich in
der Deutschen Atomkommision (DAtK) einig, dass die Nutzung der Kernenergie im geschlossenen Brennstoffkreislauf erfolgen soll. Ziel der Wiederaufbereitung war die Rückgewinnung von noch nicht verbrauchten Spaltstoffen aus
den abgebrannten Brennelementen und die Gewinnung des beim Reaktorbetrieb entstandenen Plutoniums, das ebenfalls als Kernbrennstoff nutzbar ist.
Ein weiteres Motiv war die Abtrennung und Verfestigung der Spaltprodukte, um eine sichere Beseitigung zu ermöglichen. Die Vorgehensweise bei der
Entsorgung wurde in den für alle Betreiber verbindlichen Grundsätzen zur
”
Entsorgungsvorsorge von Kernkraftwerken vom 19.3.1980 “ geregelt. Auf Basis
dieser Entsorgungsgrundsätze hatte die Energiewirtschaft ihre Entsorgungsstrategie aufgebaut, die im Wesentlichen die Wiederaufbereitung ausgedienter
Brennelemente in deutschen oder ausländischen Anlagen und die Endlagerung
der radioaktiven Reststoffe in geologischen Formationen umfasste.
434
16 Kernspaltung
Neben einer Vereinfachung der Entsorgung hätte die Wiederaufbereitung
im Zusammenspiel mit dem Brüter für die Stromwirtschaft den Vorteil gebracht, dass sie sich für lange Zeit von den Rohstoffmärkten für Uran hätte
abkoppeln können.
Zur Aufbereitung werden die Brennstäbe in Stücke zersägt und ihr Inhalt
in siedender Salpetersäure (HNO3 ) herausgelöst. Mittels chemisch/physikalischer Verfahren wird dann die Trennung in die Komponenten Plutonium,
Uran und Spaltprodukte vorgenommen. Da die Brennelemente hochradioaktiv sind, muss die verfahrenstechnisch komplexe Trennung in Zellen vorgenommen werden, die durch Betonwände abgeschirmt sind, die ca. 2 m dick
sind. Gearbeitet wird mit Hilfe fern bedienter Werkzeuge, deren Funktion
durch Strahlenschutzfenster aus dickem Bleiglas beobachtet werden können.
Zur Vorbereitung des Baus einer großen Wiederaufbereitungsanlage wurde bei
der KfK Karlsruhe ab 1964 eine Anlage mit einer Kapazität von 30 t/a gebaut
und von 1971 bis 1989 betrieben [17].
Das bei der Wiederaufbereitung von den Spaltprodukten separierte Plutonium und Uran kann wiederum zu Brennstäben verarbeitet werde. Die radioaktiven Spaltprodukte und Transurane können in einen Zustand überführt
werden, der eine langzeitige Lagerung zulässt.
In den USA und den anderen Kernwaffenstaaten wurden schon in den
1950er Jahren Anlagen zur Wiederaufbereitung betrieben, um zunächst das
in Reaktoren erzeugte Plutonium für ihre Bombenproduktion zu gewinnen.
Ein Grund dafür ist, dass die kritische Masse des Plutoniums nur etwa 1/6
der kritischen Masse des Uran–235 beträgt. Die Weiterverwendung des Plutoniums als Reaktorbrennstoff spielte zunächst nur eine untergeordnete Rolle.
Im Jahr 1989 scheiterte der Bau einer Wiederaufbereitungsanlage im bayrischen Wackersdorf am Widerspruch von Kernkraftgegnern, dem sich viele
Bevölkerungsgruppen angeschlossen hatten. Man wollte verhindern, dass mit
der Wiederaufbereitung ein Zugang zur Gewinnung von kernwaffenfähigem
Plutonium geschaffen wird. Aus Gründen des inneren Friedens wurde die Wiederaufbereitung von der Elektrizitätswirtschaft schließlich aufgegeben. Etwa
zeitgleich wurde auch der Betrieb der Karlsruher Versuchsanlage eingestellt.
Aus Sicht der Kraftwerksbetreiber war die Wiederaufbereitung der einzig hinreichend gesicherte Weg für die dauerhaft sichere Entsorgung ausgedienter
Brennelemente.
Als Behelf wurden 1989 mit der französischen Wiederaufbereitungsanlage
Cap de la Hague und der britischen Anlage Sellafield Verträge abgeschlossen,
mit denen die Aufarbeitung der in deutschen Kernkraftwerken anfallenden
Brennelemente bis zum Jahr 2005 vereinbart wurde. Bei der Wiederaufbereitung werden Uran, das Plutonium und die Spaltprodukte isoliert und voneinander getrennt. Das Plutonium und das U–235 können zur Herstellung neuer
Brennelemente verwendet werden, die Spaltprodukte sind ein Gemisch von
mehreren Elementen und müssen sicher verwahrt werden. Dabei zeigt es sich,
dass zwei Nuklide, Strontium (90 Sr und Cäsium (137 Cs) mit einer Halbwertzeit
von 29 bzw. 30 Jahren über die Radioaktivität bzw. Toxizität entscheiden. Sie
16.6 Kernkraftwerke – von der Euphorie zur Ablehnung
435
müssen für die Dauer von mindestens zehn Halbwertzeiten (300 Jahre) gelagert werden, bevor sie nicht mehr gefährlich radioaktiv sind. Zur Endlagerung
gießt man die Spaltprodukte gegenwärtig in Glaskokillen ein, die geologisch
gelagert werden können. Der ursprüngliche Plan war, die Glaskokillen in gegen
Korrosion resistente Behälter einzupacken und in einen tiefen Salzstock einzubringen, vgl. [3]. Sie würden darin wie in einer zähen Flüssigkeit versinken
und wären vor jedem denkbaren Zugriff sicher. Nach etwa 1 000 Jahren wird
die Radioaktivität der nuklearen Asche wieder auf das Radioaktivitätsniveau
abgeklungen sein, auf dem sich der Kernbrennstoff ursprünglich befand.
16.5.2 Direkte Endlagerung
Seit dem 1. Juli 2005 sind Transporte abgebrannter Brennelemente aus deutschen Kraftwerken per Atomgesetz verboten. Als Entsorgungsweg verbleibt
den deutschen Kernkraftwerken nur noch die direkte Endlagerung, bei der
man auf die Rückgewinnung der in abgebrannten Brennelementen noch vorhandenen Wertstoffe verzichtet. Gleichgültig, ob wir die Kernenergie in Zukunft nutzen oder nicht, durch den Verzicht auf die Wiederaufbereitung konfrontiert uns und nachfolgende Generationen ein einzigartiges Problem:
• Verzichten wir auf die Wiederaufbereitung und damit die Abtrennung
des Plutoniums, muss das Gemisch von nuklearer Asche und Plutonium sicher gelagert werden. Damit verschärft sich die Frage nach einem
Endlager, denn Plutonium ist ein α–Strahler mit einer Halbwertzeit von
24 000 Jahren.
• Die Suche nach einem sicheren Endlager für nuklearen Abfall ist wegen
der langen Halbwertzeit des Plutoniums ungleich schwieriger, denn das
Endlager muss über geologische Zeiträume sicher sein. vgl. [16].
• In Deutschland werden die ausgebrannten Brennelemente noch bis ins
kommende Jahrhundert in Zwischenlagern verbleiben. Von Bundestag und
Bundesrat wurde 2014 eine Kommission Lagerung hochradioaktiver Abfallstoffe eingesetzt, die im April 2014 erstmals zusammentrat. Eine Entscheidung über das weitere Vorgehen ist nicht so bald zu erwarten.
Das Beunruhigende an den bisher entwickelten Konzepten ist nicht die technische Lösung der Endlagerung an sich, es ist vielmehr die Abwälzung des
Risikos auf künftige Generationen.
16.6 Kernkraftwerke – von der Euphorie zur Ablehnung
Das von dem amerikanischen Präsidenten Eisenhower 1953 vorgestellte Atom
for Peace–Programm hat im Nachkriegsdeutschland einen heute nicht mehr
vorstellbaren technischen und sozialen Fortschrittsoptimismus ausgelöst, für
436
16 Kernspaltung
den Ernst Bloch21 die Worte fand:
Wie die Kettenreaktionen auf der Sonne uns Wärme, Licht und Leben bringen,
so schafft die Atomenergie uns [.....] in der blauen Atmosphäre des Friedens
aus Wüste Fruchtland, aus Eis Frühling. Einige hundert Pfund Uranium oder
Thorium würden ausreichen, die Sahara und die Wüste Gobi verschwinden zu
lassen, Sibirien und Nordamerika, Grönland und die Antarktis zur Riviera zu
verwandeln [1].
Die Hoffnung auf eine fast unerschöpfliche, sichere und saubere Energiequelle wurde von fast allen Teilen der Bevölkerung geteilt und fand auch ihren
Niederschlag in den Programmen der politischen Parteien. Die SPD nahm auf
ihrem Münchner Parteitag 1956 einen Atomplan in ihr Programm auf, in dem
es u.a. hieß:
Atomenergie kann zu nie geahntem Wohlstand für alle Menschen führen,
Atomenergie kann zu einem Segen für Hunderte von Millionen Menschen werden, die noch im Schatten stehen.
In Deutschland entzündete sich der Widerstand gegen die Kernenergie in
den frühen 1970er Jahren an vergleichsweise geringfügigen Gefahren, die sich
z. B. in Obrigheim aus der Erwämung des Neckars durch die Abwärme des
Kraftwerks ergeben konnten und in Wyhl am Kaiserstuhl durch die befürchtete Verschattung der Weinberge infolge der Kühlturmschwaden des dort geplanten Kraftwerks. In Wyhl kam es 1975 zu einem Volksaufstand und zur
Besetzung des für das Kraftwerk abgesteckten Bauplatzes. Die beim Bauentscheid zugrunde gelegte Zunahme des Stromverbrauchs in der Region hatte
sich nach wenigen Jahren als völlig unrealistisch erwiesen, deshalb hat der
örtliche Energieversorger, die Badenwerk AG, die Bauabsicht 1983 schließlich
aufgegeben. Die etablierten politischen Parteien ließen sich zunächst nicht von
dem Bürgerprotest in Wyhl beeindrucken. Wyhl war das erste Zentrum der
Anti–Atomkraftbewegung und einer der Kristallisationsorte der Partei Die
Grünen.
Die damalige Bundesregierung, die seit 1969 von einer Koalition aus FDP
und SPD gestellt wurde, ließ sich von dem Protest nicht beeindrucken. Sie forcierte vielmehr den Ausbau der Kernenergie, bis 1985 sollten in Westdeutschland Atomkraftwerke mit einer Leistung von 50 000 MW in Betrieb sein, einschließlich schneller Brutreaktoren. Auch nach dem Three–Mile–Island Unfall
hielt die von Helmut Schmidt geführte Bundesregierung daran fest.
Im Herbst 1982 kam es zu einem Regierungswechsel, Helmut Kohl bildete
mit Unterstützung aus CDU/CSU und FDP seine erste Regierung, die aber
an der seit 1955 von SPD, CDU/CSU und FDP gestützten Ausrichtung der
Atompolitik festhielt. Nach dem schrecklichen Unfall in Tschernobyl hat Kohl
zwar die Kernenergie als eine Übergangstechnologie bezeichnet, sie aber gleichzeitig im Lichte der Klimaproblematik für unverzichtbar erklärt. Anders als
CDU/CSU und FDP nahm die nicht mehr an der Bundesregierung beteiligte
SPD als Reaktion auf den Unfall in Tschernobyl im August 1986 auf ihrem
21
Ernst Simon Bloch (1885 – 1977) deutscher Philosoph.
16.7 Resümee
437
Parteitag in Nürnberg den Ausstieg aus der Kernenergie in ihr Parteiprogramm auf und war damit auf der Linie der seit 1982 ebenfalls im Bundestag
vertretenen Partei Die Grünen.
In Folge der Katastrophe in Tschernobyl änderte sich die Situation dann
grundlegend. Im Unterschied zu Three–Mile–Island, wo das Schlimmste durch
technische Vorsorgemaßnahmen verhindert wurde, waren in Tschernobyl große
Mengen an radioaktiven Stoffen ausgetreten und in alle Welt zerstreut worden. Die bereits vorhandene Anti–Atomkraftbewegung erhielt dadurch einen
gewaltigen Auftrieb. Sie ergriff nun alle gesellschaftlichen Gruppierungen und
alle politischen Lager. Die in der Bundesrepublik im Bau befindlichen Anlagen
konnten zwar noch fertiggestellt werden. Aber zwei erst kurz in Betrieb befindliche Kernkraftwerke wurden abgeschaltet: der RWE Reaktor in Müllheim
Kärlich und der Hochtemperaturreaktor THTR–300 in Hamm, beide Reaktoren waren von BBC Mannheim errichtet worden. Wie zuvor schon für die AEG
war auch für BBC, deren Kraftwerksgeschäft später von Alstom übernommen
wurde, der Reaktorbau eher ein Abenteuer denn ein Geschäft gewesen.
Noch von der Regierung Kohl wurde 1990 die erste Verordnung zur Einspeisevergütung von mit erneuerbaren Energien erzeugtem Strom in die Netze
erlassen. Es sicherte den Einspeisern eine Mindestvergütung zu. Es war dies
der Vorläufer des Erneuerbaren Energien Gesetzes (EEG).
Nach der Bundestagswahl 1998 bildeten die SPD und Die Grünen die
neue Regierung unter Gerhard Schröder, die sich einen geordneten Ausstieg
aus der Nutzung der Kernenergie bis zum Ende der Legislaturperiode im Jahr
2002 zum Ziel gesetzt hatte. Eine Vereinbarung über die geordnete Beendigung
der Stromerzeugung aus Kernenergie wurde dann im Juni 2000 zwischen der
Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen geschlossen. Man
verständigte sich darauf, bis spätestens 2021 das letzte Kernkraftwerk abzuschalten
Zur Ablösung des Stromeinspeisungsgesetzes wurde im Jahr 2000 das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) beschlossen. Die wesentliche Neuerung gegenüber dem Einspeisungsgesetz war die Einführung des Vorrangprinzips für
Strom aus erneuerbaren Energien und die bundesweite Finanzierung der Kosten durch eine Umlage auf den Strompreis. Absicht des Gesetzes war, nicht
nur die Kernenergie, sondern auch die mit fossilen Brennstoffen betriebenen
Kraftwerke aus der Stromerzeugung zu verdrängen. Es war der erste Schritt
zur Energiewende in Deutschland“, vgl. 19.2.
”
16.7 Resümee
Mit der Entdeckung von Otto Hahn und Fritz Straßmann, dass sich Atomkerne des Urans bei der Bestrahlung mit Neutronen in zwei etwa gleichgroße Kerne aufspalten, wurde 1938 am damaligen Kaiser–Wilhelm–Institut für Chemie die Möglichkeit für die Anwendung der Kernspaltung zur Freisetzung
438
16 Kernspaltung
Stromerzeugung in TWh
Gesamterzeugung
Nuklearstrom
Abbildung 16.17.
Der Beitrag der Kernenergie zur weltweiten
Stromerzeungung stagniert seit 2005.
Der Anteil an der Gesamterzeugung liegt bei
ca. 10%, in Deutschland nimmt ihr Anteil
an der Stromerzeugung
seit der angeordneten
Energiwende kontinuierlich ab, er lag im
Jahr 2000 bei ca. 34,5%
und 2015 nur noch bei
15,6%
von Energie aufgezeigt. Aufbauend darauf hat Enrico Fermi 1942 in Chicago
mit dem Nachweis, dass Kernspaltungs–Kettenreaktionen möglich sind, die
Grundlagen für den Bau von Kernreaktoren gelegt. Die technische Entwicklung der Reaktoren zur Verwendung als Energiequelle für thermische Kraftwerke erfolgte dann in den 1950er Jahren im US amerikanischen Argonne
National Laboratory. Die dort entwickelten Ideen wurden von den damals im
Kraftwerksbau führenden Gesellschaften Westinghouse und General Elektric
in kommerziell nutzbare Anlagen umgesetzt.
Als die amerikanische Regierung erkannte, dass die USA kein Monopol auf
Kernwaffen mehr haben, hat der US–Präsident Eisenhower 1953 im Rahmen
seines Programms Atoms for Peace allen Ländern, die auf eigene Atomwaffen
verzichten, die Unterstützung bei der Entwicklung der Kernenergie zugesagt.
In Erwartung des Energieüberflusses in einem vor der Tür stehenden
Atomzeitalter wurden in der bundesdeutschen Öffentlichkeit Wohlstandsfantasien und in der Wirtschaft große Geschäftserwartungen geweckt. 1955 hatte
die Bundesrepublik die Souveränität erlangt und konnte sich als souveräner
Staat auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie betätigen. An
den Technischen Hochschulen und Universitäten wurden für die Kernenergie–
Forschung Lehrstühle eingerichtet und die Kernforschungszentren in Karlsruhe, Jülich und Hamburg gegründet.
In den 1960er Jahren gelang es in deutsch–amerikanischer Kooperation
den vier Gesellschaften AEG/General Electric und Siemens/Westinghouse,
die zuvor bereits die Pioniere bei der Entwicklung der mit fossilen Brennstoffen gefeuerten Wärmekraftwerken waren, wirtschaftlich einsetzbare Kernkraftwerke anzubieten und zu bauen. Mit dem Leichtwasserreaktor, der mit
angereichertem Uran betrieben wird, war den vier Firmen der Durchbruch
zum wirtschaftlich und sicher zu betreibenden Kernkraftwerk gelungen. Mit
den 600 MW Blöcken Würgassen und Stade sowie den 1200 MW Blöcken in
16.7 Resümee
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Biblis, den damals größten Anlagen ihrer Art, konnten sich dann AEG und
Siemens mit eigenen Konstruktionen als international anerkannte Anbieter
profilieren.
Die Auseinandersetzung um die Nutzung der Kernenergie eskalierte hierzulande in den 1980er Jahren beim Streit um die Wiederaufbereitungsanlage
in Wackersdorf und das Atommülllager in einem Salzstock bei Gorleben. Der
Baubeschluss für die Anlage Wackerdorf wurde schließlich 1989 aufgehoben
und der Salzstock Gorleben wird seither auf Eignung für die Einlagerung nuklearen Mülls untersucht. Auf dem Weg zur nuklearen Entsorgung ist bisher
allerdings noch kein Land der Erde an seinem Ziel angekommen.
Gleichgültig, ob wir als Einzelne die Nutzung der Kernenergie für die Zukunft bejahen oder ablehnen, wir kommen um eine Lösung der Aufgabe der
Endlagerung noch in unserer Lebenszeit nicht herum. Denn der verbrauchte Kernbrennstoff liegt vor und wir alle haben durch den Komfort, den wir
daraus gezogen haben, den Nutzen gehabt. Wir können diese Aufgabe nicht
einfach kommenden Generationen aufbürden.
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16 Kernspaltung
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