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Kapitel 2.2
1. Erörtern Sie die epochale Differenz zwischen den beiden Dichter-Konzepten poeta doctus
und Genie!
Der poeta doctus als die bestimmende Dichtervorstellung im Renaissance-Humanismus, im sogenannten
literarischen Barock und in Früh- und Hochaufklärung fordert vom Dichter einerseits Gelehrsamkeit (»der
gelehrte Dichter«). Der Dichter muss über Wissen verfügen: Natürlich gehören biblisches und
mythologisches, aber auch historisches, naturwissenschaftliches, geographisches, philosophisches und
moralisches Wissen dazu, aber auch Wissen um die Regeln zur Verfertigung poetischer Texte (die etwa in
der Poetik des Aristoteles, in Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey oder in Gottscheds Versuch einer
Critischen Dichtkunst vor die Deutschen niedergelegt sind). Dieses Wissen soll im dichterischen Text, je
nach Gattung breiter oder konzentrierter, vermittelt werden: Literatur soll belehren und erbauen, soll
Wissen übermitteln und zur Tugend erziehen im Sinne religiös-moralischer Überzeugungen – und soll nur
in zweiter Linie erfreuen.
Das Genie grenzt sich von dieser Dichtervorstellung scharf ab: Beim Genie geht es nicht mehr um die
Vermittlung von Wissen, um Belehrung und Erbauung, Literatur ist autonom geworden von diesen
äußeren Zwecken. Ebenso versteht der Dichter sich als autonom von den Regeln der Poetik: Er schöpft
sowohl die Regeln für sein Kunstwerk als auch die Welt, die er erschafft, im emphatischen Sinne aus sich
selbst.
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Benedikt Jeßing/Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 4., akt. u. überarb. Auflage |
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2. Was versteht man unter Schwulstkritik? Von wem ging sie aus, gegen wen richtete sie sich?
Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen ist durch die Abwehr
›barocker‹ Schreibweisen und stilistischer Momente gekennzeichnet. Gottsched fasst den stark
ornamentalen Stil der Dramen z.B. Daniel Casper von Lohensteins oder der lyrischen Texte Christian
Hofmann von Hofmannswaldaus als ›schwülstig‹ auf: Ornamentale Redeweisen, bloßer rhetorischer
Schmuck (Schwulst, Tumor-Stil) verstelle oder verunklare den eigentlichen Aussagegehalt dichterischer
Rede, im Geiste vernünftiger Rede müsse auf diesen Schwulst verzichtet werden!
3. Erörtern Sie die epochale Leistung von Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey!
Die große Leistung von Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey ist der Anschluss der deutschen
Literatursprache an die europäische Renaissance: Die Entwicklung volkssprachlicher
Umsetzungsmöglichkeit antiker metrischer und formaler Vorgaben war in Italien und Frankreich
spätestens im 16. Jahrhundert erfolgt, Opitz entwickelte im Hinblick auf die Metrik eine ›Übersetzung‹
des quantitierenden metrischen Systems der antiken Sprachen Griechisch und Latein (Längen und Kürzen
konstituierten die metrischen Einheiten im Vers) auf die akzentuierende deutsche Sprache. Die Länge im
antiken Metrum wird mit einer akzentuierten, betonten Silbe (Hebung), die Kürze mit einer nicht-betonten
Silbe (Senkung) besetzt. So ließ sich – nach nicht erfolgreichen oder nicht durchsetzungsfähigen
Versuchen im 16. Jahrhundert (etwa bei Paul Rebhun: Susanna, 1535) – endlich die antike Formensprache
in der deutschen Literatursprache abbilden. – Darüber hinaus liefert Opitz im Buch von der Deutschen
Poeterey für viele kleine literarische Gattungen (Sonett, Ode, Elegie u.a.) Musterübersetzungen aus dem
Französischen, Italienischen oder Lateinischen, an denen ihm nachfolgende Dichter sich orientieren
konnten.
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8. Erarbeiten Sie, in welchem Maße die Literatur zwischen 1500 und 1770 heteronom war!
Die Literatur zwischen 1500 und 1770 war durchgängig an die Literatur der Antike angelehnt, adaptierte
diese oder ahmte sie nach. Während Renaissance und Humanismus (zwischen Reformation und
Dreißigjährigem Krieg) orientierte man sich an der Antike, ahmte die antike Architektur, Skulptur und
Literatur nach und pflegte die antiken Sprachen und Kulturen. Zu den literarischen Produktionen gehörten
die Bibelübersetzung und die neulateinische Gelehrtenliteratur. Der poeta doctus war die bestimmende
Dichtervorstellung, welche Gelehrsamkeit vom Dichter forderte und Regeln zur Verfertigung poetischer
Texte vorsah. Auch die Intentionen von dichterischen Texten waren vorgängig festgelegt (siehe Aufgabe
1). Fremdbestimmt war die Literatur hier also in dem Sinne, dass sie sich selbst Regeln auferlegte, die sie
der antiken Literatur entlehnte.
Auch während des Dreißigjährigen Krieges (Barock, 17. Jahrhundert) setzte sich der poeta doctus
als bestimmende Dichtervorstellung durch. Opitz übertrug mit seiner Regelpoetik den Klassizismus der
neulateinischen Literatur auf die deutschsprachige Literatur und entwickelte eine Art Übersetzung des
metrischen Systems der antiken Sprachen Griechisch und Latein auf die akzentuierende deutsche Sprache
(siehe Aufgabe 3). Die gesamte literarische Produktion des Barock orientierte sich auch hier an den
Mustern der antiken Literatur und ist in diesem Sinne weitgehend fremdbestimmt.
Fortgesetzt wird dies während der Aufklärung (18. Jahrhundert) unter anderem durch Gottsched, der
sich ebenfalls an dem poeta doctus orientierte und in dem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die
Deutschen das Stilideal der Reinheit und Transparenz der Antike propagierte. Er wird der Strömung des
›Rationalismus‹ zugeordnet, die ebenfalls als fremdbestimmt durch ihre Orientierung an die Antike und
durch ihre Voraussetzung des poeta doctus anzusehen ist. Diese (selbstgewählte) Fremdbestimmung löste
sich etwa 1770 mit dem Aufkommen der Strömungen ›Empfindsamkeit‹ und ›Sturm und Drang‹ auf. Die
Dichtervorstellungen Genie (künstlerische Originalität, gottgleiche Kreativität) und autonomes
Künstlerobjekt (Schöpfung von Regeln aus sich selbst heraus) ersetzen den poeta doctus. Die Literatur
wird autonom von äußeren Zwecken, und der Dichter wird autonom von den Regeln der Poetik (siehe
Aufgabe 1).
Gegen die eindeutige Vorbildfunktion, die der Antike zugewiesen wurde, setze die Literatur von
Sturm und Drang und Empfindsamkeit neue Vorbilder und Stoffe: Gegenstände der deutschen
Geschichte oder der eigenen Gegenwart wurden die Themen von Roman und Drama. Auch der
darauffolgende (modernisierte) Klassizismus ist nicht als heteronom zu bewerten, obwohl dieser die
Antike wieder als vorbildlich und mustergültig auffasst. Die Literatur des (modernisierten) Klassizismus
greift zwar die Literatur der Antike gemäß den zeitgenössischen, aktuellen Bedingungen produktiv auf,
ahmt diese aber nicht sklavisch nach. Auch die Programmatik der Autonomieästhetik (siehe Aufgabe 4)
spricht dafür, dass die Fremdbestimmung der Literatur nach 1770 nicht fortgesetzt, sondern Literatur als
autonom aufgefasst wird.
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Kapitel 2.3
1. Welche Antworten hatte die deutschsprachige Literatur auf die Ereignisse der
Französischen Revolution?
Die folgenreichste Reaktion war die von Goethe und Schiller (aber auch anderen Autoren in ihrem
Umfeld), entgegen der vorherrschenden Tagespolitik der Französischen Revolution mit ihren negativen
Begleiterscheinungen auf eine ›sanfte‹ Evolution des Individuums und der Gesellschaft durch Kunst zu
setzen. Im Vordergrund stand dabei die Ausbildung des ›ganzen Menschen‹, die Kultivierung der
Einbildungskraft und des Verstandes (all dies vermittelt durch ein ansonsten autonom stehendes
Kunstwerk). Es gab aber auch politisch engagierte Reaktionen im Sinne der Revolution bzw.
Parteinahmen für die Jakobiner (Schubart, Forster). Eine Zwischenposition nahmen etwa Hölderlin
(Versöhnung von individuellem Anspruch und überindividuellem Geschehen in Themengestaltung von
Natur, Geist, Gott, Gesellschaft) oder Jean Paul ein, der im Napoleonischen Gesetzeswerk des Code Civil
eine Chance sah, elementare humane Rechte zu sichern und Bildungsideen im Blick auf eine ganzheitliche
Persönlichkeit politisch umzusetzen. Damit sind auch grundsätzlich zwei Optionen für das Literatursystem
benannt – als Orientierung auf das Kunstsystem selbst (Selbstreflexion und Autonomie) oder auf die
Umwelt (Politik, Soziales, aber auch andere Wissensgebiete wie Medizin, Jurisprudenz, Ökonomie,
Psychologie etc.).
2. Benennen und erläutern Sie die Leitbegriffe, die die Romantik für die moderne Ästhetik
gegeben hat!
Einbildungskraft bzw. nicht selten übersteigerte Subjektivität der Wahrnehmung, die zunehmend gegen
die äußere Welt und damit auch gegen Mimesis-Konzepte gestellt wird.
Autonomie: »Poesie ist Poesie« behauptet Novalis mit einer tautologischen Formel, um damit
Dichtung (und allgemein Kunst) gegen Ansprüche anderer Systeme abzugrenzen: Kunst soll sich selbst
die Gesetze geben und diese nicht durch andere Wertsphären beziehen (Moral, Pädagogik, Ökonomie,
Wissenschaften etc.).
Selbstreferenz: In je verschiedener Weise sind Kunstwerke in der Lage, über sich selbst bzw. ihre
Entstehung zu reflektieren und ihre Konstruktion offenzulegen. Dies kann programmatisch durch
Künstleräußerungen, aber auch durch auffällige Formenverwendung im Kunstwerk selbst geschehen.
Progressive Universalpoesie: Insbesondere Friedrich Schlegel strebt eine Mischung von kunst- und
naturinspirierten Prosaformen an, die dann zusammenwirken und aus Poesie, Prosa, Philosophie oder
Rhetorik Mischformen bilden sollen. Beteiligt ist an diesem Kunstwerk im Prozess nicht nur der Autor,
sondern im sympraktischen Verhältnis zu ihm auch der Leser, der nicht nur passiv rezipieren, sondern auf
konstruktive Weise lesen und idealerweise das Kunstwerk weiterschreiben soll.
Fragment: Ganzheiten werden bezweifelt, die romantische Moderne ist von der Brüchigkeit des
Daseins und auch der Kunstformen überzeugt. Die Verbindung von Teil und Ganzem scheint nicht mehr
gegeben, das Einzelne scheint vom Allgemeinen getrennt. Nicht das abgeschlossene Werk, sondern das
ständige Fortschreiben wird zum Ziel, wodurch eine Reihe offener Formen (Aphorismen, Essays oder im
Roman) oder gemischter Gattungen hervorgebracht werden, die als Gegenpol zur klassizistischen
Ganzheit verstanden werden. Diese Haltung wird begleitet von der romantischen Ironie, die
selbstbezweifelnd, aber humorvoll eigene Tendenzen zur Ganzheitsbildung auflöst.
Gesamtkunstwerk: Lebensweisen können selbst zum Kunstwerk erklärt werden, auch alternative
Lebensformen (Ehe zu viert). Die Rolle der Frau wird entscheidend aufgewertet.
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4. In welchen Punkten unterscheidet sich der poetische Realismus von der Fotografie?
Von einer deutlichen Medienkonkurrenz motiviert, lautete der Vorwurf der poetischen Realisten gegen die
Fotografen, diese würden nur oberflächlich das Sichtbare der Dinge kopieren, ohne an deren Wesentliches
oder Inneres zu rühren. Fotografie sei wahllos, zufällig (kontingent) und gehe ohne jede ästhetische
Motivation vor. Sie könne keinen Zusammenhang stiften, isoliere die Dinge und lasse sie zum Stillleben
erstarren, Literatur hingegen könne diese lebendig ausgestalten und überformen. Das Mimesis-
Verständnis der Literatur wird hier gerade nicht fotografisch, sondern konstruktiv-überformend
verstanden.
5. In welcher Strömung wird ausdrücklich die soziale Umwelt zum Thema – und welches sind
die Grundsätze, unter denen man sie darstellen will?
Die politische Welt in einem allgemeineren Sinn wird bereits im Jungen Deutschland thematisiert, mit
deutlichen Wendungen ins Sozialpolitische besonders bei Georg Büchner. Dieser wird in den 1880er
Jahren wiederum zum Vorbild für die Naturalisten, bei denen die soziale Frage in den Mittelpunkt gerät.
Deren Konzept lässt sich wie folgt beschreiben:
• vorherrschend ist ein wissenschaftlich-empirisches Selbstverständnis mit Aufzeichnung von ›Fakten‹,
die auf ihre Gesetzmäßigkeit hin untersucht werden;
• die Determination des Individuums durch das Milieu soll gezeigt werden;
• gesucht wird die Nähe zur fotografischen (auch phonographischen) Detailaufzeichnung, um Groß-
stadtrealitäten ungeschminkt und möglichst getreu darzustellen (Arno Holz: »Kunst = Natur – x«);
• Sprachregister werden erweitert durch Soziolekt, Dialekt, Fachsprache, Imitation der situationellen
gesprochenen Sprache oder spontane Rede.
6. Gibt es einen Zusammenhang der Lebensbedingungen um 1900 und der teilweise radikalen
Wendung der Literatur auf sich selbst (Ästhetizismus, Symbolismus)?
Die zweite Phase der Industrialisierung ist abgeschlossen (Landflucht, starkes Wachstum der Großstädte);
technische Erfindungen (Phonograph, Telefon, Fotografie, Kino, Röntgenstrahlung) prägen das
Alltagsleben, das auch durch Verkehrsmittel zunehmend beschleunigt wird. Der Soziologe Georg Simmel
hat dies zusammengefasst mit der Wendung von der »Steigerung des Nervenlebens«, womit er eine
großstädtische Lebensbedingung beschreibt, mit Chancen (Anregungen für die künstlerische
Wahrnehmung) und Risiken (Versachlichung der Verhältnisse, Fremdsein, Ich-Dissoziation), die auch
durch den Geldverkehr der Städte und neue Beschäftigungsverhältnisse aufgebracht werden. Der Druck
dieser Lebensverhältnisse hat in den Künsten auf verschiedene Weise einen antimimetischen Impuls
bewirkt: Einige Autoren ziehen die Sprache ganz aus dem Wirklichkeitsbezug ab und richten sie auf sich
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selbst, sie experimentieren mit Sprachzeichen, die aus ihren gewohnten Zusammenhängen gerissen und in
neue Kontexte überführt werden. Die Sprachskepsis, die einige Autoren kultivieren, wird dann zur Suche
nach einer neuen Sprache, aus der Kunstwelt heraus sollen neue Perspektiven auf die Wirklichkeit
gegeben werden.
7. Arbeiten Sie an wichtigen Gedichten des Expressionismus (Gottfried Benn: Kleine Aster,
Georg Heym: Gott der Stadt, Ernst Stadler: Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht)
Stilmittel heraus, mit denen Autoren das moderne Leben darstellen!
• Benn: ›Sektionslyrik‹ – Sektion menschlicher Organe als Thema, aber auch Schnitt durch die
Zeilen und Bilder, Umwertung aller Werte, Verdinglichung des toten Menschen,
Personifikation von Dingen (Aster), Ästhetik des Hässlichen.
• Heym: Mythologeme (Baal, Korybanten/Priester) versinnbildlichen die Dynamik des
Stadtlebens; die regelmäßige Form des Gedichts (fünfhebige Jamben in vierzeiligen Strophen)
steht komplementär zum chaotischen Inhalt.
• Stadler: Reihungsstil, Wahrnehmungsprotokoll der Assoziationen und Einzelbilder, die
übersteigert werden, ebenso der neue Gebrauch von Satzzeichen: Ausrufezeichen, auch
Auslassungspunkte werden gestuell aufgeladen, haben weniger grammatische Aufgaben.
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Kapitel 2.4
1. Was bedeutet Robert Musils Begriff des ›Möglichkeitssinns‹, auch mit Blick
auf die Postmoderne? Anhaltspunkte finden Sie in Kapitel 4 und 5 von Musils
Mann ohne Eigenschaften.
Es geht um die Wahlfreiheit der Perspektiven, durch die hindurch man die Welt wahrnimmt, die die
eigene Weltsicht ausmachen und die nicht durch objektive Maßstäbe vorgegeben, sondern durch die
subjektive Ansicht gewonnen sind. Wenn bereits Musils Törleß äußert, man könne die Dinge bald von
dieser, bald von jener Seite ansehen, so wird im Mann ohne Eigenschaften vollends die Relativität der
Wahrnehmung deutlich gemacht, woraus dann auch Lebensstile (hier verbildlicht in den verschiedenen
Architekturstilen) gewonnen werden können. Die Hauptfigur des Romans, Ulrich, ist entsprechend ein
äußerst vielseitiger, nicht festgelegter Charakter – geradezu prototypisch für die postmoderne Forderung
nach Anerkennung von Pluralität oder ›anything goes‹. Damit werden Vorstellungen von abgeschlossenen
Weltbildern wie auch einer abgeschlossenen personalen Identität verabschiedet: Zielgerichtete, große
Entwürfe empfindet man als Totalitäten, die Gewalt produzieren; dagegen wird eine multiple, stets im
Prozess befindliche, offene Identität gefordert.
2. Können Sie Textbelege für den etwas anzweifelbaren Befund einer ›Stunde Null‹
bzw. eines ›Kahlschlags‹ in der Literatur finden?
Günter Eichs Gedicht Inventur (1945), Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür (1947) und
Wolfgang Weyrauchs Prosaanthologie Tausend Gramm (1949) sind wohl die bekanntesten Belege aus den
drei Gattungen; in letzterem findet sich der Begriff des ›Kahlschlags‹, vgl. auch Heinrich Bölls Bekenntnis
zur Trümmerliteratur (1947). Hans Werner Richter äußerte programmatisch in der Zeitschrift Der Ruf (Jg.
1): »Das Kennzeichen unserer Zeit ist die Ruine […] Die Ruine lebt in uns wie wir in ihr […] Um diesen
Menschen zu erfassen, bedarf es neuer Methoden der Gestaltung, neuer Stilmittel, ja einer neuen
Literatur.« Skepsis hegt aber bereits Urs Widmer in seiner Studie 1945 oder die neue Sprache von 1966,
in der er zeigt, dass die ›neue Sprache‹ ein Mythos gewesen ist und die Sprachverstrickung tiefer reichte,
als die Autor/innen es wahrhaben wollten.
4. Gibt es ästhetische Techniken, die sich vom Dadaismus bis zu Gegenwartskunst und
digitalem sampling durchziehen?
Der Schnitt, das Zerlegen von Ganzheiten in Teile oder Elemente sowie deren Neuzusammensetzung bzw.
Montage (gelegentlich auch Dekomposition und Rekomposition genannt) sind basale ästhetische
Strategien, die sich bis in die Musikkultur der Gegenwart durchziehen. Vorbildlich sind dafür Erik Saties
musikalische Bausteintechnik und die Zerlegung der sichtbaren Dinge durch die Malerei des Kubismus
ebenso wie die Verwendung von Wortsplittern und Fertigteilen durch die Dadaisten. Wichtig ist dabei
auch, dass es sich um vorgefundene, also bereits existierende Teile handelt (im größeren Maßstab ready-
made, objèt trouvé), die dann durch Zusammenfügung eine neue Qualität bekommen (sollen).
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5. Wie beurteilen Sie Adornos strenges Diktum, dass nach Auschwitz keine (schöne) Lyrik
mehr möglich sei? Diskutieren Sie dies am Beispiel von Paul Celans Todesfuge!
Adornos zunächst in Kulturkritik und Gesellschaft (1951, GS 10/1, S. 11-30) geäußertes strenges Diktum,
dass nach Auschwitz keine Lyrik mehr möglich sei, ist gegen alle Kunst gerichtet, die Schönheit oder
Harmonie illusioniert und leichthin konsumierbar ist. Nur radikale, ins Rätsel getriebene Kunst biete eine
Möglichkeit, autonom zu bleiben – Kunstwerke sollen nicht durch Interpretationen vereinnahmt und
entschärft werden, sondern ihre Autonomie bewahren (Ästhetische Theorie, 1970). Auch wenn Adorno
seine Festlegung später etwas variiert hat, bleibt im Kern die These: Hermetische Texte seien besser als
engagierte Texte dazu geeignet, ein Gedächtnis der Katastrophen zu bilden, wofür unter anderem Becketts
Dramen oder Celans Lyrik angeführt werden. Die Todesfuge ist zwar weithin verständlich gefasst,
erschöpfend zu deuten sind die Bilder aber nicht: Sie geben literarische und biblische Anspielungen,
eröffnen einen weiten Verweishorizont und halten den Blick zugleich immer auf die konkreten Vorgänge
– Abstraktion und Konkretion wirken hier zusammen. In der eingängigen, dem Gesang nahen Fugenform
wird ein eklatanter Kontrast zum Inhalt des historischen Geschehens deutlich. Damit wird die Katastrophe
eingängig vermittelt.
Grundsätzlich bleibt die Frage, wie dann eine einfacher verstehbare Kunst (auch populäre, farbenfrohe
oder heitere Kunst) einzuschätzen ist und ob sie nicht gerade aufgrund ihrer Verstehbarkeit auch wichtige
Funktionen übernehmen kann. Man sollte ihr nicht generell die Fähigkeit absprechen, dass sie zur
Aufklärung beitragen kann, wenn sie engagiert Position bezieht und obendrein vielleicht unterhaltend ist.
gerichtet, doch baut er einen starken Kontrast auf zum eigenen modernen Lebensgefühl, das mit diesen
Werten nicht mehr unbedingt vereinbar ist. Zugleich wird beim Zelebrieren der Rezitation ein Lautgenuss
möglich, der für sich selbst Gültigkeit hat.
7. Die meisten ›Wende-Romane‹ sind zwar dickleibig. Dennoch: Versuchen Sie, eine
Zeitungsrezension zu Thomas Brussigs Wie es leuchtet oder Ingo Schulzes Neue Leben
zu verfassen!
Um die journalistischen ›W‹-Fragen zu präzisieren (wer, was, wo, wann, wie, warum), sollten Sie auf
folgende Aspekte achten, die nicht katalogartig abzuarbeiten sind, sondern je nach Adressat bzw.
Publikationsort berücksichtigt werden sollten:
• Datenvor- oder-abspann: Autor, Titel, Erscheinungsjahr, Verlag, Preis, ggf. Zielgruppe;
• Inhaltsaspekte: Figurenkonstellationen, Handlungsübersicht (Skizze), Problemschwerpunkte, ggf.
Einzelstellenkommentare – aber nicht als Nacherzählung;
• Darstellungsformen: Erläuterung zu den benutzten Darstellungsmitteln (Perspektive, Raum-
Zeitgestaltung etc.), Stilistika, Syntax, Auffälligkeiten der Gestaltung oder der medienspezifischen
Formen; ggf. Einzelbeispiel;
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• Einbau in Zusammenhänge: Stellung im Gesamtwerk des Autors, evtl. Hinweise auf dessen
Leben/Rolle im literarischen Leben, Zusammenhänge mit der Entstehungsepoche oder Stilrichtung,
evtl. motivische, stilistische oder problemorientierte Bezugnahmen auf Traditionen;
• Selbstaussagen, Poetologisches (mit dem Text vergleichen);
• Kritik: eigene Wertungen sind möglich (aber mit Wertungsmaßstäben), Hinweise auf aktuelle
Diskussionen um das Werk; abschließende Empfehlung (oder negative Ablehnung).
8. Arbeiten Sie an wenigen aus dem Internet gewählten Beispielen Stilmerkmale der weblogs
bzw. des Tagebuchschreibens heraus!
Die Schreibhaltungen und Stilistika sind höchst heterogen: Sie reichen von der trivialen Alltagsnotiz, die
den elektronischen Schreibweg nur zur (potenziellen) Weiterverbreitung nutzt und ansonsten wenig
formale Raffinessen bietet, über solche Texte, die sich formal selbst reflektieren und auch Experimente
wagen (Darstellungen in Listenform, Syntaxauflösung, Essaypassagen, vgl. Rainald Goetz: Abfall für alle,
1998/99) bis hin zu gewünschter Interaktivität (Leser kommunizieren mit Autoren) sowie die Möglichkeit,
akustische und Bilddateien anzufügen. Bei einer hohen Zahl von weblogs dominiert die Annäherung an
die gesprochene Sprache bzw. an schnörkellose, direkte Alltagssprache mit Tendenz zu Kurzsätzen.
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Kapitel 3.2
1. Erörtern Sie knapp die Problematik und die Funktionen literarischer Gattungsbegriffe!
Wie den Epochenbegriffen wohnt auch den Gattungsbegriffen eine Ordnungsfunktion inne: Sie bilden
innerhalb der umfänglich vorhandenen Textmenge Textgruppen nach formalen Kriterien.
In einem weiten Sinn ergeben sich dadurch die großen Textgruppen Lyrik, Drama und Epik
(erzählende Prosa); der Gattungsbegriff stellt somit einen Sammelbegriff dar. Werden innerhalb dieser
drei großen Textgruppen weitere Untergruppen nach formalen Kriterien gebildet, spricht man von einem
engeren Gattungsbegriff; die hierbei entstehenden Untergruppen (in der erzählenden Prosa z.B. Roman,
Novelle, Komödie u.a.) lassen sich mit dem Begriff des Genre beschreiben. Der enge Gattungsbegriff
bezeichnet schließlich die Unterteilung eines Genres in weitere Untergruppen; diese werden entweder
nach formalen oder historischen Merkmalen unterschieden (z.B. barockes oder bürgerliches Trauerspiel).
Die aus den Gattungsbegriffen resultierenden Kriterien, die mit den verschiedenen Genres und
Untergruppen einzelner Gattungen verbunden sind, machen den normativen Sinn des Gattungsbegriffs
insofern deutlich, als er letztlich alle formalen und inhaltlichen Bestimmungen darstellt, an die sich der
Autor bei der Verfertigung eines Textes zu halten habe. Darüber hinaus können Gattungsbegriffe zuletzt
auch die Funktion der Rezeptionslenkung erfüllen, da sie den spezifischen Erwartungshorizont des
Rezipienten bedingen und damit die Rezeption beeinflussen können.
Da es sich bei den Gattungsbegriffen jedoch immer um wissenschaftliche Konstruktionen handelt, sind sie
in gewisser Weise problematisch, denn sie sind Abstraktionen, die vom einzelnen Text her gesehen immer
nur Näherungen sein können. Geht man aber von einzelnen Texten aus und erarbeitet gemeinsame
Merkmale, lässt sich ein deskriptiver Gattungsbegriff gewinnen.
2. Suchen Sie in einer historisch-kritischen oder Studienausgabe der Werke Goethes die erste
und die zweite Fassung des Gedichts Willkomm und Abschied heraus und erarbeiten die dort
beobachtbaren Gestaltungsmerkmale lyrischer Rede!
Die erste Fassung des Gedichts (Es schlug mein Herz, 1771) ist in seiner Ausdrucksqualität durch die
Innerlichkeit der Empfindung des lyrischen Ich geprägt. Die erste Hälfte des Gedichts (Strophe 1 und 2)
ist durch Dynamik und Leidenschaftlichkeit bestimmt: Das lyrische Ich ist auf dem Hinweg zu seiner
Geliebten und dabei allein auf sich bezogen; intensive Bilder der leidenschaftlichen Bewegung, die
anthropomorphe Darstellung der Natur, der Spondeus im zweiten Vers sowie Auflösungsmetaphern
(»Mein ganzes Herz zerfloß in Glut«) erzeugen einen dynamischen wie unmittelbaren Eindruck. Allein
das präteritale Tempus kontrastiert den Eindruck der Unmittelbarkeit, wodurch des Gestus des Gedichts
zu einem reflexiven wird.
Die beschriebene Dynamik wird in der zweiten Hälfte (Strophe 3 und 4) aufgehoben: Die Natur wird
nicht mehr anthropomorph beschrieben, vielmehr ist es der Mensch, der mit der Natur beschrieben wird,
wodurch eine unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Natur hergestellt wird. Hatten in der ersten
Hälfte noch der Selbstbezug des lyrischen Ich und der Hinweg im Vordergrund gestanden, sind es nun der
Bezug auf die Liebe bzw. die geliebte Person, da Dasein und der Abschied.
In der zweiten Fassung (Willkomm und Abschied, 1789) liegt eine Modifizierung der in der ersten
Fassung vorherrschenden Ausdrucksqualität insofern vor, als hier der leidenschaftliche und dynamische
Gehalt der lyrischen Rede in wesentlich reduzierterer Form vorliegt. In der ersten Gedichthälfte sorgen
zum Teil nur kleine Umformulierungen dafür, dass die extreme Leidenschaftlichkeit und Dynamik bzw.
Hektik enorm gemildert werden: Der den Vers beschleunigende Spondeus im zweiten Vers wird zu einem
regelmäßigen Jambus, die anthropomorphen Naturdarstellungen werden entschärft und
Auflösungsmetaphern werden gänzlich vermieden.
Auch in der zweiten Gedichthälfte lassen sich markante Änderungen feststellen. Mussten in der ersten
Fassung noch Worte gleichsam neu erfunden werden, um die sehnsuchtsvoll-leidenschaftlichen
Empfindungen ausdrücken zu können, wird hier auf derartige Neologismen verzichtet. Die Inversionen
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erzeugen darüber hinaus eine neue Wichtigkeit, die weibliche Geliebte des lyrischen Ich steht dadurch
mehr im Vordergrund als in der ersten Fassung.
4. Grenzen Sie das Konzept einer »Erlebnislyrik« von den Konzepten des Symbolismus
und der poésie pure ab!
Die in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene Konzeption der Erlebnislyrik versteht das Gedicht als
unmittelbaren Gefühlsausdruck eines Subjekts. Dementsprechend steht im Zentrum der Erlebnislyrik der
Eigenwert von Innerlichkeit und Empfindsamkeit. Problematisch an dieser Konzeption ist jedoch, dass das
Ich des Gedichts hier mit dem historisch-biographischen Ich des Dichters gleichgesetzt wird.
Im Symbolismus, einer von Frankreich ausgehenden Strömung, verzichtet Lyrik auf die
Wirklichkeitswiedergabe. Durch die Einführung des Begriffs des lyrischen Ich zu Beginn des 20.
Jahrhunderts wird die Differenz markiert, die zwischen dem Ich im Gedicht und dem Autor-Ich besteht:
Das lyrische Ich ist nicht länger identifizierbar mit dem Autor-Ich, wie es noch bei der Erlebnislyrik
gewesen ist, sondern es wird vielmehr als Rollenspiel des Autors entlarvt. Somit handelt es sich bei den
geschilderten Erlebnissen auch nicht um ›echte‹ Erlebnisse, sondern um eine Inszenierung oder gar
Fiktion. Daraus ergibt sich schließlich, dass nicht länger das Erlebnis Gegenstand der Interpretation ist,
sondern vielmehr die Mittel der Inszenierung.
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Hat es schon im Symbolismus Tendenzen dazu gegeben, das Ich ganz aus dem Gedicht
herauszudefinieren, wird dies in der poésie pure, der absoluten Poesie, radikalisiert. Hier stehen die
Wörter selbst im Zentrum, beziehen sich also in einem autonomen Sinne nur noch auf sich selbst.
Problematisch hieran ist jedoch, dass die poetische Rede nicht mehr als Aussage ›über etwas‹ erkannt
werden kann – man kann einzig Vermutungen anstellen oder Bilder beschreiben, doch die Bedeutung
dessen bleibt letztlich unklar, weshalb die Interpretation nicht verbindlich sein kann.
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Ahn’ ich die Wege noch nicht, durch die ich immer und immer,
Zu ihr und von ihr zu gehn, opfre die köstliche Zeit?
´˘ ˘´˘ ˘´˘´˘´˘ ˘´˘
´ ˘ ˘ ´ ˘ ˘ ´ |´ ˘ ˘ ´ ˘ ˘ ´
Hexameter + Pentameter = Elegisches Distichon
1. Strophe
Vers 1 und 2: ˘´˘´˘´ ˘´ vierhebige Jamben
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Kapitel 3.3
1. Welche Bedeutungswandlungen hat der Katharsis-Begriff von Aristoteles über Lessing
bis Brecht durchlaufen?
Die medizinischen Ebenen des Katharsis-Begriffs stehen bei Aristoteles im Zusammenhang mit der
antiken Säftelehre, wonach deren ausgeglichenes Verhältnis ein gesundheitlich-harmonisches Befinden,
ein Ungleichgewicht hingegen einen krankhaften Zustand bedeutet. Das Theater soll diesen Ausgleich
erzielen, wobei nicht klar ist, ob:
• die Leidenschaften selbst reinigen,
• die Leidenschaften gereinigt werden oder
• die Leidenschaften beseitigt werden.
Alle drei möglichen Wirkungen zeigen dass das Theater auch zu einem Debattenort werden kann, an dem
Angelegenheiten der polis verhandelt werden. Phobos und eleos werden im 18. Jahrhundert neu diskutiert,
insbesondere von Lessing wird das Leidmotiv in eine Mitleidsästhetik abgewandelt – dadurch wiederum
sollen Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten verwandelt werden. In Brechts eher auf die rationale
Diskussion zielendem epischen Theater hat die Katharsis lediglich noch die Bedeutung eines Vergnügens,
das wiederum eng an das Denken gekoppelt ist.
3. Inwiefern führt Lessing die Theaterreform Gottscheds mit neuen Mitteln bzw. Akzenten
weiter?
Gottscheds Reformen zielten allgemein darauf, die seiner Ansicht nach verwilderten Theaterformen zu
kultivieren, um schließlich das Theater in eine aufklärerisch-pädagogische Pflicht zu nehmen und damit
auch das barocke Schicksalsdrama zu überwinden. Formal blieb er dabei konservativ (fünfteiliger
Dramenaufbau, Wahrscheinlichkeitsgesetze der Handlung, regelmäßiges Versmaß, Ständeklausel). Die
Bedeutung der Tragödie wurde abgeschwächt, dagegen das rührende oder weinerliche Lustspiel als
moralisches Korrektiv favorisiert; es sollte belustigen und zugleich erbauen (auch mit bürgerlichem
Personal). Lessing arbeitete weiter am Begriff des Lustspiels, gab aber vor allem dem bürgerlichen
Trauerspiel wesentliche Impulse. Dort dominiert die Mitleidsästhetik, indem Standeskonflikte auf Kosten
des Bürgertums zugespitzt werden – eine spätere Phase der Aufklärung, mit deutlich politischen
Implikationen, die die allgemein-menschheitlichen Fragen Gottscheds wesentlich konkretisieren.
Gottscheds Traum eines Theaters als moralischer Anstalt wurde mit Lessings Hamburgischer
Dramaturgie reflektiert und dann auch bühnenpraktisch realisiert.
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4. Entwerfen Sie ein Bühnenbild und Regieanweisungen zur Schlussszene von Schillers
Kabale und Liebe!
Möglichkeiten einer Bühnenrealisation lassen sich in einem weiten Spektrum zwischen naturalistischen,
symbolischen oder postdramatischen Wegen benennen. Zwischen klassizistischer Werktreue bzw. der
Absicht einer historisierenden Inszenierung oder, konträr dazu, einer postdramatischen Fassung, bei der
ein Bühnenbild mit abstrakten Formelementen sowie in karger oder zeichenhaft zugespitzter Stilistik zu
konzipieren wäre. Bitte beachten: Inszenatorische Ausfälligkeiten sind erlaubt, sollten aber reflektiert sein
und in ein Gesamtkonzept der Inszenierung passen.
5. Fassen Sie in einigen Sätzen Grundgedanken und Wirkmittel von Brechts V-Effekt
zusammen!
Eine beliebte Klausurfrage, da hiermit eine wesentliche Tendenz des modernen Theaters erfasst werden
kann! – Brecht hat in didaktischer Absicht hierzu selbst eine Übersicht gegeben (s. S. 168 f. im Buch), aus
der als allgemeine Überzeugungen abgeleitet werden können:
Politisch-emanzipatorisches, sozialrevolutionäres Interesse: Aufdeckung der herrschenden
Standpunkte als Ideologien, die durch Analyse und Theateraufführung geändert werden können.
Anti-illusionistischer Impuls: nicht schöne Einfühlung oder passives Mitleiden soll ermöglicht
werden, sondern rationale Distanznahme; die Dinge werden nicht als fertige präsentiert, sondern als im
Prozess befindliche.
Der V-Effekt fasst die Wirkmittel zusammen, womit zunächst allgemein die Darbietung eines
bekannten Stoffes oder Sinninhaltes in neuer Fassung gemeint ist, um durch diese neue Perspektive auch
ihre Relativität und Veränderbarkeit zu zeigen. Dies kann erreicht werden durch einen Erzähler, der das
Stück einleitet oder begleitet, durch einen Chor, durch verfremdende Medien (Lautsprecherdurchsagen,
Dia- oder Filmprojektion, Radio), durch direktes Ansprechen des Publikums oder dessen Einbeziehung
(Zeitungsverkäufer laufen durch den Zuschauerraum, wodurch die Trennung von Bühne und
Zuschauerraum aufgehoben wird), durch Schriftzüge auf der Bühne etc.
6. Von der Dramentheorie zur Schreibpraxis: Was kann alles zu einer guten journalistischen
Aufführungskritik gehören?
Die Reihe der journalistischen ›W‹-Fragen zu befolgen (wer, was, wo, wann, wie, warum), reicht nicht
aus, gehört aber zum basalen Handwerk. Genauer ist zu achten auf:
• Stückinhalt (auch bei bekannten Stücken zurückhaltend einstreuen);
• Informationen über den Autor (je nach Bekanntheitsgrad oder Wichtigkeit für das entsprechende
Schauspielhaus);
• Art der Darbietung, Bühnenbild, Effekte;
• Schauspielerleistungen (punktuell, ggf. mit einem Adjektiv);
• Lokales: Bedeutsamkeit der Inszenierung in der Kulturszene;
• Allgemeine Relevanz der Theaterarbeit, auch überregional: Gibt die Inszenierung Impulse für das
Theaterleben?
• Theatertheorie (sparsam dosieren, nicht seminaristisch): Beruft sich der Regisseur auf ein Vorbild
(Brecht, Lessing, Heiner Müller etc.), verfolgt er ein Programm (engagiertes Theater, Postdramatik,
armes Theater etc.)?
• Schreibstil: Satzlängen variieren, Alltagsjargon sparsam verwenden, Fremdwörter an der richtigen
Stelle einsetzen, Pointen nicht herbeikrampfen. Überschrift beachten, dort womöglich Leitthese
einbauen (diese am Textende einholen);
• Einen eigenen Blickwinkel, mit dem man die Aufführung rekonstruiert.
Wichtig (wie auch bei einer Buchkritik): Ein Kriterienkatalog ist nicht schematisch zu geben; die
Aufführungskritik ist immer auf das Leserpublikum auszurichten!
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7. Inwiefern kann Heiner Müllers Hamletmaschine als Vorläufertext für das postdramatische
Theater gelten? (Lesen Sie dazu S. 11–39 von Lehmanns (1999) einschlägiger Studie)
Tatsächlich war die Hamletmaschine von großem Einfluss auf die Formensprache des Theaters – ein Text,
den Müller einmal als Lesedrama bezeichnete, weil er seine Inszenierung weithin offengelassen hat und
diese in keinem realistischen Sinn mehr den Text umsetzen kann. Inhaltlich und dramaturgisch zeigen sich
folgende Impulse:
• Auflösung der Einheit von Ort, Zeit und Handlung.
• Auflösung aller Wahrscheinlichkeitsprinzipien.
• Auflösung der Figurenidentität, wechselnde Identitäten, Figuren tauschen Rollen.
• Texte sind oft keinem Sprecher mehr zugeordnet, sondern ›Stimmen‹ oder ›Sprachflächen‹
(Begriff von Elfriede Jelinek).
• Feste Signifikationen im Text sind gelockert zu vielen Bedeutungen, die besonders durch die
Vielzahl von Anspielungen und Intertexten entstehen.
• Der Einsatz von Musik ist nahegelegt, aber offen gelassen; Sprache kann in Musik übergehen.
• Die Bühnenmittel verselbständigen sich und tragen die Handlung nicht mehr.
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Kapitel 3.4
1. Erörtern Sie die anthropologisch konstante sinn- und identitätsstiftende Funktion
des Erzählens!
Das Epos, der antike Vorgänger der Erzählliteratur, ist die Versdichtung über Helden und Götter (z. B.
Homers Odyssee). Auch die höfischen Großdichtungen des deutschen Mittelalters können zu den Epen
gezählt werden. Es gibt drei konstitutive Merkmale für das Epos (laut Michail Bachtin):
• Der Gegenstand des Epos ist die nationale epische Vergangenheit (das vollkommen Vergangene),
• die Quelle des Epos ist die nationale Überlieferung (und nicht die persönliche Erfahrung und die aus
ihr resultierende freie Erfindung), und
• die epische Welt ist durch eine absolut epische Distanz von der Gegenwart (die Zeit des Sängers, des
Autors und der Zuhörer) getrennt.
Die Erzählliteratur (Epik, erzählende Prosa) hingegen greift auf die individuelle und historische Erfahrung
des Einzelnen zurück. Ihre Quelle ist die individuelle Erfindung (Fiktionalität), und die erzählerisch
verarbeitete Erfahrung ist in den historischen Kontext des Autors und seiner Zuhörer eingebunden.
Bestimmend für den Roman sind Erfahrung, Erkenntnis und Praxis/Zukunft (laut Bachtin). Der Umbruch
von der epischen zu der prosaischen Welthaltung markiert das Erstarken der bürgerlichen Klasse und die
Entwicklung eines bürgerlichen, subjektiven Selbstverständnisses, bei dem sich der Einzelne über die
unverwechselbare Identität und Kontinuität seiner eigenen Biographie definiert.
Das Erzählen ist alltägliches sprachliches Handeln, die naturwüchsigste Form menschlichen Verhaltens
zur eigenen Vergangenheit und eine Form der Vermittlung individueller oder gesellschaftlicher Erfahrung.
Erst durch das Erzählen von Ereignissen oder Erlebnissen in einer Chronologie, in ihrer Abhängigkeit
oder in einer Ursache- Wirkungs-Beziehung bekommen diese Ereignisse/Erlebnisse einen Sinn. Erzählen
ist somit Sinnkonstitution. Erst indem ein Mensch sein Leben als eine sinnvolle Folge nur auf ihn
zutreffender Erlebnisse und Ereignisse erzählt, kommt er zu seiner Biographie und kann sich als
Individuum begreifen. Erzählen wirkt also identitätsstiftend. Auch nationale oder kulturelle Identität
entsteht erst durch das Erzählen gesellschaftlicher Ereignisse in bestimmter Folge. Das Erzählen ist somit
auch Traditionsbildung. Das unumgehbare Medium individueller und kollektiver, biographischer und
historischer Sinn- und Identitätsstiftung ist das Erzählen.
Die scheinbare Naturwüchsigkeit und Unmittelbarkeit des Erzählens liegt in seiner Sprache begründet.
Die Sprache des Erzählens ist grundsätzlich die Prosa. ›Prosa‹ ist vom lateinischen rhetorischen Begriff
provorsa oratio abzuleiten, der ›geradeaus gerichtete Rede‹ bedeutet. Die Prosa scheint dem alltäglichen
Sprechen am nächsten zu stehen, trotzdem darf das Erzählen nicht als überhistorisches und
unveränderliches Phänomen bewertet werden. Neuzeitliches Erzählen entsteht, wo sich die Welt auf
entscheidende Weise verändert (laut Walter Benjamin). Die Grundlage und der Grundstoff des Erzählens
ist die Erfahrung, genauer die Er-fahrung der Welt, und die Vermittlung dieser Erfahrung beabsichtigt
einen Nutzen.
2. Nennen Sie, jeweils mit knappen Definitionen, die wesentlichen Begriffe der Zeitgestaltung
in erzählender Prosa!
In einer literarischen Erzählung ist die dichterische Erfindung meist mit unzähligen Versatzstücken der
tatsächlichen, historischen Wirklichkeit verwoben, um ihr einen möglichst großen Wirklichkeitscharakter
bzw. Authentizität zu verleihen. Erzählt wird ein mögliches Geschehen um möglicherweise vollständig
erfundene Figuren unter ganz bestimmten, historisch überprüfbaren Bedingungen. Da der Gegenstand der
Erzählliteratur meist ein mögliches Geschehen im Kontext realer Geschichte ist, muss sie auch historisch
gelesen werden. Im Spannungsfeld zwischen Fiktivem und geschichtlichen Bedingungen liegt die
historische Erfahrung verborgen, weshalb das künstlerische Erzählen auf komplexere Weise immer noch
wie das vorliterarische fungiert, als Überlieferung von Erfahrung.
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Die vorherrschende Tempusform von literarischen Erzählungen ist das epische Präteritum. Obwohl die
literarische Erzählung vorgibt, Vergangenes zu erzählen, schafft sie mit dem Erzählten die Illusion, den
Leser/innen sei das Erzählte gegenwärtig (Gegenwärtigkeitsillusion). In der Vergegenwärtigungsfunktion
des Erzählens liegt der entscheidende Unterschied zum historischen Tatsachenbericht, der tatsächlich
Stattgefundenes berichtet und dessen Lesern beim Lesen bewusst ist, dass das Berichtete vergangen ist.
Das hier genutzte (grammatisch identische) historische Präteritum hat aufgrund seiner
Wirklichkeitsaussage die Funktion der Vergangenheitsbeziehung, die dem epischen Präteritum fehlt. Die
Funktion des epischen Präteritums ist die suggestive Illusion der Gegenwärtigkeit des erzählten
Geschehens. Bezeichnend dafür ist die Möglichkeit, das epische Präteritum mit einem Zukunftsadverb zu
verbinden (›Morgen war Weihnachten‹).
Erzählerische Texte gestalten immer Zeit und fingieren dabei einen imaginären Zeitraum als
Vergangenheit. Diesen Zeitraum nennt man erzählte Zeit. Die Erzählzeit hingegen ist die Zeit, die benötigt
wird, um den erzählerischen Text zu lesen, und kann in Minuten oder Seiten angegeben werden. Die
Erzählzeit ist meistens kürzer als die erzählte Zeit. Der Bezug von erzählter Zeit und Erzählzeit
aufeinander ergibt das Erzähltempo, das im Text wechseln kann. Vom zeitdeckenden Erzählen spricht
man, wenn Erzählzeit und erzählte Zeit gleich lang sind (z. B. wörtliche Wiedergabe eines Dialogs). Wenn
die Erzählzeit länger ist als die erzählte Zeit, liegt das zeitdehnende Erzählen vor (z. B. die Wiedergabe
von schnell ablaufenden Bewusstseinsprozessen). Bei der Zeitraffung ist die erzählte Zeit länger als die
Erzählzeit. Es gibt unterschiedliche Variationen der Zeitraffung:
• den Zeitsprung/die Aussparung (Auslassung von ereignislosen, belanglosen Zeiträumen),
• die sukzessive Raffung (Reduzierung eines langen Zeitraums auf wenige, wesentliche
Begebenheiten) und
• die iterativ-durative Raffung (Erzählung andauernder oder sich immer wiederholender Vorgänge in
einem längeren Zeitraum).
Zur Zeitgestaltung in erzählender Prosa gehören darüber hinaus auch Rückwendungen (Analepsen) und
Vorausdeutungen (Prolepsen) des Textes. Einen solchen Verstoß gegen die Ordnung des chronologischen
Nacheinanders auf der Ebene der erzählten Welt nennt man Anachronie. Wird in einer Rückwendung die
Vorzeithandlung, die jenseits der Haupthandlung der erzählten Zeit liegt, zum besseren Verständnis der
fiktiven Gegenwarts-Handlung nachgetragen, spricht man von der aufbauenden Rückwendung. Die
auflösende Rückwendung ist eine oft rekonstruierende Wiederholung eines vergangenen
Handlungsverlaufs (z. B. im Detektivroman). Der erzählerische Verweis auf ein einzelnes Faktum aus der
Vorzeithandlung heißt Rückgriff. Vom Rückblick spricht man, wenn sich eine Figur auf die eigene
Vergangenheit reflexiv bezieht. Der auktoriale und der Ich-Erzähler kennen die Geschichte bis zu ihrem
Ausgang und können daher in oft spannungssteigernden zukunftsgewissen Vorausdeutungen auf in der
Erzählchronologie noch zukünftige Ereignisse erzählerisch verweisen. Zukunftsungewisse
Vorausdeutungen sind die in den Hoffnungen, Plänen, Wünschen und Befürchtungen der fiktiven Figuren,
die nur über begrenztes Wissen verfügen, vorweggenommenen Ereignisse.
3. Erläutern Sie, jeweils mit knappen Definitionen, die wesentlichen Erzählerrollen, die
Autor/innen in erzählender Prosa annehmen können!
Genauso wie das Erzählte eine fingierte erfundene Erfahrung ist, ist der Erzähler, also derjenige, der
vorgibt, diese Erfahrung gemacht zu haben, Fiktion. Der Autor eines erzählenden Textes ist niemals mit
dem Erzähler gleichzusetzen. Der Autor erfindet eine Figur bzw. eine Funktion, die sich zwischen ihn und
den Erzählgegenstand schiebt. Die erzählende Prosa benötigt traditionell die Vermittlung der
Erzählfunktion.
Bei der Bestimmung des Erzählers helfen drei binär besetzte Kategorien:
• Person (Seinsbereich des Erzählers der gleiche der erzählten Figuren oder ein anderer?),
• Perspektive (Außen- oder Innenperspektive?) und
• Modus (vermittelnd oder reflektierend bzw. subjektiv oder neutral?).
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Diese Kategorien setzt Stanzel in einen Typenkreis, aus dem sich drei Idealtypen der Erzählsituation
ergeben, wobei Übergangs- und Mischtypen denkbar bleiben.
Die auktoriale Erzählsituation ist die bestimmende Ausprägung des fiktiven Erzählers in der
bürgerlichen Erzählliteratur bis zur Moderne. Der auktoriale Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die
wie die Figuren des Romans vom Autor geschaffen ist. Er hat ein übergeordnetes Verhältnis zur
Geschichte und kennt sie bis zu ihrem Ausgang, weshalb er zukunftsgewiss vorausdeuten und
rückblickend die Vorgeschichte referieren kann. Der auktoriale Erzähler kennt nicht nur alle äußeren
Fakten der Geschichte, sondern kann auch in das Innere der Figuren sehen und ihre Gedanken, Träume,
Ängste, ihr Wahrnehmen, Denken und Empfinden darstellen (Innenweltdarstellung). Er erzählt nicht
neutral, sondern mischt sich kommentierend und bewertend in die Geschichte ein. In diesen
Einschaltungen zeigen sich das geistige Profil des auktorialen Erzählers, seine Interessen, seine
Weltkenntnis, seine Einstellung zu politischen, sozialen und moralischen Fragen und seine
Voreingenommenheit gegenüber Personen und Dingen. Er ist mehr als der bloße Erzähler eines ihm
äußeren Geschehens. Der auktoriale Erzähler erzeugt das Erzählte durch das Erzählen, im Medium der
Sprache. Er ist der Urheber der Geschichte (lat. auctor: Urheber).
Die Ich-Erzählsituation ist das Gegenstück zum auktorialen Erzählen. Der Ich-Erzähler ist nicht
zeitlich und räumlich von dem Erzählgegenstand getrennt, sondern eine Figur, die einerseits im
Handlungskontext des Erzählten steht und die andererseits in der Ich- Form die Geschichte erzählt. Der
Ich-Erzähler ist Betroffener und erzählt die Geschichte als eine selbst erlebte, weshalb ihm die sichere und
ironische Distanz des auktorialen Erzählers fehlt. Zudem kann der Ich-Erzähler nur die eigene Innenwelt
darstellen. Durch die Ich-Perspektive ist die Innendarstellung der anderen Figuren nicht möglich. Da er
den Ausgang der Geschichte kennt, kann er ebenfalls zukunftsgewiss vorausdeuten. Die Ich-Form erhöht
den Anschein von Authentizität des Erzählten und erzielt den Eindruck größerer Unmittelbarkeit.
Die personale Erzählsituation wurde für die Prosaliteratur des 20. Jahrhunderts wesentlich und
zeichnet sich durch die scheinbare Abwesenheit des Erzählers aus, der hier nicht als Vermittler, sondern
als Reflektor fungiert. Der Autor erfindet keinen Vermittler zwischen sich und dem Erzählgegenstand,
sondern die erzählten Dinge scheinen für sich selbst zu sprechen. Die Geschichte wird jeweils aus der
personalen Perspektive einer der handelnden Figuren als ›Er-‹ oder ›Sie-‹-Erzählung dargestellt. Dabei
muss sich der personal erzählte Text nicht auf die Perspektive einer Figur beschränken, sondern wechselt
häufig die personalen Perspektiven. Mal steht die eine, dann eine andere Figur in der Zentralperspektive
auf das erzählte Geschehen. Die personale Erzählsituation ermöglicht, wie die auktoriale, die
Innendarstellung der Figuren.
Der Begriff der Erzählsituation ist als analytische Kategorie auch zur Erfassung der Perspektivität des
Erzählten geeignet. Auktoriales und Ich-Erzählen ist als monoperspektivisches Erzählen aufzufassen. Da
das personale Erzählen den Erzählgegenstand aus der Sicht verschiedener Figuren darstellt, ohne zwischen
den Ansichten auktorial zu vermitteln, spricht man vom multiperspektivischen Erzählen. Zudem ist die
›Personale Erzählsituation‹ eine Kategorie, die der analytischen Beschreibung jeweils kleinerer
Erzähleinheiten im größeren Text, die immer wieder durch neutrales Erzählen oder durch auktoriale
Einmischungen voneinander getrennt werden, dient. Die Extremform personalen Erzählens, das neutrale
Erzählen, verzichtet auf jegliche Figurenperspektive und nimmt den Blickpunkt eines unsichtbar
bleibenden Beobachters ein.
4. Analysieren Sie auf der Mikroebene des Erzählens die Zeitgestaltung der ersten zwei
Absätze von Christoph Martin Wielands Roman Geschichte des Agathon! Benutzen Sie
Genettes Kategorien, wie er sie in Genette 1994, S. 21ff. vorführt.
Der Roman beginnt mit einer Zeitangabe, die Situation des Helden sowie die folgende Handlung werden
dem Spätnachmittag oder beginnendem Abend zugeordnet. Auf der makrostrukturellen Ebene der
Zeitgestaltung verlässt der Erzähler, anmoderiert mit dem Satz »Wenn sich jemals ein Mensch in
Umständen befunden hatte ...« die zeitliche Ebene der Ausgangssituation und leitet in eine Rückwendung,
Analepse, über: »Vor wenigen Tagen noch ein Günstling des Glücks ...«. Die unmittelbare Vorgeschichte
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der Ausgangssituation, Agathons Fall aus gesellschaftlicher Begünstigung in Isolation und Mittellosigkeit,
wird knapp angedeutet, ohne konkret gefüllt zu werden. Hier schafft der Erzähler eine
spannungserzeugende Leerstelle, die erst im späteren Verlauf des Romans geschlossen wird. Mit dem Satz
»Allein ungeachtet so vieler Widerwärtigkeiten ...« führt die Erzählung wieder auf die Zeitebene der
Ausgangssituation zurück: »daß derjenige, der ihn in diesem Augenblick gesehen hätte«, könnte die
stoisch-duldende Haltung des Helden gegenüber seinem Geschick bemerken.
Mikrostrukturell lassen sich auch innerhalb eines einziges Satzes Zeitbezüge festhalten: Der erste Satz
des Romans enthält im Relativsatz (im Plusquamperfekt) eine knappe Rückwendung auf die unmittelbare
Vorvergangenheit: »der sich in einem unwegsamen Walde verirret hatte«; auch die »vergebliche[]
Bemühung einen Ausgang zu finden« gehört zu dieser Vorvergangenheit. Die Handlung des Protagonisten
ist auf eine (allerdings ungewisse) Zukunft hin entworfen: der Berg, »welchen er noch zu ersteigen
wünschte«, seine »Hoffnung von dem Gipfel desselben irgend einen bewohnten Ort zu entdecken«; in der
Innenwelt des Helden wird mit Wunsch, Hoffnung und Absicht (»eine kleine Terrasse […], auf welcher er
die einbrechende Nacht zuzubringen beschloß« die unmittelbare Zukunft vorweggenommen.
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Kapitel 3.5
1. Diskutieren Sie Problematik und Konsequenzen eines engen bzw. eines weiten
Literaturbegriffs!
Innerhalb des traditionell engen Literaturbegriffs stehen die drei Textsorten Lyrik, Dramatik und
erzählende Prosa. Durch die Ausweitung des Literaturbegriffs im 20. Jahrhundert werden darüber hinaus
Textsorten wie Brief, Autobiographie, Tagebuch, Reisebericht oder Traktat, die zum Teil sichtbar
literarische Darstellungsmittel verwenden und somit in ihrer ästhetischen Erscheinungsform durchaus
Literatur sind, als literaturnah oder als literarisch aufgefasst. Aufgrund der industriellen
Massenanfertigung von textlichen Erzeugnisse und der Expansion von Presse und Medienwesen traten
zudem eine große Menge neuerer Textsorten hinzu, die ebenfalls in einen erweiterten Literaturbegriff
einzuordnen sind (z. B. Essay, Leitartikel oder Reportage). Bei einigen dieser Textsorten (z. B.
Gebrauchsanweisung, Fahrplan oder Gesetz) sind die Kriterien der Literarizität nur in beschränktem Maße
erfüllt: Sie liegen gedruckt vor und weisen mindestens gelegentlich die Verwendung sprachlich-
literarischer Stilmittel auf.
Literatur im engeren Sinne umfasst poetische Texte, die ihren Gegenstand selbst konstituieren. Davon zu
unterscheiden sind Gebrauchstexte, die primär durch außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecke bestimmt
werden, der Sache dienen, von der sie handeln, auf einen bestimmten Rezipientenkreis ausgerichtet sind
und informieren, belehren, unterhalten, kritisieren, überzeugen, überreden oder agieren wollen. Die
wichtigsten Gattungen literarischer Gebrauchstexte sind Brief, Tagebuch, Autobiographie, Reisebericht,
Reportage und Essay.
2. Welche Effekte hat die Montage von Gebrauchsformen der Literatur auf im engeren Sinne
literarische Texte?
Bereits vor dem 20. Jahrhundert wurden vor allem in erzählender Literatur Versatzstücke anderer Texte,
verschiedene Gebrauchsformen der Literatur, die sozusagen in unmittelbaren Lebenszusammenhängen
ihre primäre Funktion hatten, in die literarischen Texte hineinmontiert. Dadurch wurden diese
Gebrauchstexte im poetischen Kontext literaturfähig und erhielten zudem einen textlichen Eigenwert, da
man ihre Interpretationsbedürftigkeit erkannte und die Möglichkeit, sie mit den Mitteln der
Literaturwissenschaft zu beschreiben und analytisch zu betrachten. Die Montage von alltagsnahen
Gebrauchsformen der Literatur (z.B. Brief oder Tagebuch) steigern den Authentizitätscharakter von
literarischen Werken.
epische Großtexte, in die fiktive Briefe konstitutiv integriert sind oder die ausschließlich aus
Briefwechseln oder Briefen einer einzelnen Person bestehen (z. B. Goethes Werther oder Gellerts Das
Leben der schwedischen Gräfin von G***). Hier besteht also bereits traditionell eine Verbindung
zwischen der Gebrauchsform des Briefes und der Literatur im engeren Sinne.
Das Tagebuch gilt ebenso wie der Brief als alltagsnahes, authentisches Dokument. Die Tradition der
Gattung geht bis auf die Antike zurück. Im Renaissance-Humanismus vermehrte sich die
Tagebuchproduktion aufgrund des Interesses am einzelnen Subjekt, vollends erblühte die Gattung jedoch
mit der Tagebuch-Flut in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Wie auch Briefe erweisen sich
Tagebücher häufig in ihrer Sprachverwendung und durch Muster der Selbstinszenierung als literarisiert
und werden in Form von fiktiven Tagebüchern oder Tagebuch-Teilen zu Bestandteilen des Romans (z. B.
Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre). Auch hier ist eine traditionelle Verbindung zwischen
Gebrauchsform und Literatur im engeren Sinne zu finden.
Die Autobiographie als halb-authentische, halb-literarische Gattung wird prinzipiell von Literarizität
bzw. Fiktionalität gekennzeichnet, da die rückblickende Erzählung des eigenen Lebens Ergebnis von
Konstruktion, Selektion, Gewichtung und spezifischer Kombination von Erlebnissen und Ereignissen ist
und damit literarisierend wirkt. Identität entsteht erst durch das sinnstiftende Erzählen, weshalb zwischen
erzählendem und erzähltem Ich eine Differenz besteht. Das Ich ist gleichsam fiktiv und entsteht erst am
Ende des Schreibens. Die Authentizität von Autobiographien ist somit problematischer anzusehen als die
von Briefen oder Tagebüchern. Das Erzählmuster der Autobiographie bietet das Modell für eine der
zentralen Erscheinungsformen des Romans, da Romane aus der Ich-Perspektive sehr häufig den
autobiographischen Gestus imitieren (z.B. Grimmelshausens Simplicissimus). Das Bestehen einer bereits
traditionellen Verbindung zwischen der Gebrauchsform der Autobiographie und der Literatur im engeren
Sinne ist hier ebenfalls auszumachen.
4. Beschreiben Sie die Stillage und die Wirkung des erstens Briefs in Gellerts Roman
Das Leben der schwedischen Gräfin von G***!
Der schwedische Graf schreibt an die zukünftige Gräfin ein Jahr nach dem ersten Zusammentreffen: Dem
Verstand wird Zeit gelassen, den anfänglichen Gefühlsimpuls zu prüfen. Erst als das Gefühl auch nach
dem Ausgleich von Herz und Verstand unverändert besteht, tritt der Graf brieflich mit ihr in Kontakt.
Dieser erste von zahlreichen Briefen im Roman zeichnet sich stilistisch dadurch aus, dass er eine
unmittelbare Kommunikationssituation simuliert und dadurch die räumliche Distanz zwischen dem
Schreiber und der Adressatin zu überwinden versucht. Der Eindruck eines Gesprächs entsteht vor allem
durch zahlreiche Fragen, sowie Formeln der Mündlichkeit, etwa: »Lassen Sie mich ausreden, liebstes
Fräulein.« Durch den Gebrauch des Begriffs ›ausreden lassen‹ wird sehr deutlich, dass es ein vorrangiges
Ziel des Briefes ist, die Unmittelbarkeit eines Gesprächs nachzuahmen und damit die vielfach
thematisierte räumliche Trennung aufzuheben.
Der Brief bricht in vielerlei Hinsicht mit den damals vorherrschenden formalen Normen. Besonders
auffällig ist in dieser Hinsicht der Wegfall langer formelhafter Begrüßungsphrasen; der Graf fällt
sozusagen ›gleich mit der Tür in Haus‹, indem er den Brief mit den Worten beginnt: »Mein Fräulein, Ich
liebe Sie.« Der Liebesbrief des Grafen zeigt deutlich, inwieweit Gellert, der als Reformer der deutschen
Briefkultur gilt, die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vorherrschende strenge Reglementierung und
Formalisierung des Briefwesens verändert.
5. Erarbeiten Sie das »Vorwort« zum 1. Buch von Goethes Dichtung und Wahrheit im Hinblick
auf die Gattungsbestimmung der Autobiographie!
Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit will viel mehr sein als kontinuierlich erzählter
Lebensbericht, der bloß den privaten Lebenslauf eines Individuums wiedergäbe. Sie ist zugleich der
Entwurf einer enzyklopädischen Geschichte des 18. Jahrhunderts, der es darum geht, »den Menschen in
seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es
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ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er
Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt«, und die deshalb nicht nur die
zeitgenössische Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte miteinbezieht, sondern auch »die ungeheuren
Bewegungen des allgemeinen politischen Weltlaufs« berücksichtigt (FA I, 14, S. 13). Goethe nennt in
seinem Vorwort dieses hochgesteckte und von ihm zum ersten Mal formulierte Ziel einer
individualistischen und zugleich ganzheitlichen Geschichtsschreibung »ein kaum Erreichbares«, da es
erfordere, »daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen
Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich
fortreißt, bestimmt und bildet« (ebd.). Enzyklopädisch-ganzheitliche Darstellung ist allerdings nicht
Selbstzweck, vielmehr ist die Fülle der mannigfachen Einflüsse auf den Einzelnen absolut bestimmend für
die Ausbildung seiner Individualität – mit anderen Worten: Der historische Ort des Einzelnen relativiert
seine biographische Identität: »Ein Jeder, nur 10 Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene
Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz Anderer geworden sein« (ebd.).
6. Analysieren Sie den ersten Absatz des ersten Kapitels von Robert Musils Roman Mann ohne
Eigenschaften im Hinblick auf die Differenz zwischen Gebrauchstext und literarischem Text!
»Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über
Rußland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die
Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen
Verhältnis zur mittleren Jahrestemperatur, zur Temperatur des kältesten wie des wärmsten Monats und
zur aperiodischen monatlichen Temperaturschwankung. Der Auf- und Untergang der Sonne, des
Mondes, der Lichtwechsel des Mondes, der Venus, des Saturnringes und viele andere bedeutsame
Erscheinungen entsprachen ihrer Voraussage in den astronomischen Jahrbüchern. Der Wasserdampf in
der Luft hatte seine höchste Spannkraft, und die Feuchtigkeit der Luft war gering. Mit einem Wort, das
das Tatsächliche recht gut bezeichnet, wenn es auch etwas altmodisch ist: Es war ein schöner Augusttag
des Jahres 1913.«
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Kapitel 4.2
1. Definieren Sie Metapher und Metonymie und grenzen Sie beide voneinander ab!
Bei einer Metapher handelt es sich um die Übertragung eines Wortes aus einem Bildspendebereich in
einen Bildempfangsbereich. Ein Wort bzw. Wortgruppe wird demnach aus seinem eigentlichen
Bedeutungszusammenhang in ein anderen übertragen. Zwischen diesen beiden Bereichen muss eine
semantische Schnittmenge, also eine inhaltliche Übereinstimmung bestehen, das sogenannte tertium
comparationis.
Anders als bei der Metapher besteht bei einer Metonymie keine semantische Schnittmenge. Es handelt
sich hierbei um die Ersetzung eines Wortes durch ein anderes, das in einer realen, also sachlichen
Beziehung zum ersten steht.
2. Erörtern Sie die Zusammenhänge zwischen Rhetorik und Poetik im Blick auf die Geschichte
beider Disziplinen, im Blick auf Gattungseinteilungen und in Hinsicht auf textanalytische
Fragestellungen!
Die Poetik, die Lehre vom öffentlichen Sprechen in gebundener (Vers-)Form, ist ein Teilgebiet der
Rhetorik, der Lehre vom öffentlichen Sprechen mit Überzeugungsabsicht. Die Geschichte der Rhetorik
beginnt bereits in der Antike, genauer im 5. Jahrhundert v. Chr., und wurde erstmals von Aristoteles in ein
System gebracht. Im 17. Jahrhundert fasst Opitz die Poetik als Spezial-Rhetorik auf (Buch von der
Deutschen Poeterey, 1624), wobei er zwar die Wirkungsaspekte der Rhetorik entlehnt, der Poetik aber
einen eigenen Gegenstandsbereich zuweist, nämlich das Fiktionale; auch schreibt er der Poetik im Blick
auf Abweichungen von der erwarteten Form gewisse Freiräume zu, etwa hinsichtlich neuer Bilder oder
ungewöhnlicher Rhythmen. In der Aufklärung erfahren Rhetorik wie Poetik insofern eine inhaltliche
Modifizierung, als nun Gefühle und Leidenschaften ins Zentrum rücken, die vorher noch ausgeschlossen
waren. Schließlich ist eine Auflösung der Rhetorik beobachtbar, da sich die Teildisziplinen immer weiter
verselbständigt haben, so dass die Rhetorik nicht mehr als Sammelbegriff für die jeweiligen
Wissenschaften und die Poetik steht.
Da Rhetorik und Poetik zwar miteinander verbunden sind, es sich aber hierbei um zwei eigenständige
Disziplinen handelt, überrascht es nicht, dass sie hinsichtlich ihrer Gattungseinteilungen und
textanalytischen Fragestellungen divergieren. In der Rhetorik werden drei Gattungen der Rede mit jeweils
bestimmten Funktionen unterschieden:
• die Beratungsrede (Funktion: Zu- oder Abraten bestimmter Entscheidungen),
• die Gerichtsrede (Funktion: Anklage oder Verteidigung) und
• die Gelegenheitsrede (Funktion: Lob oder Tadel).
Die Hauptgattungen der Poetik lassen sich als Ableitungen aus den rhetorischen Gattungskategorien
festhalten: Epik, Lyrik und Dramatik. – Im Blick auf textanalytische Fragestellungen sind insbesondere
die rhetorischen Mittel, Figuren und Tropen, Kennzeichen literarischer Rede.
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4. Diskutieren Sie die wesentlichen Zusammenhänge zwischen den drei officia oratoris
und den Bestimmungen der Dreistillehre!
Die officia oratoris bezeichnen die Aufgabenbereiche des Redners und bestimmen damit die
unterschiedlichen Wirkungsabsichten, die der Redner verfolgen kann. So kann der Redner ein
intellektuelles Wirkziel verfolgen, also die Unterrichtung seines Publikums mit dem Mittel der Vernunft
anstreben; oder er kann ein mildes Affektziel verfolgen und dementsprechend seine Zuhörer mittels seiner
eigenen Haltung erfreuen wollen; oder er kann schließlich ein leidenschaftliches Affektziel verfolgen,
wenn er sein Publikum mit Hilfe der Leidenschaft bewegen möchte.
Diese drei Aufgaben bzw. Wirkziele sind durch die Angemessenheitsregel unmittelbar mit den drei
Stilebenen, den genera elocutionis, verbunden. Wählt der Redner also das Wirkziel der Belehrung, muss
der Stil ebenfalls schlicht sein, also sachlich und klar. Möchte der Redner dagegen erfreuen, ist der
mittlere Stil angebracht, es werden also etwa mehr sprachliche Mittel zur Gestaltung der Rede eingesetzt.
Verfolgt der Redner schließlich das Ziel, seine Zuhörer zu bewegen, muss er den hohen Stil wählen und
seine Rede dementsprechend mit sprachlichen Mitteln reichlich ausgestalten.
5. Beschaffen Sie sich Gryphius Threnen des Vatterlandes Aanno 1636 und beschreiben
Sie die dort verwendeten literarischen Bilder und Stilfiguren!
Threnen des Vatterlandes Anno 1636 ist das bekanntesten von Gryphius’ Sonetten über die Leiden des
Dreißigjährigen Krieges. In eindrucksvollen Bildern wird in den Quartetten und dem ersten Terzett der
Zustand der völligen Verheerung Deutschlands nach 18 Jahren Krieg evoziert: Der Text beginnt mit einer
mehr als resignierten Feststellung der desolaten Situation: »WJr sindt doch nuhmer gantz / ja mehr den
gantz verheret!«. Diese Feststellung wird in einer doppelten Aufzählung, die die drei restlichen Verse des
ersten Quartetts ausmacht, narrativ begründet: Die zerstörerischen Gewalten des Krieges – »Der frechen
völcker schaar / die rasende posaun // Das vom blutt fette schwerdt / die donnernde Carthaun« haben die
durch Arbeit zur Verfügung gestellten Möglichkeiten des Überlebens vernichtet, haben »aller schweis /
vnd fleis / vnd vorrath auff gezehret«.
Aufzählung ist auch das Darstellungsprinzip des zweiten Quartetts – allerdings geht es hier nicht um
Überlebensmöglichkeiten, sondern um die Vernichtung jeder öffentlichen, moralischen und religiösen
Ordnung: Metonymisch stehen Stadtbefestigungsanlagen (»Die türme stehn in glutt«), der Sitz der
städtischen Obrigkeit (»Das Rahthaus ligt im graus«) und der Raum religiöser Einkehr (»die Kirch ist
umbgekehret«) für die Zerstörung jeder bürgerlichen Ordnung, der Tod derjenigen, die Schutz und Halt
bieten könnten (»die starcken sind zerhawn«), und Vergewaltigungen (»Die Jungfrawn sindt geschändt«)
sind an der Tagesordnung. Anstelle der Grundfesten gesellschaftlichen Lebens ist etwas anderes getreten –
und wiederum realisiert das Sonett dieses in einer Aufzählung: »vnd wo wir hin nur schawn // Jst fewer /
pest / vnd todt der hertz vndt geist durchfehret«.
Zerstörung und Tod scheinen auch Gegenstand des ersten Terzetts zu sein (»frisches blutt«, »viel
leichen«), Gryphius wechselt aber die Darstellungsdimension: Ihm geht es um die Zeit. »Dreymall sindt
schon sechs jahr als unser ströme flutt / […] sich langsam fortgedrungen« – die 18 Jahre, die der Krieg
bisher gedauert hat, werden in dreimal sechs Jahre aufgelöst; die »666« ist, ausgehend von der
entsprechenden Stelle in der Johannes-Apokalypse (Offenbarung 13,18) die Zahl des Teufels bzw. des
Antichrists. Damit wird im ersten Terzett über die zeitliche Dimension hinaus zahlensymbolisch der Krieg
als Eindringen des metaphysisch Bösen gedeutet.
Diese Deutungsperspektive setzt das zweite Terzett fort, indem, wiederum in einer in Parallelismen
und Polysyndeta organisierten Aufzählung, der Verlust des Seelenheils vieler Menschen beklagt wird:
»Doch schweig ich noch von dem was ärger als der todt // Was grimmer den die pest / vndt glutt vndt
hungers noth // Das nun der Selen schatz / so vielen abgerungen«.
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Die Bildebene von Zerstörung und Vernichtung, die die Quartette in eindrucksvollen metonymischen
Aufzählungen evozieren, wird in den Terzetten – über das Gelenk der zur Teufelszahl aufgelösten
bisherigen Dauer des Krieges – gedeutet im Sinne christlicher Heilsgeschichte.
6. Beschaffen Sie sich Goethes Gedicht Es schlug mein Herz (Willkomm und Abschied,
1. Fassung) und beschreiben Sie die dortigen literarischen Bilder und Stilfiguren!
Die ersten beiden Strophen des Liedes gestalten den rasenden Ritt eines Ich durch die nächtliche Natur.
Diese ist nicht mehr die bisher bekannte Rokoko-Kulisse, zu der Natur reduziert worden war. Natur tritt
vielmehr in einen spezifischen Beziehungs- und Handlungszusammenhang zum lyrischen Ich, zum
Sprechenden. Das erste Naturbild, eine poetisierte Zeitangabe, ist vorerst das ruhigste: »Der Abend wiegte
schon die Erde, / Und an den Bergen hing die Nacht.« Die Natur wird hier zum Subjekt, sie geht zur Ruhe,
das »schon« des dritten Verses markiert den Übergang des Tages zur Nacht. Im Gegensatz zu diesem
ruhigen Bild wird im fünften Vers die Natur bedrohlich belebt: »Schon stund im Nebelkleid die Eiche /
wie ein getürmter Riese da«. Der ausgeführte Vergleich lässt scheinbar noch neutrale Natur plötzlich als
Bedrohung erscheinen: Die Anthropomorphisierung tritt in Figürlichkeit über, die Eiche wird dem
Betrachter zum Ungeheuerlichen, urweltlichen Riesen – »[...] da / Wo Finsternis aus dem Gesträuche / Mit
hundert schwarzen Augen sah.« Wie der »Abend« und die »Eiche« wird hier die »Finsternis« zu mehr als
zum grammatischen Subjekt, Natur wird belebt, anthropomorph, oder, hier genauer, theriomorph – wenn
man bei Riesen und hundertäugigen Ungeheuern davon sprechen darf.
Die scheinbare Ruhe der Natur und ihre sofortige bedrohliche anthropomorphe Belebung werden in der
zweiten Strophe fortgesetzt. Zunächst heißt es noch: »der Mond auf seinem Wolkenhügel / Sah schläfrig«.
Dann jedoch, ans Ende der ersten Strophe anschließend: »Die Winde schwangen leise Flügel, / Umsausten
schauerlich mein Ohr. / Die Nacht schuf tausend Ungeheuer.« Im vorletzten dieser beiden Verse, die auf
den ersten Blick schlicht die bedrohliche Belebung der nächtlichen Naturdinge fortsetzen, spricht schon
mehr: Erstmalig bei der Naturdarstellung wird ein Pronomen der ersten grammatischen Person verwendet:
Die Perspektive des Betrachtenden kommt zum Vorschein. Das Adverb »schauerlich« als Ausdruck
subjektiven Empfindens deutet dies ebenfalls an.
Die bedrohliche Natur der ersten beiden Strophen ist gegenübergestellt dem sprechenden Ich, das
gleichzeitig die Betrachterperspektive der nächtlichen Natur und deren Widerpart darstellt. Das Gedicht
beginnt nämlich mitnichten mit einem Natureingang, sondern mit einem Bild der emotionalen Erregung:
»Es schlug mein Herz«. Das Herz als Organ von Innerlichkeit und emotionaler Regung ist eine seit der
Antike geläufige Konvention poetisch-bildhaften Sprechens; es beginnt also der Text, indem er bildhaft
von der inneren, emotionalen Erregung des sprechenden Ich spricht. Die Erregung des Herzens wird
unmittelbar umgesetzt in Aktion; der Text spricht von ihr in Form eines rhetorischen Befehls ans Ich
selbst: »Geschwind, zu Pferde! / Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.« Die überhastete Eile des
Ausritts setzt der Text um in synkopischen Rhythmus: »Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht«, die
rein jambische Alternation wird zugunsten der Ausdruckssteigerung aufgegeben.
Die Naturszene – einfallende Nacht, die dem Ich zur Bedrohung wird – ist nur auf diesem Hintergrund
verständlich: Die nächtliche Natur wird dem Ich zur phantastisch verzerrten, leidenschaftlich belebten
Bedrohung, zum Hindernis auf seinem Ritt. Erst der zwölfte Vers allerdings greift diese Perspektive
wieder auf: »Umsausten schauerlich mein Ohr«. Die letzten drei Verse der zweiten Strophe führen diese
individuelle Perspektive fort: »Doch tausendfacher war mein Mut, / Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
/ Mein ganzes Herz zerfloß in Glut.« Die Zahlwörter der Naturszene, die die dort sich steigernde
Bedrohungsempfindung darstellen – »mit hundert schwarzen Augen«, »tausend Ungeheuer« –, werden in
eigentlich ungrammatischer Wendung übertroffen und übersteigert durch die subjektive Kraft, den Mut,
die feurige Zerstörungsmacht des eigenen Selbst; der sechzehnte Vers schließt in seiner Metaphorik an
den ersten an: »Es schlug mein Herz / [...] / Mein ganzes Herz zerfloß in Glut«. Die Herzmetapher charak-
terisiert das Lied als eines, in dem ein tief empfindendes, leidenschaftliches Subjekt spricht, das dem
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›Gebot des Herzens‹ folgend handelt: ›Herz‹ meint hier das ganze Subjekt – aus diesem Grunde auch
die sich steigernde Abfolge von »Mut«, »Geist« und »Herz« in den drei letzten Versen der zweiten
Strophe.
Die Herzmetapher der ersten beiden Strophen deutet schon an, dass es sich hier um ein Liebesgedicht
handelt, was der Beginn der dritten Strophe bestätigt: »Ich sah dich«. Die wilde Bewegung des ersten
Strophenpaares bekommt eine Richtung: auf die Geliebte hin, das Du. Erstmalig tritt hier das Ich in der
ersten Person in Erscheinung – es hatte sich vorher immer ›vertreten‹ lassen: »mein Mut«, »mein Geist«,
»mein Herz«. Erstmalig auch nimmt es explizit wahr: Hatte vorher die Finsternis »hundert schwarze
Augen«, sieht jetzt das Ich. Der bedrohlichen Natursphäre wird in der Begegnung mit der Geliebten eine
andere entgegengesetzt: »milde Freude« fließt auf das Subjekt über. »Ganz war mein Herz an deiner
Seite« – wie in der ersten Strophe der hastige Ausritt bringt hier das leidenschaftlich klopfende Herz den
Rhythmus der Verse aus der jambischen Ordnung: Die ersten drei Verse der dritten Strophe weisen
Synkopen auf. Gegen die nächtliche Natur des Beginn wird hier eine freundliche Atmosphäre
metaphorisch erzeugt: »Ein rosenfarbes Frühlingswetter / Lag auf dem lieblichen Gesicht.« Die Geliebte
wird einerseits mit dieser Metapher dem Naturbereich zugerechnet – wobei dieser Naturerscheinung
andererseits emotionale Qualität zugemessen wird: »Und Zärtlichkeit für mich«.
7. Analysieren Sie mithilfe der loci a persona die Technik der Figurencharakterisierung
im 1. Akt von Goethes Egmont!
Im ersten Akt des Trauerspiels tritt Egmont als Figur gar nicht auf – meisterhaft aber gestaltet die
Exposition die unterschiedlichsten Charakteristika des Helden in der Rede Dritter über ihn: Sein Namen,
sein Geschlecht, militärischen Verdienste, also Aspekte seiner Vorgeschichte, charakterliche
Eigenschaften, seine Zuordnung zu anderen Figuren und Konflikten werden differenziert beleuchtet.
Der erste Auftritt spielt auf einem öffentlichen Platz der Stadt Brüssel, die handelnden Figuren sind
Bürger der Stadt, Handwerker, Händler und Soldaten – bürgerliche Personnage zeigt die Orientierung an
Lessing an. Graf Egmont ist Gesprächsgegenstand dieser Bürger anlässlich eines Armbrustschießens, bei
dem ein Diener Egmonts siegte. Die Bürger loben den bewunderten Adligen überschwänglich: Sowohl
seine militärischen Verdienste als auch seine menschlichen Qualitäten, seine öffentlichen attrativa werden
betont. Gleichzeitig liefert das Gespräch der Stadtbürger eine Einführung in die zentralen politischen und
konfessionellen Kernbereiche des dramatischen Konflikts. Die machtpolitische Opposition Egmonts
gegen den König von Spanien, Philipp II., und gegen dessen Noch-Statthalterin Margarete von Parma
wird ebenso erwähnt wie der konfessionelle Konflikt zwischen dem liberalen Egmont auf der einen Seite
und der inquisitionsbewehrten Gegenreformation auf der anderen. Im Gespräch der Stadtbürger wird die
›Partei‹ Egmonts noch um Wilhelm von Oranien erweitert. Die zentralen politischen Konflikte, innerhalb
derer Egmont und Alba nur als personale Statthalter fungieren, werden hier, gleichsam aus einer
Außenperspektive, eingeführt.
Im zweiten Auftritt wechselt der Schauplatz völlig, die Szene ist im Regentinnenpalast der Margarete
von Parma. Hier werden die politischen Konflikte, die der erste Auftritt schon erwähnte, aus der
gegenteiligen Perspektive angesprochen. Die Statthalterin der spanischen Krone sagt aber über die beiden
wichtigsten niederländischen Grafen: »Ich fürchte Oranien, aber ich fürchte für Egmont«, deutet also
etwas über sein mögliches (tragisches) Schicksal an.
Der dritte Auftritt zeigt Egmont, wiederum nur aus der Perspektive Dritter, in einem ganz anderen
Konflikt. Szene ist diesmal das Innere eines Bürgerhauses – mit allen Attributen fast altdeutsch-
niederländischer Beschaulichkeit: Die Tochter sitzt mit dem, der sie von Jugend auf liebt – einseitig zwar
–, in der guten Stube; er hilft ihr, Garn zur Handarbeit zu bereiten; die Mutter sitzt im Sessel, strickend.
Zwischen Mutter und Tochter entspinnt sich ein Dialog, der Egmont thematisiert. Dieser wird, wie im
ersten Auftritt, durch Aufbringung seiner attrativa charakterisiert: Er tritt hier auf – in der Rede Dritter –
als Geliebter und Mensch; der dramatische Konflikt um den Protagonisten wird erweitert ums Private:
Zwischen dem Grafen Egmont und der bürgerlichen Klare besteht eine heimliche und illegitime Liebe.
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Die meisterhafte Exposition führt den Protagonisten aus verschiedenen Perspektiven und in
verschiedenen ›Identitäten‹ vor: Einerseits aus der Sicht des Stadtbürgertums als Volksheld, der
gewissermaßen die Bewahrung einer (klein-)bürgerlichen Utopie garantiert; aus dem Blickwinkel der
spanischen Statthalterin als politischen und konfessionellen Gegner, den es auszuschalten gälte; drittens
aus der Perspektive der liebenden Klare als Mensch und Geliebten, im Gegensatz zum Politisch-
Öffentlichen in seiner Privatheit. Sowohl auf der staats- und konfessionspolitischen als auch auf der
privaten Seite sind also mit diesen drei Auftritten jene Konflikte aufgerissen, in die Egmont unmittelbar
eingebunden ist – allerdings ohne dass der Held selber auftreten muss: Er wird exponiert, ohne selber
anwesend zu sein, gleichwohl kreist alles nur um ihn – gerade weil er (noch) fehlt.
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Kapitel. 5.2
1. Auf welche Gegenstände kann sich Verstehen beziehen?
Auf prinzipiell alle Kunstgegenstände (literarische Texte, Bilder, Skulpturen, Architektur, Musikwerke),
aber auch allgemein mündliche oder schriftliche Äußerungen und sinntragende Konstruktionen,
Alltagserscheinungen oder Lebensvollzüge (Heidegger). Verstehen kann dabei aber nicht abschließendes
Interpretieren bedeuten, insofern dieses immer unscharfe Ränder des Nichtverstehens aufweist und
sinntragende Elemente in wechselnden Kontexten auch andere Bedeutungen erhalten können.
2. Welche Bereiche umfasst das Modell des hermeneutischen Zirkels – und warum könnte
man besser von einer Spirale sprechen?
Eine Zusammenfassung der Konzeption des hermeneutischen Zirkels findet sich auf Seite 283 im Buch:
»Eine frühe Form des hermeneutischen Zirkels ist von Luther geprägt worden, für den sich das Verstehen aus dem
genauen Lesen der Bibel als Inbezugsetzen von Texteinzelnem und Ganzem ergibt. Von Dilthey ist der Begriff
ausgeweitet worden auf das Zusammenspiel von individuellem Horizont und allgemeinem Horizont der
geschichtlich überlieferten Welt in Form des Kunstwerks. Allgemeiner und heute gebräuchlicher kursiert der Begriff
im Sinne Heideggers und Gadamers, die jede Deutung als Begegnung zwischen dem Verstehenden und dem
Fremdhorizont, im besonderen Fall zwischen dem Erkenntnisrahmen des Lesers und den neuen Perspektiven des
Gelesenen oder Erkannten bezeichnet. In diesem Sinne ist Verstehen, Lesen und Erkennen immer eine
Deutungshandlung – denn niemals liegt der Sinn einer Botschaft vollständig vor oder ist er schon vollständig
interpretiert, vielmehr konstruiert ihn jede neue Interpretation erst.«
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5. Entwerfen Sie im Sinne der ›konstruktiven Hermeneutik‹ bzw. der ›aktiven Rezeption‹
eine Unterrichtsdoppelstunde zu Rilkes Gedicht Der Panther!
Dass Rezeption nicht einfach ein passiver Vorgang ist, ist längst zum Grundwissen der Literaturdidaktik
geworden, die praktisch darüber reflektiert hat, wie die analytischen Abschnitte des Unterrichts mit
konstruktiven verbunden werden können. Ausführliche Anmerkungen dazu finden Sie in dem Band
Einführung in die Deutschdidaktik, hg. von Ralph Köhnen. Stuttgart/Weimar 2011, S. 135–204). Als
Beispiel Rilkes Panther:
Das Gedicht wird erlesen, indem die Schülerinnen und Schüler versuchen, es in rhythmisches Gehen
zu übersetzen, und zwar im geschlossenen Klassenraum sowie ›outdoor‹. Darüber sollten Eindrücke
ausgetauscht werden. Sodann können erste Eindrücke zu Einzelbildern als Vorstufe einer Analyse
fungieren: Gibt es eine Bildstruktur, wie wird die Blickwahrnehmung des Lesers gelenkt? Welche
Seheindrücke werden dem Panther zugeschrieben? Damit artikuliert Rilke zweifellos ein Lebensgefühl,
was (Bildanalysen einbeziehend) mit dem eigenen Geherlebnis verglichen werden kann. In der zweiten
Stunde soll gezeigt werden, dass alle Befindlichkeiten über Sprachzeichen kommuniziert werden: Die
artistische Gestalt des Gedichts (Auffälligkeiten bzw. Alliterationen, Wiederholungsstrukturen) weist es
als Artefakt aus. Es folgt eine Einordnung in die dichterische Strömung des Symbolismus.
Grundgedanke der Aktion des Gehens ist es dabei, Interesse zu wecken, dem Gedicht aber auch eine
sinnliche Wahrnehmung zu ermöglichen. Darüber wiederum lässt sich die Diskussion intensivieren und
schließlich die Memorierbarkeit des Textes durch den Zusammenhang von Handlung und Analyse
verbessern.
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Kapitel 5.3
1. Was kennzeichnet Staigers geistesgeschichtliches Konzept und gegen welche Fronten grenzt
er sich ab?
Um den Blick auf die werkimmanente Ebene zu intensivieren, distanziert sich Staiger vom
psychologischen Positivismus Wilhelm Scherers (der Texte als historische Bestandsaufnahmen oder
Krankengeschichten mit kausalen Herleitung der Werke von Erlebtem, Erlerntem und Ererbtem begriff),
von der Geschichtsschreibung aus der Genieperspektive, wie sie etwa Friedrich Gundolf vornahm, von der
zeitgenössischen nationalistischen Geschichtsschreibung etwa Josef Nadlers, auch von der
Geistesgeschichte, insofern sie Texte mit Philosophien verbindet oder darin aufgehen lässt.
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Kapitel 5.4
1. Wie lässt sich die Annahme eines aktiven Lesers hermeneutisch begründen?
Anhaltspunkte lassen sich auf der praktischen Ebene der Leseerfahrung ebenso wie bei der
theoretischen Beschreibung der Rezeptionsverhältnisse finden. Dass bei einem Text von
unterschiedlichen Leser/innen zu unterschiedlichen Epochen ganz andere Perspektiven realisiert
werden, wusste bereits die romantische Hermeneutik, die ohnehin von einer stark subjektivierten
Wahrnehmung aushing. Mit dem Grunddilemma, dass Leser offenbar immer eine zutreffende Deutung
suchen, aber schon bei der privaten Erst- und Zweitlektüre Differenzen bemerken, arbeitet die
Hermeneutik seitdem: Zwischen (text-)objektiver Analyse und (leserseitig) subjektiver Analyse
pendeln die Positionen, was sich schließlich noch in Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung
niederschlägt – die aber aufgrund der sich stets verschiebenden Horizonte theoretisch nicht stattfinden
kann. Die hermeneutische Betonung eines subjektiven Vorverständnisses bzw. Horizontes ist
mittlerweile auch lesepsychologisch weithin bestätigt worden.
Daraus können ›Konkretisationsamplituden‹ erstellt werden, die die Ausschläge des subjektiven Faktors
beim Lesen veranschaulichen: Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit stellen prinzipiell einen ›Spielraum-
Faktor‹ literarischer Werke dar, deren kognitive und emotionale Verarbeitung zu untersuchen ist.
Ähnliche Annahmen haben empirisch-konstruktivistische Studien für wissenschaftliche Analysen
gezeigt: Auch dort werden Bedeutungen nicht nur rezipiert, sondern in Sinnfiguren konstruiert
(Kohärenzbildung). Demzufolge wäre das Kriterium für Deutungen nicht ›Richtigkeit‹, sondern
›Viabilität‹, d.h. die Frage, wie es sich mit einer Interpretation leben lässt bzw. wie weit man mit ihr
kommt, welche Perspektiven sie verspricht, ob die abgeleiteten Folgerungen aufgehen etc. Somit wird das
Interpretieren zur Mitkonstruktion von Welten – die wiederum von vielen Leser/innen im Gespräch
diskutiert werden.
3. Was sind Leerstellen und wie kann der Leser mit ihnen umgehen (Bsp.: der Erzählschluss
von Georg Büchners Lenz)?
Es handelt sich dabei nicht einfach um semantische Sinnlücken, sondern um Gelenkstellen, die dem Leser
entscheidende Tätigkeiten ermöglichen: Sie stellen Einschnitte dar, wo der Leser Vergangenes
zusammenfassen und dieses mit dem zu Erwartenden verknüpfen kann; er kann dort Imaginationen bilden
und sich produktiv betätigen, daraus wiederum Hypothesen über den Handlungsablauf aufsellen und diese
dann im Fortlauf der Lektüre abgleichen. Büchners Lenz weist mit dem lakonischen Schlusssatz ein
bemerkenswertes Ende auf, das entweder als fortwährende Geistesabwesenheit Lenz’ gedeutet werden
kann oder aber als ein weiterer temporärer Bruch in seiner Geschichte, nach dem wieder neue
Entwicklungen denkbar wären. Das nicht abgerundete Ende fordert den Leser geradezu auf, Hypothesen
zu entwerfen oder die Geschichte Lenz’ weiterzudenken mit möglichen Konsequenzen.
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Kapitel 5.5
1. Auf welchen Gebieten hat sich die Psychoanalyse auf die Literaturwissenschaft ausgewirkt?
In der Analyse der künstlerischen Schaffensprozesse, wobei die Autorpsychologie weiterentwickelt
worden ist – angeregt von Freuds Ausführungen über den Dichter und das Phantasieren bis zur Literatur-
und Kunstpsychologie von Ernst Kris und schließlich zur Kreativitätsforschung (Guilford, Brodbeck).
In der Psychologie der Figuren, deren Konstellationen im Text untersucht werden, ohne dabei auf den
Autor zu schließen – Fragestellungen sind z.B., warum eine Figur auf bestimmte Weise denkt, phantasiert
oder agiert und wie ihre rätselhaften Verhaltensweisen zu erklären sind. Besonders die problematischen
Gestalten hat die Literaturwissenschaft Analysen geliefert (Wünsch); auch werden Figuren zu einem
Persönlichkeitstyp (etwa dem Melancholiker oder der Hysterikerin) zugeordnet.
In der Rezeptionstheorie hat Holland die sehr unterschiedlichen Reaktionen empirischer Leser auf
einen Text mit Mitteln der freien Assoziationen und der schriftlichen Aufzeichnungen untersucht, um
ferner durch psychoanalytische Interviews parallele Tiefenstrukturen von Texten und Lesern aufzudecken.
Diese seien eine Voraussetzung für jede Interpretationstätigkeit.
In der Freiburger literaturpsychologischen Schule sind anthropologische Komplexe thematisiert
worden wie das Trauma (Mauser) oder Literatur und Sexualität (Cremerius), es finden sich hier aber auch
weitere autorpsychologische Erörterungen (Pietzcker, Mauser).
Viele Anregungen der Psychoanalyse wurden auch über Jacques Lacans strukturale Psychoanalyse
weitergegeben – besonders im Aufweis der Heteronomie der literarischen Figuren, die gezeigt hat, dass
einzelne Subjekte nicht autonom sind, sondern sich wechselseitig bestimmen. Den Ansatz der Auflösung
und Fremdbestimmtheit des Subjekts hat insbesondere Friedrich A. Kittler aufgegriffen, um an seiner
Deutung von Goethes Wilhelm Meister zu zeigen, wie die Hauptfigur durch fremde Schriften bzw. ein
Archiv strukturiert wird. In dieser Sicht wird der Mensch zum Medium für die Wünsche und die Sprache
anderer. Dieser Ansatz führte in den 1980er Jahren zur Beobachtung des Sprechens und Schreibens unter
Medienbedingungen.
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Kapitel 5.6
1. Mit welchen Begriffen wird im Strukturalismus Sprache analysiert (vgl. etwa de Saussure)?
Saussure hat ein zweiseitiges Zeichenmodell in die Diskussion gebracht, das aus Signifikant
(Bezeichnendes, Lautbild) und Signifikat (Bedeutung, Gemeintes) besteht und auf die Wirklichkeit als
dritter Größe referiert. Veränderungen im Sprachsystem geschehen als wechselseitige Bestimmung der
Signifikanten durch Unterschieds- bzw. Oppositionsbildung.
3. Analysieren Sie Schillers Das Lied von der Glocke nach Oppositionsstrukturen!
Folgende Leitdifferenzen sind zu erkennen, die auch untereinander in Beziehung treten, sich verstärken
oder kontrastiert sein können:
Leben – Tod
Kunst – Natur
Himmel – Erde
Arbeit – Kunst
Reflexion – Handeln
oben – unten
draußen – drinnen
Jungfrau – Jüngling
Sprödes – Weiches (Elementares)
Leidenschaft – Liebe
Blühen – Vergehen
Erde – Himmel
Mensch – Schicksalskraft
Gut – Böse
Zwietracht – Friede
Gewalt (Revolution) – Friede (Evolution).
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Kapitel 5.7
1. Skizzieren Sie verschiedene Fragestellungen sozialgeschichtlicher Literaturwissenschaft!
Mit Beginn der 1970er Jahre etablierte sich eine sozialgeschichtliche Betrachtungsweise der Literatur. Die
Sozialgeschichte der Literatur stellt die gesellschaftlichen Bedingungen und Bezüge literarischer Texte ins
Zentrum ihrer Überlegungen. Die sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft untersucht generell das
Zustandekommen, die Distribution und auch die Rezeption von Texten unter historisch sich wandelnden
sozialen Bedingungen.
Die Untersuchungsgegenstände der sozialgeschichtlichen Ansätze der Literaturwissenschaft können
zum einen textinterne und zum anderen textexterne Elemente sein. Zu den textinternen Fragestellungen
gehört die Frage nach inhaltlichen oder stofflichen Momenten eines Werks, die einen Bezug zu oder eine
Abhängigkeit von konkreten gesellschaftlichen, politischen oder sozialgeschichtlichen Fakten außerhalb
des Textes haben. Stoffe, Motive, Figuren und Figurenkonstellationen, historische, soziale, politische
Daten im literarischen Text werden in Bezug gesetzt zu sozialgeschichtlichen Daten außerhalb des Textes.
Der literarische Text dokumentiert und reflektiert die Sozialgeschichte (z. B. Thematisierung der
Standesdifferenz zwischen Adel und Bürgertum in Lessings Emilia Galotti). Eine andere textinterne
Fragestellung ist die Frage nach formalen Momenten, also nach formalen Elementen des Textes, die in
Relation, Korrespondenz oder Abhängigkeit gegenüber Gesellschaftlichem stehen (z. B. die metrisch
stabile Hexameterform als Antwort auf die Orientierungskrisen der Französischen Revolution in Goethes
Versepen der 1790er Jahre). Auch die Überlegungen von Georg Lukács, Walter Benjamin und Theodor
W. Adorno sind dieser Fragestellung zuzuordnen (siehe Aufgabe 2).
Die Frage nach dem soziologischen Rahmen des literarischen Kommunikationssystems ist eine der
textexternen Fragestellungen. Gegenstand dieser Frage sind die gesellschaftlichen Orte, an denen Literatur
produziert und rezipiert wird (z. B. Klöster und Höfe im Mittelalter oder die Höfe des 18. Jahrhunderts).
Es wird untersucht, unter welchen sich wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt literarische
Kommunikation existiert.
Die Frage nach den Bedingungen der literarischen Produktion ist ebenfalls textextern. Dabei steht
die Autorseite bzw. die juristische, ökonomische und soziologische Situierung und Absicherung des
Autors im Zentrum der Untersuchungen. Dazu gehört beispielsweise die Abhängigkeit des Autors von
einem Mäzenat, der Einfluss durch sein Umfeld oder die juristische Absicherung durch Nachdruckverbot
und Urheberrecht. Es wird danach gefragt, ob der Autor einen in die Produktion eingreifenden Gönner hat,
ob er nebenberuflich der Tätigkeit des Autors nachgeht oder die Autorschaft sein Erwerbsberuf ist.
Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft thematisiert auch die gesellschaftliche Herkunft des
Autors und die Art und Weise, wie die Standes- oder Schichtenzugehörigkeit des Autors Einfluss auf die
Texte hat, die er produziert, auf die Programmatik seines literarischen Schaffens und auf seine
spezifischen Wirkungsabsichten nimmt. Ebenfalls Gegenstand dieser Betrachtungen ist die historisch und
eventuell individuell unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung des Autors (z. B. hohe soziale
Anerkennung oder abschätzige Beurteilung), die eventuell mit der selbst gewählten Isolation oder der
Abtrennung von gesellschaftlichen Gruppen oder Institutionen einhergeht.
Bei der Frage nach Instanzen und Institutionen der Vermittlung von Literatur im literarischen
Kommunikationssystem steht die mediale Seite von Literatur im Zentrum der Untersuchungen. Die
Handschriften des Mittelalters, die Entwicklung des Buchdrucks oder der Schnellpresse, die Entstehung
und Entwicklung des Buchmarkts und des Verlags- und Medienwesens und anderes sind Gegenstand
dieser Untersuchungen.
Die Leser- oder Rezipientensoziologie fragt nach der Sozialgeschichte des historisch spezifischen
Publikums, also danach, welches Theater- oder Lesepublikum zu einer bestimmten Zeit existiert hat,
welche gesellschaftlichen Gruppen welche Texte zu welcher Zeit auf welche Weise rezipierten und aus
welchen möglichen Gründen und gegebenenfalls mit welcher institutionalisierten Unterstützung sie lesen
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oder ins Theater gehen. Hierbei rücken auch nicht-kanonische literarische Texte, Trivial- und
Unterhaltungsliteratur usw., in den Blick der literarischen Fragestellungen.
Die empirische Rezeptionsforschung fragt darüber hinausgehend danach, wie ein Text in die
Gesellschaft hineinwirkt, ob sich eine solche Wirkung dokumentieren lässt, wie sich eine dokumentierbare
Wirkung zu den programmatischen Wirkungsabsichten von Autoren oder Autorengruppen verhält und wie
sich ein Text, unabhängig von oder entsprechend der Schriftstellerabsicht, zu der ihn umgebenden
gesellschaftlichen Ordnung verhält.
Die Frage nach der gesellschaftlichen Rolle von Kunst und Literatur gehört ebenfalls zu den
externen Fragestellungen. Die Kunst- oder Literatursoziologie erörtert, welche Rolle Kunst bzw. Literatur
überhaupt innerhalb einer Gruppe von Subsystemen in der Gesellschaft spielen. Dabei geht es
beispielsweise um die Anerkennung der literarischen Kommunikation als eines der wichtigsten
gesellschaftlichen Symbolsysteme oder als eines Korrektivs der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder um
die wachsende Randständigkeit der Literatur in der modernen Mediengesellschaft. Die Frage nach dem
Verhältnis des Systems Literatur zu anderen gesellschaftlichen Systemen ist eng verknüpft mit
Systemtheorie der Literatur.
im Kunstwerk selbst bestimmt, ist nur hier in dieser Form existent und wird von niemandem außerhalb des
Textes diktiert. Zum anderen arbeitet am Kunstwerk gleichzeitig etwas mit, das außerhalb seiner liegt,
etwas Gesellschaftliches. Durch Sprache, Versformen, Gattungsstrukturen, Erzähltechniken oder
ähnliches schreibt sich Gesellschaft in die Form des Kunstwerks ein. Adorno entwickelte Möglichkeiten,
wie die Form eines Textes als Abdruck gesellschaftlicher Strukturen verstanden werden kann und
realisierte damit die Forderung Benjamins, welche die wichtigste Fragestellung moderner Kunstsoziologie
darstellt.
Walter Benjamin setzt die schriftstellerische Technik, die formale Organisation der erzählten Welt, in
Beziehung zu den Produktionsverhältnissen seiner Epoche. Die Techniken der materiellen Produktion, die
durch die organisatorische Struktur einer Gesellschaft mitbestimmt sind, spiegeln sich im Kunstwerk in
der erzählerischen Technik der Werke, ihrer Komposition, ihrem Bauprinzip, ihrer Form. Adorno
übernimmt Benjamins These über das generelle Verhältnis zwischen formaler Organisation von
Gesellschaft und Werk.
Laut Theodor W. Adorno wird ein Werk durch bestimmte stilistische Eigenarten und erzählerische
Kompositionsweisen konstituiert, die innerhalb des Werks eine ganz spezifische Logik entwickeln. Diese
Logik, der das Werk folgt, ist nicht nur Ergebnis der subjektiven Entscheidung des Autors, sondern auch
bestimmt durch die Logik der außerkünstlerischen Realität. Zwischen der erzählerischen Technik sowie
dem stilistischen Habitus eines Werks und der subtilen Logik des gesellschaftlich Allgemeinen lassen sich
genaue Korrelationen aufweisen. Das Kunstwerk verhält sich also mimetisch zu seinem Äußeren. Neben
der ästhetisch realisierten Mimesis an das Gesellschaftliche ist im Kunstwerk, ebenfalls mit ästhetischen
Mitteln, ein utopisches Moment aufgehoben. Das Utopische macht den ›geschichtlichen Wahrheitsgehalt‹
der Werke aus und zeigt sich bereits im Beharren des Werks auf seiner Individualität und seiner
Geschlossenheit. Indem das Kunstwerk über das gesellschaftlich Existente hinausweist, erhält es ein
wesentliches Widerstandspotenzial. Indem das Kunstwerk in seiner Form den Anspruch erhebt, autonom
zu sein, zeigt es die Möglichkeit, für Individuen autonom anstatt funktionalisiert in einer entfremdenden
Gesellschaft zu sein. – Gesellschaft kann sowohl auf der Ebene des Inhalts als auch auf der Ebene der
Form in Literatur sichtbar werden.
4. Erarbeiten Sie sich am Beispiel von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Tragikomödie Der
Hofmeister zentrale Aspekte des Textes im Blick auf sein gesellschaftliches Umfeld!
Lenz’ Hofmeister verhält sich im Wesentlichen kritisch zu seinem gesellschaftlichen Umfeld: Die Defizite
öffentlicher Erziehungsinstitutionen und diejenigen der althergebrachten Praxis des Hofmeisters, also
eines Privatlehrers, werden in der Gegenüberstellung des Geheimen Rats und des Majors sichtbar
gemacht. Hier übt der Text einerseits Gesellschaftskritik, macht aber damit auch ein für die (bürgerliche)
Gesellschaft des Aufklärungsjahrhunderts zentrales Thema, zu seinem Gegenstand: Bildung und
Erziehung – als Aufgabe der Gesellschaft. Der Missstand, dass mehr oder weniger gut ausgebildete bzw.
studierte bürgerliche Individuen als Hofmeister oder Informator in Dienstbotenpositionen adlige Kinder
oder Jugendliche erziehen, wird an Läuffer dramatisch deutlich, Standesunterschiede werden einerseits im
Verhältnis Läuffers zu seiner Herrin, insbesondere aber in der Unmöglichkeit seiner Liebe zu Gustchen
sichtbar gemacht. Die ständisch geordnete Gesellschaft verhält sich restriktiv zu individuellen Ansprüchen
auf Lebensgestaltung und Ausleben eigener Wünsche und Hoffnungen. Mit der unehelichen Mutterschaft
Gustchens rückt der Text zudem in die Nähe derjenigen Dramen, die den Kindsmord am unehelich
gezeugten Baby auf die Bühne bringen (Wagner: Die Kindermörderinn; Goethe: Faust I), und stellt an
Gustchen, allerdings ohne die katastrophale Konsequenz des Kindsmords, die brutalen Mechanismen dar,
mit denen die frühneuzeitliche oder vormoderne Gesellschaft den Ausschluss der ungewollt Schwangeren
aus allen gesellschaftlichen Sicherheiten betreibt.
5. Wie bringt Georg Büchner in seinem Woyzeck die Entfremdung bzw. moderne
Verdinglichung des Individuums zum Ausdruck?
Büchners Woyzeck-Figur wird in dramatischen, letztlich tragisch endenden Abhängigkeitsverhältnissen
vorgeführt, die gewissermaßen stellvertretend die Verdinglichung oder Entfremdung des modernen,
insbesondere des unterprivilegierten Individuums illustrieren. Woyzeck ist zwar Titelfigur des Dramas, ist
aber nicht Protagonist im eigentlichen Sinne, da er primär nicht selbständig handelt, sondern da an ihm
gehandelt wird. Im Verhältnis zum Doktor ist er ›Sache‹ oder ›Ding‹, mit dem der Doktor Experimente
durchführt. Die Verwendung der medizinischen Fachsprache durch den Doktor weist zudem auf das
gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnis hin, da dieser als gebildeter Mensch ein Bildungsprivileg hat,
das Woyzeck nicht aufweisen kann. In der militärisch-hierarchischen Herrschaftsbeziehung zum
Hauptmann wird nochmals deutlich, dass Woyzeck als Mensch aus der unteren Schicht keine Privilegien
hat und somit von seinem Menschsein selbst entfremdet wird. Damit greift das Drama gewissermaßen auf
die marxistische Annahme vor, dass der Mensch in der modernen bürgerlichen Gesellschaft entfremdet
sei. Auch Woyzecks Abhängigkeit von Marie gehört in dieses Feld – und demonstriert, dass diese Figur
selbst in ihren privaten Beziehungen nicht selbstbestimmt agieren kann und zum Spielball der Handlungen
anderer wird.
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Kapitel 5.8
1. Der Diskursbegriff wird auf diversen Gebieten verwendet. Können Sie die unterschiedlichen
Bedeutungen skizzieren?
›Diskurs‹ hatte seit dem 18. Jahrhundert vor allem die Bedeutung von ›Gespräch‹, ist in diesem Sinne im
angloamerikanischen Raum als Gesprächsanalyse (discourse analysis) etabliert worden und wird ähnlich
noch heute in der linguistischen Gesprächsanalyse gebraucht (vgl. Ehlich 1994). In Deutschland ist der
Begriff insbesondere von Jürgen Habermas verwendet worden im Sinne von ›Diskussion‹, mittels derer
sich Einzelne über die Gültigkeit von Normen verständigen und versuchen, zu einem akzeptablen Resultat
zu gelangen.
In der engeren Anwendung auf die Erzähltheorie wird in Frankreich discours als Fortlauf des
Erzählens in der schriftlichen Narration gefasst, die formal zu analysieren ist (Genette 1994).
Etymologisch bedeutet lateinisch discursus das Durcheinander-, Hin- und Herlaufende, und in dieser
erweiterten Form hat Foucault dasjenige, was ›diskurriert‹, als Sprach- und Denkmuster einer Epoche
analysiert, die die politischen Meinungen, konkreten Verhaltensweisen oder auch Literatur bestimmen,
genauer als »Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören« (Foucault 1973).
Der Begriff ist mit seinen gesellschaftlichen Bedeutungen mittlerweile von den Sozialwissenschaften,
Kultur- und Geschichtswissenschaften wie auch in Politologie und Psychologie importiert.
2. Unter welchen Aspekten hat Foucault den Machtbegriff in die Diskursanalyse gebracht?
Den ›Willen zum Wissen‹ führt Foucault letztlich auf den ›Willen zur Macht‹ (Nietzsche) zurück: Der
Anspruch auf die ›wahre‹ Interpretation einer Sache, einer Gegebenheit oder eines gesellschaftlichen
Umstandes zeigt immer auch eine Beherrscherintention, indem andere Beschreibungen ausgegrenzt
werden – und damit auch Beschreibende, also Personen. Diskursinhaber können dann zu Vertretern von
Institutionen werden (Schulen, Universitäten, Gerichte, Ärztekammern oder Verwaltungsbüros,
Parlamente etc.) die als Machthaber die Herrschaft von Diskursen als Lehrmeinungen oder politische
Dogmen umsetzen. Dagegen richtet Foucault seine Analysen der Entstehung von Diskursen im Sinne
einer Institutionenkritik.
3. Warum sind Interpretationen auch Machtspiele (denken Sie an Schule und Universität)?
Zu beachten ist die zitierte Ansicht Foucaults, Interpretieren heiße »sich eines Systems von Regeln, das in
sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt, gewaltsam oder listig zu bemächtigen, und ihm eine Richtung
aufzuzwingen, es einem neuen Willen gefügig zu machen, es in einem anderen Spiel auftreten zu lassen
und es anderen Regeln zu unterwerfen« (Foucault 1974c, S. 95). Die Wahrheit von Interpretationen ist
demnach eine willkürliche Größe, die Machtzwecken unterworfen werden kann – sich die Deutungshoheit
eines Befundes zu sichern kann im negativen Fall bedeuten, über die Richtigkeit von Standpunkten zu
entscheiden, um damit (siehe Noten- und Zertifikatvergabe) über Lebensverläufe oder Karrieren zu
bestimmen.
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Manfred Schneider hat die Politiken der Schrift analysiert, d.h. hinter dem Funktionieren von
Speichern das Programm gesucht, das ihnen zugrunde liegt – es gibt Diskursstrategien hinter dem
sichtbaren technischen Medium. Dies gilt nicht nur für Zahlen- und Datenspeicher, sondern auch für all
jene Archive, die mit Aufzeichnungen von menschlichen Daten, also Unterlagen, Dossiers, Akten,
Urkunden oder Notizen gefüllt sind – bis hin zu Verhörprotokollen, Geständnissen oder
autobiographischen Notizen. Zusammen bilden diese Texte eine kulturelle Matrix, die wiederum
literarischen Texten zugrunde liegt.
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Kapitel 5.9
1. Nennen Sie Teilbereiche, in die die moderne Gesellschaft sich ausdifferenziert hat!
Luhmann (1984) setzt die funktionale Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft um 1770 an;
eigenständig sich entwickelnde Bereiche oder Systeme wären zum Beispiel Politik, Recht, Ökonomie,
Medizin, Kunst, Religion, die sich nach je eigenen Leitbegriffen ausdifferenzieren.
2. Welches Jahrzehnt gilt als die Sattelzeit für die Entwicklung zur Moderne?
Die 1770er Jahre, die sich allerdings bei näherem Hinsehen auch nur als Anhaltspunkt erweisen bzw. als
eine Schwellenzeit, in der latent schon vorhandene Entwicklungen zum Durchbruch kommen. So gibt es
bereits im 16. Jahrhundert Anzeichen für ein stark selbstreflektierendes Kunstsystem mit eigenem
Künstlerselbstbewusstsein und einem Autonomieanspruch, für die Literatur hingegen lässt sich plausibel
behaupten, dass sie sich um 1770 als eigenständiges System konstituiert (Geniebegriff, Autor als
Rechtssubjekt mit geistigem Eigentum, programmatische Selbstreflexion, intertextuelle Vernetzung, freie
Lizenz für die Einbildungskraft).
3. Wie könnte man den Begriff der Autopoiesis auf Literatur anwenden?
Die ›Selbsthervorbringung‹ beginnt dort, wo Literatur sich aus sich selbst heraus definiert und sich selbst
die Gesetze gibt. Dies ist auf der Ebene des Autorselbstverständnisses und der zunehmenden
Dichtungsprogramme zu beobachten (das Genie gibt sich selbst die Regeln und weicht von den
normativen Poetiken ab), die Texte berücksichtigen ästhetische Gesichtspunkte (Schönheit,
Interessantheit, Ganzheit etc.) und nehmen stärker Bezug aufeinander (zitieren sich etc.), der Leser
bekommt Stoff, um seine Einbildungskraft zu entwickeln. All dies passiert unter ausdrücklicher
Zurückweisung aller Fremdansprüche von anderen Systemen: Begriffe wie ›nützlich‹, ›gut‹ oder ›wahr‹
werden von den Romantikern vehement abgewehrt.
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Kapitel 5.10
1. Inwiefern bezeichnet McLuhan Medien als ›Extensionen‹ des Menschen?
McLuhan hat sich als Medienanthropologe verstanden, der über Wahrnehmungs- und
Ausdruckstätigkeiten forschte, die durch Medien intensiviert oder grundlegend geändert worden sind. Die
Wahrnehmung via Medien ist ausgeweitet: Mit den Medien schaffe der Mensch sich gleichsam eine
gedehnte Haut, er lege sich künstliche Organe zu, die als Extensionen seines Nervensystems und seines
Machtbereichs wirken: »Heute, nach mehr als einem Jahrhundert der Technik der Elektrizität, haben wir
sogar das Zentralnervensystem zu einem weltumspannenden Netz ausgeweitet und damit, soweit es
unseren Planeten betrifft, Raum und Zeit aufgehoben« (1964/1995, S. 15).
4. Vergleichen Sie Ror Wolfs Weiter mit Musik als Tonproduktion und als Text! –
Welche Sinneseffekte der unterschiedlichen Medien erkennen Sie?
Das geschriebene Wort wird anders wahrgenommen als das radiophone; die Lektüre könnte schal wirken,
das Auge neigt stärker zum Überfliegen oder summarischen Wahrnehmen, das Gehör fordert eine andere
Aufmerksamkeit und ist den Reizen eher passiv ausgeliefert. Die Brüche, auch die Wiederholungseffekte
treten in der Hörfassung stärker hervor; achten Sie auf Echolalie-Effekte (Bedeutungsverlust eines Wortes
oder Satzes nach oftmaliger Wiederholung, das Wort tritt dann als eigener Klangkörper hervor, dem die
Bedeutung abhanden gekommen ist – eine Art V-Effekt).
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5. Wieso lässt sich Schnitzlers Leutnant Gustl im Zusammenhang mit dem Grammophon
sehen?
Das von Edison erfundene Grammophon gehört zur Gruppe der Wiedergabegeräte von gespeicherten
Geräuschen oder Stimmen (eine Vorstufe dazu war der Parlograph als reines
Stimmenaufzeichnungsgerät). Da Leutnant Gustl vollständig aus einem inneren Monolog besteht,
funktioniert die Augenlektüre ähnlich wie das Hören einer Sprechplatte über das Grammophon. Allerdings
handelt es sich um einen doppelten Illusionseffekt: Die Hauptfigur scheint ihre inneren Stimmen zu
äußern und wie auf einem Phonographen zu speichern; der Leser scheint eine Schallplatte zu hören.
Natürlich bleibt der Text ein Stück Literatur, die gewisse Erzählprinzipien beibehält (Spannungsbogen,
Konflikte, Seelenspannungen, komische Auflösung).
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Kapitel 5.11.4
1. Diskutieren Sie das Verhältnis von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft(en)!
Die wissenschaftlichen Disziplinen der Literatur- und Kulturwissenschaft unterscheiden sich zunächst
durch den jeweiligen Gegenstand, den sie behandeln. Die Literaturwissenschaft auf der einen Seite befasst
sich mit schriftlich fixierten, sprachlich-ästhetisch gestalteten und zumeist fiktionalen Texten, wohingegen
sich die Kulturwissenschaft auf der anderen Seite im Wesentlichen kulturellen Phänomenen und ihrer
Analyse widmet. Die Vielzahl an Strukturen und Erscheinungen, die hierbei ins Zentrum
wissenschaftlicher Bemühungen geraten, deutet bereits an, dass das Gegenstandsfeld der
Kulturwissenschaften jegliche geisteswissenschaftliche Disziplin miteinschließen kann, die ihre
Gegenstände in den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen verortet. So liegt es nahe, auch die
Literaturwissenschaft als eine der Disziplinen zu sehen, die unter den Sammelbegriff der
Kulturwissenschaften fallen. Doch obwohl die kulturwissenschaftliche Analyse als methodische
Erweiterung der Literaturwissenschaft angesehen werden kann, kann diese gleichwohl nicht durch jene
ersetzt werden – die Erforschung der Literatur bedarf spezifischer Methoden, um ihrer Komplexität
gerecht zu werden.
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4. Beschaffen Sie sich Lessings Emilia Galotti und/oder Minna von Barnhelm und arbeiten
Sie die spezifische Modellierung von Weiblichkeit heraus!
Lessings Emilia Galotti thematisiert, insgesamt durchaus kritisch gegenüber den gesellschaftlichen
Auffassungen oder Modellierungen von Weiblichkeit, insbesondere an der Titelfigur eine Vielzahl von
Aspekten eben dieser Modellierungen von Weiblichkeit (in der Folge werden nur einige zentrale dieser
Momente stichpunktartig genannt):
• Die Tochter innerhalb der (bürgerlichen) Familie ist Objekt der väterlichen Erziehung.
• Die Tochter innerhalb der (bürgerlichen) Familie ist Gegenstand einer nicht die gegenseitige Liebe der
›Betroffenen‹ voraussetzenden Heirats-›Politik‹: Appiani ist der Wunsch-Schwiegersohn Odoardo
Galottis, weil er mit seinen Tugendvorstellungen und seiner Distanz zur höfischen Gesellschaft ein
(allerdings blasses) Abbild von Emilias Vater ist.
• Mädchen bzw. Frauen sind rechtlos, wenn sie nicht einer männlich dominierten Familie zugeordnet
sind: Entweder sind sie der Familie (und damit der Macht) des Vaters unterworfen – oder der Macht
ihres Ehemannes. Insbesondere der Vater organisiert und überwacht den reibungslosen Übergang von
der elterlichen Herkunftsfamilie in die Zielfamilie.
• Dass dabei (ebenso wie schon in der Tugenderziehung) die Sinnlichkeit der jungen Frau völlig
übergangen wird – von Selbstbestimmung der Partnerwahl ganz zu schweigen – löst das Tragische an
diesem Trauerspiel ja erst aus: Gegenüber den Avancen des Prinzen fühlt Emilia ihre Sinnlichkeit
erwachen (die die Erziehung des Vaters verschüttet hatte, die Appiani in ihr augenscheinlich niemals
ausgelöst hatte). Unterdrückte weibliche Sinnlichkeit gefährdet hier also väterliche bzw. männliche
Ordnung.
• Dass selbstbestimmte Partnerwahl in einer solchen, väterlich dominierten Familie tragisch enden
kann, illustriert Lessings frühes Trauerspiel Miß Sara Sampson (1755).
Die Titelfigur von Lessing Drama Minna von Barnhelm ist in vielerlei Hinsicht andersartig gestaltet
(wiederum nur stichpunktartig einige zentrale Momente):
• Minna ist eigenständiger: Sie reist (mit ihrer Dienerin Franziska) alleine – und befindet sich innerhalb
der dramatischen Handlung außerhalb patriarchalischer Familienstrukturen; das Drama spielt an
halböffentlichem Ort – im Gasthaus.
• Minna besteht auf ihrer – selbstbestimmten – Partnerwahl: Sie will Tellheim heiraten, allen
Gegengründen, die dieser aufführt, zum Trotz.
• Minna versucht, über die Ringintrige selbstbestimmt und mit kalkulierter List, Tellheim
zurückzugewinnen.
• Dass diese List misslingt bzw. nicht zum Ziel kommt, dass aber v.a. der dramatische Konflikt nur
durch das Schreiben des preußischen Königs, der Tellheim völlig rehabilitiert, gelöst werden kann,
ordnet auch die hier größere Selbstbestimmtheit der Frau einem übergeordneten patriarchalischen
Machtprinzip unter.
Fundament, sondern mehr auf die Ebene der Wahrnehmungsformen bezogen untersucht, sie also nicht
soziologisch, sondern als Denkformen analysiert (Ideen, Bilder, Mythen, Religionen, Philosophie,
Sprachen und allgemein zeichenhaft vermittelte Erkenntnisinhalte der unterschiedlichen Kulturen). Diese
Formen sind im Begriff des Symbols zusammengefasst; sie prägen den Wahrnehmungshorizont des
Einzelnen und bilden zugleich die Perspektive, die seine Wahrnehmung der Welt bedingt.
Beide Fragerichtungen lassen sich in kulturgeschichtlichen Fragestellungen gut miteinander verbinden.
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Kapitel 6.1
1. Welche Bereiche oder Kunstdisziplinen kann der Begriff der Intermedialität umfassen?
Gemeint ist damit zunächst das Inbezugsetzen oder Interagieren der Künste untereinander, mit beliebigen
Kombinationen (am beliebtesten wohl: Text – Bild, aber auch Musik – Wort), wobei hier die
Motivübernahmen bzw. Möglichkeiten der thematischen Verarbeitung im anderen Kunstmedium zu
analysieren sind. Ferner gibt es die technische Seite der Medien, etwa beim Zusammenhang der
beweglichen Bilder des Films mit der Erzählkunst des 19. Jahrhunderts, oder wechselseitige Einflüsse der
Künste in den akustischen Formen, zu denen etwa Literatur im Radio als Lesung oder Hörspiel entwickelt
wurde. Eine strikte konzeptionelle Eingrenzung ist schwierig, insofern das Verhältnis der Künste wie auch
deren Interagieren mit technischen Medien gemeint sein kann – dennoch ist ›Intermedialität‹ ein
anwendungsfreudiger Begriff im kulturwissenschaftlichen wie auch im didaktischen Bereich.
2. Lessings Unterscheidung von Wort und Bild wird noch heute oft als Lehrmeinung angeführt.
Referieren Sie die Argumentation, die Lessing in Kapitel 16 und 17 der Laokoon-Schrift
entfaltet, genauer.
Lessings Leitfrage ist, welches Verhältnis die Zeichen zum Dargestellten haben. Malerei bezieht sich
anders auf die Dinge als Wörter, sie braucht Figuren und Farben im Raum, Poesie hingegen arbeitet mit
›Tönen in der Zeit‹. Da die Zeichen ein bequemes Verhältnis zum Dargestellten haben sollten (oder in
dieser Weise am besten funktionieren), kann Malerei Dinge nebeneinander im räumlichen Verhältnis
(Simultaneität), Poesie aufeinanderfolgende Gegenstände bzw. Handlungen ausdrücken (Sukzessivität).
Entsprechend haben die Künste ihre spezifischen Aufgaben und auch Mängel – unbewegliche
Gegenstände sind demnach eher Sache der Malerei, hingegen sind Handlungen, Ideen oder
Personencharakterisierungen Angelegenheit der Dichtung. Bewegung kann durch bildende Kunst nicht
mittels natürlicher Zeichen dargestellt werden, Dichtung hingegen tut sich mit räumlichen Dingen schwer.
Malerei wie auch Poesie seien Vortäuschung von Lebendigkeit wesentlich.
In diesem Zusammenhang ist das Theorem des ›fruchtbaren Augenblicks‹ zu sehen, der in der Malerei
den ›prägnantesten‹ Ausblick auf das Vorangehende und das Darauffolgende erwecken, ein Höchstmaß an
Merkmalen bündeln und in der Poesie ›das sinnlichste Bild des Körpers‹ wählen soll, um der
Einbildungskraft Platz zu geben. Insgesamt ist die Argumentation Lessings aber auch taktisch zu sehen,
indem er für das Wort ein eigenes Recht reklamiert und es der puren Bildlichkeit entzieht (entgegen der
bildorientierten Haltung der Frühaufklärer). Herder wird diese Argumentation auflösen und eine
Wirkungskraft postulieren, die er aber auf Seiten des Rezipienten verortet. Insgesamt sind die
Distinktionen Lessings durch spätere Kunstformen überholt worden (einerseits etwa der Simultanstil der
Dichtung, andererseits Polyperspektive und verschiedene Zeitstufen im gemalten Bild).
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Kapitel 6.2
1. Definieren Sie den Ekphrasis-Begriff in vier Sätzen.
Ekphrasis ist eine griechische Gattungsbezeichnung für die Bildbeschreibung; sie
»kennzeichnet die traditionsreichste, geläufigste und sicherlich umfangreichste Reaktion von Literatur auf bildende Kunst. Die
erste überlieferte Bildbeschreibung ist Homers Dichtung über den Schild des Achilles (18. Gesang der Ilias), wo bereits eine
grundlegende Funktion deutlich wird: Die klassische Absicht der Ekphrasis ist es, das beschriebene Werk auf lebendige Weise
vor Augen zu stellen, es zu vergegenwärtigen und einen authentischen Eindruck zu erzeugen. Dies steht im Zusammenhang mit
dem rhetorischen Programm der Energeia, der größtmöglichen Wirkung auf die Vorstellungskraft des Zuhörers.« (im Buch auf S.
239).
2. In einem Brief vom 23. Okt. 1907 beschreibt Rilke ein Selbstbildnis Cézannes.
Inwiefern lässt sich sagen, dass er beim Sehen des Bildes auch eine neue Sprache sucht?
Rilke arbeitet hier an einem Programm des ›neuen Sehens‹: An den Bildern Cézannes sucht er seine
Sprachskepsis zu überwinden bzw. Impulse zu erhalten, so dass die Worte ›zu sich selber kommen‹. Die
Beschreibung ist denn auch nicht sachlich-faktisch, sondern Rilke benutzt Vergleiche (»als ob«), erfindet
die kühne Metapher des ›Vorgeschuhtseins‹, wiederholt Ausdrücke mit Verfremdungseffekt und setzt
Alliterationen ein. Anders gesagt, geht es ihm mehr noch als um den Inhalt um Experimente mit der
Sprachform, die er durch den Anschauungsprozess gewinnt – das Sehen wird hier selbst zum Thema
erhoben. Folgen hatte dies auch für Rilkes Lyrik: Das ›sachliche Sagen‹ der Neuen Gedichte bedeutet,
abzusehen von den Emotionen und der Sachlichkeit des Sprachmaterials auf die Spur zu kommen, das
immer wieder selbst in den Mittelpunkt rückt.
3. Vergleichen Sie Schwitters’ Gedicht Anna Blume mit einer seiner Merz-Collagen.
Gibt es verwandte Konstruktionsprinzipien?
Schwitters ist ein intermedialer Künstler par excellence und hat immer wieder ›Synergie-Effekte‹ genutzt.
Diese lassen sich auch in einem Bild-Text-Vergleich festmachen:
Fertigteile werden aus ihrem Alltagszusammenhang genommen und im Kunstwerk neu montiert:
sprachliche (Wandinschriften, Ausrufe) in Anna Blume, optisch-haptische in den Merz-Collagen (Zettel,
Billets, Zeitungsausrisse). Durch ein solches Verfahren entstand auch das Wort ›Merz‹, das Schwitters aus
dem in einer Zeitung gedruckten Wort ›Commerzbank‹ heraustrennte (womit nebenbei die ästhetische
Schnittstrategie im programmatischen Titel reflektiert wird). Zugleich aber wird das homophone ›März‹
und die ›Kommerzialisierung‹ assoziiert.
Zu beachten ist die Wiederholungsstruktur, in der die Einzelteile abgewandelt bzw. variiert und in neue
Zusammenhänge gestellt werden.
Die Überleitung zwischen den Bildteilen ist diskontinuierlich, es entstehen wie auch in den
Zeilenschnitten der Gedichtverse Brüche, die auf das Kunstmaterial selbst hinweisen.
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Benedikt Jeßing/Ralph Köhnen: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 4., akt. u. überarb. Auflage |
© 2017 J.B. Metzler | http://www.metzlerverlag.de/9783476044938 oder http://www.springer.com/de/book/9783476044938
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Kapitel 6.3
1. Inwieweit nimmt E.T.A. Hoffmanns Novelle Don Juan auf Mozarts Don Giovanni Bezug?
Der Erzähler von Hoffmanns Novelle lauscht einer Opernaufführung des Don Giovanni und genießt das
Musikerlebnis enthusiastisch-sinnlich – in der typisch romantischen Erlebnisweise. Hoffmann, der sich als
Mozartbewunderer den Zunamen ›Amadeus‹ selbst gab, lässt beim Erzähler im musikalischen
Nervenerlebnis einen übergreifenden Lebenszusammenhang fühlbar werden, was sich syntaktisch-
stilistisch in jeweils veränderten Schreibweisen niederschlägt. Musik eröffnet ferner eine
Kommunikationsebene jenseits der Sprache. Mit Kunst ist hier auch das Liebesthema verbunden – an der
Don Giovanni-Figur wird die Unzulänglichkeit des irdischen Liebesstrebens sinnfällig. Umgekehrt könnte
Donna Anna, die dem Erzähler in einer Vision erscheint, den Gegenentwurf einer idealen Liebe darstellen,
doch stirbt sie (gemäß romantischer Ironie) in derselben Nacht, wovon der Erzähler in desillusionerenden
Wirtshausgesprächen erfährt.
2. Versuchen Sie eine Sprechversion von Schwitters’ Ursonate! Sie können diese mit den
(Teil-) Fassungen vergleichen, die im Internet durch entsprechende Stichworteingabe zu
finden sind.
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Kapitel 6.4
1. Welche Beziehungen zur (Kunst-)Umwelt können Gesamtkunstwerke entwickeln?
Zeigen Sie dies etwa am Beispiel der Avantgarde!
Extrempole sind: Der Aufbau einer kunstimmanenten Welt durch Zusammenschluss der Künste, die sich
gegen die empirische Welt abgrenzen – ihre sinnlichen, synästhetischen Effekte verdoppeln oder vertiefen
den Kunsteindruck und bewirken einen gesteigerten Illusionismus (Wagner) oder sie sollen das
Wesenhafte, Übersinnliche der Dinge evozieren (Kandinsky).
Im Zusammenschluss von Künsten und Umwelt wollen die Avantgardisten aus dem Geist der Kunst
die soziale bzw. politische Welt regieren. Der kämpferisch-militärische Avantgarde-Gedanke hat
mittlerweile der Popkultur Platz gemacht, die alles zum ästhetischen Gegenstand erklärt:
Alltagsereignisse, Lebensstile oder Trivialgeschehnisse.
2. Wie ändert sich das Verhältnis von Autor, Text und Leser im digitalen Hypertext?
Ausführlicheres findet sich etwa bei Simanowski (2002), insbesondere zum Komplex ›Interaktivität‹: Ein
Autor gibt mit digitalen Texten nur noch Impulse und keine abgeschlossenen Werke, der Leser arbeitet
diese weiter, wird selbst zum Autor usw. bei wechselseitigen Kommunikationsprozessen. Texte werden
nicht mehr als abgeschlossenes Ganzes verstanden, sondern haben hypertelische Verweisstrukturen, sind
offen für neue Verlinkungen auch mit Ton- oder Bilddateien.
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Kapitel 6.5
1. Welche Lebensbedingungen des 19. Jahrhunderts haben die Entwicklung des Films
begünstigt?
Die Beschleunigung des Lebenstempos durch Verkehrsmittel (Eisenbahn und später die ersten
Automobile), die dem Reisenden schnelle Bilder ohne eigene körperliche Aktivität lieferten, des weiteren
die Lebensbeschleunigung in der Großstadt (künstliche Wohnungs- und Straßenbeleuchtung) sowie
kunstgeschichtlich das Massenmedium des Panoramas; auch Nachrichtenmedien haben das technische
Bedürfnis gesteigert, lebende Bilder zu produzieren. Anders gesagt: Der Lebensalltag war bereits in
einigen Bereichen selbst schon kinematographisch geworden, ehe die Serienfotografie von den Gebrüdern
Lumière, von Anschütz oder Messter zur Filmreife entwickelt wurde.
2. Welche inhaltlichen und formalen Parallelen von Lyrik und Kino lassen sich an den
folgenden beiden Gedichten feststellen: Jakob van Hoddis: Schluß: Kinematograph (Gedicht-
Zyklus Varieté) und Gottfried Benn: Nachtcafé?
Bei van Hoddis steht das rauschhafte, illusionsstarke Kino im Vordergrund. Das Gedicht entlarvt die
grotesken filmischen Bildzusammenstellungen und mischt Heimatfilmmotive mit exotischen Ansichten.
Die optische Aufzählung gibt Anlass auch für akustische Reihungen – die lautlichen Nachbarschaften der
Alliterationen sind es, die zwar als wiederholte Buchstaben aufscheinen, aber ebenso als eingebildete
Akustik wirken und die Semantik des Gedichtes regeln. Die Zusammenstellung von »Kopf«, »Kiepe« und
»Kropf« ist lautlich motiviert (ebenso wie »Kühe« und »Kartoffelfelder«), womit neue Bedeutungsketten
erzeugt werden. Die Alliteration »geil« und »gähnend« kennzeichnet inhaltlich die Schwebelage der
Halbschlafbilder, die das Gedicht bei aller Chaotik in regelmäßigen fünf Hebungen pro Verszeile (und je
vier davon in vier Strophen) formt.
Bildwechsel mit hoher Frequenz sind auch in Benns Nachtcafé gesetzt, allerdings hier auf den urbanen
(und leicht morbiden) Bereich der abendlichen Cafégäste fokussiert. Diese werden mit Schnitttechniken in
Teilen, die die ganze Figur wiedergeben sollen, dargestellt; die Körperteile mischen sich zu einem
ebenfalls grotesken Gesamtbild. Zitatpassagen (Alltagssprache) mischen sich mit medizinischem,
biblischem oder künstlerischem Diskurs und wirken ebenfalls wie sezierte und zusammengefügte Teile.
Diese Bildfügungstechniken scheinen vom Filmmedium mit inspiriert, obwohl die Schnittfrequenz hier
höher ist als im zeitgenössischen Film, der seinerseits dann das Tempo (womöglich von der Literatur
inspiriert) beschleunigt.
3. Vergleichen Sie die Erzählstrukturen von Peter Handkes Die Angst des Tormanns beim
Elfmeter mit der Filmversion von Wim Wenders und machen Sie eine Gegenüberstellung
in Stichworten!
Nutzen Sie dazu die Gegenüberstellung der Erzähltypologie für Erzählliteratur und Film im Buch
auf S. 262f.
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Kapitel 6.6
1. Adornos Noten zur Literatur sind als Rundfunkbeiträge konzipiert. Lassen sich aus seinem
Beitrag zu Schillers Wallenstein Rückschlüsse auf damalige und heutige Hörgewohnheiten
ziehen?
Die Noten zur Literatur sind anspruchsvolle Essays, die zugleich auch vollgültige Sekundärliteratur
darstellen und in denen Adorno sich immer wieder auch zu philosophischen und kunstsoziologischen
Themen geäußert hat. Im Wallenstein-Beitrag (der sich auf die viel zitierte Prologzeile »Ernst ist das
Leben, heiter ist die Kunst« bezieht) wird über das Problem der Kunstautonomie reflektiert bzw. über die
Freiheit der Kunst in unfreien gesellschaftlichen Verhältnissen, die unter Vorzeichen der Kulturindustrie
kaum mehr Spielräume für die Kunst lassen. Wenn dies schon das Vermögen damaliger Zuhörer
strapaziert haben dürfte, so ist nach heutigen Maßstäben eine äußerst starke Aufmerksamkeitsleistung
nötig – der Radioessay ist womöglich eine exklusive Gattung geworden.
3. Welche gemeinsamen Strategien hat die Literatur aus Kino und Rundfunk übernehmen
können?
• Experimentelle Verfahren: Schnitt und Montage, Auflösung der Kontinuität, Montage der
Einzelteile zu einer Sequenz oder fließend-panoramatische Darstellung; Kameraausschnitt und Zoom,
der die Aufmerksamkeit auf das gewünschte Detail lenken kann;
• Perspektivwechsel;
• akustische Effekte: Aufmerksamkeit auf den sprachlichen Signifikanten; Wörter können als
Klangkörper erscheinen, ohne etwas bezeichnen zu müssen;
• dokumentarische Techniken: O-Töne, Ausschnitte aus der medialen Wirklichkeit.
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http://www.springer.com/978-3-476-04493-8