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Digitalisierung spaltet

2018, WZB-Mitteilungen

Qualifizierung ist eine zentrale Forderung in der Industrie­-4.0­-Debatte. Allerdings zeigt sich, dass gering qualifizierte Beschäftigtengruppen nur begrenzt an Weiter­bildungsmaßnahmen in Betrieben teilnehmen. Eine Fallstudie in einem deutschen Industriebetrieb zeigt, dass dies nicht mit fehlender individueller Motivation zum Lernen zusammen­hängt. Vielmehr führen eingeschliffene Praktiken und Budgetrestriktionen dazu, dass Geringqualifizierte von Vorgesetzten seltener für Weiterbil­dungsmaßnahmen ausgewählt wer­den. Nicht zuletzt aufgrund fehlender Weiterbildungsangebote erleben viele gering qualifizierte Beschäftigte die Einführung der neuen digitalen Technologien im Betrieb als Stress und Überforderung.

Digitalisierung spaltet Gering qualifi­ zierte Beschäftigte haben weniger Zu­ gang zu Weiterbildung Kathleen Warnhoff und Martin Krzywdzinski Summary: Even though investment in skills is a major demand in the debate about Industrie 4.0, low­skill employ­ ees seldom participate in training ac­ tivities in companies. The findings of a case study in a German manufactur­ ing company show that this is not re­ lated to low individual learning moti­ vation. The low participation in training activities is rather the result of limited training budgets and the decisions of the employees’ superiors who tend to select their „best“ subor­ dinates for further training. In a situ­ ation of unequal access of low­skilled employees to training activities, the introduction of new digital technolo­ gies in the workplace is often experi­ enced by this group as stress. Kurz gefasst: Qualifizierung ist eine zentrale Forderung in der Indust­ rie­4.0­Debatte. Allerdings zeigt sich, dass gering qualifizierte Beschäftig­ tengruppen nur begrenzt an Weiter­ bildungsmaßnahmen in Betrieben teilnehmen. Eine Fallstudie in einem deutschen Industriebetrieb zeigt, dass dies nicht mit fehlender individueller Motivation zum Lernen zusammen­ hängt. Vielmehr führen eingeschliffe­ ne Praktiken und Budgetrestriktionen dazu, dass Geringqualifizierte von Vorgesetzten seltener für Weiterbil­ dungsmaßnahmen ausgewählt wer­ den. Nicht zuletzt aufgrund fehlender Weiterbildungsangebote erleben viele gering qualifizierte Beschäftigte die Einführung der neuen digitalen Tech­ nologien im Betrieb als Stress und Überforderung. Unter Stichworten wie „Digitalisierung“ und „Industrie 4.0“ wird derzeit viel über die gesellschaftlichen Auswirkungen des technologischen Wandels disku­ tiert. In dieser Debatte spielt das Thema Qualifizierung eine zentrale Rolle, denn die Einführung von neuen Automatisierungskonzepten und flexiblen Robotern, sensorbasierten Assistenzsystemen oder auch neuen Ansätzen Big­Data­basier­ ter Prozessanalyse in den Betrieben verändert Qualifikationsanforderungen und droht Erfahrungswissen und Kompetenzen zu entwerten. Es entsteht neuer Bedarf an Investitionen in die Weiterbildung der Beschäftigten, aber auch an kontinuierlichem Lernen im Arbeitsprozess selbst. Festzuhalten ist, dass die Einführung von Industrie­4.0­Technologien nicht durchgängig zu einem Anstieg der Qualifikationsniveaus der Beschäftigten führt. Zu beobachten ist vielmehr eine gewisse Polarisierung der Belegschafts­ strukturen in den Betrieben: Qualifizierungsmaßnahmen konzentrieren sich oftmals auf bereits gut qualifizierte Beschäftigte, während vor allem Geringqua­ lifizierte seltener an Weiterbildung teilnehmen. Dabei sind besonders die gering qualifizierten Beschäftigten auf Qualifizierung angewiesen, weil die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten hoch standardisiert sind und dementsprechend mit je­ dem weiteren Technologieschub einem erhöhten Substitutionsrisiko ausgesetzt sind. Schwache Weiterbildungsaktivitäten gering qualifizierter Beschäftigter werden oftmals auf die fehlende Lernmotivation zurückgeführt. Dieser Beitrag untersucht anhand der Fallstudie eines deutschen Industriebe­ triebs die Mechanismen, die eine Einbindung gering qualifizierter Beschäftigter in betriebliche Weiterbildung erschweren. Zudem werden auch die Erfahrungen dieser Beschäftigtengruppe in Lernprozessen am Arbeitsplatz diskutiert. Wir zeigen, dass Probleme im Hinblick auf Lernen und Weiterbildung weniger auf fehlende individuelle Lernbereitschaft als vielmehr auf strukturelle Gründe zu­ rückzuführen sind. Im untersuchten Betrieb wird derzeit die Produktion in schnellen Schritten an die neuen technologischen Möglichkeiten angepasst. Das Management inves­ tiert in hoch automatisierte Produktionslinien und in den Einsatz von Robotern in bislang manuell geprägten Montagebereichen. Betriebliche Expertengruppen arbeiten daran, mehr und schneller Daten über die Produktionsprozesse zu ge­ winnen und auf dieser Grundlage die Produktion zu optimieren. Gleichzeitig verändert sich die Arbeitsorganisation. Führungskräfte stellen sogenannte Kompetenzteams mit Beschäftigten aus unterschiedlichen Bereichen zusam­ men, um einen übergreifenden Wissenstransfer zu ermöglichen. In solchen Pro­ jektteams testen die Beschäftigten – in der Regel Fachkräfte mit Ausbildung oder Studium – gemeinsam die Nutzbarkeit neuer Technologien oder erproben neue Wege, Störungen in den Produktionsprozessen zu vermeiden oder aufzu­ lösen. Die Führungskräfte des Betriebs haben hohe Erwartungen an die Eigeninitiative der Beschäftigten: Sie sollen sich selbst um die Aneignung neuer Wissensbe­ stände über neue Technologien und deren Funktionsweisen beziehungsweise um neue Kompetenzen in der Analyse von Daten bemühen. Die Führungskräfte erwarten, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein übergreifendes Verständ­ nis der verketteten Produktionsprozesse entwickeln und auch soziale Kompe­ 58 WZB Mitteilungen Heft 162 Dezember 2018 tenzen wie Teamfähigkeit zeigen. Neben herkömmlichen Schulungen und dem Umgang mit etablierten Lernmedien sollen die Beschäftigten ihre Kompetenzen zunehmend virtuell (z. B. in Online­Seminaren) erwerben, weshalb sich die Lernprozesse teilweise ins Private verschieben und außerhalb der Arbeitszeit stattfinden. Es wird viel unternommen, um die Beschäftigten in die Veränderungsprozesse einzubeziehen. Eine Vielzahl neuer Kommunikationskanäle (z. B. soziale Netz­ werke oder Chatbots) informiert die Beschäftigten über den aktuellen Stand der Veränderungen und bietet die Möglichkeit zur Diskussion. Zudem betont der Werkleiter beständig den Anspruch, „alle Beteiligten im komplexen Prozess der Veränderung mitzunehmen“. Offensichtlich legen die Verantwortlichen im Be­ trieb viel Wert darauf, dass der digitale Wandel gemeinsam gestaltet wird. In der ersten Phase der Einführung der neuen Technologien wurde mit diesen Aktivitäten viel Neugier und Lernbereitschaft erzeugt, auch unter gering qualifi­ zierten Beschäftigten. Bei dieser Beschäftigtengruppe handelt es sich um Perso­ nen, die einfachen und getakteten Tätigkeiten nachgehen. Typisch sind beispiels­ weise das manuelle Bedienen und Bestücken von Maschinen, aber auch (monotone) Überwachungsaufgaben. Für diese Tätigkeiten wird selten eine for­ male Qualifizierung benötigt. In den Interviews berichteten die Beschäftigten ihren Stolz über die neuen Roboter an ihren Arbeitsplätzen. Sie sahen die tech­ nologische Modernisierung ihrer Arbeitsplätze als einen Beweis des Vertrauens in ihre Fähigkeiten und äußerten ein großes Interesse an Qualifizierung. Den­ noch zeigte sich im Verlauf der Untersuchung, dass diese Gruppe nur begrenzt an Weiterbildungsprozessen teilnimmt. Dafür konnten wir mehrere Gründe finden, die nicht unbedingt auf die individuelle Lernmotivation zurückzuführen sind. Kathleen Warnhoff ist Teil des achtköpfigen Teams im Kolleg „Gute Arbeit“: Ansätze zur Gestaltung der Arbeitswelt von morgen am WZB. Sie promoviert zur Digitalisierung der Industriearbeit aus arbeitssoziolo­ gischer Perspektive. [Foto: Martina Sander] [email protected] Erstens werden sie von ihren direkten Vorgesetzten selten für Weiterbildungs­ maßnahmen oder für die neuen Kompetenzteams ausgesucht. Für die Auswahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für Qualifizierungsmaßnahmen gibt es keine klaren Regelungen, meist greifen Führungskräfte auf bereits gut qualifi­ zierte Beschäftigte zurück, die als Multiplikatoren für interne Lernprozesse fun­ gieren sollen. Diese Praxis der Führungskräfte geht darauf zurück, dass ihre begrenzten Budgets nur die Qualifizierung einzelner Beschäftigter erlauben. Das erzeugt bei den gering qualifizierten Beschäftigten allerdings das Gefühl, dass sie zu wenig anerkannt oder sogar ausgegrenzt werden. Zweitens können gering qualifizierte Beschäftigte viele Informations­ und Kommunikationsangebote kaum nutzen, weil sie im eng getakteten Schichtbe­ trieb arbeiten. Sie verfügen über wenig Spielräume oder freie Zeitfenster, die ihnen erlauben würden, sich eigenständig über Veränderungen zu informieren und so Interesse an Weiterbildung zu zeigen. Manchmal fehlt ihnen aber auch der Mut, die Informationen selbst einzufordern, weil sie noch an eine hierar­ chisch strukturierte Organisation gewöhnt sind. Deutlich wird, dass die fehlende Beteiligung gering qualifizierter Mitarbeiter an Weiterbildungs­ und Lernprozessen in erster Linie strukturelle Gründe im Be­ trieb hat – und nicht unbedingt an der mangelnden Motivation zum Lernen liegt. Die Arbeitsbedingungen im Betrieb können außerdem dazu führen, dass gering qualifizierte Beschäftigte Lernprozesse am Arbeitsplatz oft als Überforderung wahrnehmen. Diese Beschäftigtengruppe muss sich das erforderliche Wissen schnell und parallel zu ihren täglichen Aufgaben weitestgehend selbstständig aneignen. In einem Interview berichtet eine junge Beschäftigte aus der Ferti­ gung, wie sie die Lernprozesse bei der Arbeit mit kürzlich eingeführten Maschi­ nen wahrnimmt: „In der Nachtschicht war ich schnell auf mich allein gestellt. Das war für mich sehr stressig, man hat Angst was kaputt zu machen oder irgendetwas falsch zu machen. Erst nach sechs bis zwölf Monaten hat sich das für mich normalisiert, denn ich habe immer wieder alle Fehler aufgeschrieben, um daraus zu lernen. Das hat mich am Anfang viel Zeit gekostet, und im Alltag wird das nicht immer berücksichtigt. […] Und es gab keine Vorbereitung auf die neue Maschine. Alles Wissen wurde mitten in der Produktion vermittelt.“ WZB Mitteilungen Heft 162 Dezember 2018 59 Darüber hinaus nehmen die Beschäftigten auch den erhöhten Komplexitätsgrad neuer Automatisierungstechnologien als Überforderung und Stress wahr. Diese Befunde der Fallstudie stimmen daher mit Ergebnissen einer Sonderauswer­ tung des DGB­Index „Gute Arbeit“ überein, wonach die Einführung digitaler Technologien mit der Wahrnehmung einer Erhöhung des Arbeitspensums und einer überdurchschnittlichen Arbeitsintensivierung einhergeht. Die Beschäftigten selbst äußern Ideen, welche Maßnahmen helfen würden. Bei­ spielsweise könnten relevante Informationen von den Führungskräften besser vorstrukturiert oder Freiräume für einen bereichsübergreifenden Ideen­ und Erfahrungsaustausch geschaffen werden. Martin Krzywdzinski ist Leiter der Projektgruppe Globalisierung, Arbeit und Produktion am WZB und Principal Investigator im Weizenbaum­Institut für die vernetzte Gesellschaft. Er betreut den Bereich „Gute Arbeitsgestaltung in der digitalen Ökonomie“ im Pro­ motionskolleg „Gute Arbeit“. [Foto: David Ausserhofer] [email protected] Besonders betroffen von Lernstress sind ältere Beschäftigte. Sie äußern Ängste im Hinblick auf neu eingeführte Technologien, und sie sorgen sich um ihren Arbeitsplatz. Sie möchten sich qualifizieren, weil sie nicht zu den „Abgehängten“ gehören oder den „Anschluss verpassen“ wollen. Sie erleben eine Konkurrenz zwischen Jung und Alt, bei der sie fürchten, den Kürzeren zu ziehen. Das folgen­ de Zitat einer Führungskraft in der Fertigung illustriert diese Situation: „Schwierig ist es bei Kollegen, die circa zehn Jahre vor der Rente sind, die haben oft Angst, dass ihre Arbeit wegrationalisiert wird, oder sind unsicher, ob sie die Technik überhaupt verstehen, aber Ausnahmen gibt es auch. Auch Ältere interessieren sich für die Technik und wollen auch zum Ende noch was dazulernen, aber sie bekommen nicht die ausreichenden Möglichkeiten.“ Wie in vielen anderen Betrieben gibt es auch im untersuchten Fall keine spezi­ fischen Weiterbildungsstrategien für ältere Beschäftigte. Im Gegenteil: Ältere Beschäftigte werden seltener für Weiterbildungsmaßnahmen ausgewählt, weil sie nur noch eine begrenzte Zeit im Betrieb bleiben. Damit geht dem Betrieb aber auch die Möglichkeit verloren, langjähriges Erfahrungswissen weiterzu­ entwickeln. Gering qualifizierte Beschäftigte haben wenig bis kein Mitspracherecht im Be­ trieb und sind daher auf eine starke Interessenvertretung durch den Betriebsrat angewiesen. Das Engagement des Akteurs ist wichtig, um lernförderliche Ar­ beitsumgebungen zu schaffen. Literatur Wotschack, Philip: „Unter welchen Bedingungen bilden Betriebe an- und ungelernte Beschäftigte weiter?“ In: Zeitschrift für Soziologie, 2017, Jg. 46, H. 5, H. 362-380. DGB-Index Gute Arbeit: Report 2016 – Schwerpunkt: Die Digitalisierung der Arbeitswelt. 2016. Online: http://index-gute-arbeit.dgb.de/++ co++76276168-a0fb-11e6-8bb8525400e5a74a (Stand 01.10.2018). 60 WZB Mitteilungen Heft 162 Dezember 2018 Die Fallstudie verdeutlicht die Ungleichheiten, die in Digitalisierungsprozessen im Hinblick auf Weiterbildung und Lernmöglichkeiten in Betrieben derzeit zu beobachten sind. Sie zeigt, dass diese Ungleichheiten nicht notwendigerweise auf eine fehlende Lernbereitschaft gering qualifizierter Beschäftigter zurückzu­ führen sind, sondern auf strukturelle Bedingungen innerhalb der Betriebe. Da­ her ist es wichtig, darauf zu achten, dass alle Beschäftigtengruppen einen Zu­ gang zum neuen Wissen und zu Lernmöglichkeiten bekommen – und zwar unabhängig von Status, Alter oder Geschlecht. Benötigt werden konzeptionelle Ansätze, in denen gering qualifizierte Beschäftigte selbstbestimmt lernen kön­ nen, also ohne Frustration oder psychische Belastungen. Das Gelingen von Lern­ prozessen bei der Digitalisierung von Betrieben ist ohne die Verständigung auf Augenhöhe zwischen Beschäftigten und Führungskräften kaum möglich, denn unterschiedliche Interessen müssen in Einklang gebracht werden. Ein Schlüssel kann hier eine offene Kommunikationskultur sein. Überdies sind maßgeschneiderte Angebote für ältere Beschäftigte unabdingbar. Stehen die Bedürfnisse der jeweiligen Beschäftigten im Vordergrund, bietet das einen Schutz vor Frustration im kontinuierlichen Lernprozess – eine Erfahrung, die zur Ablehnung von Lernen führen kann. Setzen sich bisherige Tendenzen fort, dass besonders geringqualifizierte Beschäftigte ihre Lernprozesse als eine Arbeitsverdichtung erleben oder eine Benachteiligung beim Zugang zur Qualifi­ zierung erfahren, widerspricht das dem lernförderlichen Ansatz. Verringern sich sozialpolitische Anreize oder fehlen regulierende Rahmenbedingungen, be­ steht die Gefahr einer weiteren Polarisierung von Beschäftigungsstrukturen.