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JOCHEN A.

BÄR

Sprachtheorie und Sprachgebrauch


der deutschen Romantik

1. Einleitung
2. Sprache als Poesie
3. Sprachskepsis
4. Verstehenslehre
5. Rhetoriktheorie
6. Philologie
7. Sprachgebrauch
8. Fazit
9. Zitierte Literatur

1. Einleitung
1.1. In der Geschichte der Sprachtheorie und Sprachwissenschaft wird die deutsche
Romantik traditionell stiefmütterlich behandelt. Zeitlich und auch konzeptionshistorisch
eingerahmt von Autoren wie Hamann und Herder einerseits und Wilhelm von Hum-
boldt andererseits, werden spezifisch romantische Beiträge zur Sprachtheorie oft kaum
zur Kenntnis genommen, und auch in der Wissenschaftsgeschichte gelten, von der frü-
hen germanistischen Philologie mit Vertretern wie Jacob Grimm und Karl Lachmann
und der historischen Grammatik mit Vertretern wie Franz Bopp aus gesehen, Vorläufer
wie Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck kaum als relevant. Seitens der Historiogra-
phie der Sprachphilosophie vollends werden selbst Autoren, die der Sprache weitaus
weniger Beachtung geschenkt haben als die Romantiker – beispielsweise Kant und He-
gel –, üblicherweise in jeder Überblicksdarstellung behandelt, während etwa Novalis
oder August Wilhelm Schlegel ignoriert werden (so z. B. bei Borsche 1996).
Die vergleichsweise übersichtliche Forschung der letzten gut 40 Jahre (zur älteren
Forschung vgl. Bär 1999a, 1) lässt sich grob in vier Stränge einteilen: Untersuchungen
zur Dichtungstheorie (z. B. Vietta 1970, Huge 1971, Frühwald 1983, Jaeger/Willer
2000 und Jaeger 2001), zur Hermeneutik und Übersetzung (z. B. Huyssen 1969, Geb-
hardt 1970, Frank 1978, Behler 1987a, Hörisch 1987, Hörisch 1988, Di Cesare 1996,
Bär 2003a), zur Sprachtypologie und zur historischen Grammatik (z. B. Schmidt 1986,
498 Jochen A. Bär

Schmitter 1993, Bär 2002) und zur Philologie (z. B. Brinker-Gabler 1980, Rother 1988,
Bär 2003b, ders. 2010). Zudem finden sich Arbeiten zu einzelnen Themen, so zur
Sprachursprungstheorie (z. B. Hausdörfer 1989), und zu einzelnen Autoren, etwa zu F.
Schlegel (z. B. Di Cesare 1990, Behler 1994, Di Cesare 1997), Novalis (z. B. Di Cesare
1995) und Bernhardi (z. B. Schlieben-Lange/Weydt 1988, Wild-Schedlbauer 1990).
Gesamtüberblicke, im Einzelnen gleichwohl stark selektiv – mit dem Fokus auf Sprach-
wissenschaft und Sprachphilosophie –, bieten Gipper/Schmitter (1985) und Gipper
(1992). Defizitär ist aber auch die bislang umfassendste Arbeit, die Untersuchung von
Bär (1999a) zur Sprachreflexion der deutschen Frühromantik: Abgesehen vom themati-
schen Zuschnitt, der die spätere Romantik ausklammert, fehlen hier beispielsweise eine
einlässlichere Beschäftigung mit der Sprachtypologie und mit der Rhetoriktheorie.

1.2. Geistesgeschichtlich ist der Diskurs1 der deutschen Romantik in die Zeit des späten
18. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 19. einzuordnen (ca. 1795 bis ca. 1830, in
bestimmten Ausläufern sogar bis ca. 1850). Dabei scheint sich auch in der deutschen
Forschung immer mehr die ‚Außensicht‘ durchzusetzen: das weit gefasste Romantik-
verständnis, wie es beispielsweise in Frankreich und Großbritannien vertreten wird. Zur
deutschen Romantik in solch weitem Sinn gehören nicht allein Autoren wie die Brüder
Schlegel, Novalis, Tieck, Wackenroder, Schleiermacher, A. F. Bernhardi, Arnim, Bren-
tano, E. T. A. Hoffmann, Eichendorff und Ludwig Uhland, sondern auch beispielsweise
Goethe und Schiller, Hölderlin und Heinrich von Kleist.
Der damit gezogene geistesgeschichtliche Rahmen ist freilich zu groß, als dass er
durch eine Überblicksdarstellung wie die vorliegende auch nur annähernd gefüllt wer-
den könnte. Es muss daher eine thematisch orientierte Auswahl getroffen werden. Der
Beitrag gliedert sich in sechs Teile; behandelt werden die romantische Theorie der
Sprache als Poesie (2), die romantische Sprachskepsis (3), die romantische Hermeneu-

1
Ich verstehe hier unter Diskurs – in Anlehnung an Bär (1999, 61) und inhaltlich in weitgehender
Übereinstimmung mit Busse/Teubert (1994) und Kämper (2006, 336) – die in einem Untersu-
chungskorpus sich manifestierende gedankliche Behandlung bestimmter Redegegenstände: ihre Be-
stimmung, thematische Entfaltung, Verbindung mit bestimmten anderen Redegegenständen, ihre
Bewertung und kommunikative (soziopragmatische) Instrumentalisierung. Ein Diskurs ist dabei
niemals eine unmittelbare Gegebenheit der oder (vorsichtiger formuliert) einer objektiv gegebenen
historischen Wirklichkeit, sondern immer ein hermeneutisches Konstrukt – das Ergebnis einer his-
toriographischen Interpretation (die als solche stets auswählt, wertet, gewichtet, Bezüge herstellt:
schon die Zusammenstellung des Untersuchungskorpus ist Interpretation in diesem Sinne). Er lässt
sich als eine Art virtueller Diskussion zwischen potentiellen Kommunikationspartnern auffassen.
Virtuell soll dabei heißen, dass kein tatsächliches Gespräch vorliegt, sondern eine Menge eigenstän-
diger Äußerungen, die allenfalls replizierend aufeinander bezogen sind oder zumindest sein könn-
ten. Dies impliziert Zeitgenossenschaft – Hermanns (1994, 50) findet den treffenden Ausdruck
„Zeitgespräch“ – bzw. ‚Epochengenossenschaft‘ (die Zugehörigkeit zu einem vom Historiographen
als Untersuchungseinheit angesetzten Zeitraum), die auch als ‚Ideologiegenossenschaft‘ erscheinen
kann: als Teilhabe an einer insgesamt als einheitlich erscheinenden Weltansicht oder auch Mentali-
tät (im Sinne von Hermanns 1995a).
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 499

tik oder Verstehenslehre (4), die romantischen Beiträge zur Rhetoriktheorie (5) sowie
die romantischen Beiträge zur vergleichenden Sprachwissenschaft und zur Herausbil-
dung der Germanistik (6). Hinterlegt werden die theoriehistorischen Zusammenhänge
durch Beobachtungen zum romantischen Sprachgebrauch (7), da sich zeigen lässt, dass
dieser mit der Sprachreflexion eng verbunden und von ihr geprägt ist. Die Darstellung
versammelt Erkenntnisse aus mehreren eigenen Arbeiten (Bär 1999a; 2000; 2002; 2003a;
2003b; 2004; 2007; 2010; 2011), aus denen teilweise auch Formulierungen übernommen
sind.

2. Sprache als Poesie


2.1. Für August Wilhelm Schlegel, den sprachtheoretischen Vordenker der frühen
Romantik, ist die Sprache das „Gedicht des gesamten Menschengeschlechtes“, dessen
Ursprung einer „poetischen Anlage“ zuzuschreiben ist (A. W. Schlegel 1801/02, 388).
Das heißt vor dem Hintergrund der Genietheorie der Zeit: Die Sprache ist zwar „ein
Werk des menschlichen Geistes“, aber ein „ursprüngliches und nothwendiges“ (ebd.,
184), ein „Produkt des menschlichen Dichtungsvermögens, gleichsam eine Urpoesie
des Menschengeschlechts“ (ders. 1798/99, 49). Noch unmissverständlicher heißt es an
anderer Stelle, dass „das Vermögen, welches die Poesie zur eigentlichen schönen Kunst
bildet, dasselbe, nur in einer höheren Potenz ist, welches der Sprache ihren Ursprung
giebt“ (ders. 1801/02, 251).
Schlegel denkt also nicht nur an Dichtung, sondern an ein im weitesten Sinne histori-
sches Universalprinzip, eine Hervorbringung und Bildung letztlich der ganzen Welt –
eine Poiesis, denn das griechische Wort poiein, von dem Poesie kommt, bedeutet nichts
anderes als ›machen, bilden, schaffen, hervorbringen‹. Von eben dieser Wortbedeutung
geht der Autor aus und begreift Poesie als schöpferische Handlung, genauer gesagt als
„eine freye schaffende Wirksamkeit der Fantasie“ (1801/02, 186). Das bedeutet: Weder
bildet der Mensch eine äußere Welt mittels seiner Sprache einfach ab und macht sie
sich so bewusst, noch bringt er eine innere Welt in einem Akt reiner Willkür nur aus
sich selbst hervor. Vielmehr verarbeitet er alle Gegenstände seiner Erkenntnis nach be-
stimmten durch sein Erkenntnisvermögen gegebenen Regeln im Erkenntnisakt und
schafft damit zwar eine ‚neue‘ Welt nach eigenen Gesetzen, indes nicht unabhängig von
jener anderen, die auf sein Erkenntnisvermögen eingewirkt hat. Eben diese Umbildung,
hinter der man ohne weiteres die Transzendentalphilosophie Kants und des deutschen
Idealismus erkennt, nennt Schlegel Poesie (und das ist freilich dann nicht mehr typisch
transzendentalphilosophisch, sondern typisch romantisch):
„Der erste Mensch bildete nicht die Gegenstände passiv nach, er artikulierte sie (gliedbildete
sie), vermenschlichte sie (und verähnlichte sie sich) und unterwarf sie sich so seiner Vorstel-
lung, bildete sie daher um. Poesie ist eine bildende Darstellung der innern Empfindungen und
der äußern Gegenstände vermittels der Sprache“ (A. W. Schlegel 1798/99, 7).
500 Jochen A. Bär

In ihrem Ursprung also ist Sprache eine ‚umbildende Abbildung‘ der Welt, gleichsam
eine Bearbeitung gegebenen Materials – genau das besagt der Satz: „Sprache ist ur-
sprünglich poetisch“ (ebd.).
Die in Rede stehende kognitive Leistung der Sprache besteht darin, dass man die ge-
sammelten „Eindrücke“, die durch die Sinnesorgane aufgenommen werden, „innerlich
in Worte übersetzen“ muss: „Dadurch bestimme ich sie mir erst recht, dadurch halte ich
sie fest“ (A. W. Schlegel 1799, 46). Wie man sich eine diese Bestimmung konkret vor-
zustellen hat, beschreibt Wilhelm von Humboldt in dem frühen Entwurf Über Denken
und Sprechen (1795/96, 581): Der menschliche Geist muss „in seiner fortschreitenden
Thätigkeit einen Augenblick still stehn, das eben vorgestellte in eine Einheit fassen, und
auf diese Weise, als Gegenstand, sich selbst entgegenstellen“. Das „Wesen des Den-
kens“ besteht für Humboldt darin, „Abschnitte in seinem eignen Gange zu machen;
dadurch aus gewissen Portionen seiner Thätigkeit Ganze zu bilden; und diese Bildun-
gen einzeln sich selbst unter einander, alle zusammen aber, als Objecte, dem denkenden
Subjecte entgegenzusetzen“ (ebd.). Das Wort, das sprachliche Zeichen, die „sinnliche
Bezeichnung der Einheiten“, zu denen „gewisse Portionen des Denkens vereinigt wer-
den, um als Theile andern Theilen eines grösseren Ganzen, als Objecte dem Subjecte
gegenübergestellt zu werden“ (ebd.), ist dabei ein notwendiges Instrument oder Organ
der Erkenntnis: „gleichsam der erste Anstoss, den sich der Mensch giebt, plötzlich still
zu stehen, sich umzusehen und zu orientiren“ (ebd., 582), in den „Act der Reflexion“
einzutreten, so dass er „aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subject das
Object verschlingt, zum Selbstbewusstseyn erwacht“ (ebd., 581 f.).
Sprache und Denken stehen in lebendiger Wechselwirkung, indem sich das Denken
in der Sprache manifestiert und sie prägt, von als seinem Instrument zugleich aber wie-
derum bestimmt wird: Die Sprache ist das
„Werkzeug des menschlichen Geistes, aber wie es sich für diesen geziemt, kein todtes und me-
chanisches, sondern ein organisches, worin folglich eine Einheit und allgemeine Wechselbe-
ziehung Statt findet. [...] Der Gebrauch der Sprache ist wie ihre erste Hervorbringung ein im-
mer fortgesetztes Handeln des menschlichen Geistes; und da dieses [...] durch die Sprache
objectivirt, ein Typus davon in ihr aufgestellt ist, so ist es natürlich, daß sie wieder rückwärts
auf den Geist, der sich ihrer bedient, eine große Gewalt ausübt“ (A. W. Schlegel 1803/04b,
286).

Denn die Sprache, wie Wilhelm von Humboldt prominent formuliert, ist
„kein freies Erzeugniss des einzelnen Menschen, sondern gehört immer der ganzen Nation an;
auch in dieser empfangen die späteren Generationen dieselbe von früher da gewesenen Ge-
schlechtern. [...] Indem nun die Nationen sich dieser, schon vor ihnen vorhandenen Spra-
chelemente bedienen, indem diese ihre Natur der Darstellung der Objecte beimischen, ist der
Ausdruck nicht gleichgültig, und der Begriff nicht von der Sprache unabhängig. Der durch die
Sprache bedingte Mensch wirkt aber wieder auf sie zurück, und jede besondre ist daher das
Resultat drei verschiedner, zusammentreffender Wirkungen, der realen Natur der Objecte, in-
sofern sie den Eindruck auf das Gemüth hervorbringt, der subjectiven der Nation, und der ei-
genthümlichen der Sprache durch den fremden ihr beigemischten Grundstoff, und durch die
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 501

Kraft, mit der alles einmal in sie Uebergangene, wenn auch ursprünglich ganz frei geschaffen,
nur in gewissen Gränzen der Analogie Fortbildung erlaubt.
Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuch-
tet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit
darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist
nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst.“
(Humboldt 1822, 24 ff.)

Der Gedanke, dass die Sprache das Denken bedingt, ist in der Sprachreflexion der
Romantiker und ihrer Zeitgenossen fest etabliert. Wenngleich nicht im Sinne eines ra-
dikalen erkenntnistheoretischen Idealismus behauptet wird, „dass der Mensch ohne
Sprache nicht denken, und ohne sie keine allgemeinen abstracten Begriffe haben kön-
ne“ (Fichte 1795, 103), so wird doch immer wieder darauf hingewiesen,
„daß Uebung der Vernunft und Denken [...] ohne Sprache [...] in einem hohen Grade
eingeschränkt sein müsse [...]. Denn rauben wir dem Menschen die Sprache, so würde er
sich schwerlich über eine thierische Einsamkeit erheben, höchstens nur bis zur Geselligkeit der
Thiere emporschwingen. Er würde nach den Gesetzen eines sinnlichen Triebes, sich zur Fort-
pflanzung oder Nahrung vereinigen; oder [...] instinktmäßig wie Ameise und Biber, in stumme
Horden durch das Bedürfniß getrieben, zusammentreten.“ (Bernhardi 1801, 4.)

Das wahre Menschsein, die Entfaltung seiner Wesensanlagen, ist nämlich dem Men-
schen nur in der Gemeinschaft mit seinesgleichen möglich, da „die Bildung des Einzel-
nen, [...] nur durch die Bildung des Ganzen entsteht“ (ebd., 4 f.). Das Einzelwesen
Mensch hat als solches zwar Vernunft, kann sie aber ohne Sprache – sprachlich-
begriffliche Fassung ebenso wie sprachliche Interaktion – nicht entwickeln:
„[D]er Einzelne in sich zurückgedrängte würde keine Vernunft zu besitzen scheinen, weil alles
nur in sofern ist, als es sich äussern und an etwas Fremdartigen sich sichtbar machen kann. Die
äußern Dinge würden den Menschen nur sinnlich berühren, nicht sich mit ihm innig vereini-
gen, und sein Leben würde mehr aus Empfindungen, als aus Gedanken bestehen. [...] [M]it der
Gabe der Sprache wird freilich nicht die Vernunft erschaffen, sie erhält aber Spielraum, die
Scheidewand stürzt ein, der Mensch wird die Welt, schaft den Staat, die Moralität, die Kunst,
alles leichte Ableitungen aus der ewigen Urkraft, welche in unserm Geschlechte lebt, aus dem-
selben leuchtet und erschaft, indem sie sichtbar macht.“ (Ebd., 5.)

Diese kommunikationsorientierte Fassung eines sprachlich-kognitiven Idealismus ist


spezifisch für die romantische Sprachreflexion. Hatte Herder noch die „sprecher-
zentrierte Funktion“ der Sprache betont (Gardt 1995, 157 ff., insbes. 160), so steht für
die Romantik außer Frage, dass die kognitive und die kommunikative Funktion der
Sprache gleichursprünglich sind. A. W. Schlegel mag hier insofern als Ausnahme er-
scheinen, als sich bei ihm gleichfalls Äußerungen finden, die sich im Sinne eines Pri-
mats der sprecherzentrierten Funktion der Sprache deuten lassen: „Das Bedürfnis der
Sprache als Gedanken-Organs, als eines Mittels, selbst zur Besinnung zu gelangen, geht
in der philosophischen Ordnung dem Bedürfnisse der geselligen Mittheilung nothwen-
dig vorher“ (A. W, Schlegel 1801/02, 399); der Mensch spricht „zunächst mit sich
selbst“ und muss „auch, wenn er sich andern mitzutheilen strebt, die Wirkung seiner
502 Jochen A. Bär

Sprache zuerst an sich selbst erproben“ (ebd.). Allerdings ist auch für diesen Autor die
Kommunikationsfunktion der Sprache zentral; auf die Frage „Was heißt sprechen?“
antwortet er: „Seine Gedanken durch Worte mittheilen“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 286;
Kursivierung von mir, jab). Es sind gleichwohl weit mehr sein jüngerer Bruder Friedrich,
Schleiermacher und Novalis, auch Ludwig Tieck, Clemens Brentano, Sophie Mereau und
einige andere, bei denen sich die besondere Betonung der kommunikativen Relevanz fin-
det (vgl. das Folgende).

2.2. Dass die Sprache als ursprünglich poetisch gedacht wird, als unter der Vorherr-
schaft der Phantasie stehend und damit als welt- bzw. realitätskonstitutiv, ist nach ro-
mantischer Auffassung gleichbedeutend mit einer besonderen Affinität der Sprache zur
Dichtung. Die ursprüngliche Poetizität wird als Klang- und Metaphernreichtum ver-
standen.
A. W. Schlegel (1795, 70) leitet die Beschaffenheit der ursprünglichen Sprache aus
einem natürlichen Bedürfnis des Menschen nach gleichförmiger, gegliederter Bewe-
gung sowohl des Körpers im Ganzen (Tanz) als auch der lautlichen Äußerung insbe-
sondere (Rhythmus) ab. Im Urzustand lasse sich der Mensch „von natürlichen Trieben
[...] unumschränkt beherrschen“. Eben deshalb bedarf er der Möglichkeit des Aus-
drucks:
„Sey es nun Freude oder Betrübniß, was sich seiner bemächtigt, so würden die aufgeregten
Lebensgeister ihre Gewalt nach innen wenden, und seine ganze Zusammensetzung zerrütten,
wenn er ihnen nicht durch den heftigsten Ausdruck in Worten, Ausrufungen und Gebährden
Luft machte. Er folgt der Anfoderung eines so dringenden Bedürfnisses; durch jede äußre
Verkündigung der Leidenschaft fühlt er sich eines Theils ihrer Bürde entledigt, und hält daher
instinktmäßig Stunden, ja tagelang mit Jauchzen oder Wehklagen an, bis sich der Aufruhr in
seinem Innern allmählig gelegt hat.“ (Ebd., 70 f.)

Da er den Ausdruck in diesem Zustand herrschender Leidenschaft allerdings nicht unter


besonnener Kontrolle hat, läuft er Gefahr, sich durch die Äußerung von Schmerz oder
Freude vollständig zu verausgaben und physisch zu schädigen:
„[I]hr sinnloser Taumel kann [...] bis zu einer erschöpfenden Verschwendung der unaufhalt-
sam überströmenden Lebensfülle gehen. Selbst Jubeln und Springen, so ausgelassen und an-
haltend, wie es der wilde Natursohn treibt, wird zu einer Art von Arbeit. Dennoch, wie ermü-
det auch der Körper sich fühlen möge, reißt ihn die Seele mit sich fort, und gönnt ihm keine
Ruhe.“ (Ebd., 71.)

Um eben dieser Gefahr zu begegnen, entwickelt der „wilde Natursohn“ instinktiv eine
Neigung zum Rhythmus:
„So leitete den Menschen dann der Instinkt, oder, wenn man lieber will, eine dunkle Wahr-
nehmung auf das Mittel, sich dem berauschendsten Genusse ohne abmattende Anstrengung
lange und ununterbrochen hingeben zu können. Unvermerkt gewöhnten sich die Füße nach ei-
nem Zeitmaaße zu hüpfen, wie es ihnen etwa der rasche Umlauf des Bluts, die Schläge des
hüpfenden Herzens angaben; nach einem natürlichen Gesetze der Organisazion mußten sich
die übrigen Gebährden, auch die Bewegungen der Stimme in ihrem Gange darnach richten;
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 503

und durch diese ungesuchte Uebereinstimmung kam Takt in den wilden Jubelgesang, der an-
fangs vielleicht nur aus wenigen oft wiederholten Ausrufungen bestand.“ (Ebd., 71 f.)

Dass die Sprache neben einer ursprünglichen Tendenz zur Rhythmisierung, in der die
Wurzel des Gesangs ebenso wie des Silbenmaßes zu sehen ist, eine ebenso ursprüngli-
che Tendenz zur Bildlichkeit aufweist, lässt sich bereits bei Herder finden. Dieser
nimmt an, der Mensch habe im Naturzustand alles Erlebte nur in unmittelbarer Bezie-
hung auf ihn selbst, den Erlebenden aufgefasst:
„Indem der Mensch [...] alles auf sich bezog: indem alles mit ihm zu sprechen schien und
würklich für oder gegen ihn handelte: indem er also mit oder dagegen Theil nahm, liebte oder
haßte und sich alles Menschlich vorstellte; alle diese Spuren der Menschlichkeit drückten sich
auch in die ersten Namen! Auch sie sprachen Liebe oder Haß, Fluch oder Segen, Sanftes oder
Widrigkeit, und insonderheit wurden aus diesem Gefühl in so vielen Sprachen die Artikel! Da
wurde Alles Menschlich, zu Weib und Mann personificirt: überall Götter, Göttinnen, handeln-
de, bösartige oder gute Wesen! Der brausende Sturm, und der süße Zephyr, die klare Waßer-
quelle und der mächtige Ocean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben [...] der alten
Sprachen, und das älteste Wörterbuch war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungssaal
beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten Erfinders die Natur.“ (Herder 1772, 53 f.)

Auch die Romantiker sind der Auffassung, dass sich durch die gesamte Sprache ein
weit gespanntes Netz von Vergleichen und Metaphern zieht:
„Da der erste Mensch, ehe er noch den Grund von irgend einer äußern Bewegung oder Verän-
derung, voraus einsehen kann, den Grund seiner eignen Bewegung in sich fühlt, so stellt er
sich alle Veränderungen unter dem Bilde seiner eignen Bewegung vor, d. h. als Handlung.
Seine Sprache ist also auch in dem Sinne poetisch, daß alles belebt und handelnd dargestellt
wird; er kennt sich nur als ein wirkendes und wollendes Wesen und macht alle Bewegungen
und Veränderungen zu Handlungen; alle Veränderungen in der Natur vermenschlicht er, be-
trachtet sie als Handlungen, die er gewissen Vernunftwesen beilegt.“ (A. W. Schlegel 1798/99,
8 f.)

Die Analogien, die der Mensch zwischen der Außenwelt und seiner eigenen Befind-
lichkeit setzt, prägen die Sprache nicht nur im Wortschatz, sondern auf allen Ebenen:
„So in der Grammatik die Person bei den Verbis, ich, du usw., die Geschlechter der Nennwör-
ter usw. Es liegt dabei eine Analogie der Wirkungsart zugrunde, indem das weibliche Ge-
schlecht mehr leidend, empfangend als wirkend vorgestellt wird. [...] Der umbildende Mensch
modelt alles nach sich.“ (Ebd., 9.)

Ausgehend von diesen Anfängen setzt dann auch jede „Erweiterung der Sprache [...]
eine ununterbrochene Kette von Vergleichungen voraus“ (ebd.). Die erste Metapher in
dieser Kette ist die Übertragung des Ausdrucks für akustisch Wahrnehmbares auf
Wahrnehmungen, die durch andere Sinnesorgane vermittelt werden. Da sprachliche
Zeichen primär „Tonzeichen“ sind, haben sie eine „unmittelbare und eigentliche Ähn-
lichkeit [...] nur mit dem Hörbaren“ (A. W. Schlegel 1801/02, 400). Um etwas zu be-
zeichnen, das gesehen, gerochen, gefühlt oder geschmeckt werden kann, muss dieses
ins Hörbare umgedeutet werden. Die Analogie bei dieser „umbildenden Darstellung“
besteht dann entweder zwischen der empfundenen Ähnlichkeit unterschiedlicher Sin-
504 Jochen A. Bär

neseindrücke – als kräftig oder leuchtend wahrgenommene Farben oder Berührungen


werden beispielsweise durch aggressiv anmutende Laute bezeichnet (A. W. Schlegel
1801/02, 401) –, oder aber die Ähnlichkeit „liegt in der Handlung oder Bewegung der
Sprechorgane mit der dem Gegenstande zugeschriebenen (ebd.), so das beispielsweise
der Laut [l] in „Verbindung [...] mit einem andern Consonanten“ für „leichte Bewe-
gung“ steht (ebd.). Als Beispiele werden fließen und gleiten genannt (ebd.) und ebenso
das griechische γλωσσα (›Zunge‹), das „die leichte, schlüpfrige Bewegung der Zunge
anzudeuten“ scheint (A. W. Schlegel, 1798/99, 9).2 Weiterhin und insbesondere aber
wird durch die Metapher der Übergang vom Endlichen, Realen oder Sinnlichen zum
Unendlichen, Idealen oder Geistigen vollzogen. Die Sprache verhilft dadurch „dem
gestaltlosen Innern zur Erscheinung im Äußern, somit versinnlicht sie das Unsinnliche“
und „erweist [...] sich als Mittlerin zwischen der Welt des Geistes und der der Sinnlich-
keit“ (Kainz 1937, 118).

2.3. Allerdings bleibt die ursprünglich-poetische Sprache nach romantischer Auffas-


sung, je weiter sie sich von ihrem Ursprung bzw. ihrer Ursprünglichkeit entfernt, nicht
poetisch, und das hat damit zu tun, dass sie nach dieser Auffassung von der ursprüngli-
chen Fassung sinnlicher Eindrücke immer stärker zur reinen Begrifflichkeit tendiert,
d. h. zu einem Werkzeug des Verstandes wird. Der Ursprache selbst schreibt A. W.
Schlegel „etwas Gesang-ähnliches“ zu, womit er meint, sie sei „sonor und stark accen-
tuirt“ (1801/02, 400), also im oben erläuterten Sinne rhythmisiert, gewesen. Im Laufe
ihrer historischen Entwicklung schleift sie sich aber immer mehr ab; aus ursprünglicher
Poesie wird Prosa (wobei klar ist, dass das Wort Prosa hier in einem ähnlich weiten
und von seiner heutigen Bedeutung verschiedenen Sinne verstanden wird wie zuvor das
Wort Poesie).
Das Prosaische kommt dadurch in die Sprache, dass sich, so Schlegel (1801/02,
403), „der Verstand der Zeichen bemächtigt, welche die Einbildungskraft ursprünglich
geschaffen hat“. Die Symbolik in der Sprache, das Produkt der Phantasie, muss „den
strengeren aber todten Bestimmungen des Verstandes weichen“ (ebd., 404). So wird
Sprache „im Fortgange der Cultur“ von einer „Einheit lebendiger Bezeichnung“ zu
einer „Sammlung willkührlicher conventioneller Zeichen“. Am weitesten geht dies in
der wissenschaftlichen Sprache, die „vom beseelten Hauch zur algebraischen Chiffer
herabsinkt“ (ebd.).
Es wäre allerdings nicht gerechtfertigt, Schlegel aufgrund solcher Aussagen einen
unreflektierten Kulturpessimismus zu unterstellen. Die ursprüngliche Poetizität wirkt

2
Wie die Beispiele erkennen lassen, nimmt Schlegel hier keine einzelsprachspezifische, sondern
eine sprachuniversalistische Perspektive ein. Nicht Phoneme als bedeutungsdistinktive Lautzeichen
einer bestimmten Sprache wie Deutsch oder Altgriechisch stehen in Rede, sondern Phone als Phä-
nomene menschlicher Sprache überhaupt. Die Perspektive ist typisch für die frühe Romantik: Bis
ins zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hinein erscheint romantische Beschäftigung mit Sprache
mehr als Philosophie denn als Philologie.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 505

seiner Meinung nach immer gewissermaßen als ‚Gegenkraft‘ der Prosa, so dass er eine
Repoetisierung der Sprache für möglich hält. Selbst in der prosaischsten Sprache findet
sich noch poetisches Grundmaterial:
„Begreift man denn nicht, daß, da die Poesie ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie
so gänzlich depoesirt werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poeti-
sche Elemente finden sollten, auch bey dem willkührlichsten und kältesten Verstandesge-
brauch der Sprachzeichen, wieviel mehr im gemeinen Leben, in der raschen, unmittelbaren oft
leidenschaftlichen Sprache des Umgangs. Viele Wendungen, Redensarten, Bilder und Gleich-
nisse, die, sogar im plebejesten Tone, vorkommen, sind unverändert auch für die würdige und
ernsthafte Poesie brauchbar; und unstreitig ließe sich bey einem Gezänk von Hökerweibern die
Lebhaftigkeit der Vorstellungen eben so gut als Prinzip demonstriren, wie bey jenen ausge-
hobnen Dichterstellen“ (A. W. Schlegel 1801/02, 389).

Will man Schlegels Vorstellung vom historischen Werdegang der Sprache auf den
Punkt bringen, so besteht sie in einem gleichsam dialektischen Dreischritt: Ursprüngli-
che Poesie – Prosa (für ihn der aktuelle Stand) – Neue Poesie. Im Sinne der Dialektik
soll allerdings im angestrebten Endzustand nicht der Ausgangszustand als solcher wie-
derhergestellt, sondern der Sprache durch eine Synthesis von ursprünglicher Poetizität
und Prosa eine neue Qualität gegeben werden.3
Auf den Punkt gebracht ist das Konzept der Repoetisierung in einer Notiz von No-
valis, der diesbezüglich ganz ähnliche Auffassungen vertritt wie Schlegel: „Unsre Spra-
che war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisirt – so
enttönt. [...] Sie muß wieder Gesang werden“ (Novalis 1798a, 283 f.). Derselbe Gedan-
ke findet sich bei Hölderlin (vgl. Bär 1999a, 330 f.) und auch bei August Ferdinand
Bernhardi:
„Der Mensch ist [...] in allem seinem Thun und Treiben nichts als eine Kraft, welche, nur mit
Verschiedenheit der äußern Bedingungen, ewig in sich zurückkehrt. [...] Im Physischen hat
man dies längst eingesehn, und das Alter oft eine zweite Kindheit genannt. [...] was ist Weis-
heit anders, als die wiederhergestellte, durch Freiheit und innere Kraft gewonnene Unschuld
der Kindheit? Dieser Cyklus, welcher aus der innersten Natur des Menschen erklärbar ist [...],
muß sich ebenfals in der Sprache vorfinden. Denn sie ist Allegorie des Menschen und seiner
Natur, eine sinnliche Konstruktion seines Wesens, und den Gesetzen desselben, eben so gut
wie eine jede andere Aeußerung, unterworfen. Und so müßte demnach [...] die gebildeteste
Sprache, eben in dem höchsten Punkte ihrer Bildung und um desselben willen, freier und
schöner zu ihrem Ursprunge zurücklaufen“. (Bernhardi 1801, 68 f.)

2.4. Das harmonische Zusammenwirken der menschlichen Seelenkräfte, aus dem A. W.


Schlegel (1801/02, 388) zufolge die Sprache hervorgeht, findet sein Ende in dem Au-
genblick, in dem eine dieser Kräfte – für Schlegel, wie erläutert, der Verstand – die
Vormacht im Ensemble anstrebt und tatsächlich gewinnt.

3
Das Anliegen ist am angemessensten vielleicht als „rückwärtig orientierte Progression“ zu fassen
(vgl. Bär 1999a, 49 u. ö.).
506 Jochen A. Bär

Repoetisierung heißt demzufolge nichts anderes, als der Sprache wieder zu sinnlicher
Qualität zu verhelfen. Die konkreten Vorschläge, die Schlegel hierzu unterbreitet, neh-
men vor allem in den Blick: den Bereich der Symbolik und Tropik, die Frage nach ei-
nem spezifischen Inventar der poetischen Diktion im Wortschatz (ausdrücklich behan-
delt werden Archaismen, Neologismen und Provinzialismen) wie in der Grammatik
(ausdrücklich behandelt werden Flexion, Wortbildung und Satzstellung), die Theorie
des Wohlklangs (insbesondere Reim und Silbenmaß), die Verwendung von Epitheta
und die (Re)motivierung arbiträrer sprachlicher Zeichen durch Rückbesinnung auf ety-
mologische Zusammenhänge (vgl. Bär 1999a, 119–139). Ziel der in sich durchaus di-
vergenten Überlegungen ist neben der Stärkung der sinnlichen Qualitäten der Sprache
zugleich eine Elitarisierung des Sprachgebrauchs, da Schlegel als prosaisch auch das
allgemein Übliche ansieht.
Die intensive gedankliche Beschäftigung mit den Fragen der Repoetisierung zeigt
deutlich, wie wichtig dieser Aspekt aus romantischer Sicht ist. Das Gewicht, das darauf
gelegt wird, kann jedoch nur verständlich werden, wenn man im romantischen Sinne
die Sprache als conditio humana begreift: Sie ist dasjenige, wodurch der menschliche
Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und als solches ist sie Poesie in dem erläuterten
umfassenden Verständnis, das mit der heutigen Bedeutung des Wortes nicht viel ge-
mein hat.

3. Sprachskepsis
Im Jahre 1801 beginnt August Wilhelm Schlegel, dessen eigene Ehe in Jena längst zer-
rüttet ist, in Berlin eine Liaison mit Sophie Tieck-Bernhardi, der Schwester seines
Freundes und literarischen Mitstreiters Ludwig Tieck und Frau des ebenfalls dem
Frühromantikerkreis nahestehenden Sprachtheoretikers und Kunstkritikers August Fer-
dinand Bernhardi. Da niemand, insbesondere nicht der Ehemann, davon erfahren soll,
müssen alle Liebesbriefe heimlich ausgetauscht werden. Schlegel versucht dabei – für
den Fall, dass doch einmal ein Brief in falsche Hände geraten sollte – kompromittieren-
de Äußerungen und Bekenntnisse möglichst zu vermeiden, was ihm jedoch die exaltier-
te Sophie Bernhardi als Gefühlskälte auslegt und zum Vorwurf macht. Schlegel ist dar-
über verärgert:
„Ich stellte mir vor, mein Eifer, die Rückkehr zu veranstalten, kaum da ich von der Reise hier
zur Ruhe gekommen war, würde hinreichen, Dir die wahre Überzeugung von meinen Gesin-
nungen zu erhalten, und statt alles Schreibens gelten können. Aber so seyd ihr, immer mehr
auf Reden als auf Handlungen zu geben.“ (In: Körner 1936, 17 f.)

Die Briefpartnerin will sich jedoch auf Klischees dieser Art nicht reduzieren lassen,
sondern will intellektuell ernst genommen werden: „Du hast mich [...] mit Deinem so
seid ihr immer unter die Rubrik von Weibern bringen wollen und ich kan nicht läugnen
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 507

daß Du mir mit diesem Bemühen recht wie ein Mann vorgekommen bist“ (ebd., 23).4
Ihre Aussagen seien sprachtheoretisch reflektiert zu verstehen:
„Freilich bin ich so albern daß ich weit mehr auf Worte als auf Handlungen gebe. Ich läugne
es nicht und da es uns einmal nicht möglich ist etwas anders als auß unserm Innern herauß zu
betrachten so läßt sich dies sehr leicht erklären da ich mit meinen Handlungen eben weil ich
sie als Äusserligkeit betrachte weit freigebiger bin als mit meinen guten Worten die ich als ei-
ne Äusserung meines Gemüths betrachte und nur gegen sehr wenige verbrauche.“ (Ebd.)

Die sprachliche Äußerung ist aufgrund ihrer Möglichkeit, das Innere zu offenbaren,
prinzipiell problematisch, denn sie offenbart eben damit zugleich die Verschiedenheit
der Menschen, die Unmöglichkeit, einem anderen im innersten Wesen zu entsprechen.
„Vergeblich ist es, zu wünschen, daß der Freund, den wir lieben, uns ganz in unserer eigensten
Eigentümlichkeit verstehen möchte; wir wünschen es auch im Grunde nicht, sondern immer
möchten wir nur die Falten unsers Herzens vor ihm auseinander schlagen, wo wir die Ver-
wandschaft zu ihm fühlen. Das was unsere Scheidung von allen andern Wesen ausmacht,
wodurch wir auch von dem geliebtesten Freunde abgesondert und einzeln stehen, suchen wir
sorgfältig zu verhüllen, damit er sich nicht vor dem fremden Wesen entsetzen möge – und wä-
re es einem Menschen möglich, die innerste Eigenthümlichkeit seines geliebtesten Freundes
aufzufassen und auszusprechen, so würde den Freund ein Schauder wie vor einem Zauberer
ergreifen, der die Gewalt hätte, den Geist aus unsern Körpern zu ziehen und ihn uns selbst an-
schaulich hinzustellen, und wir würden auf immer entfremdet von ihm zurücktreten.“ (Tieck-
Bernhardi 1800, 210.)

Gemeinschaft kann allerdings, wenngleich nicht einseitig gestiftet werden, so doch zwi-
schen Menschen, die einander nahestehen, sich augenblicksweise ereignen. Das ist der
Grund für das Aufsparen der persönlichen, Zugang zum eigenen Inneren gewährenden
Worte für wenige, ausgewählte Menschen, bei denen auf eine besondere Kompetenz
und Bereitschaft zur angemessenen Deutung vertraut wird.
Der bei Sophie Bernhardi zum Ausdruck kommende Zweifel an den Möglichkeiten
der Sprache und des Verstehens ist in der deutschen Romantik weit verbreitet. Eine
Verständigung ist nach dieser Auffassung, die in der Regel von problematischen Exis-
tenzen ausgeht, nur dort einigermaßen problemlos möglich, wo es um Unwesentliches,
Unpersönliches geht.
„Man spricht wohl gerne, man plaudert, wie die Vögel, so lange die Welt, wie Mailuft, einen
anweht; aber zwischen Mittag und Abend kann es anders werden, und was ist verloren am En-

4
Die Auseinandersetzung erscheint nicht nur auf den ersten Blick als ein früher Genderkonflikt. In
der Tat kann Sophie Tieck-Bernhardi, die als Autorin unter anderem von Romanen und Versepik
hervorgetreten ist und im Gegensatz zu ihren Brüdern Ludwig Tieck und Friedrich Tieck, dem
Bildhauer, zu Unrecht bis heute kaum bekannt ist, durchaus als Paradebeispiel einer um Emanzipa-
tion bemühten Frau gelten: Gegen erhebliche gesellschaftliche Widerstände, nach ihrer Trennung
von A. F. Bernhardi von diesem gerichtlich verfolgt, kämpfte sie um intellektuelle, sexuelle und
wirtschaftliche Eigenständigkeit. August Wilhelm Schlegel, mit dem sie lediglich eine kurze Affäre
hatte, blieb ihr lange Jahre freundschaftlich verbunden und unterstützte sie finanziell in erhebli-
chem Umfang (wohl nicht zuletzt, weil er sich fälschlich für den Vater ihres jüngsten Sohnes hielt).
508 Jochen A. Bär

de? [...] [D]ie Sprache ist ein großer Überfluß. Das Beste bleibt doch immer für sich und ruht
in seiner Tiefe, wie die Perle im Grunde des Meers.“ (Hölderlin 1799, 118.)

Das „Beste“ sind nicht die rational erfassbaren Dinge, sondern die immer unscharf und
daher auch sprachlich nicht mit letzter Bestimmtheit auszudrückenden Empfindungen.
Die Möglichkeiten einer Äußerung des Inneren, einer Mitteilung dessen, was den Men-
schen emotional bestimmt, sind überaus beschränkt: „Der Mensch ist sehr arm [...];
denn wenn er auch einen recht kostbaren Schatz im Busen trägt, so muß er ihn wie ein
Geiziger verschließen, und kann seinem Freunde nichts davon mittheilen oder zeigen.
Thränen, Seufzer, ein Händedruck sind dann unsre ganze Sprache.“ (Tieck 1797
[1796], 70.) Dies gilt auch und insbesondere – hier wird die Kunstkritik selbstkritisch –
für das Sprechen über Kunstwerke, bei denen, der Genietheorie des 18. und frühen 19.
Jahrhunderts zufolge, immer eine unbestimmbare Komponente, ein Je ne sais quoi5 im
Spiel ist: „[D]er Eindruck ist nur ein Schatte von dem Gemählde oder der Statue; und
wie unvollkommen bezeichnen wieder Worte den Eindruck! Das Rechte kann man gar
nicht nennen.“ (A. W. Schlegel 1799, 47.)
Aus romantischer Sicht steht die Sprache zwischen emotionaler und rationaler Sphä-
re, zwischen Empfindung und Begriff6 in der Mitte. Sobald es vorrangig um die Dar-
stellung von Empfindungen geht, erscheint daher die Wortsprache, die sich von ihrer
begrifflich-rationale Prägung nicht befreien kann, als wenig geeignetes Medium: „Die
Empfindung inhäriert [...] in der Sprache immer der Bezeichnung der Begriffe. Die
Sprache kann daher auch nur indirekt zum Ausdruck der Empfindungen dienen, sie ist
gegen die unendlichen Nuanzen der Empfindung erstaunlich arm.“ (A. W. Schlegel
1798/99, 72.) Daher ist Sprache auch und insbesondere als Kommunikationsmittel zwi-
schen Liebenden kaum brauchbar. „Wir sprachen sehr wenig zusammen“, berichtet Hy-
perion über seinen Umgang mit Diotima: „Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone
möchte man werden und sich vereinen in Einen Himmelsgesang.“ (Hölderlin 1797, 53.)
Dieser Gedanke: den Ausdruck des „geheimnißvollen Strome[s] in den „Tiefen des
menschlichen Gemüthes“ (Wackenroder 1799, 220), für den die Wortsprache als Organon
des Verstandes nur unzureichend geeignet ist, der Musik als einer „reichere[n] Sprache“
zu überlassen (ebd., 219), ist ein Topos der romantischen Theorie. Die Musik ist Dar-
stellung des Un- oder Halbbewussten für das Un- oder Halbbewusste; sie ist Medium
einer im Sinne des Rationalismus undeutlichen Erkenntnis, gerade dadurch aber – in-
dem sie die „Tiefen des menschlichen Gemüthes“ anzusprechen vermag (Wackenroder
1799, 220) – die „reichere Sprache“ (ebd., 219).
„Sie greift beherzt in die geheimnißvolle Harfe, schlägt in der dunklen Welt bestimmte, dunkle
Wunderzeichen in bestimmter Folge an, – und die Saiten unsres Herzens erklingen, und wir
verstehen ihren Klang.

5
Zur langen und komplexen Begriffsgeschichte des Je ne sais quoi vgl. die ausführliche Darstellung
bei Köhler (1984).
6
Vgl. auch Mereau (1800, 138): „Warum uns so wenig ergreift? Weil der Begriffe so viele; | denn es
begeistert nur das, was unbegreiflich uns bleibt.“
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 509

In dem Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen; sie sind es,
wodurch wir das Gefühl fühlen lernen; sie geben vielen in verborgenen Winkeln des Gemüths
träumenden Geistern, lebendes Bewußtseyn, und bereichern mit ganz neuen zauberischen
Geistern des Gefühls unser Inneres.“ (Ebd., 220.)

Die Rückführung der Sprache in einen Zustand, in dem sie nicht vorrangig vom Ver-
stand beherrscht ist, soll unter anderem durch eine Remotivierung der sprachlichen
Zeichen erreicht werden (vgl. oben, 2.4). Vorbildhaft für ein solches Sprachverständnis
ist ein ungebrochenes Verhältnis zum Wort und seiner Semantik, wie es naive Menschen
haben. Selbst Gruß- und Abschiedsfloskeln erscheinen hier in einer ursprünglichen
Bedeutung:
„Annonciata ward durch die Rede ihres Vaters sehr gerührt, die letzten Worte nämlich, ‚gehe
mit Gott, mein Kind‘, bewirkten ihr eine heftige Bewegung, denn in diesen selbstgebildeten
Ausdrücken des Herzens, die wie die Wünsche: guten Morgen, guten Abend, die Frage: wie
geht es? bey den meisten Menschen durch die Gewohnheit ganz bedeutungslos werden, lag für
sie eine tiefe Bedeutung, und ich glaube dieses mit Recht für den Zug eines kindlichen und tie-
fen Gemüths halten zu dürfen, welches fromm an das Wort glaubt, und dem der Sinn nie verlo-
ren geht.“ (Brentano 1801, 411.)

Für die Frühromantiker selbst ist ein derart ungebrochenes Vertrauen auf das Wort frei-
lich Wunschdenken. Selbst Autoren, die wie Sophie Bernhardi „weit mehr auf Worte
als auf Handlungen gebe[n]“ (vgl. oben), stimmen immer wieder in die Klagen über die
Unzulänglichkeit der Sprache ein.7 „Wozu Worte?“, heißt es apodiktisch bei ihrem Bruder
Ludwig Tieck (1798, 981): „Wer versteht die Rede des andern?“

4. Verstehenslehre
4.1. Verstehen ist angesichts dieser Unzulänglichkeit eine mit jeder sprachlichen Äuße-
rung untrennbar verbundene Aufgabe und Forderung. Es geht dabei nicht allein um
zwischenmenschliche Kommunikation im alltäglichen Sinne, sondern auch (und für die
Romantiker insbesondere) um die Deutung literarischer Texte. Die Aufgabe besteht da-
bei nicht darin, einen Autor „besser als er [sich] selbst“, sondern ihn „grade so gut wie
er [sich] selbst“ zu verstehen (F. Schlegel 1798a, 123; vgl. auch Behler 1987a, 148 ff.)
– auch wenn sich herausstellen sollte, dass der Autor sich selbst „gar nicht sonderlich
verstanden“ hat (A. W. Schlegel 1802/03, 715). Die Interpretation darf daher auf keinen
Fall gewaltsam erfolgen. Erst vor diesem Hintergrund wird die Rede von einer „Wuth
des Verstehens“ (Schleiermacher 1799, 144) begreiflich. Die Romantiker machen eine
solche „Wuth“ dort aus, wo „vermittelndes Verstehen-Wollen [...] an die Stelle von Ge-
fühl, Anschauung und Abhängigkeit vom schlechterdings hermeneutisch uneinholbaren
Sein des Sinns tritt“ (Hörisch 1987, 25).

7
Zu den sprachtheoretischen und -philosophischen Hintergründen und Implikationen dieser Position
vgl. ausführlich Bär 2011.
510 Jochen A. Bär

Wie eine ideale hermeneutische Leistung aus romantischer Sicht beschaffen ist, legt
F. Schlegel am Beispiel des Goethe’schen Romans Wilhelm Meisters Lehrjahre dar:
Die Auslegungen sollen
„keinesweges alles allen hell und klar machen [...]: sie dürften vielmehr eben dann vortrefflich
genannt zu werden verdienen, wenn sie dem, der den [Wilhelm] Meister ganz versteht, durch-
aus bekannt, und dem, der ihn gar nicht versteht, so gemein und leer, wie das, was sie erläutern
wollen, selbst vorkämen; dem hingegen, welcher das Werk halb versteht, auch nur halb ver-
stän[d]lich wären, ihn über einiges aufklärten, über anders aber vielleicht noch tiefer verwirr-
ten“ (F. Schlegel 1798b, 162).

Die romantische Hermeneutik ist mit Grund als „Antihermeneutik“ bezeichnet worden
(Hörisch 1987; ders. 1988, 50 ff.). Damit ist nicht gesagt, dass die Romantiker die Mög-
lichkeit des Verstehens prinzipiell geleugnet hätten, sondern nur, dass sie die Möglich-
leit des Nichtverstehens anerkannt und reflektierend in den Blick genommen haben.
Antihermeneutische Entwürfe sind nicht ahermeneutisch, sondern Gegenentwürfe zur
herkömmlichen Hermeneutik (vgl. Behler 1987a, 146). Als Kernsatz eines derartigen
Konzepts kann die Aussage gelten, dass man „sehr viel Verstand haben [muß], um
manches nicht zu verstehen“ (F. Schlegel 1796/98, 114).

4.2. Für eine Deutungsleistung im Sinne der Romantik wird ein Leser vorausgesetzt, der
mit dem Autor bzw. dem Text in einen Dialog zu treten bereit und imstande ist, der
„entgegenkommt, ergänzt, aufs halbe Wort versteht“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 108)
und auf diese Weise „durch Selbstthätigkeit seiner Fantasie“ (A. W. Schlegel 1802/03,
719) aktiven Anteil an der Sinnstiftung und (bei poetischen Texten) an der Konstitution
überhaupt des literarischen Kunstwerks nimmt (vgl. auch Huyssen 1969, 63 f.). Ein
solchermaßen tätiger Leser setzt aber wiederum einen Autor voraus, der eine produktive
Rezeption fordert und fördert und bereit ist, den Leser als Teilnehmer eines hermeneuti-
schen Dialogs zu akzeptieren und ernstzunehmen:
„Der analytische Schriftsteller beobachtet den Leser, wie er ist; danach macht er seinen Calcül,
legt seine Machinen an, um den gehörigen Effekt auf ihn zu machen. Der synthetische Schrift-
steller konstruirt und schafft sich einen Leser, wie er seyn soll; er denkt sich denselben nicht
ruhend und todt, sondern lebendig und entgegenwirkend. Er läßt das, was er erfunden hat, vor
seinen Augen stufenweise werden, oder er lockt ihn es selbst zu erfinden. Er will keine be-
stimmte Wirkung auf ihn machen, sondern er tritt mit ihm in das heilige Verhältniß der innigs-
ten Symphilosophie oder Sympoesie.“ (F. Schlegel 1797a, 162 f.)

Vorbilder für die Konzeption eines solchermaßen synthetischen Autors, der an die Ein-
bildungskraft seiner Leser appelliert und sie zur Mitarbeit nötigt, sind u. a. Petrarca (A.
W. Schlegel 1803/04a, 157 f.) und Goethe (A. W. Schlegel 1809/11b, 416 f.). Das Ideal
eines klassischen Werkes besteht eben darin, dass man es immer wieder lesen kann bzw.
sollte, weil man niemals damit zu Ende kommt, mit anderen Worten: weil man ihn nie-
mals völlig versteht bzw. interpretativ erschöpft (F. Schlegel 1797a, 136; ders. 1797d,
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 511

79; ders. 1798a, 124; ders. 1804, 53): weil „jedes vortreffliche Werk [...] mehr weiß als
es sagt, und mehr will als es weiß“ (ders. 1798b, 168 f.).
Vor allem eine Eigenschaft muss der ideale Autor aufweisen, um keine „bestimmte
Wirkung“ auf den Leser zu machen: Er darf seine Aussagen nicht auf eine einzige In-
terpretationsmöglichkeit reduzieren lassen. Der Sinn eines Textes darf nicht ein einziger
sein, den der Autor vorgibt, sondern muss in einer Pluralität von Möglichkeiten beste-
hen. Es geht den Romantikern dabei nicht um tatsächliche Unverständlichkeit, sondern
um Viel-, idealiter um Alldeutigkeit; die apotheotisch anmutende Rede von der „Unver-
ständlichkeit“ (F Schlegel 1800b, passim) ist als ironisch-perspektivische Redeweise zu
interpretieren. Nicht nur auf eine Weise, sondern von mehreren Seiten gleichermaßen
deutbar zu sein ist somit etwas, das einen Autor besonders auszeichnet. Gelingt es ihm,
so ruft er eine Vielfalt von Meinungen hervor und schafft neue Möglichkeiten des her-
meneutischen Dialogs, auf den letztlich alles ankommt.

4.3. Dass die Vieldeutigkeit seiner Texte beim „Leser, wie er ist“ (F. Schlegel 1797a,
163) nicht auf Gegenliebe stößt, ist für den sich selbst als ideal empfindenden Autor
lediglich ein Beweis für die Richtigkeit der Vermutung, „der Grund der Unverständ-
lichkeit liege im Unverstand“ (ders. 1800b, 363) – in dem des Lesers. Er fasst den Ent-
schluss, sich „mit dem Leser in ein Gespräch über diese Materie zu versetzen, und vor
seinen eignen Augen, gleichsam ihm ins Gesicht, einen andern neuen Leser [...] zu
construiren, ja [...] sogar zu deduciren“ (ebd.).
Die Vision des idealen Lesers ist Teil des großangelegten romantischen Ge-
schichtsprojektes einer ins Unendliche hin unabgeschlossenen Vervollkommnung des
Menschen. Ziel der Romantik ist dabei eine Ausbildung des modernen Menschen nach
dem Vorbild der (vor allem in ästhetischer, jedoch auch in moralischer Hinsicht) für
exemplarisch gehaltenen klassischen Antike. Die dadurch in Aussicht genommene neue
Qualität der Moderne, als deren Wegbereiter sich die Romantiker verstehen, wird als so
bedeutend empfunden, dass in diesem Zusammenhang die Rede von einer anbrechen-
den „neue[n] Zeit“ ist (ebd., 370).
Der Gedanke der unendlichen Vervollkommnung ist ganz und gar aufklärerisch; in
der Tat ist ja die Romantik – zumindest in ihren Anfängen – weithin eine Fortsetzung
der Aufklärung mit anderen Mitteln (vgl. Bär 1999a, 24 f.). Nicht von ungefähr wird
der erwartete und angekündigte Anbruch der neuen Zeit in Anlehnung an aufklärerische
Lichtmetaphorik mit dem Bild der „Morgenröthe“ beschrieben (F. Schlegel 1800b, 370;
ders. 1800c, 272). In seinem Aufsatz Ueber die Unverständlichkeit stilisiert Friedrich
Schlegel das bevorstehende 19. Jahrhundert zu einer Epoche des Verstandes. Wo aber
dieser ist, kann das Verstehen nicht fehlen, und so beschwört Schlegel eine Zeit, in der
die ihm und seinen literarischen und philosophischen Freunden vorgeworfene Unver-
ständlichkeit nicht mehr als solche empfunden wird:
„Dann nimmt das neunzehnte Jahrhundert in der That seinen Anfang, und dann wird auch je-
nes kleine Räthsel von der Unverständlichkeit des Athenaeums gelöst sein. [...] Dann wird es
512 Jochen A. Bär

Leser geben die lesen können. Im neunzehnten Jahrhundert wird jeder die Fragmente mit vie-
lem Behagen und Vergnügen in den Verdauungsstunden genießen können, und auch zu den
härtesten unverdaulichsten keinen Nußknacker bedürfen. Im neunzehnten Jahrhundert wird je-
der Mensch, jeder Leser die Lucinde unschuldig, die Genoveva protestantisch und die didakti-
schen Elegien von A. W. Schlegel fast gar zu leicht und durchsichtig finden.“ (F. Schlegel
1800b, 370 f.)

Die Rede vom 19. Jahrhundert ist freilich nicht wörtlich, sondern symbolisch zu neh-
men. Dass er nicht ernsthaft damit rechnet, im Jahr nach der Veröffentlichung seines
Aufsatzes ein Zeitalter des Verstandes und des Verstehens anbrechen zu sehen, sagt
Schlegel selbst. Der beschwörende Unterton lässt allerdings erkennen, dass er die Hoff-
nung nicht aufgeben will:
„Ich [...] erkläre [...], alles sey nur noch Tendenz, das Zeitalter sey das Zeitalter der Tenden-
zen. Ob ich nun der Meynung sey, alle diese Tendenzen würden durch mich selbst in Richtig-
keit und zum Beschluß gebracht werden, oder vielleicht durch meinen Bruder oder durch
Tieck, oder durch sonst einen von unsrer Faction, oder erst durch einen Sohn von uns, durch
einen Enkel, einen Urenkel, einen Enkel im siebenundzwanzigsten Gliede, oder erst am jüngs-
ten Tage, oder niemals; das bleibt der Weisheit des Lesers, für welche diese Frage recht eigent-
lich gehört, anheim gestellt.“ (Ebd., 367.)

Dass am ehesten der jüngste Tag in Frage kommt, ist zumindest für Friedrich Schleier-
macher, den Theologen unter den Frühromantikern, offensichtlich. In einer erkennbar
an 1. Kor. 13,12 angelehnten Eloge entwirft er die ersehnte Zukunft:
„Möchte die Zeit kommen, die eine alte Weissagung so beschreibt, daß keiner bedürfen wird,
daß man ihn lehre, weil alle von Gott gelehrt sind! [...] Jeder leuchtete dann in der Stille sich
und den Andern, und die Mittheilung heiliger Gedanken und Gefühle bestände nur in dem
leichten Spiele, die verschiedenen Strahlen dieses Lichts jetzt zu vereinigen, dann wieder zu
brechen, jezt es zu zerstreuen, und dann wieder hie und da auf einzelne Gegenstände zu kon-
zentriren. Das leiseste Wort würde verstanden, da jezt die deutlichsten Äußerungen der Mis-
deutung nicht entgehen. Man könnte gemeinschaftlich ins Innere des Heiligtums eindringen,
da man sich jezt nur in den Vorhöfen mit den Elementen beschäftigen muß. Mit Freunden und
Theilnehmern vollendete Ideen tauschen, wie viel erfreulicher ist dies, als mit kaum entworfe-
nen Umrißen herausbrechen müßen in den leeren Raum!“ (Schleiermacher 1799, 13 f.)

4.4. Das romantische Verstehensbedürfnis bleibt eine unstillbare Sehnsucht. Sie ist ins
Unendliche hin offen und tendiert damit dann zur Grenzenlosigkeit auch hinsichtlich
ihres Gegenstandes. Nicht allein in der zwischenmenschlichen Kommunikation, son-
dern in einer im wörtlichen Sinne universellen Kommunikation besteht das romantische
Ideal. „Jedes Thier vernimmt die Stimme seines Geschlechts. Der Mensch die Stimmen
aller“ (F. Schlegel 1795, 223). Die Möglichkeit des Menschen, sich in alles einzuhören,
erstreckt sich darüber hinaus auch auf die Pflanzenwelt; auch sie hat, metaphorisch
ausgedrückt, ihre Sprache, die der Mensch verstehen lernen kann:
„Sind vielleicht Blüthen und Kräuter Worte? – Sprache, in der die Gefühle, der Geist der Erde,
des Wassers sich deutlich machen? – Ist der Duft der Blumen, ihr Schmelz, wohl das Sehnen
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 513

der Erde – die Begeistrung des Wassers, die in den offnen Kelchen Freiheit hat, aufzusteigen
zur Sonne, zu dem was sie lieben? – Die dunkle Erde stößt aus dem Innersten ihre duftenden
Seufzer auf aus den Kelchen ihrer Pflanzen, die aus ihrem Busen aufblühen, hinauf in die fes-
sellose Freiheit? – Das Wasser das von seinen kräuselnden Wellen sich immer weiter treiben
läßt, hier in der Blume Stengel, im Saft des Baumes gemischt mit allen Kräften der Natur,
steigt, nimmt Gestalt an, wird zum Geist, zum Wort, das die Andacht seiner Triebe aushaucht.“
(B. v. Arnim 1840, 185 f.)

Dieser panhermeneutische Ansatz kann in seiner radikalsten Ausprägung bis hin zur
Forderung nach Kommunikation selbst mit der unbelebten Natur gehen: „Wird nicht der
Fels ein eigenthümliches Du, eben wenn ich ihn anrede?“ (Novalis 1798b, 100).
Solche Allverständigung setzt voraus, dass alles Bedeutung hat und dass diese Be-
deutung prinzipiell auch erschlossen werden kann.
„Ich hab mit Bäumen und Sträuchern zu reden, hören sie meine Rede zu ihnen nicht mehr, so
werden all sie meine Sprache wieder vergessen. – Oft am Fenster früh, wenn der kühle Wind
von Osten her den Tag ankündigte, sah ich den Mond noch am Himmel mit dem Morgenstern
sich unterhalten. Alles ist Mittheilung in der Natur, alles hat Flammenzungen, selbst der kalte
Quell, in dem Du Dein Antlitz badest!“ (B. v. Arnim 1844, 398.)

Das verstehende Sicheinfühlen in die Natur ist nach romantischer Auffassung möglich
durch Liebe, die Fähigkeit zur Allsympathie. Durch Liebe
„versteht die Seele die Klage der Nachtigall und das Lächeln des Neugebornen, und was auf
Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart, versteht sie; den
heiligen Sinn des Lebens wie die schöne Sprache der Natur. Alle Dinge reden zu ihr und über-
all sieht sie den lieblichen Geist durch die zarte Hülle“ (F. Schlegel 1799, 82).

Eine anschauliche Zusammenstellung der gesamten Allsympathie-Topik präsentiert


Sophie Mereau in ihrem Roman Das Blüthenalter der Empfindung:
„Gleich einem rein gestimmten Instrument, das nur auf den Künstler wartet, welche Harmo-
nien er darauf hervorrufen will, war mein Herz für jeden Eindruk empfänglich, von süßen
Ahndungen beflügelt, und mit heitern Bildern erfüllt. Ich drükte die ganze Welt an meinen Bu-
sen, und dürstete nach dem Genuß aller der Herrlichkeiten, die ich in süßer Trunkenheit ver-
worren vor mir verbreitet sah. Die ganze Natur schien in mein Schiksal verwebt zu seyn. Das
frohe Aufstreben ihrer Krae fte, das lebendige Spiel ihrer Erzeugnisse, der jugendliche Reiz ihrer
Formen, alles trug so sichtbar die Farbe meiner innern Erscheinungen. Im frohen Taumel gab
ich mich allem hin, und fand mich in allem wieder“ (Mereau 1794, 4 f.). – „Die Kehle des Vo-
gels hatte willkue hrlichen Ausdruk; das Wehen des Blüthenbaums war Zeichen innrer Gefühle.
Beides wirkte innig auf mich; mit beiden fue hlte ich mich verwandt, und es schien mir, als ver-
stünde ich ihre stille Sprache, ohne sie in Worte übersezzen zu können. Gieng ich dann aus
meinen Blüthenwäldern hervor, und trat auf die Höhen hin, wo ich in die unermeßliche Sphäre
von Gewässer hinaussah – ha! wie ergriff mich da der Anblik dieser ungeheuern Wasserwelt,
die, wie die Phantasie keine Gränzen hat! – Es drohte mir die Brust zu zersprengen; ver-
schlungen in die Unermeßlichkeit des Weltalls, verschmolzen in die allgemeine Harmonie der
Wesen, fühlte ich mich selbst in dieser Größe untergehen. Ich kannte keinen entzükkendern
Gedanken als den, mit allen Geistern ein Ganzes auszumachen“ (ebd., 7 f.).
514 Jochen A. Bär

All dies ist keineswegs nur phantastische „Exaltation“, sondern vielmehr, wie es Lud-
wig Tieck in einem Brief an Friedrich Schlegel (Mitte März 1801) ausdrückt, „wahrer
poetischer Ernst“ (Lohner 1972, 57). Das Sich-Einfühlen ins Universum, das Sich-eins-
Fühlen mit demselben bleibt für die Frühromantiker nicht nur Theorie, sondern wird
zum wirklichen Erlebnis:
„Ich kann es dir nicht ausdrücken, wie mir alles in der Welt immer mehr Eins wird, wie ich gar
keine Unterschiede von Räumen oder Zeiten mehr statuiren kann, es wird mir Alles bedeutend,
alles was Geschichte giebt und Poesie, so wie alle Natur, und alles in mir, sieht mich aus ei-
nem einzigen tiefen Auge an, voller Liebe, aber schreckvoller Bedeutung.“ (Ebd.)

Die auch hier anklingende Klage über die Unzulänglichkeit der Sprache („Ich kann es
dir nicht ausdrücken ...“) angesichts der Erfahrung undeutlich empfundener Einheit mit
dem Universum ist symptomatisch. Für die Dunkelheit und Ahnungsfülle solcher Erfah-
rungen, die deutlich nicht ausgesprochen werden können, dienen bevorzugt Schilderun-
gen nächtlicher Naturerlebnisse als Chiffre.
„[W]enn der Mond in die Stube scheint, kann ich nicht ruhen, und muß ans Fenster hin. Es ist
mir, als rufe er mich, ich müsse ihn wieder ansehen, die ganze schöne Nacht spräche mit mir,
und frage mich scharf aus; die Antwort aber liegt mir tief im Herzen begraben, und es ist mir
oft, als müsse mir das Herz brechen, damit ich es nur sagen könnte.“ (Brentano 1801, 386.)

5. Rhetoriktheorie
5.1. Bis heute steht die Romantik im Ruf einer „rhetorikverachtenden Epoche“, die
pauschal als „rhetorikfern“ eingestuft wird (Schanze 1994, 336). Viele Belege scheinen
tatsächlich dafür zu sprechen. Stereotype Kollokationen wie „Redekunst und Sophiste-
rei“ (Tieck 1839, 209) zumindest legen den Gedanken nahe, dass das Verhältnis der
Romantik zur Rhetorik nicht das beste ist.
Der kantische Gedanke der zweckfreien ‚schönen‘ Kunst spielt in der Romantik eine
zentrale Rolle, und die Skepsis gegenüber der zweckorientierten Rhetorik ist daher weit
verbreitet. Dabei wird nicht nur auf Kant, sondern auch auf den platonischen Gorgias
(465b–e) zurückgegriffen:
„Angenehme Redekunst ist mit der schönen Poesie nicht näher verwandt als jede andre sinnli-
che Geschicklichkeit, welche Plato Kunst zu nennen verbietet und mit der Kochkunst in eine
Klasse ordnet. [...] Die Kunst ist [...] entweder eine freie Ideenkunst oder eine mechanische
Kunst des Bedürfnisses, deren Arten die nützliche und die angenehme Kunst sind.“
(F. Schlegel 1795/97, 243.)

Die Rhetorik ist zwar „durch ihren Stoff oder ihr Werkzeug [Sprache] mit der Poesie
verwandt“, aber „indem sie einem bestimmten Zwecke dient“, lässt sie sich „am meis-
ten mit der Architektur vergleichen“ (A. W. Schlegel 1798/99, 119).
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 515

Seit der Antike zielt die Redekunst auf „das Überreden, das Gewinnen des Zuhörers“
(Dockhorn 1944, 13). Dafür werden traditionell zwei „Hauptmittel“ unterschieden, die
„als Grundkategorien die Disposition antiker Rhetoriken beherrschen“: der „Appell an
den Verstand, das ‚docere‘, das durch Beweise [...] erfolgt“, und „die Erregung der
Gefühle, die Weckung der Affecte, das ‚movere‘“ (ebd.). Eben diese Unterscheidung
wird erkennbar, wenn Schelling den Zweck des Redners darin sieht, „sich anschaulich
zu machen, oder [...] zu täuschen und Leidenschaft zu erwecken“ (Schelling 1803/04,
639). Rhetorik ist die „praktische Erkenntnis der Sprache“ (F. Schlegel 1805/06, 187),
die „mit der Lehre von der Anwendung“ verbundene Sprachlehre im Gegensatz zur
Grammatik, die ihrerseits als „theoretische Erkenntnis der Sprache“ definiert wird, als
„Wissenschaft der Sprache bloß in der Absicht, die Sprache zu kennen und zu verste-
hen“ (ebd., 186).
In der Rhetorik ist dabei „nicht nur von der Richtigkeit, sondern auch von der
Schönheit und Künstlichkeit des Ausdrucks die Rede“ (ebd., 187), denn „oft ist es für
praktische Zwecke nicht hinreichend, sich bloß verständlich und richtig auszudrücken,
sondern man muß der Rede durch die Schönheit und Kunst des Ausdrucks eine höhere
Bedeutung und Würde geben“ (ebd.). Damit wird die Rhetorik gewissermaßen in die
(früh)romantische Kunsttheorie integriert. „Romantik ist eine Transformation der Rhe-
torik. Sie hebt Rhetorik auf, im Hegelschen Doppelsinn des Wortes“ (Schanze 1994,
339) – eine Tatsache, die dadurch möglich ist, dass Rhetorik schlechterdings mit
„Kunstgriff“ (F. Schlegel 1795/97, 315) gleichgesetzt wird. F. Schlegel „versteht ‚Rhe-
torik‘ zunächst ganz traditionell als die Kunstlehre der Prosa“ (Schanze 1974, 132). Da
es – im Sinne des kantischen Begriffs der ‚Zweckmäßigkeit ohne Zweck‘ – eine Tech-
nik oder Kunstlehre auch im Bereich der ‚schönen Kunst‘ gibt und geben muss, hat
auch die Poesie im eigentlichen Sinne, die „nie einen Zweck außer sich“ hat (Schelling
1803/04, 639), stets eine rhetorische Komponente: „Alle Poesie, die auf einen Effekt
geht, [...] ist rhetorisch“ (F. Schlegel 1798a, 72).
Es gibt demnach eine Rhetorik „im höhern Sinn“ (ebd., 208), eine „materiale, enthu-
siastische Rhetorik die unendlich weit erhaben ist über den sophistischen Mißbrauch
der Philosophie, die deklamatorische Stylübung, die angewandte Poesie, die improvi-
sierte Politik, welche man mit demselben Namen zu bezeichnen pflegt“ (ebd., 187). Mit
eben dieser Rhetorik im höheren Sinne will F. Schlegel die Poesie im Rahmen seines
Programms einer „progressive[n] Universalpoesie“ „in Berührung [...] setzen“ (ebd.,
182).

5.2. Was die zweckfreie Poesie von der angewandten, zweckorientierten Redekunst
äußerlich unterscheidet, ist die Möglichkeit des gehobenen Tons, einer von der Alltags-
sprache deutlich unterschiedenen ‚poetischen Diktion‘. Insbesondere A. W. Schlegel
fordert eine solcherart eigenständige Dichtersprache. Dabei hält er es zwar für selbst-
verständlich, dass die Poesie „ihren eignen Zweck vernichten [würde], wenn sie so weit
von aller Analogie des Sprachgebrauchs abwiche, daß sie völlig unverständlich werden
516 Jochen A. Bär

müßte“ (A. W. Schlegel 1801/02, 406). Die ‚poetischen Lizenzen‘ gehen aber sehr weit:
Lediglich „absolute Dunkelheit und Verworrenheit welche durch kein Nachdenken sich
ins klare setzen läßt“ ist „fehlerhaft“, und selbst sie ist es nicht, wenn sie „partienweise
in einem Gedicht angebracht“ ist, um „dem Eindrucke des Ganzen zu dienen“ (ebd.).
Jede darüber hinausgehende Unverständlichkeitskritik wird mit elitärer, dem horazi-
schen „odi profanum volgus et arceo“ (Horaz, Oden III/1, 1) verwandter Geste zurück-
gewiesen: Der Dichter „braucht nicht für alle zu schreiben“ (A. W. Schlegel 1801/02,
406).
Auch der Rhetor muss sich nicht an alle wenden, aber da er einen ‚äußeren Zweck‘
verfolgt, kann es ihm im Unterschied zum Dichter nicht gleichgültig sein, ob er sein
tatsächlich angesprochenes Publikum erreicht. Dies hebt besonders A. F. Bernhardi her-
vor: Die Rede will „überreden“ (Bernhardi 1803, 227), daher „muß ihre Sprachdarstellung
[...] die Sprache des gemeinen Lebens in sich aufnehmen“ und darf sich, obgleich sie die-
selbe zu „erhöhen und veredeln“ streben soll, nicht so weit „von derselben [...] entfernen,
daß sie unverständlich, daß dem Zuhörer die Folge der Ideen schwierig aufzufassen wür-
de“ (ebd., 229).
Die einigermaßen paradoxe Konsequenz des hier entworfenen Poesie- und Rhetorik-
verständnisses ist, dass die Sprache des Dichters weitaus künstlicher – u. a. mittels der
klassischen Redefiguren (vgl. Bär 1999a, 121 ff.) – durchgebildet sein darf und soll als
die des Redners. In dieser Auffassung unterscheiden sich die deutschen Romantiker
deutlich von den englischen, v. a. von William Wordsworth. Dieser fordert etwa zeit-
gleich eine möglichst volkstümliche Dichtung mit einer der Alltagssprache möglichst
nahe verwandten Dichtersprache: „The Poet thinks and feels in the spirit of human
passions. How, then, can his language differ [...] from that of all other men who feel
vividly and see clearly?“ (Wordsworth 1802, 398.) Wordsworths Postulat einer „langu-
age really used by men“ (ebd., 386) steht in einer direkten „Tradition der antiken Rheto-
rik“ (Dockhorn 1944, 42). Er will „human passions“ und „human characters“ darstellen
(Wordsworth 1798, 383) und knüpft damit, wie Klaus Dockhorn zeigt, an die auf Aris-
toteles zurückgehende und von Quintilian adaptierte Unterscheidung von ‚Pathos‘ und
‚Ethos‘ an: „Die stark erregte Leidenschaft und das sanfte, humane Gefühl, ‚perturba-
tio‘ und ‚benevolentia‘, das sind bei Quintilian πάθη und ήθη, zusammengefaßt unter
dem Oberbegriff der ‚affectus‘, zum leidenschaftlichen Erregen und sanften Rühren
bestimmt.“ (Dockhorn 1944, 16.)
Die dem Redner – und bei Wordsworth eben auch dem Dichter – aufgegebene ‚Ver-
ständlichkeit‘ ist freilich nicht allein Angelegenheit einer ‚natürlichen‘ Sprache, son-
dern wird gleichgesetzt mit einer möglichst unmittelbaren Ansprache des Hörers. Adam
Müller (1812, 308) identifiziert die „wahre Rede“ daher mit einem „Gespräch“ des
Redners mit seinem Zuhörer und stellt als wichtigste rhetorische Regel auf:
„Wisse zu hören, wenn du reden willst; versetze dich in das Herz, dahinein du greifen willst
[...]. Verstehe, Redner, mich, deinen Gegner, wenn du dich mir verständlich machen willst:
bist du verständlich, dann will ich glauben, dann werde ich es im innersten Herzen empfinden,
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 517

daß du verstehst. Kurz, es gibt kein Mittel, den Verstand zu beweisen, als die Verständlichkeit
[...].“ (Ebd., 307.)

Das Vorhandensein dieser „Verständlichkeit“ wird in der Reaktion des Auditoriums er-
kennbar: Die „herrlichen begeisterten Reden“ eines „vortrefflichen Redner[s]“ dringen
seinen Zuhörern „ins Innerste“, wo sie die „inbrünstigste Andacht“ erzeugen; der „Feu-
erstrom seiner Worte“ reißt alle „unwiderstehlich fort“ (E. T. A. Hoffmann 1815/16,
37). Die unmittelbare Wirkung einer guten Predigt sind „[h]eftiges Weinen“ und „un-
willkürlich den Lippen entfliehende Ausrufe der andachtvollsten Wonne“ (ebd., 38).
Demgegenüber wird auch die Wirkung des schlechten Redners direkt an der Reakti-
on des Publikums sichtbar:
„[S]eine Reden schlichen wie ein halbversiegter Bach mühsam und tonlos dahin, und die un-
gewöhnlich gedehnte Sprache, welche der Mangel an Ideen und Worten erzeugte, da er ohne
Konzept sprach, machten seine Reden so unausstehlich lang, daß vor dem Amen schon der
größte Teil der Gemeinde, wie bei dem bedeutungslosen eintönigen Geklapper einer Mühle,
sanft eingeschlummert war, und nur durch den Klang der Orgel wieder erweckt werden konn-
te.“ (Ebd., 37.)

5.3. Die Frage, wie die Kommunikation mit der Zuhörerschaft gelingen könne, wird in
unterschiedlicher Weise beantwortet. Allen Positionen gemeinsam ist die in Kants Rhe-
torikkritik8 präformierte Forderung nach unbedingter Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit
des Redners. Diese Forderung kann jedoch zum einen praktisch-ethisch, zum anderen
ästhetisch motiviert sein. Im ersten Fall liegt der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem
Verhältnis von Redner und Auditorium, im zweiten auf der Person des Redners selbst.

5.3.1. Eine praktisch-ethische Rhetorik-Auffassung vertritt z. B. Adam Müller. Er nennt


vor dem Hintergrund seiner dialogischen Rhetoriktheorie als Bedingung der gelingen-
den Ansprache die Bereitschaft des Publikums, sich ansprechen zu lassen, was v. a.
Vertrauen in die Integrität des Redners voraussetzt:
„Wer nicht über gewisse Dinge mit mir einig ist, mit dem kann ich über die anderweiten nicht
streiten. Glaubt ihr an mich, so bin ich ein Redner; zweifelt ihr an mir, so bin ich stumm: [...]
weil mir wirklich das Vermögen, das Talent der Rede im Munde verlöscht. Glaubt ihr an mich,
kann wohl nichts anderes heißen als glaubt ihr, daß ich etwas Höheres will als mich: nämlich
die Wahrheit oder die Gerechtigkeit.“ (Müller 1812, 312 f.)

An der „Wahrheit“ muss dem Redner aufrichtig liegen, insofern er kein bloßer „So-
phist“ sein will (Bernhardi 1803, 174). Allenfalls in der „vornehmen Gelehrtenpoesie“
ist es möglich, dass ein Mangel an „sittliche[r] Haltung und Würde“ sich „mit ver-
schnörkelter Rhetorik verhüllen oder gar verschönern läßt“ (Eichendorff 1857, 723).

8
„Rednerkunst (ars oratoria) ist, als Kunst sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten
zu bedienen (diese mögen immer so gut gemeynt, oder auch wirklich gut seyn, als sie wollen) gar
keiner Achtung würdig.“ (Kant 1790, 215.)
518 Jochen A. Bär

Ein lediglich „durch rhetorische Künste erschlichnes Ansehn“ ist dagegen nur „von kur-
zer Dauer“ (F. Schlegel: 1795/97, 273). Das heißt nicht, dass die Techniken der Pa-
thopöie prinzipiell verpönt wären. „Affecte“ sind aber „Arzeneyen“, d. h., „man darf mit
ihnen nicht spielen“ (Novalis 1799a, 560). Wo dies doch geschieht, ist der letzte Zweck
des Redners, die Gewinnung der „Herzen“ seines Publikums, nicht zu erreichen:
„Das Anregen der Leidenschaften und Rührungen ist ein armseliges Substitut dessen, was ich
hier meine [...]. Entweder ihr ergreift den Gegner bei seiner gewaffnetsten Seite [...], indem ihr
vorwegnehmt seine Gründe, sie verstärkt, sie durch den Zusammenhang eurer Anklage belebt,
indem ihr alle die Wunden zeigt, die er erst schlagen will; und ihr erhebt euren Gegner an sei-
ner schwächsten Seite, [...] die empfänglich ist für das Göttliche und an welcher stärker zu sein
als er, euch zum Redner macht und ihn zum Hörer – oder ihr ergreift ihn gar nicht, ihr spielt
nur an der Oberfläche seines Herzens umher, ihr bestimmt das Tun seiner Hände, aber nicht
seinen Willen, ihr habt Maschinen in Bewegung gesetzt, aber nicht Herzen.“ (Müller 1812,
319.)

Verwerflich ist die Rhetorik als manipulative Technik allerdings nicht nur, wenn sie auf
positiver, zweckorientierter Unaufrichtigkeit beruht, sondern auch dann, wenn sie mit
negativer Unaufrichtigkeit, d. h. Gesinnungslosigkeit, Austauschbarkeit der Überzeu-
gungen, zumindest einem Mangel an „Consistency“ (Heine 1831, 140) einhergeht:
„Burke besaß nur rhetorische Talente, womit er in der zweyten Hälfte seines Lebens die libera-
len Grundsätze bekämpfte, denen er in der ersten Hälfte gehuldigt hatte. Ob er durch diesen
Gesinnungswechsel die Gunst der Großen erkriechen wollte, ob Sheridans liberale Triumphe
in St. Stephan, aus Depit und Eifersucht, ihn bestimmten, als dessen Gegner jene mittelalterli-
che Vergangenheit zu verfechten, die ein ergiebigeres Feld für romantische Schilderungen und
rednerische Figuren darbot, ob er ein Schurke oder ein Narr war, das weiß ich nicht. Aber ich
glaube, daß es immer verdächtig ist, wenn man zugunsten der regierenden Gewalt seine An-
sichten wechselt“ (ebd., 140 f.).

Diese Kritik greift auch dort, wo den Worten, die Taten versprechen, eben diese Taten
nicht folgen:
„Seit mehreren Jahren warte ich vergebens auf das Wort jener kühnen Redner, die einst in den
Versammlungen der deutschen Burschenschaft so oft ums Wort baten und mich so oft durch
ihre rhetorischen Talente überwunden und eine so vielversprechende Sprache gesprochen; sie
waren sonst so vorlaut und sind jetzt so nachstill.“ (Heine 1830, 270.)

Solche Vorbehalte gelten allerdings nicht lediglich der Rhetorik im besonderen, son-
dern gehören in den allgemeineren Kontext der romantischen Sprachskepsis (s. o.), für
die ein „volles, kostbares, glühendes Schweigen [...] mehr sagt als alle Beredsamkeit,
als jeder rhetorische Wortschwall“ (Heine 1839, 37).
Die geforderte Wahrhaftigkeit des Redners setzt voraus, dass er die Empfindungen,
die er bei seinen Zuhörern wachruft, tatsächlich empfindet. Jede Art von Autosugges-
tion, also künstlichem Sich-Versetzen in die auch beim Publikum beabsichtigte Stim-
mung, wird dadurch von vorneherein ausgeschlossen. Das gilt auch für die zweite in der
Romantik vertretene Ansicht, wie der Zuhörer zu erreichen sei: für die dem Genie-
Konzept des 18. Jahrhunderts verpflichtete ästhetische Rhetorik-Auffassung.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 519

5.3.2. Das Wirken des rhetorischen Genius ist ein unverfügbares Ereignis, das nur ein-
treten kann, wenn es der Redner vermag, sich ganz „dem Feuer der Beredsamkeit“ zu
überlassen (Hoffmann 1815/16, 43). Dabei wird freilich der Verstand, das klare Be-
wusstsein, die „Besonnenheit“ (Jean Paul 1813, 46 ff.) keineswegs ausgeblendet; „[n]ur
der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer brenne als leidenschaftliches“
(ebd., 48), d. h. unreflektiert, ohne Maß und Ziel. Vielmehr wird die „Begeisterung“ des
Genies, sein „Enthusiasmus“ (ebd.) als „geniale Ruhe“ verstanden. Sie „gleicht der
sogenannten Unruhe, welche in der Uhr blos für das Mäßigen und dadurch für das Un-
terhalten der Bewegung arbeitet“ (ebd.).
Dass das Wirken des Genies kein unbewusstes Ereignis ist, zeigt sich auch daran,
dass sich der Redner beim Reden gleichsam selbst beobachten kann:
„Bald [...] war es, als strahle der glühende Funke himmlischer Begeisterung durch mein Inne-
res – ich dachte nicht mehr an die Handschrift, sondern überließ mich ganz den Eingebungen
des Moments. Ich fühlte, wie das Blut in allen Pulsen glühte und sprühte – ich hörte meine
Stimme durch das Gewölbe donnern – ich sah mein erhobenes Haupt, meine ausgebreiteten
Arme, wie von Strahlenglanz der Begeisterung umflossen.“ (Hoffmann 1815/16, 33.)

Selbst scheinbare Kunstfehler gereichen dem mit rednerischem Genie gesegneten Rhe-
tor unbeabsichtigt zur positiven Wirkung:
„Im Anfange blieb ich meiner Handschrift getreu, und Leonardus sagte mir nachher, daß ich
mit zitternder Stimme gesprochen, welches aber gerade den andächtigen wehmutsvollen Be-
trachtungen, womit die Rede begann, zugesagt, und bei den mehrsten für eine besondere wir-
kungsvolle Kunst des Redners gegolten habe.“ (Ebd., 38.)

Dabei dürfen aber solche Kunstfehler (ebenso wie die Kunstgriffe) nicht absichtsvoll
erfolgen. Der Redner darf sich seines Handelns bewusst sein, aber er darf es nicht kon-
trollieren:
„[H]ier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes Gegenwart nicht aus dem Denken, Dich-
ten und Thun der ausgeleerten Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte
Welt reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in ihren frechen kalten An-
leitungen, wie die schönsten Empfindungen darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie
aus Gräbern zu Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z. B. der alte
Schulmann seine nöthigen Muskeln und Thränendrüsen (nach Peucer oder Morhof), um mit
einem leidenden Gesicht voll Zähren in einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffent-
lich herabzusehen aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt jeden
Tropfen.“ (Jean Paul 1813, 49.)

Bereits in dem Augenblick, in dem die Selbstbeobachtung in Selbstgefälligkeit und


Selbstgewissheit umschlägt und die rednerische Begeisterung planmäßig ins Kalkül
gezogen wird, erfolgt der Umschlag zur absichtsvoll-künstlichen Rhetorik. Der Redner
geht seines Genies verlustig und fällt stattdessen dem „Geist des Truges“ (Hoffmann
1815/16, 50) anheim. Dadurch verliert er zwar nicht unmittelbar seine Wirkung auf das
große Publikum, aber vor dem scharfen Blick des Kundigen kann er nicht länger beste-
hen. Eben dies widerfährt dem Mönch Medardus in Hoffmanns Erzählung Die Elixiere
520 Jochen A. Bär

des Teufels. Voll Vertrauen auf sein rednerisches Talent bereitet er sich auf eine Predigt
vor, „[o]hne das mindeste aufzuschreiben, nur in Gedanken die Rede, in ihren Teilen
ordnend“ (ebd., 49). Er verlässt sich ganz „auf die hohe Begeisterung, die das feierliche
Hochamt, das versammelte andächtige Volk, ja selbst die herrliche hochgewölbte Kir-
che in mir erwecken würde“ (ebd.). Das Laienpublikum ist zwar beeindruckt – „in allen
auf mich gerichteten Blicken, las ich Staunen und Bewunderung“ (ebd.) –, aber die
Äbtissin des Klosters, in dem die Predigt stattfindet, tadelt ihn scharf:
„Der stolze Prunk Deiner Rede, Deine sichtliche Anstrengung, nur recht viel auffallendes,
glänzendes zu sagen, hat mir bewiesen, daß Du, statt die Gemeinde zu belehren und zu from-
men Betrachtungen zu entzünden, nur nach dem Beifall, nach der wertlosen Bewunderung der
weltlich gesinnten Menge trachtest. Du hast Gefühle geheuchelt, die nicht in Deinem Innern
waren, ja Du hast selbst gewisse sichtlich studierte Mienen und Bewegungen erkünstelt, wie
ein eitler Schauspieler, Alles nur des schnöden Beifalls wegen.“ (Ebd., 50.)

Medardus allerdings will diesen Tadel nicht akzeptieren; er geht auf dem einmal einge-
schlagenen Weg weiter und fährt fort, seine Predigten „mit allen Künsten der Rhetorik
auszuschmücken“ (ebd.) und sein „Mienenspiel“ und seine „Gestikulationen sorgfältig
zu studieren“ (ebd., 51).

5.4. Die Ablehnung absichtsvoll eingesetzter rhetorischer Kunstgriffe ist in der Roman-
tik allgemein verbreitet, und meist wird die Kritik an ihnen mit romantischer Ironie
vorgebracht. Dies kann z. B. durch die übertreibende Affirmation rhetorischer Topoi
erfolgen – „ein Redner darf dem Zuhörer nochmals sagen, was dieser schon erfahren
bis zum Überdruß“ (Hoffmann 1820/22, 352) –, ebenso durch ihre scheinbare Verteidi-
gung, die sie in Wahrheit lächerlich macht:
„Es ist gebräuchlich, daß der Trauerredner den Anwesenden die ganze vollständige Biographie
mit lobpreisenden Zusätzen und Anmerkungen vorträgt, und dieser Gebrauch ist sehr gut, da
durch einen solchen Vortrag auch in dem betrübtesten Zuhörer der Ekel der Langeweile erregt
werden muß, dieser Ekel aber nach der Erfahrung und dem Ausspruch bewährter Psychologen
am besten jede Betrübnis zerstört, weshalb denn auf jene Weise der Trauerredner beide Pflich-
ten, die, dem Verewigten die gehörige Ehre zu erweisen, und die, die Hinterlassenen zu trös-
ten, auf einmal erfüllt. Man hat Beispiele, und sie sind natürlich, daß der Gebeugteste nach
solcher Rede ganz vergnügt und munter von hinnen gegangen ist; über der Freude, erlöst zu
sein von der Qual des Vortrags, verschmerzte er den Verlust des Hingeschiedenen.“ (Ebd.,
351.)

Eine weitere Möglichkeit der Ironisierung besteht im Ausdruck rhetorischen Selbstbe-


wusstseins, in der öffentlich vorgetragenen Reflexion des Redners über seine Rolle, die
ihn aus eben dieser fallen lässt:
„[I]ch will statt alles weitern langweiligen Sermons nur mit wenigen schlichten Worten sagen,
was für ein schmähliches Ende der arme Teufel der hier starr und tot vor uns liegt, nehmen
mußte und was es für ein wackrer, tüchtiger Kerl im Leben war! – Doch o Himmel! ich falle
aus dem Ton der Beredsamkeit, unerachtet ich derselben beflissen und, will es das Schicksal,
Professor poeseos et eloquentiae zu werden hoffe!“ (Ebd., 352.)
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 521

Die ironische Brechung9 wird dadurch verstärkt, dass der Redner nach kurzer Samm-
lung „mit erhöhtem Tone“ weiterspricht (ebd.), des weiteren dadurch, dass die Zuhörer
als naiv genug geschildert werden, die vom Redner beabsichtigte Wirkung uneinge-
schränkt zu zeigen10 und das offensichtliche rhetorische Manöver nicht zu durchschau-
en11 oder erst allmählich zu durchschauen12.
Allerdings kann die Künstlichkeit auch unverblümt thematisiert werden:
„[E]ndlich brach sein Jammer, nach der Vorschrift seines rhetorischen Lehrers bearbeitet, in
folgenden Worten aus: [...]“ (A. v. Arnim 1812, 510); „Der Erzherzog verlangte [...] von dem
Herren von Cornelius Nepos, daß er seine Klage vortrage. Dieser hatte nicht umsonst Stunden
in der Rhetorik genommen, das wollte er allen zeigen und bewähren; sehr pathetisch ergriff er
die [...] Mitgefühle der Versammelten [...].“ (Ebd., 541.)

Nicht einmal durch das Prisma rhetorischen Handwerks lässt derjenige seine angebli-
chen Empfindungen erblicken, der bei ihrem Ausdruck dramatische Figuren nachahmt:
„Er verschwur [...] nacheinander in zehn Karaktern aus den neuesten Dramen und Tragödien
seine Seele, wenn er jemals treulos; zulezt redete er gar noch in der Manier des Don Juan, dem
er diesen Abend beigewohnt hatte, und schloß mit den bedeutenden Worten: ‚dieser Stein soll
als furchtbarer Gast erscheinen bei unserm nächtlichen Mahle, meine ich’s nicht redlich.‘“
(Klingemann 1805, 30.)

5.5. Damit ist ein Komplex angesprochen, der für eine besondere Ausformung der ro-
mantischen Rhetorik-Reflexion steht: die Dramentheorie. Den Zusammenhang zwi-
schen Redekunst und Tragödie stellt bereits Quintilian her, und ausdrücklich auf ihn
beruft sich A. W. Schlegel: Er berichtet, dass Euripides „seine Poesie den Athenern
durch die Aehnlichkeit mit ihrem täglichen Lieblingsgeschäft, dem Processe-Führen, Ent-

9
Mit Ironie ist – wohl in kritischer Wendung gegen die Gefühls- oder Gefühligkeitskultur der Emp-
findsamkeit – auch bei Zeitgenossen außerhalb des romantischen Diskurses die Rede von Rührung
bzw. dem, was sie hervorruft. So berichtet Clemens Brentano über die mit seiner Familie befreun-
dete Mutter Goethes: „Als ich und meine Betrübnis so herangewachsen, daß die Frau Rat uns nicht
mehr Du, sondern Er nannte, sagte sie einstens: ‚Wenn ich Ihn ansehe, geht mir es schier wie jenem
alten General, der sah einmal einen höchst kummervollen Menschen in den Schloßhof herein-
schleichen, und als dessen elendes Aussehen sein starkes Herz rührte, zeigte er einem Bedienten
den Armen und sprach: ‚Prügle er mir den Menschen dort vom Hofe hinweg, denn der Kerl er-
barmt mich.‘ [...]‘“ (Brentano 1838, 350.)
10
„Ich, wir alle konnten uns bei diesen letzten Worten Hinzmanns nicht lassen vor grimmen [sic]
Schmerz, sondern brachen all in solch ein klägliches Geheul und Jammergeschrei aus, daß ein Fel-
sen hätte erweicht werden können“ (Hoffmann 1820/22, 353).
11
„Der Teufel hat aus dem kleinen Kerl gesprochen, sagte Chievres leise, mich rührt doch sonst so
leicht nichts, aber er macht einem seine Not so plausibel“ (Arnim 1812, 541).
12
„Mir kam es [...] vor, daß Hinzmann gesprochen, mehr, um ein glänzendes Rednertalent zu zeigen,
als den armen Muzius noch zu ehren nach seinem betrübten Hinscheiden. [...] Überdem war auch
das Lob, das Hinzmann gespendet, von zweideutiger Art, so daß mir eigentlich die Rede hinterher
mißfiel, und ich während des Vortrags bloß durch die Anmut des Redners und durch seine in der
Tat ausdrucksvolle Deklamation bestochen worden.“ (Hoffmann 1820/22, 356 f.)
522 Jochen A. Bär

scheiden, oder wenigstens Anhören, unterhaltend zu machen [suchte]. Deswegen emp-


fiehlt ihn Quintilian vorzüglich dem jungen Redner, der aus seinem Studium mehr als aus
den ältern Tragikern lernen könne [...].“ (A. W. Schlegel 1809/11a, 143.) Die kritische
Wendung bleibt nicht aus:
„[M]an sieht, daß eine solche Empfehlung nicht sonderlich empfiehlt: denn Beredsamkeit
kann zwar ihre Stelle im Drama finden, wenn sie der Faßung und dem Zweck der redenden
Personen gemäß ist; tritt aber Rhetorik an die Stelle des unmittelbaren Ausdrucks der Ge-
müthsbewegungen, so ist dieß nicht eben poetisch.“ (Ebd., 143 f.)

Für die dramatische Rede gilt ebenso wie für die real vorgetragene: „Der wahre begeis-
terte Redner wird sich über seinem Gegenstande vergeßen. Rhetorik nennen wir es,
wenn er, mehr als an die Sache, an sich und seine selbstgefällige Kunst denkt.“ (A. W.
Schlegel 1809/11b, 53.) Insbesondere in der französischen Tragödie des 17. Jahrhun-
derts, namentlich bei Corneille, herrscht Schlegel zufolge „Rhetorik, und zwar Rhetorik
in Hoftracht, statt der Eingebungen edler, aber einfacher unverkünstelter Natur“ (ebd.).
Dies läuft dem Charakter des Trauerspiels und auch seinen Aufgaben zuwider, denn
„[w]enn der tragische Held sein Unglück schon in Antithesen und sinnreichen Gedan-
kenspielen zurechtgelegt hat, so können wir unser Mitleiden sparen“ (ebd.).
Vom Schauspiel wird nicht anders als vom rednerischen Auftritt „Naturwahrheit“ ge-
fordert; sobald diese sich „vorgefaßten Theorien beugen und anbequemen“ muss, besteht
die Gefahr, dass die dramatischen Figuren zu „abstracten, ganz unsinnlichen Begriffs-
gestalten“ werden und „anstatt des unmittelbaren Naturlauts“ eine „prächtige Rhetorik“
hervorbringen (Eichendorff 1857, 261). Zudem liegt die „göttliche Kraft des Dramas
die uns so wie kein anderes Kunstwerk unwiderstehlich ergreift“, in der Unmittelbarkeit
der Darstellung, darin, „daß wir, mit einem Zauberschlage der Alltäglichkeit entrückt,
die wunderbaren Ereignisse eines fantastischen Lebens vor unseren Augen geschehen
sehen“ (Hoffmann 1819, 463). Daher ist es „recht dem innigsten Wesen des Dramas
entgegen, [...] wenn uns die Tat, die wir mit eignen Augen zu schauen gedachten, nur
erzählt wird“ (ebd.). Diese Charakterisierung gilt für „die mehresten unserer neuern
großen Haupt- und Staatsaktionen“ (ebd., 463 f.); „an Tat und Handlung bettelarm“
(ebd., 464) überschütten sie den Zuschauer „mit schönen Worten und Redensarten [...],
die kein lebendiges Bild in unsrer Seele zurücklassen“ (ebd., 463). Manches dieser
Trauerspiele „enthält eigentlich nichts weiter, als die wohlgeordnete in schönen Worten
und absonderlichen Redensarten verfaßte Relation eines fatalen Kriminalverbrechens
die mehreren Personen verschiedenen Alters und Standes in den Mund gelegt ist, wo-
rauf dann die Vollziehung des gesprochenen Urteils an dem schuldigen Missetäter er-
folgt“ (ebd., 465). Sie sind daher „nur rhetorische Kunstübungen zu nennen, in denen
einer nach dem andern auftritt und, sei er König, Held, Diener etc. etc., in zierlicher
geschmückter Rede sich ausbreitet“ (ebd., 464). Der Vorwurf der „rhetorischen Ideali-
tät“ (Eichendorff 1857, 268) trifft nicht nur das „imitatorum pecus“ (Hoffmann 1819,
464), sondern auch, „seiner Herrlichkeit und Größe unerachtet“ (ebd.), das Vorbild
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 523

Schiller: „Eine gewisse Prägnanz, mittelst der Verse Verse gebären, ist ihm ganz eigen-
tümlich.“ (Ebd.)
Von „dem wahrhaft Dramatischen ab zu dem Rhetorischen“ hin sich gewendet (ebd.,
465) und den „tuono academico des Theaters“ (ebd., 475) angestimmt haben aber nicht
nur die Dramendichter, sondern auch die Schauspieler, „die ihrer Seits [...] dem rhetori-
schen Teil ihrer Kunst zu viel Wert geben“ (ebd., 465). Zwar ist „richtige Deklama-
tion“, also das Beherrschen der Regeln, „die Basis worauf alles beruht“ (ebd.), aber sie
allein genügt im Sinne der auch für den Schauspieler geltenden Genielehre keineswegs:
Der „echte Schauspieler“ muss „geboren werden“: „Erlernen läßt sich da nichts, es ist
immer nur von der Ausbildung der innern natürlichen Kraft die Rede“ (ebd., 473). Man
kann daher „eine Rolle sehr richtig deklamieren und doch Alles auf das erbärmlichste
verhunzen“ (ebd., 465). Alles kommt hier auf Natürlichkeit und Echtheit der Empfin-
dung an:
„Ein mittelmäßiges Talent, das nur von der Handlung ergriffen ist und sich wirklich rührt und
bewegt wie ein lebendiger tätiger Mensch, kann hier den im Grunde bessern Schauspieler
übertreffen, der in dem beständigen Mühen durch die Rede zu ergreifen alles Übrige um sich
her vergißt.“ (Ebd., 466.)

Wer sich als Schauspieler in die Rolle, die er zu spielen hat, nicht finden, wer sie nicht
lebendig ausfüllen kann, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen, denn
„statt den Heros vor Augen zu sehen erblickt der Zuschauer nur einen, der von dem Heros
hübsch erzählt und sich dabei müht zu tun, als sei er der Heros selbst, aber das glaubt ihm der
Zuschauer nun und nimmermehr. Verlangt nun gar die Rolle irgend einen Ausbruch der physi-
schen Kraft die dem Schauspieler mangelt und behilft der sich mit irgend einem, in der Regel
schlecht gewählten Surrogat, so läuft er Gefahr lächerlich zu werden und das Ganze auf heillo-
se Weise zu verstören.“ (Ebd.)

Dabei wird viel an vorfallender Theaterrhetorik, die der Dichter und – ihm folgend (ebd.,
465) – der Schauspieler produziert, dem Publikum und seinen Erwartungen angelastet:
„[A]uf dem Theater wirkt mehr das Rhetorische als das Poetische, und die Vorwürfe, die bey
dem Fiasko eines Stückes dem Dichter gemacht werden, träfen mit größerem Rechte die Masse
des Publikums, welches für naive Naturlaute, tiefsinnige Gestaltungen, und psychologische
Feinheiten minder empfänglich ist, als für pompöse Phrase, plumpes Gewieher der Leiden-
schaft und Coulissenreißerey.“ (Heine 1837, 258.)

Wie und warum einer dieser „rhetorischen Dichter“ (Hoffmann 1819, 475) die Gunst
des Publikums gewinnt, beschreibt Hoffmann in der Prinzessin Brambilla:
„Der Abbate Chiari [...] hatte von Jugend auf mit nicht geringer Mühe Geist und Finger dazu
abgerichtet, Trauerspiele zu verfertigen, die, was die Erfindung, enorm, was die Ausführung
betrifft, aber höchst angenehm und lieblich waren. Er vermied sorglich irgendeine entsetzliche
Begebenheit anders, als unter mild vermittelnden Umständen vor den Augen der Zuschauer
sich wirklich zutragen zu lassen, und alle Schauer irgendeiner gräßlichen Tat wickelte er in den
zähen Kleister so vieler schönen Worte und Redensarten ein, daß die Zuhörer ohne Schauer
die süße Pappe zu sich nahmen und den bittern Kern nicht heraus schmeckten. Selbst die
524 Jochen A. Bär

Flammen der Hölle wußte er nützlich anzuwenden zum freundlichen Transparent, indem er
den ölgetränkten Ofenschirm seiner Rhetorik davorstellte [...]. – So was gefällt Vielen, und
kein Wunder daher, daß der Abbate Antonio Chiari ein beliebter Dichter zu nennen war. [...]
Reden voll hochtönender Worte, die weder der Zuhörer, noch der Schauspieler versteht, und
die der Dichter selbst nicht verstanden hat, werden am mehrsten beklatscht.“ (Hoffmann 1821,
832 f.)

Selbst bei anderen Gattungen als dem Drama greift diese Kritik: überall dort nämlich,
wo von der literarischen Darstellung nicht Schilderung von Bildern oder Zuständen,
sondern von Handlungen erwartet wird; den Erörterungen in Lessings Laokoon (1766)
zufolge also auch im Epos. Der Vorwurf einer „auffallende[n] Armuth an Handlung und
lebendiger Anschauung“ (Eichendorff 1857, 105) trifft beispielsweise Klopstocks Mes-
sias (1748–73): „Gott und Menschen und Engel und Teufel machen eben nichts, als
lange rhetorische Debatten über das, was und warum sie es thun wollen.“ (Eichendorff
1857, 105.) Bei Klopstock sei nichts „objectiv“, sondern alles „ideal“:
„ein abstracter Himmel und die bloße Rhetorik gestaltloser Engel und Dämonen, aus protes-
tantischer Unkenntnis oder Abneigung aller altkirchlichen Tradition entkleidet, womit uns
z. B. Dante so gewaltig durch Himmel und Hölle führt. Daher bei Dante und im Parcival lauter
Handlung und in der Messiade lauter Empfindung und endlose Reden über diese Empfindung,
mithin das Elegische vorwaltend.“ (Ebd., 213.)

6. Philologie
6.1. Die Beschäftigung mit deutscher und europäischer Literaturgeschichte, die den zu-
letzt zitierten rhetorikkritischen Wendungen zugrunde liegt, führt zum letzten im ge-
genwärtigen Zusammenhang zu behandelnden Aspekt romantischer Sprachreflexion:
der Philologie. Damit ist allerdings nicht allein historische Literaturwissenschaft, son-
dern auch und in nicht geringerem Maße historische Sprachwissenschaft gemeint; auf
letztere wird hier das Hauptaugenmerk zu richten sein.
Der Ausgangspunkt der romantischen Beschäftigung mit der eigenen, der deutschen
Sprach- und Literaturgeschichte ist in den wenigsten Fällen eine unvoreingenommene
Begeisterung, weit mehr ein ästhetisch-kritisches (Vor)urteil. In der gegen Ende des 18.
Jahrhunderts neu aufgekommenen querelle des anciens et des modernes vertraten die
Frühromantiker, insbesondere Friedrich Schlegel, ursprünglich entschieden die Partei
der ‚Anciens‘.
Der erste Frühromantiker, der sich mit der Geschichte der deutschen Sprache und Li-
teratur befasste, ist Wilhelm Heinrich Wackenroder. Angeregt durch seinen Lehrer Er-
duin Julius Koch entdeckte er, „daß dieses Studium, mit einigem Geist betrieben, sehr
viel anziehendes hat“ (Brief an L. Tieck, in: Vietta/Littlejohns 1991, Bd. 2, 97), und
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 525
13
begeisterte sich für die ‚altdeutsche‘ Poesie bereits zu einer Zeit, da Autoren wie
Tieck und F. Schlegel noch vorrangig die klassisch-antike Literatur, allenfalls Shake-
speare zu schätzen wussten. Eine allgemeinere Aufwertung erfuhr die ältere deutsche
Literatur bei den Frühromantikern erst, als sie neben der antiken auch die ‚moderne‘
oder (wie sie sie etwas später bevorzugt nannten) ‚romantische‘ Poesie für sich entdeck-
ten14 und, um die Originalquellen lesen zu können, sich mit deren Sprache vertraut zu
machen strebten. Philologische Quellenstudien trieben v. a. A. W. Schlegel, F. Schlegel
und Tieck. Letzterer gab 1803 nach mehrjährigen Vorarbeiten die Minnelieder aus dem
Schwäbischen Zeitalter heraus, jene Bearbeitung der Bodmerschen Sammlung von
Minnesingern aus dem schwäbischen Zeitpuncte (1758/59), von der der „entscheidende
Impuls zur Rezeption des Minnesangs“ (Rother 1988, 400) ausgeht. Zwar stieß Tiecks
Ausgabe keineswegs auf die von ihm erhoffte große Publikumsresonanz (vgl. Brinker-
Gabler 1980, 145), aber ihre Wirkung in Romantikerkreisen war beachtlich. Beispiele
sind Clemens Brentano und Stefan August Winkelmann, die sich als Übersetzer mit
mittelhochdeutscher Minnelyrik befassten (vgl. Rother 1988, 402), und Jacob Grimm,
der 1811 eine Abhandlung Ueber den altdeutschen Meistergesang publizierte. Tieck
selbst widmete sich neben dem Minnesang unter anderem der Edda und dem Nibelun-
genlied, das er zusammen mit F. Schlegel in einer kritischen Edition herauszubringen
erwog. Dieses Projekt blieb freilich unausgeführt; erst Friedrich Heinrich von der Ha-
gen legte 1810 eine Edition des Nibelungenliedes vor, auf das er als Hörer von A. W.
Schlegels Berliner Vorlesungen 1803/04 aufmerksam gemacht worden war.

6.2. Die romantische Philologiekonzeption hängt eng mit der romantischen Mittelal-
terauffassung zusammen, wie sie Novalis in seinem Vortrag Die Christenheit oder Eu-
ropa (1799), Tieck in der Vorrede zu seiner Minnelieder-Ausgabe und A. W. Schlegel
(1803/04a) im dritten Zyklus seiner Berliner Vorlesungen exemplarisch vorgetragen
haben. Kennzeichnend für diesen Ansatz ist, dass er „weitab von aller Deutschtümelei
das Mittelalter nur insofern als Ideal hinstellt, als es als Vorbild für ein übernationales
friedliches Europa christlicher Gesinnung dienen kann“ (Rother 1988, 402). Nationa-
listische Überlegenheitsgefühle sind, anders als bei einigen Vertretern der späteren
Romantik, kaum zu erkennen. Das zeigt sich daran, dass die Geschichte der Mutter-
sprache für die Frühromantiker nur einen Interessenschwerpunkt unter anderen aus-

13
Den Zeitgenossen um 1800 ist die heute übliche Epochengliederung des Deutschen noch nicht
bekannt. Die Frühromantiker meinen mit altdeutsch alle Texte vom Althochdeutschen bis zum 16.
Jahrhundert; das Spektrum ihres Interesses reicht vom Abrogans bis zu Hans Sachs.
14
Eine Vorreiterrolle kommt hier zweifellos Friedrich Schlegel mit seinem 1795 entstandenen großen
Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie zu. Zwar wurde auch dieser Beitrag von den
Zeitgenossen, insbesondere von Schiller, noch als Äußerung eines entschiedenen ancien verstanden
und kritisiert, doch vertritt Schlegel hier bereits die spezifisch frühromantische Position eines dia-
lektischen Verhältnisses von Antike und Moderne, die in beiden nicht mehr Epochen, sondern
Formen der Kunst (v. a. der Literatur) sieht und sie als solche zu einer idealtypischen Synthese
bringen will (vgl. Behler 1986, 169.)
526 Jochen A. Bär

macht: Abgesehen von ihren Beiträgen zur jungen deutschen Philologie sind sie auch
und gerade auf komparatistischem Gebiet hervorgetreten.
Die frühesten deutschen Anregungen und Ansätze zu einer historischen Grammatik
im Sinne des 19. Jahrhunderts stammen nicht von Franz Bopp oder Jacob Grimm, die
dann die Disziplin im eigentlichen Sinne konstituierten, sondern von den Brüdern Schle-
gel. Der Terminus vergleichende Grammatik ist im romantischen Diskurs zuerst bei
A. W. Schlegel nachzuweisen: Im Zusammenhang mit der Forderung, eine Sprache
nicht nur hinsichtlich bestimmter struktureller Gemeinsamkeiten mit anderen Sprachen,
sondern zugleich in ihrer historischen Dimension, in ihren konkreten Spezifika zu erfas-
sen, entwirft er das Konzept einer „vergleichende[n] Grammatik, eine[r] Zusammen-
stellung der Sprachen nach ihren gemeinschaftlichen und unterscheidenden Zügen“
(A. W. Schegel 1803, 203): Man müsse
„das Griechische und Lateinische; [...] das Deutsche, Dänische, Schwedische und Holländi-
sche; [...] das Provenzalische, Französische, Italiänische, Spanische, Portugiesische; dann das in
der Mitte liegende Englische; endlich wieder alle zusammen als eine gemeinschaftliche Sprach-
familie nach grammatischen Uebereinstimmungen und Abweichungen und deren innerm Zu-
sammenhange vergleichen. Eben so die orientalischen erst unter sich, hernach mit den oc-
cidentalischen.“ (Ebd.)

Friedrich Schlegel, der jüngere Bruder, übernimmt den Ausdruck vergleichende Gram-
matik und macht ihn 1808 in seinem vielbeachteten Buch Ueber die Sprache und Weis-
heit der Indier publik. Seine Begabung, intuitiv sprachhistorische Zusammenhänge zu
erkennen, führt ihn bereits Jahre vor Jacob Grimm zur faktischen Entdeckung von Phä-
nomenen wie der 1. Lautverschiebung (die er freilich aufgrund unzureichender Materi-
albasis nicht in ihrer ganzen Tragweite detailliert erfassen und empirisch belegen kann).
Schon in seinen Pariser Jahren (1802–04) lernt er Altpersisch und Sanskrit und arbeitet
in der Nationalbibliothek mit den Originalhandschriften. Sein Indien-Buch hat den ers-
ten Impuls zur Begründung der vergleichenden Sprachwissenschaft in Deutschland gege-
ben.
Philologische Arbeit ist bei den Frühromantikern allerdings weit weniger wissen-
schaftlich als künstlerisch, genauer gesagt dichterisch konzipiert. Die historische Be-
schäftigung mit der eigenen Sprache und Literatur hat keinen Selbstzweck, sondern soll
in die poetische Tätigkeit einfließen. Dieser Anspruch ist durchgängig. Stets wird das
Studium der älteren Literatur in erster Linie dem Dichter empfohlen, der „auf neue
Bildung seiner Sprache aus ihren Quellen ausgeht“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 32). Das
althochdeutsche Ludwigslied, die mittelhochdeutsche Minnelyrik und die Werke des
Hans Sachs – sie alle können als Vorbilder dienen, wenn ein Autor „seine Sprache aus
innern Hülfsquellen zu bereichern strebt“ (ebd., 37) und sich „auf das Erneuern des
Alten versteht“ (ebd., 44).
‚Erneuerung‘ des Alten heißt natürlich Modifikation: In einem Brief an den älteren
Schlegel betont beispielsweise Ludwig Tieck, dass er bei seiner Minnelieder-Bearbei-
tung vorsätzlich von den Quellen abgewichen sei und den Wortlaut absichtlich verän-
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 527

dert habe (in: Lohner 1972, 132 ff.), und auch der Adressat seinerseits findet nichts
dabei, ein Stück aus dem Nibelungenlied „in etwas erneuerter Sprache“ an die Öffent-
lichkeit zu geben: „Ich hab mir zum Gesetz gemacht, nichts grammatisch durchaus ver-
altetes stehen zu lassen und mußte daher auch oft die Reime ändern“. (A. W. Schlegel
an L. Tieck, ebd., 149 f.)
Von wissenschaftlich-historischer Philologie im heutigen Sinne kann hier also keine
Rede sein. Eine solche ist aber eben auch gar nicht beabsichtigt. Wesentlich für eine
angemessene Bewertung frühromantischer Praktiken des Umgangs mit historischen
Texten ist stets der aktuelle Rezipientenbezug: Tieck äußert mehrfach, dass seine Min-
nelieder keine wissenschaftliche Edition, sondern eine Sammlung für Liebhaber sein
sollen, und A. W. Schlegel hat die Hörer seiner Vorlesungen (mehrheitlich Laien) im
Auge, die er für die alten Texte interessieren will, und denen er daher nichts völlig Un-
verständliches vortragen darf.
Aus solchen Tatsachen wird deutlich: Die Begründung der germanistischen Mediävis-
tik ist, was die Frühromantiker betrifft, lediglich ein Nebenprodukt literarischer Arbeit;
es geht ihnen nicht um Wiedergabe, sondern um Aneignung, nicht um Bewahrung,
sondern um Erneuerung. Sie wollen nicht lediglich etwas über die Geschichte der Spra-
che und Literatur wissen, sondern suchen in ihr Stoff für eigene poetische Arbeit. Hier
wird das individualistische Moment der frühromantischen Sprachreflexion greifbar: die
besondere Hervorhebung der Tatsache, „daß jeder Einzelne auch sprachbildend ist“
(Schleiermacher 1805/09, 46). Das geschieht freilich nie willkürlich. Man muss, wie Wil-
helm von Humboldt erklärt, die „Erscheinung der Freiheit“ in der Sprache „erkennen
und ehren“, ebenso aber auch „ihren Gränzen sorgfältig nachspüren, um nicht in den
Sprachen durch Freiheit für möglich zu halten, was es nicht ist“ (Humboldt 1827/29,
184). Während aber Humboldt aus dieser Erkenntnis die Notwendigkeit einer wissen-
schaftlichen Sprachbetrachtung ableitet, ziehen die frühen Romantiker die Konsequenz
regelbewusster Spracharbeit, die vor allem A. W. Schlegel als Repoetisierung versteht
(vgl. oben): Die Sprache, die in ihrem Wesen als in sich geschlossenes, der Dienlichkeit
zu fremden Zwecken enthobenes „Kunstwerk“ durch „beständigen sorglosen Gebrauch
im Dienste des bloßen Bedürfnisses“ beeinträchtigt wird, soll ihre ursprüngliche Poeti-
zität wiedergewinnen (A. W. Schlegel 1803, 196 f.). Wer mit dieser Aufgabe befasst ist,
muss notwendig Sprachexperte sein: „Sprachen werden nicht erfunden, und auch alles
rein willkührliche Arbeiten an ihnen und in ihnen ist Thorheit“ (Schleiermacher 1813,
223). Allein der wirkliche Kenner ist imstande, die Sprache ihren inneren Regeln ge-
mäß zu bilden. Seine Kenntnis ist dabei nicht allein eine von bloßen Strukturen, son-
dern zugleich und vor allem eine historische: Sprache ist „ein geschichtliches Ding“,
und daher „giebt es auch keinen rechten Sinn für sie, ohne Sinn für ihre Geschichte“
(ebd.).

6.3. Die Vorstellung vom poetisch-philologischen Sprachbildner unterscheidet den spe-


zifisch frühromantischen Ansatz von Auffassungen des späteren 19. Jahrhunderts. Die
528 Jochen A. Bär

historischen Grammatiker behandeln üblicherweise nicht das Individuum, sondern eine


Gesamtheit von Sprechern, die ihrem ‚Nationalcharakter‘ oder ‚Volksgeist‘ gemäß, also
nach naturbedingten15, dem Einzelnen unverfüglichen Prinzipien diese Sprache bildet.
Zwar ist dieser Aspekt der Frühromantik ebenfalls nicht fremd; dennoch ist das eigent-
lich Charakteristische der frühromantischen Sprachauffassung nicht der Gedanke vom
Volk als Sprachgestalter, und auch nicht der damit zusammenhängende einer gesetzmä-
ßigen ‚organischen‘ Entwicklung der (National)sprache – dergleichen klingt immer nur
nebenher mit, weil es freilich zu den zeitüblichen Selbstverständlichkeiten gehört. Zu-
mindest für die Frühphase der deutschen Romantik gilt: Sie arbeitet nicht stärker mit
dem Begriff der Nation als beispielsweise Weimarer Klassik, Spätaufklärung und deut-
scher Idealismus (vgl. Schulz 1989 sowie Bär 2000). Unter Nationen verstehen die
Autoren vor allem unterschiedliche Ausprägungen des einen und selben menschlichen
Geistes; an ihrer Betrachtung ist ihnen hauptsächlich um seinetwillen gelegen. Auch
und gerade in der Philologie geht es darum, anderes Denken kennenzulernen und das
eigene dadurch zu bereichern: „Das Studium der Sprachen ist [...] der goldne Schlüssel,
der uns die Geistesschätze fremder Nationen öffnet“ (A. W. Schlegel 1802/03, 478).
Ebenso wie bei Wilhelm von Humboldt geht es hier vorrangig um die Frage, ob und wie
in der Vielfalt der verschiedenen Sprachen und Denkarten/Weltentwürfe so etwas wie
Einheit gefunden oder hergestellt werden kann:
„Wenn immer die Einheit etwas höheres ist als die Trennung und Entgegensetzung, so ist es
unstreitig eine von den dem menschlichen Geiste vorliegenden Aufgaben, daß alle verschied-
nen Darstellungsarten desselben in verschiednen Idiomen sich in einander müssen auflösen
lassen, und gleichsam ein grammatischer Kosmopolitismus gestiftet werden soll.“ (A. W. Schle-
gel 1803/04b, 337.)

Diese Leitidee des grammatischen Kosmopolitismus spielt insbesondere für das Kon-
zept einer deutschen Philologie eine wichtige Rolle. Das Wort deutsch konnte in der
Sprachreflexion und Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts extensional weit mehr
umfassen als heute. Als deutsch konnten prinzipiell alle zum westgermanischen Spra-
chenverband zählenden Einzelsprachen bezeichnet werden.16 Die weitgefasste Bedeu-
tung hat – womit man freilich heute aufgrund der unerfreulichen jüngeren Wissen-
schaftsgeschichte kaum rechnen zu dürfen meint – keine annexionistischen, sondern
transzendierende (die eigene Nationalität überschreitende) Implikationen. Diese Para-
doxie einer metanationalen Nationalität wird besonders gut in einem Seitenzweig der
romantischen Philologie erkennbar: der Übersetzungsarbeit. Das Deutsche gilt den

15
Die Ausläufer der auf Montesquieu zurückgehenden Klimatheorie, nach der nationale Charakteris-
tika durch Umwelteinflüsse des jeweiligen Lebensraums bedingt sind, lassen sich in den Reflexio-
nen der Romantiker über den Zusammenhang von Sprache und Nation allenthalben erkennen.
16
So etwa in Jacob Grimms Geschichte der deutschen Sprache (1848), die aus heutiger Sicht ledig-
lich die germanische Vorgeschichte des Deutschen thematisiert, aber auch noch das 1896/97 be-
gründete Deutsche Rechtswörterbuch, zu dessen Quellen neben deutschen auch friesische, nieder-
ländische, altsächsische und angelsächsische Texte gehören.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 529

Romantikern als eine Sprache, die sich in besonderer Weise zur Übersetzung eignet.
Ihre sogenannte „Biegsamkeit“ wurzelt jedoch nicht in sprachlichen Strukturen, viel-
mehr in der „Bereitwillligkeit“ ihrer Sprecher, „sich in fremde Denkarten zu versetzen
und ihnen ganz hinzugeben“ (A. W. Schlegel 1802/03, 480). Als Ursache dieser Be-
reitwilligkeit wird eine geographisch-klimatische Mittelposition der Deutschen zwi-
schen Nord und Süd ausgemacht. Sie bringt nach Meinung der Autoren mit sich, dass
diese Nation keine einseitigen Nationaleigentümlichkeiten aufweist, sondern alle Züge
ihrer Nachbarn in sich vereinigt; ihre Nationalität besteht darin, so Schlegel, „sich der-
selben willig entäußern zu können“ (A. W. Schlegel 1801/02, 195). Diese Universalität
nun wirkt sich auf die Sprache aus, die dadurch „zur geschicktesten Dolmetscherin und
Vermittlerin für alle übrigen wird“ (A. W. Schlegel 1802/03, 480).17
Die Stilisierung der Deutschen zur Übersetzernation ist keine Erfindung der Frühro-
mantiker. Sie verarbeiten damit einen in der patriotisch orientierten Literaturreflexion
des ganzen 17. und 18. Jahrhunderts verbreiteten Gedanken, der im Zusammenhang mit
der allgemein anerkannten Meinung steht, Deutschland besitze keine mit anderen euro-
päischen Nationen, etwa Italien, Spanien, Frankreich und England vergleichbare Natio-
nalliteratur. Die Deutschen seien dafür, so der gängige Topos der Kompensation und
Überbietung, die besten Übersetzer, und ihre Nationalliteratur sei daher sogar von allen
die reichste: Sie umfasse Werke der ganzen europäischen Literatur. In der Frühromantik
weitet sich dieser Universalitätsgedanke dann einerseits idealiter auf die gesamte Welt-
literatur aus, andererseits kommt zum literarisch-ästhetischen der erkenntnistheoretisch-
hermeneutische Aspekt – Bereicherung der eigenen Denkart durch das Kennenlernen
anderer – hinzu.
Dabei tritt jedoch der traditionell im Vordergrund stehende patriotische Gedanke, der
Wunsch, anderen Nationen überlegen zu werden, erkennbar zurück. Den Frühromanti-
kern (zumindest solange sie solche sind) geht es nicht in erster Linie darum, als Deut-
sche den ersten Platz in Kultureuropa einzunehmen. Sie blenden diesen Aspekt zwar
nicht aus18, interessieren sich aber vorrangig für anderes: dafür, in der Vielfalt der ver-
schiedenen Sprachen und der mit ihnen verbundenen Weltansichten eine Einheit zu
finden. Das Problem der Übersetzbarkeit ist eine der größten Herausforderungen für das
romantische Synthesis-Programm, und das Studium der Sprachen (fremder sowohl wie
der eigenen) und ihre souveräne Beherrschung steht folglich im Dienste der Vermitt-
lung. Das Übersetzen ist „auf nichts geringeres angelegt, als die Vorzüge der ver-
schiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hineinzudenken und hineinzufüh-
len, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften“
(A. W. Schlegel 1803/04a, 24; ebenso auch 1803/04b, 336; die bereits zitierte Parallel-
stelle mit der eingängigen Prägung grammatischer Kosmopolitismus, die interessanter-
weise Hapaxlegomenon bleibt, ebd. 337).
17
Der Vermittlungsgedanke findet sich übrigens auch bei Goethe und Schiller (vgl. Bär 1999b, 230
und Koch 2000, 30 f. [mit weiteren Literaturhinweisen]).
18
Ebensowenig wie beispielsweise Schiller (1801, 432): „Unsre Sprache wird die Welt beherrschen.“
530 Jochen A. Bär

Hervorzuheben ist jedoch, dass damit keine Universalsprache oder Pasigraphie ge-
fordert wird – nichts läge dem Aufklärungskritiker Schlegel ferner –, sondern eine ins
Unendliche hin unabgeschlossene hermeneutische Aufgabe. Das bedeutet zugleich,
dass es nicht darum geht, wahllos fremde Weltaspekte zu übernehmen und das eigene
Sprechen und Denken so lange zu modifizieren, bis es nichts Eigenes mehr hat. Zwar ist
in den Augen der Frühromantik „Universalität, Kosmopolitismus [...] die wahre Deut-
sche Eigenthümlichkeit“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 24), aber es ist, wie Novalis erläu-
tert, „Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualitaet gemischt“ (Brief an A. W.
Schlegel, in: Samuel 1975, 237). Kosmopolitisch heißt nicht wurzellos: „Gränzenlose
Bildsamkeit wäre Karakterlosigkeit“ (A. W. Schlegel 1798, 59).
Unschwer erkennt man hier die typisch frühromantische Art des Umgangs mit Diffe-
renzen: Sie werden im Doppelsinn des Wortes ‚aufgehoben‘. Das frühromantische Pro-
gramm der Einheit in der Vielfalt beabsichtigt, die Unterschiede zu überwinden, ohne
sie doch als solche zu beseitigen.19 Dementsprechend ist die romantische Philologie
transnational, selbst dort, wo sie als Philologie einer Einzelsprache auftritt. Es handelt
sich gewissermaßen um eine Philologie des Abendlandes, geprägt vom Gedanken des
historischen Sprachvergleichs und der Verwandtschaft nahezu aller europäischen Spra-
chen. Damit genügt es nicht, sich lediglich mit einer einzigen Sprache und Literatur –
welcher auch immer – zu befassen, sondern man muss ihrer möglichst viele studieren.
Vor allem die deutsche Philologie soll keine beschränkt nationale Philologie sein. Ihr ist
das Ethos der hermeneutischen Synthesis in besonderem Maße aufgegeben, wobei die
Vorstellung von Deutschland als der mittleren und daher vermittelnden Nation eine wich-
tige Rolle spielt: „Wo es auf das höchste Interesse der menschlichen Natur, auf die Ent-
wicklung der edelsten Kräfte ankommt, in der Kunst und Wissenschaft unter andern,
dächte ich, wäre es eine Deutschere Gesinnung, gar nicht zu fragen, ob etwas Deutsch
oder ausländisch, sondern ob es ächt, groß und gediegen sey, als sich zu ängstigen, ob
nicht etwa durch liberale Anerkennung des Fremden dem Ruhm des Einheimischen Ab-
bruch geschehe“ (A. W. Schlegel 1803/04a, 16).

6.4. Eine kosmopolitische Haltung, Liberalität gegenüber dem Fremden ist nicht das,
woran man im Zusammenhang mit Romantik, insbesondere mit romantischer Sprachre-
flexion zuerst denkt. Eben sie steht aber am Anfang des romantischen Diskurses, und es
ergäbe ein einseitiges Bild, wollte man dies aus Unkenntnis oder ideologiekritischer
Einäugigkeit übersehen (vgl. Knobloch 2002, 226 f.). Freilich darf andererseits selbst-
verständlich nicht vergessen werden, dass seit etwa 1805, spätestens mit Beginn der na-
poleonischen Kriege in Deutschland, deutlich nationalistischere Tendenzen erkennbar
werden, die sich bei einigen Autoren zu ausgeprägtem Nationalchauvinismus auswach-
sen:

19
Zum frühromantischen Synthesis-Konzept vgl. Bär 1999a, 34–42.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 531

„[I]ch schäme mich nicht, den Glauben zu bekennen, daß das teutsche Volk in der Weltge-
schichte mehr bedeutet hat und mehr bedeuten wird, als das französische. [...] Im Allgemeinen
ist die Frage thörigt, welches Volk besser sey, der Engländer oder der Spanier, der Teutsche
oder der Franzose, weil die Vergleichungen gewöhnlich einen lächerlichen Streit der Eitelkei-
ten geben, so wie es thörigt ist, wenn ich frage: ist die Eiche besser als der Dornstrauch, das
Veilchen als der Schierling, die Distel als der Rosenbusch? Aber wie? wenn es den Disteln
einfiele, sich mit den edlen Kindern des Rosenbusches vermählen zu wollen? sollte der Ro-
schenbusch da seine Dornen nicht gebrauchen? Wie wenn wir der Rosenbusch wären, und die
Franzosen die Disteln? Auf jeden Fall schadet uns das Vorurtheil nicht, wir seyen es; wir weh-
ren uns desto baß der ungebührlichen Vermischung mit dem Ungleichen.“ (Arndt 1813, 16 f.)

Die gedanklichen Eskapaden Johann Gottlieb Fichtes, der in seiner vierten Rede an die
deutsche Nation (1808) in Anlehnung an Topoi des 17. Jahrhunderts der französischen
Sprache unterstellt, man könne in ihr nur lügen (vgl. Bär 2000, 217 ff.)20, die Behaup-
tung, zwischen Deutschland müsse nicht etwa nur Feindschaft bestehen, solange Napo-
leon sie regiere21, sondern Erbfeindschaft durchaus und für immer22, die fremdenfeind-
lichen, engstirnigen, zwischen Gewaltsamkeit und Kitsch oszillierenden sprachlichen
Exzesse eines Friedrich Ludwig Jahn23, die die Behauptung, die deutsche Nation sei im
20
Vgl. beispielsweise auch Arndt (1818, 360): „[D]ie Sünde mit einem Halbschein von Tugend und
Anmuth [zu] verzieren wird unserer Sprache gottlob tausendmal schwerer als es der französischen
ist.“ Denn die deutsche Sprache ist „rauh und unmild, wie ihr Land, dem Lieblichen und Süßen
spröd und widerstrebend; das anmuthige Spielen, das leichte Einherhüpfen in Tönen, die bloß als
Töne ergötzen, ist ihr nicht eigen“ (Arndt 1805, 39 f.). Sie ist „für Menschen gemacht [...], die viel
schweigen und, wann sie sprechen, schlecht und recht verständig sprechen sollen“; sie ist „einfäl-
tig, treu und unscheinbar“ und darf sich „nur in dem Höchsten und Tiefsten [...] erheben“ (ebd.,
40).
21
In Kleists Katechismus der Deutschen heißt es auf die Frage „Wer sind deine Feinde, mein Sohn?“:
„Napoleon, und solange er ihr Kaiser ist, die Franzosen“ (Kleist 1809, 391).
22
Vgl. Arndt (1813, 15): „Die Franzosen sind unsere mächtigsten und gefährlichsten Nachbarn, und
sie werden es bleiben, auch wenn die Hand des Verhängnisses den Giganten Napoleon und alle
seine stolzen Entwürfe hingestreckt hat: sie können nie aufhören, unruhig, eitel, herrschsüchtig,
und treulos zu seyn. Gottlob, die Zeit ist erschienen, wo der Widerwille, den das brave teutsche
Volk immer noch gegen die Wälschen und ihre Sitten empfunden hat, zu einem brennenden Haß
werden kann, wo er in die Seelen der Kinder so eingepflanzt werden kann, daß er aus teutschen
Brüsten künftig nicht mehr auszurotten ist; die Zeit ist erschienen, wo die allmächtige Meinung der
Menschen der französischen Aefferei und Ziererei, und aller der eitlen Nichtigkeit, wodurch die
sogenannten gebildeten Teutschen entteutscht waren, das Todesurtheil spricht, wo das ehrliche
Teutsche oben schwimmen wird und nicht das lügnerische Wälsche.“
23
„Ohne Sprache giebt es kein Festhalten der Begriffe, kein Bestimmen derselben zum Urteil, kein
Aneinanderreihen von diesen zu Schlüssen.“ (Jahn 1810, 184) – „Sollen in früher Jugend zwei oder
mehrere Sprachen zugleich ihre Wirksamkeit äußern, so müssen sie sich mit den Vorstellungen
kreuzen, den Gedankenzusammenhang stören, den ganzen Menschen verwirren.“ (Ebd., 185.) – „In
der Muttersprache widerhallen alle Hochgefühle, des Herzens ausgeschollene Klänge, vom ersten
Wiegenlaut bis zur Liebe wundersüßem Wonnekosen.“ (Ebd., 186) „Unsere Affenliebe für fremde
Sprachen hat lange schon Windbeutel, Aufblase-frösche und Landläufer wichtig gemacht, in den
fremden Sprachlehrern gefährliche Kundschafter ins Land gezogen, durch die Immerzüngler und
Näseler unser biederherziges Volk verdorben, unsere sinnigen Weiber verpuppt. Fremde Sprachen
532 Jochen A. Bär

Gegensatz zur französischen per se unpolitisch und nicht für die Demokratie bestimmt,
die sich beispielsweise bei Friedrich de la Motte Fouqué und noch in Thomas Manns
Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) findet (Bär 2000, 223 f.) – all dies muss hier
mit Blick auf die ideologischen Entwicklungen des späteren 19. und der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts Erwähnung finden, in denen die hier bereits greifbare gedankliche
Perversion auf die Spitze getrieben wurde.
Erwähnung finden muss auch, dass der ‚grammatische Kosmopolitismus‘ der frühen
Romantik in Wahrheit doch eher ein ‚Europolitismus‘ gewesen ist. Der Ansatz eines
Wilhelm von Humboldt, der die vergleichende Sprachwissenschaft vom Anspruch her
auf alle Sprachen der Welt bezogen sehen wollte und die prinzipielle Gleichwertigkeit
aller Sprachen postulierte, erscheint unter seinen Zeitgenossen einigermaßen singulär;
beide Brüder Schlegel können sich in ihren Ansichten zur vergleichenden Sprachwis-
senschaft von dem Gedanken nicht freimachen, dass die flektierenden Sprachen den
flexionslosen deutlich überlegen seien (vgl. unten, 6.5).
Der nationalistischen Reduktion ist in späteren Jahren jedoch selbst Humboldts
Sprachauffassung nicht entgangen. Seine Theorie von der nationalspezifischen ‚Welt-
ansicht‘, die in jeder Sprache sich manifestiert (so dass der Mensch, um seine ‚Weltan-
sicht‘ zu erweitern, zum Erlernen anderer Sprachen aufgefordert ist)24, wird nicht allein

sind für den, der sie nur aus Liebhaberei und Plappermäuligkeit treibt, ein heimliches Gift.“ (Ebd.,
187.)
24
„Da aller objectiven Wahrnehmung unvermeidlich Subjectivitaet beigemischt ist, so kann man
schon unabhängig von der Sprache jede menschliche Individualität als einen eignen Standpunkt der
Weltansicht betrachten. Sie wird aber noch viel mehr dazu durch die Sprache, da das Wort sich, der
Seele gegenüber, auch wieder selbst zum Object macht, und eine neue, vom Subject sich abson-
dernde Eigenthümlichkeit hinzubringt, so dass nunmehr in dem Begriffe ein Dreifaches liegt, der
Eindruck des Gegenstandes, die Art der Aufnahme desselben im Subject, die Wirkung des Worts,
als Sprachlaut. In dieser letzten herrscht in derselben Sprache nothwendig eine durchgehende Ana-
logie, und da nun auch auf die Sprache in derselben Nation eine gleichartige Subjectivitaet ein-
wirkt, so liegt in jeder Sprache eine eigenthümliche Weltansicht. [...] Weltansicht [...] ist die Spra-
che nicht bloss, weil sie, da jeder Begriff soll durch sie erfasst werden können, dem Umfange der
Welt gleichkommen muss, sondern auch deswegen, weil erst die Verwandlung, die sie mit den Ge-
genständen vornimmt, den Geist zur Einsicht des von dem Begriff der Welt unzertrennlichen Zu-
sammenhanges fähig macht. Denn erst indem sie den Eindruck der Wirklichkeit auf die Sinne und
die Empfindung in das, als Organ des Denkens eigen vorbereitete Gebiet der articulirten Töne hin-
überführt, wird die Verknüpfung der Gegenstände mit den klaren und reinen Ideen möglich, in
welchen der Weltzusammenhang ans Licht tritt. Der Mensch lebt auch hauptsächlich mit den Ge-
genständen, so wie sie ihm die Sprache zuführt, und da Empfinden und Handlen in ihm von seinen
Vorstellungen abhängt, sogar ausschliesslich so. Durch denselben Act, vermöge welches der
Mensch die Sprache aus sich heraus spinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede Sprache zieht
um die Nation, welcher sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich
ist, als man zugleich in den Kreis einer andren Sprache hinübertritt. Die Erlernung einer fremden
Sprache sollte daher die Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht seyn,
da jede das ganze Gewebe der Begriffe und der Vorstellungsweise eines Theils der Menschheit
enthält. Da man aber in eine fremde Sprache immer mehr oder weniger seine eigne Welt- ja seine
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 533

bereits von einigen seiner Zeitgenossen all ihrer Urbanität beraubt (vgl. Anm. 23), son-
dern wird auch in intellektuell verflachter, dafür ideologisch passgenauer Form von der
Sprachwissenschaft des späteren 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über-
nommen (vgl. z. B. Ivo 1994). Die sprachidealistische Weltbild-Theorie, für die im 20.
Jahrhundert Namen wie Leo Weisgerber oder Fritz Stroh stehen, geht davon aus, dass
der Mensch in die Denk- und (wichtiger noch) Wertegemeinschaft seines ‚Sprachvolks‘
hineinwachse, deren Ansprüchen er sich nicht entziehen könne. Er muss denken, fühlen
und wollen wie das Kollektiv; individuelle Eigenständigkeit tritt demgegenüber, anders
als bei Humboldt, in den Hintergrund und erscheint sogar implizit als unnatürlich bzw.
unmoralisch:
„Menschliches Wertwissen und auch bis zu einem gewissen Grade die Äußerungsformen des
Empfindens und Fühlens, die gefühlshaltigen Stimmungen, sind an die Sprache der Gemein-
schaft gebunden, sind gruppenüblich und nicht nur einzelpersönlich bedingt. Die Erfahrungs-
ordnungen der Sprachen sind die zwangsläufig gegebenen Voraussetzungen menschlichen
Denkens und Wertens und bestimmen als solche die Besonderheit der Bewegungsweise des
Geistes und der Seele der Sprachvölker. Wert zeugt Wollen: die in die Sprachbegriffe, die Worte
gebundenen Wertladungen sind Träger von Handlungsintentionen, die milliardenhafte gleich-
gerichtete Wirkungen auslösen und Handlungen fordern. Der wertgeladene Wortbegriff ist
selbst Wille, der Wille und Kraft gebiert und von einem auf viele überträgt. In diesem Sinne ist
das Wort aus Handlung geborene und Handlung zeugende Kraft. Die Gemeinschaftssprache
bestimmt den Wesenswillen der Gruppe. Da die Muttersprache zu einer bestimmten Weise des
Wertens hinführt, ist offenbar auch die sittliche Bildung des Menschen, sind die Entscheidun-
gen des Gewissens in hohem Maße durch die Wertungsgewohnheiten seiner Muttersprache
bedingt, sind Sitte und Brauch aus Sprache geboren und ihre Wertordnungen sprachbezogen
[...].“ (Stroh 1933, 48) – „Offenbar ist [...] das geistige Weltbild sowie das Wertwissen des
Einzelnen stärker durch seine Muttersprache bestimmt als durch seine Eigenpersönlichkeit. Im
Geistig-Seelischen ist der nachgeburtliche Einfluß der Muttersprache in hohem Grade bestim-
mend. Der Bewegungsraum des einzelpersönlichen Werturteils steckt zwar innerhalb einer all-
gemeinen Breite [...]. Doch empfängt der Einzelne seine Erkenntnis- und Wertungsformen
überhaupt mit der Muttersprache als fertige Ordnungen und geprägte Erfahrungen seiner
Gruppe. Er holt aus ihr bereits vorhandene, von der Gruppe hineingelegte und überlieferte
Wertgehalte heraus. Sein Menschentum beginnt erst mit seiner Sprache, seine Persönlichkeit
mit seiner besonderen Muttersprache. Mit der Spracherlernung übernimmt der Mensch [...] das
Weltbild, das in den Begriffen und Denkformen seiner Muttersprache niedergelegt ist. Damit
gelangt er unbewußt in den Besitz der Erfahrungen, die von unzähligen Geschlechtern in diese
Sprache niedergelegt wurden. So verläuft sein Denken von Kindheit an ausschließlich in den
Formen und Inhalten seiner Muttersprache. Mit der Spracherlernung übernimmt der Mensch
aber auch zugleich ebenso unmerklich und unbewußt die Wertungsgewohnheiten seiner Mut-
tersprache, wird durch sie in die Wertwelt der Gemeinschaft ‚hineingeformt‘, ‚hineingenormt‘
[...]. [...] Seiner Sprache nach ist der Einzelne Glied im Ganzen der Volkssprache und in diese
hineingebunden. Ihr gegenüber ist er wesentlich nur Geschöpf und immer nur in sehr geringem
Maße Schöpfer. Die Einwirkung der Gemeinschaft auf ihn bei der Bildung seines geistigen
Weltgefüges und seiner Wertordnungen ist außerordentlich viel stärker als umgekehrt die

eigne Sprachansicht hinüberträgt, so wird dieser Erfolg nie rein und vollständig empfunden.“
(Humboldt 1827/29, 179 f.)
534 Jochen A. Bär

Einwirkung des Einzelnen auf die Gemeinschaft. Diese Leistung der Gemeinschaftssprache bei
der Bildung der geistig-seelischen Persönlichkeit des Einzelnen ist aber auch von entscheiden-
derer Bedeutung als die Leistung, die der Einzelne unmittelbar von sich aus hierbei vollbringt.
Daher läßt sich der Begriff der Muttersprache auch nur durch das Verhältnis von Sprache und
Gemeinschaft, von Sprache und Volk bestimmen und nicht nur individualsprachlich, das heißt,
durch die Betrachtung lediglich der Einzelpersönlichkeit und ihres Sprachbesitzes.“ (Ebd.,
50 f.)

6.5. Noch in anderer Hinsicht gibt es Unterschiede zwischen der frühen Romantik um
1800 und der späteren. Ab etwa dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts verlagert
sich das romantische Interesse an philologischer Beschäftigung mit Sprache immer deut-
licher vom Praktisch-Poetischen hin zum Historisch-Empirischen. Gleichwohl bleibt
der ästhetische Grundansatz erhalten. Er zeigt sich exemplarisch in A. W. Schlegels
bekannter und bis heute in der Sprachtypologie gebräuchlicher Unterscheidung zwi-
schen synthetischem und analytischem Sprachbau, die er von Adam Smith übernommen
und erstmals in dem französisch geschriebenen Aufsatz Observations sur la Langue et
la Littérature Provençales (1818) vorgetragen hat. Die Sprachen der Welt lassen sich
demnach in drei Klassen einteilen: „les langues sans aucune structure grammaticale, les
langues qui emploient des affixes, et les langues à inflexions“ (A. W. Schlegel 1818,
58 f.). Erstere weisen keine Deklination, Konjugation oder Derivation auf; ihre Syntax
besteht lediglich aus einer Aneinanderreihung unveränderlicher Einzelwörter („toute la
syntaxe consiste à placer les éléments inflexibles du langage les uns à côté des autres“;
ebd., 159). Die affigierenden Sprachen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen selb-
ständig bedeutungstragende lexikalische Einheiten („pris isolément, ils renferment en-
core un sens complet“) die Funktion übernehmen können, Nebenbegriffe und Bezie-
hungen zum Ausdruck zu bringen („exprimer les idées accessoires et les rapports“),
indem sie an andere Wörter angehängt werden („en s’attachant à d’autres mots“), die
sie inhaltlich modifizieren (ebd.). Die flektierenden Sprachen schließlich verwenden
Silben, die für sich genommen durchaus keine Bedeutung haben („syllabes qui,
considérées séparément, n’ont point de signification“), die aber den Sinn der Wurzelsil-
be, an die sie angefügt werden, modifizieren und jeweils genau bestimmen („qui déter-
minent avec précision le sens du mot auquel elles sont jointes“); dadurch kann mit ei-
nem einzigen Wort ein – oftmals schon sehr komplexer – Hauptbegriff („idée
principale“) mit seinem gesamten Gefolge („cortége“) von Nebenbegriffen („idées ac-
cessoires“) und veränderlichen Beziehungen („relations variables“) zum Ausdruck ge-
bracht werden (ebd., 160).
Die flektierenden Sprachen nun unterteilen sich in zwei Gattungen („se subdivisent
en deux genres“), nämlich die synthetischen und die analytischen Sprachen (ebd.). Die
analytischen sind diejenigen, die zur Flexion Artikel, Pronomina, Hilfsverben, Adver-
bien usw. verwenden, d. h. die verschiedenen grammatischen Funktionen getrennt von-
einander zum Ausdruck bringen, wohingegen die synthetischen diese Aspekte in einem
und demselben Wort vereinigen.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 535

Im Unterschied zu den affigierenden Sprachen, die von alters her für sich selbst be-
stehen können – als Beispiele werden Eingeborenensprachen Amerikas und das Baski-
sche genannt (ebd., 213 f.) –, sind die analytischen Sprachen laut Schlegel jünger: mo-
derne Schöpfungen („de création moderne“), wie er sagt; sie entstammen der Auflösung
synthetischer Sprachen („sont nées de la décomposition des langues synthétiques“; ebd.,
161). Standardbeispiel sind für ihn im Kontext seiner Untersuchung über das Provenza-
lische natürlich die romanischen Sprachen.
Interessant ist die Motivation der Termini synthetisch und analytisch sowie ihre Kor-
respondenz mit dem Terminus-Paar antik/modern. Es geht Schlegel weniger um aus-
drucksseitige Einheiten, also Morpheme, die in einem Wort zusammengesetzt (syntheti-
siert) werden, bzw. Lexeme, in die ein grammatischer Komplex aufgespalten (analy-
siert) ist; vielmehr geht es ihm um das dahinterstehende Denken. Die synthetischen Spra-
chen vereinigen verschiedene gedankliche Aspekte in einem Wort, während die ana-
lytischen sie auf verschiedene Wörter verteilen.
Diese Unterscheidung ist konzeptionshistorisch keineswegs neu. In der Tat ist sie
nichts weiter als eine Anknüpfung an die Wortstellungsdiskussion des 18. Jahrhunderts,
die, ausgehend von der Theorie der Port-Royal-Grammatiker vom ordre naturel, haupt-
sächlich in Frankreich, aber auch in Deutschland – beispielsweise in J. G. Hamanns
Vermischten Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache (1762) –
geführt wurde. Monreal-Wickert (1977, 58–73) hat den Zusammenhang der Schle-
gel’schen Klassifikation mit Theoremen des französischen Enzyklopädisten Nicolas
Beauzée plausibel gemacht. Dieser hatte in seinen Encyclopédie-Artikeln die Ansicht
vertreten, dass diejenige Sprache die natürlichste (und damit auch die verständlichste)
sei, die sich in ihrer Satzstellung nach der natürlichen Ordnung der Gedanken richtet.
Insofern sie der „analyse de la pensée“ folgt, heißt diese Ordnung auch „ordre analy-
tique“ (Beauzée, Encyclopédie IX, 257b, s. v. Langue; vgl. Monreal-Wickert 1977, 99,
mit weiteren Literaturhinweisen).
Solche Vorstellungen nun greift Schlegel mit seiner Unterscheidung der analytischen
und synthetischen Sprachen auf – allerdings mit einer inhaltlichen Neufassung des Wortes
analytique25 und mit umgekehrten Vorzeichen, was die Bewertung angeht. Für ihn ist es
nicht, wie für Beauzée, eine abzulehnende Verkehrung der Natur, wenn die Wortstel-
lung die Abfolge der Gedanken nicht eins zu eins wiedergibt, sondern vielmehr eine
begrüßenswerte Freiheit. Derjenigen Sprache, die eine solche freie Wortstellung er-
laubt, indem sie mehrere Vorstellungen in einem und demselben Wort zusammenzieht

25
Beauzée unterscheidet eine bessere und eine schlechtere Möglichkeit, einen gedanklichen Inhalt
mit syntaktischen Mitteln sprachlich zu fassen und zum Ausdruck zu bringen; er versteht analy-
tique im Sinne von ›im Satzbau die gegliederte Abfolge der Gedanken eins zu eins abbildend‹.
Schlegel hingegen unterscheidet zwei grundsätzlich verschiedene Möglichkeiten, einen komplexen
Gedanken auszudrücken (eine mit morphologischen und eine mit syntaktischen Mitteln); bei ihm
bedeutet analytique: ›eine gedankliche Gegliedertheit dadurch absolut setzend, dass die verschie-
denen Aspekte jeweils in einer eigenständigen ausdrucksseitigen Einheit gefasst werden‹.
536 Jochen A. Bär

und dabei mit morphologischen Mitteln (eben den Flexionssilben) gleichwohl die Be-
dürfnisse der Logik befriedigt, bewertet Schlegel daher eindeutig höher. Er preist die
große Freiheit („grande liberté“; A. W. Schlegel 1818, 167), die den klassisch-antiken
Sprachen in der Anordnung der Wörter („dans l’arrangement des mots“) eignete, als
glänzenden Vorzug („brillant avantage“).
Die Unterscheidung von synthetischen und analytischen Sprachen ist in der
Sprachtypologie bis heute präsent. Allerdings wird sie (wiewohl fast stets mit Hinweis
auf A. W. Schlegel) meist ohne Kenntnis der theoretischen Zusammenhänge bemüht, in
denen sie ursprünglich entworfen wurde. Es handelt sich dabei um Zusammenhänge,
welche die genannte Unterscheidung mit heutigen Auffassungen von Sprachwissen-
schaft kaum kompatibel erscheinen lassen: um das bereits erläuterte Ideologem der Re-
poetisierung der Sprache. Dass der Autor die allgemein philosophischen Bezüge, in
deren Rahmen er seine frühromantische Sprachtheorie entworfen hatte, bei seinen spä-
teren, mehr empirisch geprägten philologischen Arbeiten nicht aus den Augen verloren
hat, macht er selbst deutlich. So weist er eigens darauf hin, dass die Sprachgeschichte
identisch sei mit der Geschichte des menschlichen Geistes („que l’histoire des langues
est celle de l’esprit humain“; A. W. Schlegel 1818, 161). Die geistesgeschichtliche Ent-
wicklung von der ursprünglich-poetischen Synthesis, dem harmonischen Zusammen-
wirken der menschlichen Gemütskräfte, hin zur Vorherrschaft der Ratio und der damit
verbundenen analytischen Denkweise sieht Schlegel in der Abfolge der Epochen der
klassischen Antike und der seit dem Mittelalter angesetzten Moderne realisiert, die er
nun auch als sprachhistorische Epochen deutlich akzentuiert: „Les grandes synthèses
créatrices sont dues à la plus haute antiquité: l’analyse perfectionnée était réservée aux
temps modernes“ (ebd., 169).
In den synthetischen Sprachen manifestiert sich nach seiner Auffassung eine gleich-
zeitige Tätigkeit, ein unmittelbarer Antrieb aller Seelenkräfte („il s’y manifeste une action
[...] simultanée, une impulsion [...] immédiate de toutes les facultés de l’âme“; ebd.).
Dem entspricht die auf innerer, gleichsam organischer Einheit gründende „grande li-
berté“ der synthetischen Sprachen in der Wortstellung, die es dem Dichter erlauben, mit
immer neuem Reiz auf die „imagination“ und die „sensibilité“ seiner Leser bzw. Hörer
zu wirken, indem er die Sätze ins Unendliche hin abwandelt und die Wörter mit erlese-
nem Geschmack ineinanderflicht („en variant les phrases à l’infini, en entrelaçant les
mots avec un gout exquis“; ebd., 167), ohne allerdings die Bedürfnisse des Verstandes
zu vernachlässigen: „La logique était satisfaite, la clarté assurée par des inflexions sono-
res et accentées“ (ebd.).26

26
Eine inhaltlich und auch in den (dort deutschen) Formulierungen weitgehend parallele Stelle findet
sich bereits in den Berliner Enzyklopädie-Vorlesungen: Wünschenswert für die Poesie ist demnach
eine möglichst große Freiheit der Wortfolge nach dem Vorbild des Lateinischen und Griechischen,
wo es „der Deutlichkeit keinen Abbruch thut“, wenn man „das zusammen Gehörige auch ziemlich
weit trennt“ (A. W. Schlegel 1803/04b, 325). Diese Freiheit erlaubt es dem Dichter, „für das Ge-
fühl und die Fantasie [...] noch so manches auszudrücken, was nicht in den bloßen Begriffen liegt“
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 537

Die modernen oder analytischen Sprachen können demgegenüber nicht mehr (zumin-
dest nicht mehr in gleicher Weise wie die synthetischen) als organische Kunstwerke
verstanden werden27, sondern sind „der Logik strenge unterworfen“ (A. W. Schlegel
1818/19, 64) bzw. „sévèrement assujetties à la marche logique“ (ders. 1818, 168). In
ihnen herrscht der Verstand vor („préside le raisonnement“), der gesondert von den
anderen Vermögen („à part des autres facultés“) arbeitet und infolge dessen („se
rendant [...] mieux compte de ses propres opérations“) seine spezifischen Ziele besser
verfolgen kann (ebd., 169).
Was die Forderung nach Repoetisierung selbst betrifft, so erhebt Schlegel sie in den
Observations ohne Zweifel weit weniger explizit als er könnte. Immerhin weist er aber
deutlich darauf hin, dass er den alten, also den synthetischen Sprachen gegenüber den
modernen, den analytischen den Vorzug gibt: „Je l’avoue, les langues anciennes, sous
la plupart des rapports, me paraissent bien supérieures“ (ebd., 167). Zudem konstatiert
er – ganz in Übereinstimmung mit früher geäußerten Ansichten (vgl. Bär 1999a, 253–
255; Bär 2000, 214–216) –, dass nicht nur die Entwicklung des menschlichen Geistes
Einfluss auf die Entwicklung der Sprache, sondern auch die Entwicklung der Sprache
Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Geistes habe: „Le meilleur éloge qu’on
puisse faire des langues modernes, c’est qu’elles sont parfaitement adaptées aux besoins

(ebd.), indem er, wie durch Tropik, Reim und Wortbildung, so auch im Satzbau Verknüpfungen
herstellt und Auseinanderliegendes aufeinander bezieht: „In der Poesie liegt eben in der Verschlin-
gung eine große Schönheit, indem dadurch ein ganzes Bild aufs innigste vereinigt und gleichsam
zu einem einzigen großen Worte gemacht wird“ (ebd.). – Ebenfalls parallel die Bonner Vorle-
sungen über Geschichte der deutschen Sprache und Poesie: „Die synthetischen Sprachen leisten
den Foderungen logischer Bestimmtheit und Deutlichkeit schon durch die Flexionen Genüge, und
können in der freyeren Wortstellung die Einbildungskraft und das Gefühl ganz anders in Anspruch
nehmen“ (A. W. Schlegel 1818/19, 64).
27
Immerhin bezeichnet A. W. Schlegel (1818, 159) die flektierenden Sprachen insgesamt, also auch
die analytischen Sprachen als „une espèce d’organisme“, weil er in ihnen ein lebendiges Prinzip
der Entwicklung und Vermehrung erkennt, das ein reiches und fruchtbares Wachstum zur Folge hat
(„parce qu’elles renferment un principe vital de développement et d’accroissement, et qu’elles ont
seules, si je puis m’exprimer ainsi, une végétation abondante et féconde“; ebd.). Im Hintergrund
steht hier Friedrich Schlegels Unterscheidung von „organischen“ und „mechanischen“ Sprachen,
auf die sich sein Bruder ausdrücklich bezieht (A. W. Schlegel 1818/19, 25), und in der bereits alle
wesentlichen Topoi präformiert sind. Eine „organische“ Sprache wird „durch Flexionen oder innre
Veränderungen und Umbiegungen des Wurzellauts in allen seinen Bedeutungen ramifiziert, nicht
bloß mechanisch durch angehängte Worte und Partikeln zusammengesetzt [...], wo denn die Wur-
zel selbst eigentlich unverändert und unfruchtbar bleibt“ (F. Schlegel 1808, 149; vgl. auch Bär
1999a, 212 f.). – Obgleich nun die analytischen Sprachen für A. W. Schlegel zu den organischen
zählen, schreibt er den synthetischen Sprachen die größere Natürlichkeit zu: Er führt an dass taub-
stumme Kinder, die den Gebrauch von Zeichen der logischen Ordnung gemäß gelernt hatten, sich
selbst überlassen diese in anderer Weise, nämlich mit kühnen Inversionen anordneten („ils font les
inversions les plus hardies“), die dem lateinischen Satzbau ähnelten (A. W. Schlegel 1818, 168).
Die Inversionen, so Schlegels Konklusion, sind also nicht lediglich rhetorischer Zierrat („orne-
ments de rhétorique“), sondern der ursprünglichen Natur des menschlichen Geistes gemäß.
538 Jochen A. Bär

actuels de l’esprit humain, dont elles ont, sans aucun doute, modifié la direction.“
(A. W. Schlegel 1818, 167). Zieht man nun in Erwägung, dass die Modifikation der
synthetischen Sprachen in Richtung auf analytische Strukturen aus Schlegels Sicht in
der Hauptsache ein Sprachwandel aufgrund mangelnder Sprachbeherrschung war28, und
dass er zudem die synthetischen Strukturen als dem menschlichen Geiste angemessener
betrachtet (vgl. Anm. 26), so kann kein Zweifel daran bestehen, dass die „aktuellen Be-
dürfnisse“ des menschlichen Geistes aus Sicht des Autors nicht den Gipfelpunkt von
dessen Entwicklung darstellen, sondern allenfalls eine Durchgangsstation, und auch die
Implikation der Sätze, mit denen er die Observations beschließt (A. W. Schlegel 1818,
209), kann kaum missverstanden werden: In einer Epoche, in der alle Geister auf neue
Ideen ausgerichtet seien („où tous les esprits sont tournés vers des nouvelles idées“), sei
es vielleicht besonders nützlich („particulièrement utile“), die Erinnerung an eine schon
weit zurückliegende Vergangenheit wiederzubeleben („réveiller le souvenir d’un passé
déjà éloigné“). Das sicherste Mittel, keinen Nutzen aus der Geschichte zu ziehen, sei,
ihr feindselig gegenüberzutreten („porter un esprit d’hostilité“). Wenn man seine Vor-
fahren verachte, solle man sich in acht nehmen, dass es einem die Nachwelt nicht heim-
zahle („Si nous dédaignons nos ancêtres, prenons garde que la postérité ne nous le ren-
de“).

6.6. A. W. Schlegels Sprachtypologie ebenso wie sein Repoetisierungsprogramm ist vor


dem Hintergrund der allgemeinen frühromantischen Kulturgeschichtstheorie zu sehen:
der hauptsächlich von Friedrich Schlegel entwickelten Unterteilung der Kulturgeschich-
te in zwei Epochen, nämlich eine antike oder klassische und eine (vom Mittelalter an
datierte) moderne oder romantische; eine noch nicht angebrochene dritte Epoche, als
deren Verkündiger sich die Frühromantiker verstehen, ist als die zu vollziehende Ver-
schmelzung (Synthese) von Antike und Moderne gedacht (vgl. Bär 1999a, 34–42; ebd.,
285–289).
Die Philologie (verstanden im alten Sinne als Einheit von Sprach- und Literaturwis-
senschaft) spielt im Rahmen dieses teleologischen Geschichtsbildes die wesentliche,
nämlich die Vermittlerrolle. Die Frühromantiker schreiben ihr, wie bereits erläutert, hin-
sichtlich der Sprache poietische, bildnerische Funktion zu und sehen damit in ihr zugleich

28
Der Übergang vom synthetischen zum analytischen Bau erfolgt dann, wenn eine Sprache nicht durch
eine die Grundlage der nationalen Bildungstradition darstellende Literatur fixiert ist (A. W. Schle-
gel 1818, 161 f.; ders. 1818/19, 25 u. 66); bei den romanischen Sprachen und beim Englischen
kommt zusätzlich die durch Eroberung und Fremdherrschaft bedingte Sprachmischung hinzu. Auf-
grund der Themenstellung seines Aufsatzes von 1818 widmet sich der Autor besonders den roma-
nischen Sprachen; hier konstatiert er eine allgemeine Unfähigkeit der barbarischen Eroberer der
Völkerwanderungszeit, das in den weströmischen Provinzen gesprochene Latein korrekt zu erler-
nen; „surtout ils ne savaient pas manier ces inflexions savantes, sur lesquelles repose toute la
construction latine“ (ebd., 166). Die eingesessene Bevölkerung habe dann, dadurch dass sie ihre
Sprache schlecht gesprochen hörte, ihrerseits die Regeln vergessen und die Redeweise ihrer neuen
Herren nachgeahmt (ebd.).
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 539

ein Mittel für die „Ausbildung des Menschen als Menschen“ (F. Schlegel 1805/06,
186). Denn die Sprache ist eben, wie bereits ausgeführt, nichts anderes als „das große,
nie vollendete Gedicht, worinn die menschliche Natur sich selbst darstellt“ (A. W.
Schlegel 1795, 84), und die intime Kenntnis der Grammatik ebenso wie der Literatur ist
„ein unerläßliches Erforderniß für jeden, der eine höhere Bildung sich zum Ziele [...]
gesetzt hat“ (F. Schlegel 1805/06, 186).
Die philologische Beschäftigung mit der Antike ist die Beschäftigung mit einem
Vorbild, dem das Eigene, das Moderne nachzugestalten ist: „Klassisch zu leben, und
das Altertum praktisch in sich zu realisieren, ist der Gipfel und das Ziel der Philologie“
(F. Schlegel 1798a, 38). Man solle, „um die moderne[n] Sprach[en] antik zu bilden,
sich selbst das Klassische praktisch zueignen in Saft und Blut, und die größere Verbrei-
tung desselben befördern“, d. h. die antiken Texte nicht nur studieren, sondern auch
übersetzen (F. Schlegel 1797b, 67); diese Tätigkeit gehört „ganz zur φλ [Philologie]“
und ist eine „durchaus φλ [philologische] Kunst“ (ebd., 64).
Freilich geht es nicht um eine bloße Wiederbelebung der Antike, sondern um die
Möglichkeit, über unterschiedliche Manifestationen und Ausdrucksweisen des mensch-
lichen Geistes zu verfügen und sich ihrer gleichsam wie verschiedener Register bedie-
nen zu können: „Ein recht freyer und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belie-
ben philosophisch oder philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch,
antik oder modern stimmen können, ganz willkührlich, wie man ein Instrument stimmt,
zu jeder Zeit, und in jedem Grade“ (F. Schlegel 1797a, 147).29 Entsprechendes gilt für
die Übersetzung als Bestandteil der Philologie: „Um aus den Alten ins Moderne voll-
kommen übersetzen zu können, müßte der Übersetzer desselben so mächtig seyn, daß er
allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber das Antike so verstehn, daß ers
nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte“ (F. Schlegel 1798a,
121).

29
Ernst Behler hat gezeigt, dass die von Friedrich Schlegel angestrebte Restitution der Antike kei-
neswegs eine Abwendung von der Moderne beinhaltet, und auch bereits auf Friedrichs Bedeutung
für seinen Bruder hingewiesen: „Im Unterschied zu Schillers Idee eines unendlichen Fortschreitens
auf das Ideal hin bleibt bei Schlegel die Antike als Vorbild präsent im Sinne der ‚ewig anwesenden
Schönheit‘ [...]. Antike und Moderne treten damit in einen dialektischen Spannungsbezug, den es
in der französischen, englischen und bisherigen deutschen Behandlung des querelle-Themas nicht
gegeben hatte. Die Moderne scheidet sich hier nicht von der klassischen Antike ab, sondern setzt
sich – in Fichtescher Terminologie – in die lebendigste ‚Wechselwirkung‘ mit ihr. Schlechte Mo-
dernität, so könnte man es formulieren, besteht im bloßen Abscheiden, im bloßen Fortschreiten, in
der ständigen Steigerung des Interessanten und Pikanten. Genuine Modernität befindet sich in ei-
nem ebenbürtigen Verhältnis zur Klassik und manifestiert sich in einem Wettstreit mit ihr. Das
wahre Griechenland rückt vom Anfang der europäischen Literaturgeschichte an deren unerreichba-
res Ende. Paradox ausgedrückt ließe sich sagen [...], daß Schlegel nicht auf einer Seite der querelle
des anciens et des modernes focht, sondern auf beiden. August Wilhelm Schlegel folgte diesen ge-
schichtsphilosophischen Ansichten seines Bruders“ (Behler 1986, 169).
540 Jochen A. Bär

Aufgabe des Philologen ist also die produktive Vermittlung der Antike und der Mo-
derne bzw. (da es hier weniger um zwei Zeitabschnitte als um zwei einander entgegen-
gesetzte kognitive Prinzipien geht) dessen, wofür die beiden Epochen stehen: Einheit-
lichkeit und Divergenz. Die moderne Poesie lässt den Leser unbefriedigt. „Befriedigung
findet sich nur in dem vollständigen Genuß, wo jede erregte Erwartung erfüllt, auch die
kleinste Unruhe aufgelös’t wird; wo alle Sehnsucht schweigt. Dies ist es, was der Poe-
sie unsres Zeitalters fehlt!“ (F. Schlegel 1795/97, 217). Sie kann zwar mit einer „Fülle
einzelner trefflicher Schönheiten“ aufwarten, aber es fehlen ihr „Übereinstimmung und
Vollendung“ sowie „die Ruhe und Befriedigung, welche nur aus diesen entspringen
können“, kurz: „eine vollständige Schönheit, die ganz und beharrlich wäre“ (ebd.).
Die Unabgeschlossenheit und Unvollkommenheit der modernen Poesie ist nicht un-
abhängig vom modernen Publikum zu sehen. Dieses, „auch das feinere“, ist „völlig
gleichgültig gegen alle Form, und nur voll unersättlichen Durstes nach Stoff“ und ver-
langt vom literarischen Werk keine „Übereinstimmung der einzelnen Wirkungen zu
einem vollendeten Ganzen“, sondern lediglich „interessante Individualität“ (ebd., 222).
Spezifika der modernen Poesie sind ein „Mangel der Allgemeingültigkeit“ der ihr zu-
grundeliegenden ästhetischen Gesetze, daraus resultierend eine „Herrschaft des Manie-
rierten, Charakteristischen und Individuellen“ sowie eine „durchgängige Richtung [...]
aufs Interessante“ (ebd., 252), d. h. auf „subjektive ästhetische Kraft“ (F. Schlegel
1797c, 208).
Derartige Aussagen sind allerdings nicht als Abwertung der modernen Poesie aufzu-
fassen. Die Aufforderung des Autors, den Aufsatz Über das Studium der griechischen
Poesie nicht als sein „Endurteil über die moderne Poesie [zu] mißdeuten“ (ebd., 207),
ist keine nachgereichte, als Schadensbegrenzung gedachte captatio benevolentiae, die
Friedrich Schlegel für nötig gehalten hätte, nachdem er kurz vor Drucklegung des Stu-
diumsaufsatzes Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung mit
ihrem Postulat einer Gleichwertigkeit beider Dichtarten zu lesen bekommen hatte. Zwar
leugnet er selbst nicht, dass Schiller ihm „wirklich Aufschlüsse gegeben“ habe (Brief an
A. W. Schlegel, in: Behler 1987b, 271), aber er bezieht diese Aussage auf konkrete
Aspekte des Verhältnisses von antiker und moderner Poesie, nicht darauf, dass Schiller
ihm die moderne Poesie erst nahegebracht habe.
Tatsächlich enthält der Studiumsaufsatz, der vor Schlegels Schiller-Lektüre abgeschlos-
sen war und vor der Drucklegung nicht mehr verändert wurde, bereits den Ansatz zu
seiner positiven Bewertung der modernen Poesie, die er einige Zeit später die romanti-
sche nennt und bekanntlich als eine unendlich perfektible, ständig im Werden begriffene
progressive Universalpoesie (F. Schlegel 1798a, 28) fasst: „Die erhabne Bestimmung
der modernen Poesie ist [...] nichts geringeres als das höchste Ziel jeder möglichen
Poesie, das Größte was von der Kunst gefordert werden, und wonach sie streben“, was
aber als das „unbedingt Höchste“ zugleich „nie ganz erreicht werden“ kann (F. Schlegel
1795/97, 255).
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 541

Diese „erhabne Bestimmung“ hängt eng mit der Charakterisierung der modernen Po-
esie als interessant zusammen. Interessant, der Aufmerksamkeit und des Nachstrebens
wert, ist nach Schlegels Auffassung „jedes originelle Individuum, welches ein größeres
Quantum von intellektuellem Gehalt oder ästhetischer Energie enthält [...] als das emp-
fangende Individuum bereits besitzt“ (ebd., 252 f.), das also als Vorbild für eine partiel-
le Vervollkommnung dieses empfangenden Individuums, des Rezipienten dienen kann.
Partiell deshalb, weil der Mensch eben unendlich perfektibel ist, seine Vervoll-
kommnung daher immer noch vergrößert werden kann und nie völlig zum Ziel gelangt:
„Da alle Größen ins Unendliche vermehrt werden können, so ist klar, warum auf die-
sem Wege nie eine vollständige Befriedigung erreicht werden kann; warum es kein
höchstes Interessantes gibt“ (ebd., 253). Ebenso ist klar, warum der Charakter der mo-
dernen Poesie Unabgeschlossenheit, Progressivität ist. Gerade diese Progressivität aber,
das ins Unendliche hin unbefriedigte Streben, bringt es mit sich, dass die moderne Poe-
sie auf ein konkretes Ziel hinarbeitet, durch dessen Erreichung sie zwar nicht der Be-
friedigungslosigkeit überhaupt enthoben wäre, aber doch in einem bestimmten Punkt
Befriedigung fände. Dieses Ziel ist das Schöne: Es allein kann das „in der menschlichen
Natur gegründete Verlangen nach vollständiger Befriedigung“ (ebd.) in einer bestimm-
ten Hinsicht stillen, da es als der „allgemeingültige Gegenstand eines uninteressierten
Wohlgefallens“ definiert wird, das „von dem Zwange des Bedürfnisses gleich unabhän-
gig, frei und dennoch notwendig, ganz zwecklos und dennoch unbedingt zweckmäßig“
ist (ebd.).
Zwar kann im Schönen die angestrebte Vollkommenheit nicht absolut, sondern im-
mer nur relativ erreicht werden, und die moderne Poesie würde daher ihrer Progressivi-
tät prinzipiell durch eine Hinwendung zum Schönen nicht enthoben; indessen ist
gleichwohl eben diese Hinwendung für die moderne Poesie ein notwendiger Schritt auf
dem Weg der angestrebten Vervollkommnung. Ein Schritt, den sie allerdings nicht aus
eigener Kraft vollziehen kann. Da sie interessant ist, kann sie per definitionem nicht
schön sein: Gemäß kantischer Tradition ist das Schöne gerade dadurch bestimmt, dass
„das Wohlgefallen an demselben uninteressiert sei“ (F. Schlegel 1797c, 213). Das
Schöne kann daher in der modernen Poesie nur durch diskontinuierliche Entwicklung,
durch einen plötzlichen „Sprung“ (F. Schlegel 1795/97, 255) erreicht werden; es kann
nicht aus ihr selbst kommen, sondern sie bedarf eines Vorbildes, nach dem sie sich
richten und dem sie sich nachbilden kann. Dieses Vorbild nun sind die „Werke des
goldnen Zeitalters der Griechischen Kunst“ (ebd., 287): Sie stellen das „vollständige
Beispiel der unerreichbaren Idee, [...] das Urbild der Kunst und des Geschmacks“ dar
(ebd., 288).
Damit wird die Hinwendung der modernen Literatur zum Schönen zu einer Rück-
wendung auf die Antike. Hervorzuheben ist jedoch erneut, dass es Schlegel nicht um
eine bloße Wiederholung der klassisch-antiken Kunst geht (vgl. Anm. 29): Eine solche
würde lediglich das Beharren auf einem relativ-höchsten Standpunkt ermöglichen und
widerspräche dem progressiven Charakter der modernen Poesie. Die scheinbar schran-
542 Jochen A. Bär

kenlose Vorliebe des Studiumsaufsatzes für die klassisch-antike Literatur und die damit
verbundene Kritik der modernen Dichtung ist nur ein erster Schritt, bei dem der Autor
nicht stehen bleibt. Es geht ihm nicht um eine Abwertung der modernen Poesie im Ge-
gensatz zur antiken, sondern vielmehr um den Aufweis der exemplarischen Qualität
antiker Texte, die sie geeignet macht, die moderne Literatur nach ihnen zu bilden.
Im Zusammenhang dieser Bildung ist der Literarhistoriker gefordert, der Experte für
alte Poesie, der nicht nur einzelne klassische Werke besser als seine Zeitgenossen kennt
und diese Kenntnis exemplarisch zur Verfügung stellen kann, sondern der zugleich die
klassische Literatur, Kunst und Bildung insgesamt überblickt: Sie ist „ein Ganzes, in
welchem es unmöglich ist, einen einzelnen Teil stückweise vollkommen richtig zu er-
kennen“ (F. Schlegel 1797c, 206). Nur derjenige, der die Antike so gut kennt, dass er
sie „allenfalls wiederschaffen“ könnte (F. Schlegel 1798a, 121), ist daher imstande, die
Moderne nach ihr zu bilden. Eine „vollendete Geschichte der Griechischen Poesie“
würde daher nicht „dem Gelehrten allein Gewinn bringen“, sondern erscheint zugleich
als „wesentliche Bedingung der Vervollkommnung“ modernen Geschmacks und moder-
ner Kunst (F. Schlegel 1797c, 206).

7. Sprachgebrauch
Klaus J. Mattheier unterscheidet in einem Beitrag zur sprachhistorischen Grundlagen-
forschung (Mattheier 1995) vier große „Gegenstandsbereiche der Sprachgeschichte“:
„Sprachsystemgeschichte“, „Sprachgebrauchsgeschichte“, „Sprachkontaktgeschichte“
und „Sprachbewußtseinsgeschichte“ (ebd., 15). Unter Sprachsystemgeschichte ist die
strukturelle Beschreibung des sprachlichen Gesamtsystems auf sämtlichen hierarchi-
schen Ebenen (vom Laut bzw. Schriftzeichen bis hin zum Text und darüber hinaus zu
sprachpragmatischen Phänomenen wie Sprechakten) verstanden – wobei ‚gesamtsyste-
matische Beschreibung‘ die Beschreibung von Subsystemen („Varietäten und Sprach-
stile“; ebd., 16) impliziert. Sprachgebrauchsgeschichte ist die Beschreibung des Wan-
dels in der „soziosituativen“ Geltung der Subsysteme (ebd.), Sprachkontaktgeschichte hin-
gegen die Beschreibung der Wechselwirkung mit anderen Sprachen. Mit Sprachbe-
wusstseinsgeschichte meint Mattheier „das systematische und das unsystematische
Sprachwissen und die Handlungs- bzw. Urteilsmotivationen, die bei einem Sprachge-
meinschaftsmitglied bzw. in einer Sprachgemeinschaft verbreitet sind“ (ebd.). Will sa-
gen:
„Sprache kann [...] nicht nur als das gesehen werden, was sprachlich geschehen ist, geschieht
und nach den grammatischen Regeln geschehen könnte. Zu einer Sprache gehört auch, was
Menschen, die sie gebrauchen, von ihr meinen, was sie von ihrem eigenen Sprachgebrauch
und dem anderer Menschen halten, kurzum ihre Spracheinstellungen.“ (Stickel 1999, 17.)

Für die Sprachgeschichtsschreibung ist die Sprachbewusstseinsgeschichte vor allem


deshalb aufschlussreich, weil „immer deutlicher die große Bedeutung erkennbar wird,
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 543

die diesem Bereich für die Steuerung von Sprach- und Sprachgebrauchswandel zu-
kommt“ (Mattheier 1995, 16).
Für die deutsche Romantik lässt sich eine enge Verbindung von Sprachreflexion und
Sprachgebrauch feststellen, und keineswegs nur dahingehend, dass beispielsweise Au-
toren, die fremdwortpuristische Positionen vertreten oder mit ihnen sympathisieren,
selbst auf Fremdwörter verzichten bzw. sie tendenziell eher vermeiden.30 Die Thematik
ist derzeit allenfalls in Ansätzen erforscht; aber allein schon in einer ersten Annäherung
lassen sich mehrere Gegenstandsbereiche namhaft machen, in denen das, was Autoren
der Romantik über Sprache sagen, dem entspricht, wie sie es sagen.

7.1. Seit jeher gibt es in der Romantikforschung Kritik an der „Unbestimmtheit und Will-
kürlichkeit des romantischen Sprachgebrauchs“ (Haym 1870, 446). Bezeichnender-
weise am Beispiel des Wortes Sprache führt Kainz (1937, 118) die Vagheit romanti-
scher Wortverwendung vor Augen: „Unbedenklich opfert man die differentia specifica,
welche die Sprache im eigentlichen Sinn von den übrigen Ausdrucksmitteln unterschei-
det“. Eine Terminologie im Sinne des aufklärerischen Ein-Eindeutigkeitsideals (ein
Ausdruck hat idealiter nicht mehr als eine Bedeutung, und für eine Bedeutung gibt es
idealiter nicht mehr als einen Ausdruck) ist die Sache der Romantiker nicht: Es kommt
ihnen nicht auf „klare Eindeutigkeit“, sondern auf „verschwimmende ,Sphäre‘“ an
(Kainz 1937, 119). Die romantische Meinung, dass der wesensgemäße Blick auf die
Welt nicht die analytisch-definitorische Perspektive ist, wie sie wissenschaftlichen Her-
angehensweisen eignet, sondern das intuitive Erfassen der Dinge in ihrem unablässigen
lebendigen Werden und Ineinanderfließen31, die Absicht, sich, wie es Ludwig Tieck in
einem Brief an A. W. Schlegel vom Juni 1801 formuliert, „mit dem Universum auf dunkle
Weise verknüpfen“ zu lassen (in: Lohner 1972, 74), findet ihre unmittelbare Entspre-
chung in der Forderung nach einem Sprachgebrauch (hier: Wortgebrauch), der mög-
lichst viel auf einmal zum Ausdruck bringt32, und dieser Sprachgebrauch wiederum
wird nicht nur gefordert, sondern auch aktiv praktiziert:

30
So verzichtet beispielsweise Jean Paul in der zweiten Auflage (1813) seiner Vorschule der Ästhetik
gegenüber der ersten Auflage (1804) auf „so viele fremde Wort-Eingewanderte [...], als nur die
Reinheit der Sprache [...] begehren konnte“ (Jean Paul 1813, 299); selbst auf solch allgemein übli-
che Wörter wie Autor oder Vokal (2. Aufl.: Schriftsteller, Selbstlauter) verzichtet er.
31
Vgl. beispielsweise F. Schlegel (1800a, 61): „Das Spiel der Mittheilung und der Annäherung ist
das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode“ sowie ders.
(1805/06, 336): „[D]as Sein ist an und für sich selbst nichts, es ist nur Schein; es ist nur die Grenze
des Werdens, des Strebens. Wenn das Streben am Ziele anlangt, verschwindet dieses und es ent-
steht wieder ein neues Ziel. Das Sein ist demnach für uns beschränkte Menschen, für die Praxis, als
Ziel nur ein notwendiger, nützlicher Schein. In der Beschränktheit des Menschen scheint ihm das
Ziel fest und beharrlich, sobald es aber erreicht ist, verschwindet im Handeln der Schein und was
Sein schien, wird ein neues unendliches Werden“.
32
Vgl. beispielsweise Novalis (1800, 675): „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren | Sind Schlüssel
aller Kreaturen, | Wenn die so singen, oder küssen, | Mehr als die Tiefgelehrten wissen, | Wenn sich
544 Jochen A. Bär

„Wenn kein Unterschied zwischen den Begriffen Sprache und Sprechen in der Bezeichnung
gewahrt wird, wenn die Ausdrücke: Vernunft, Besonnenheit, Sprachfähigkeit, selbsttätige
Richtung, und wie auch immer jenes Vermögen bezeichnet wird, scheinbar willkürlich fürei-
nander eintreten können, so spricht sich darin letzten Endes eben der Glaube aus, daß solche
Worte nicht zur endgültigen Lösung von Fragen führen sollen, weil diese Lösung jenseits der
wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten liegt“ (Fiesel 1927, 4).

Das hier zur Sprache kommende Phänomen der Synonymie (unterschiedliche Wörter
haben eine und dieselbe Bedeutung) wird als einem eineindeutigen Wortgebrauch ent-
gegenstehend und daher zu vermeidend von Verfechtern des Sprachexaktheitspostulats
traditionell zusammen mit einem weiteren Phänomen genannt: dem der Polysemie (ein
und dasselbe Wort hat unterschiedliche Bedeutungen). Die Romantiker, in ihrer Wen-
dung gegen ebendieses Postulat, verwenden demgegenüber Wörter mit voller Absicht
polysem und/oder synonym. Dieses Verfahren hängt unmittelbar mit der romantischen
These zusammen, dass alles mit allem in Beziehung stehe und wesensmäßig verwandt
sei (vgl. Bär 1999a, 44 f.). Es ist der Versuch, mit einem Wort mehr zum Ausdruck zu
bringen oder zumindest anzudeuten, als gemeinhin darunter verstanden wird, und lässt
sich daher im Zusammenhang mit den (früh)romantischen Bemühungen um Poetisie-
rung bzw. Repoetisierung der Sprache sehen. Poetisch ist eine Sprache demnach dann,
wenn sie nicht nur die wesensmäßige Einheit, sondern die konkrete Vielfalt der Phäno-
mene fassen und die ganze Mannigfaltigkeit der Beziehungen zwischen ihnen zum Aus-
druck bringen kann.
Erste, bislang nur vorläufige Untersuchungen zum Wortgebrauch der deutschen Rom-
antik zeigen, dass lexikalisch-semantische ‚Unschärfe‘ signifikant oft zu beobachten ist.
Das Wörterbuchprojekt Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“
(1760–1840). Wörterbuch zur Literatur- und Kunstreflexion der Goethezeit, kurz: ZBK
(Bär 2010 ff.), das auf eigene Vorarbeiten (Bär 1999a, 365–513) zurückgreift, doku-
mentiert dies auf breiter Quellengrundlage (über 66.000 Texte von über 400 Autoren des
genannten Zeitraums, insgesamt ca. 100 Mio. laufende Wortformen; vgl. Bär/v. Cons-
bruch 2011) am Beispiel des Adjektivs romantisch. Eine semantische Bestimmung er-
schien bereits den Zeitgenossen in besonderer Weise schwierig. F. Schlegel scherzt 1797
in einem Brief an seinen Bruder (in: Immerwahr 1985, 53), dass eine „Erklärung des
Worts Romantisch“ von ihm „125 Bogen lang“ sei, d. h. 2000 Druckseiten (freilich
existiert kein solcher Text), und ein anonymer Beitrag in der Zeitschrift für die elegante
Welt spricht vom „dunkeln Sinn“ dessen, „was wir romantisch zu nennen pflegen“
(Anonym. 1806, 561). In den ZBK wurden für das Lexem 12 Bedeutungen angesetzt
(Bär 2010 ff., s. v. romantisch [Stand: 5. 11. 2011]), wobei vermerkt wird, dass es

die Welt ins freye Leben, | Und in die Welt wird zurück begeben, | Wenn dann sich wieder Licht
und Schatten | Zu ächter Klarheit wieder gatten, | Und man in Mährchen und Gedichten | Erkennt
die wahren Weltgeschichten, | Dann fliegt vor Einem geheimen Wort | Das ganze verkehrte Wesen
fort.“
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 545

„teilweise kaum möglich“ ist, „einzelne Verwendungsweisen des Wortes zu unterschei-


den“ (ebd.).
Nicht allein die Polysemie als solche ist jedoch aufschlussreich, sondern auch die Re-
lationen, in denen die einzelnen Bedeutungen zueinander stehen. An lexikalisch-seman-
tischen Relationen lassen sich in Anlehnung an Roelcke (1992) solche, die zwischen
den Bedeutungen unterschiedlicher Lexeme bestehen (Onymierelationen), von solchen
unterscheiden, die man zwischen den Bedeutungen desselben Lexems ansetzen kann
(Semierelationen). Betrachtet man beispielsweise die drei Lexeme klassisch, romantisch
und progressiv hinsichtlich ihrer in den ZBK vorgelegten semantischen Beschreibung,
so stellt man ein ganzes Ensemble von einander implizierenden lexikalisch-semanti-
schen Relationen fest. Zunächst erkennt man (für das herkömmliche Allgemeinwissen
bezüglich der Diskurse ‚Klassizismus‘ und ‚Romantik‘ erwartungsgemäß), dass klas-
sisch und romantisch in mehrfacher Hinsicht Antonyme sind.
 Klassisch6 (›antik, im griechisch-römischen Altertum real oder fiktional zeitlich verortet;
aus der griechisch-römischen Antike stammend, historisch bis in sie zurückreichend‹33) ist
antonym zu romantisch2 (›modern‹, d. h. im kulturgeschichtlichen Sinne einen Zeitraum
potentiell vom Beginn der Völkerwanderungszeit bis zum 18. Jh. charakterisierend, be-
sonders in Bezug auf Literatur und Kunst, ›in die oder zur Moderne – im angegebenen
Sinn – gehörend, in ihr real oder fiktional zeitlich verortet‹),
 klassisch7 (›klassizistisch, die griechisch-römische Antike und/oder das nach ihrem tat-
sächlichen oder vermeintlichen Vorbild Gearbeitete in besonderer Weise wertschätzend‹
bzw. ›nach griechisch-römisch-antikem Vorbild beschaffen oder geschaffen, griechisch-
römisch-antiken Mustern nachgebildet oder -empfunden‹) ist antonym zu romantisch3
(›modernistisch: die romantische2 Literatur und Kunst und/oder das nach ihrem tatsächli-
chen oder vermeintlichen Vorbild Gearbeitete in besonderer Weise wertschätzend‹),
 klassisch4 (›kategorial klar begrenzt, hinsichtlich der Gattungsspezifika rein, unvermischt,
regelhaft, einheitlich, einfach, klar strukturiert, harmonisch proportioniert, in sich ruhend,
für sich ein Ganzes ausmachend, in sich geschlossen, statisch‹) ist antonym zu roman-
tisch5/6 (›bunt, mannigfaltig, abwechslungsreich; pittoresk, reizend, interessant, phantasie-
anregend; ausgefallen, bizarr, abenteuerlich, phantastisch; surreal, nicht wie im wirklichen
Leben; übertrieben, irreal, absurd; ungeordnet, (tendenziell) chaotisch; unregelmäßig, ge-
gen Normerwartungen verstoßend, nicht den Maßgaben eines – meist klassizistisch-gat-
tungspoetischen – Regelkanons folgend, (scheinbar) willkürlich, ästhetisch autonom‹ bzw.
›gemischt, zusammengefügt, aus unterschiedlichen Teilen bestehend; kontrastiv, paradox,
widersprüchlich, spannungsvoll‹),
 klassisch5 (›am Konkreten, Realen, an äußeren Gegebenheiten, an Phänomenen der Natur,
am Lebendigen, Kräftigen, Gesunden, an der idealen Form orientiert; auf das anschauliche
Einzelphänomen bezogen, es darstellend oder verkörpernd‹) ist antonym zu romantisch8/9/10
(›ideal, idealisch; geistig, abstrakt, immateriell, ätherisch; überspannt, weltfremd‹ bzw.
›gefühlsorientiert, gefühlsbetont, emotional; ohne begriffliche Klarheit, unscharf, undeut-

33
Einer möglichst einfachen und anschaulichen Darstellung zuliebe wird hier und im Folgenden für
eine Bedeutung jeweils nur eine Kurzform der Bedeutung angegeben. Zu den vollständigen Bedeu-
tungsangaben vgl. Bär 2010 ff., s. v. klassisch, progressiv und romantisch (Stand: 5. 11. 2011).
546 Jochen A. Bär

lich, vage, ahnungsvoll, dunkel, geheimnisvoll, wunderbar, unerklärlich; eine unbestimmte


und unbestimmbare Sehnsucht zum Ausdruck bringend‹ bzw. ›selbstreflexiv, subjektiv ge-
brochen‹),
 klassisch2 (›von ausgezeichneter, erster, bester Kategorie: unübertrefflich, vollkommen in
seiner Art, daher exemplarisch, beispielhaft, überindividuell, überzeitlich, allgemein gül-
tig, ideal(typisch)‹) ist partiell antonym zu romantisch12 (›in beständiger Weiter- und/oder
Höherentwicklung begriffen, unabgeschlossen, unvollendet, unendlich perfektibel; umfas-
send, universal, allseitig‹).

Ebenso fällt jedoch ins Auge, dass zwischen beiden Lexemen ein Verhältnis partieller
Synonymie besteht:
 klassisch5 ist partiell synonym zu romantisch7 (›am Konkreten, Realen, an äußeren Gege-
benheiten orientiert; auf das anschauliche Einzelphänomen bezogen, es darstellend oder
verkörpernd; individuell‹).

Soll ein Lexem zu einem anderen sowohl antonym als auch synonym sein, so ist dies
nur möglich, wenn eines von beiden in sich selbst entgegengesetzte Bedeutungen auf-
weist, mit anderen Worten: wenn es als antisem erscheint. Eben dies ist der Fall: ro-
mantisch7 lässt sich als antisem zu romantisch8/9/10 interpretieren.
Mit dem Phänomen der Antisemie, von der dialektischen Philosophie geschätzt, aus
deren Sicht darin „ein spekulativer Geist der Sprache“ (Hegel 1832, 12) erkennbar
wird34, ist aber die semantische Komplexität noch keineswegs erschöpft. Das Lexem
romantisch weist zusätzlich zu den entgegengesetzten Bedeutungen noch eine weitere
Bedeutung auf (romantisch11), die als Synthese der Gegensätze interpretiert werden
kann: ›Ideales und Reales vereinigend in einer simultanen Gegenläufigkeit, einem
Spannungs- und Wechselverhältnis von Transzendenz und Immanenz; Antikes und Mo-
dernes, Klassisches4/5/2/7 und Romantisches5/6/8/9/10/12/2/3 umfassend und vereinigend‹.
Relationalsemantisch lässt sich dergleichen am ehesten beschreiben als ein Sonder-
fall der Hypersemie, d. h. der Tatsache, dass ein Lexem in Bedeutung ›a‹ für eine über-
geordnete, in Bedeutung ›b‹ für eine untergeordnete Kategorie steht. Der Sonderfall

34
„[E]s kann dem Denken eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen und die Vereinigung
Entgegengesetzter, welches Resultat der Spekulation für den Verstand aber widersinnig ist, auf na-
ive Weise schon lexikalisch als Ein Wort von den entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden“
(Hegel 1832, 12). Prominentes Beispiel ist das Verb aufheben: „Aufheben hat in der Sprache den
gedoppelten Sinn, daß es so viel als aufbewahren, erhalten bedeutet und so viel als aufhören lassen,
ein Ende machen“ (Hegel 1812, 46). Die vermeintlich gegensätzlichen Bedeutungen berühren sich
gleichwohl: „Das Aufbewahren schließt schon das Negative in sich, daß etwas seiner Unmittelbar-
keit und damit einem den äusserlichen Einwirkungen offenen Daseyn entnommen wird, um es zu
erhalten“, und umgekehrt ist „das Aufgehobene [›aufhören Gemachte, Beendete‹] ein zugleich
Aufbewahrtes, das nur seine Unmittelbarkeit verloren hat, aber darum nicht verschwunden ist“
(ebd.). Indem etwas in der dialektischen Betrachtung in diesem Doppelsinn aufgehoben, also zu-
gleich beendet und aufbewahrt ist, erscheint es zugleich in einer neuen Qualität, wird also in der
Reflexion ›emporgehoben, auf eine höhere Stufe gehoben‹, wodurch noch eine für den dialekti-
schen Philosophen glückliche dritte Bedeutung des Verbs ins Sprachspiel kommt.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 547

liegt dadurch vor, dass die bewusste Relation idealtypisch zwischen drei Bedeutungen
›a‹, ›b‹ und ›c‹ besteht, von denen sich ›a‹ zu ›b‹ und ›c‹ jeweils hypersem verhält und
›b‹ und ›c‹ zueinander im Verhältnis der Antisemie stehen. Eine solche Relation ließe
sich terminologisch als Tekaisemie fassen (grch. τε ... καί ... ›sowohl ... als auch ...‹) und
in unmittelbarer Nähe zum dialektischen Dreischritt von These, Antithese und Synthese
sehen.
Ein entsprechendes Verhältnis kann auch zwischen drei verschiedenen Ausdrücken
bestehen und wäre dann analog als Tekaionymie zu bezeichnen: Ausdruck a bedeutet
das Eine, Ausdruck b steht für das Gegenteil, Ausdruck c für die Verbindung, den Aus-
gleich zwischen beidem. Auch dieses Verhältnis findet sich im romantischen Sprachge-
brauch. Das Adjektiv progressiv beispielsweise ist in der frühromantischen Theoriebil-
dung vor 1800 in verschiedener Hinsicht synonym zu romantisch, unter anderem weist
es unmittelbare Entsprechungen zu romantisch2 und zu romantisch11 auf: progressiv5
›modern im zeitlichen bzw. kulturgeschichtlichen Sinne als Charakterisierung eines Zeit-
raums vom Beginn des Mittelalters bis zur unmittelbaren Gegenwart des frühen 19. Jahr-
hunderts‹; progressiv6 ›Antikes und Modernes, Klassisches7 und Romantisches2/3, auch das,
wofür die Epochen prototypisch stehen (Klassisches4/5/2 und Romantisches5/6/8/9/10/12),
umfassend und vereinigend‹. Damit lassen sich dann romantisch11 als Tekaionym zu
den Antonymen klassisch7 und progressiv5 und progressiv6 als Tekaionym zu den An-
tonymen klassisch4/5 und romantisch5/6/8/9/10 bzw. klassisch2 und romantisch12 deuten.
Zu bemerken ist, dass mit diesen Onymie- und Semierelationen keine ‚passgenauen‘
Entsprechungen zwischen den Einzelbedeutungen (Sememen) verschiedener Lexeme
bzw. eines und desselben Lexems vorliegen, sondern dass es sich um partielle Entspre-
chungen handelt: um solche hinsichtlich bestimmter semantischer Aspekte (Seme), von
denen immer mehrere zusammen ein Semem ausmachen. Es handelt sich mithin auch
nicht um eine Eins-zu-Eins-Darstellung, sondern um eine modellhafte Abstraktion,
wenn man versucht, die vorstehend beschriebenen Relationen ins Bild zu bringen. Das
Ergebnis, das ohne Zweifel Anspruch auf einen Platz in der Reihe der „wirrsten Gra-
phiken der Welt“35 erheben könnte, kann zwar nicht in die Klarheit führen (Faust I, V.
309), leistet aber genau das, worum es hier geht: eine anschauliche Illustration der se-
mantischen Komplexität, die den Sprachgebrauch der deutschen Romantik kennzeich-
net. Dabei handelt es sich bei der Betrachtung nur dieser drei Lexeme lediglich um
einen kleinen Ausschnitt aus dem tatsächlich noch etliche Einheiten mehr umfassenden
Wortfeld. Künftige Untersuchungen im Rahmen der ZBK dürften hier Weiterungen
ergeben, die in der graphischen Darstellung nicht mehr zu fassen sein werden.

35
So der Titel einer Reihe in der taz, in die unter anderem der Vorschlag eines Heidelberger Profes-
sors für Germanistische Linguistik – nicht Oskar Reichmanns – für die bildliche Darstellung einer
Textverbundkonstituentenstruktur Eingang fand (vgl. Henschel 2003, 65).
548 Jochen A. Bär

7. ›klassi- 2. ›voll- 4. ›katego-


zistisch‹ kommen‹ rial rein‹

klassisch
11. ›synthe- 12. ›unabge-
6. ›antik‹ 5. ›real- 2. ›modern‹
titiv‹ schlossen‹
orientiert‹

10. ›selbst- 3. ›moder-


reflexiv‹ nistisch‹
romantisch
9. ›unbe- 5. ›poetisch,
3. ›unabge-
stimmt, vage‹ romanhaft‹
schlossen‹

8. ›idealisch/ 7. ›gemischt‹ 6. ›real-


progressiv idealisierend‹ orientiert‹

6. ›synthe-
titiv‹ 5. ›modern‹

Synonymie

Antonymie Antisemie

Hyponymie Hyperonymie/ Hyposemie Hypersemie/

Tekaionymie Tekaisemie

Wie die Romantiker mehrfach hervorheben, ist es das „Wesen der Romantik“, dass man
„durch Gegensätze zum Ziel kommt“ (Schelling 1803/04, 662). Das „romantische Prin-
zip, welches das entgegengesetzte des plastischen Isolierens ist“, charakterisiert A. W.
Schlegel (1801/02, 439) als „Allgemeines Verschmelzen, hinüber und herüber ziehen,
Aussichten ins Unendliche“; an anderer Stelle heißt es bei demselben Autor (1798/99,
82) bündig: „Das Romantische überhaupt besteht im Kontraste.“ Damit lässt sich der
Nachweis von Phänomenen wie Tekaionymie und insbesondere Tekaisemie (ein und
dasselbe Lexem bedeutet Gegensätzliches und zudem die Synthese der Gegensätze) als
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 549

Indiz dafür sehen, dass für die Romantiker die Art und Weise ihres Sprechens bzw.
Schreibens in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Gegenstand dieses Sprechens
bzw. Schreibens steht.

7.2. Im Zusammenhang seiner Vorstellungen zur Repoetisierung der Sprache nicht an-
ders als aus seiner Praxis als Übersetzer heraus befasst sich August Wilhelm Schlegel
des öfteren mit dem Thema der Onomatopöie (vgl. S. 504). Besonders intensiv widmet
er sich ihr in seinen frühen Betrachtungen über Metrik (1793)36, in denen er regelrecht
synästhetische Überlegungen anstellt:
„Die Vokale sind das Gefühlausdrückende in einer Sprache. Wenn man den unartikulierten
Laut der heftigen Leidenschaften beobachtet, so wird man finden, daß jeder darunter verschie-
den gebraucht wird, und einer besondern Gattung von Gefühlen am analogsten ist. Man hat
wohl Tonleitern der Vokale gegeben [...] – wenn du mit Tändeleien der Phantasie Nachsicht
haben kannst, so will ich dir eine Vokal-Farbenleiter, nebst dem Charakter eines jeden herset-
zen.“ (A. W. Schlegel 1793, 175.)

Das a wird als „roth“, das o „purpurn“, das i als „himmelblau“, das ü als „violett“ und
das u als „dunkelblau“ charakterisiert (ebd.):
„Man könnte auch dem A die weiße, dem U die schwarze Farbe geben. Damit trifft das ganz
gut überein, daß das E zwischen diesen beiden Vokalen in der Mitte steht, wie Grau zwischen
den Farben. Denn das E gehört durchaus nicht unter die Farben des Regenbogens – es ist
grau.“ (Ebd.)

Damit ist der Autor bei einem seiner Lieblingsthemen angelangt: dem Kampf gegen das
unbetonte, das „unbedeutende E“ (A. W. Schlegel 1798, 13).
Unter unbedeutend ist hier so viel wie ›bedeutungslos, nichtssagend, ohne semanti-
schen Gehalt‹ zu verstehen:
„Dem E kann ich weiter keinen Ausdruck zugestehn, als daß es offen oder gedehnt und mit
dem Tone etwan Ernst und Nachdenken bezeichnet; z. B. ehren, Seele. Geschloßen aber, und
hauptsächlich ohne den Ton, wie der Infinitiv aller unsrer Verba: sagen u. s. w. sagt es gar
nichts, sondern ist das treffendste Bild der Gleichgültigkeit.“ (A. W. Schlegel 1793, 176.)

Aussagen wie diese treten in Zusammenhang mit Schlegels Ansicht, dass der Wohl-
klang einer Sprache (der seiner Ansicht nach insbesondere für deren Poetizität unerläss-
lich ist: vgl. z. B. A. W. Schlegel 1798/99, 16 f.) von einem „ungefähr gleichen Ver-
hältnisse der Konsonanten und Vokale“ abhängt (1798/99, 20; analog 1798, 21).
Diese Auffassung ist die Basis für eine spezifische Kritik an der deutschen Sprache:
Sie lässt eben jenes „schöne Gleichgewicht“ der Vokale und Konsonanten vermissen
(A. W. Schlegel 1798/99, 20). Das Verhältnis fällt eindeutig zu Ungunsten der Vokale
aus, die „obendrein nicht die rechten“ sind (A. W. Schlegel 1798, 32): „Man kann Ver-
se, ja ganze Strophen durchwandern, ohne auf ein einziges A zu stoßen, aber fast nie
einen, ohne zu oft von dem E heimgesucht zu werden“ (ebd.).

36
Zur Datierung vgl. Bär 1999a, 188 f.
550 Jochen A. Bär

Diese Phonemkritik, mit der Schlegel weder historisch gesehen noch in der Sprachre-
flexion seiner eigenen Zeit allein dasteht37, führt Schlegel zwar nicht dazu, eine Rück-
kehr zu den vollen Nebensilben der althochdeutschen Zeit zu fordern, lässt ihn aber
gezielt nach Möglichkeiten der Vermeidung des unbetonten e suchen. Er selbst verzich-
tet darauf vor allem im Inlaut: Allenthalben belegbar sind bei ihm die Synkope (Innres,
Äußres, zusammengezogne ...) bzw. Ekthlipsis (dieß) und die Kontraktion (giebts, machts,
läßt sichs ...); die Synärese (gesaget > geseit) verwendet Schlegel zwar nicht selbst,
bemerkt sie jedoch wohlwollend in den oberdeutschen Mundarten (1808, 164).
Sprachliche Phänomene dieser Art sind zwar in den Jahrzehnten um 1800 durchaus
keine Seltenheit, jedoch lassen sie sich bei A. W. Schlegel mit durchaus signifikanter
Häufigkeit nachweisen. Kontrastive Untersuchungen der Synkope bei ihm und bei sei-
nem Zeitgenossen Friedrich Schiller haben ergeben, dass Schlegel in 73,2 % aller über-
haupt möglichen Fälle synkopiert, Schiller hingegen nur in 58,3 % (vgl. Bär 2004, 315).
Man wird also in diesem Fall nicht anders als hinsichtlich der Semantik „davon ausge-
hen können, dass die sprachtheoretischen Überlegungen des Autors auf seinen Sprach-
gebrauch unmittelbar gewirkt haben“ (ebd., 316).

7.3. Ein letztes Beispiel soll zeigen, dass die Romantik auch hinsichtlich der Textgestalt
dazu neigt, die Art und Weise des Sprechens über Sprache mit dem Inhalt der Aussage
zu korrelieren. Dies wird besonders deutlich in dem bekannten Monolog (1799) des
Novalis.
„Es ist eigentlich um das Sprechen u[nd] Schreiben eine närrische Sache. Das rechte Gespräch
ist ein bloßes Wortspiel. Der lächerliche Irrthum ist nur zu bewundern, daß die Leute meynen
– sie sprächen um der Dinge willen. Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos
um sich selbst bekümmert weiß keiner. Darum ist sie <ein> so wunderbares u[nd] fruchtbares
Geheimniß – daß wenn einer blos spricht, um zu sprechen, er gerade die herrlichsten, origi-
nellsten Wahrheiten ausspricht. Will er aber von etwas bestimmten sprechen, so läßt ihn die
launige Sprache das lächerlichste u[nd] verkehrteste Zeug sagen. Daraus entsteht auch der

37
So ist bereits Grimmelshausen (1673, 103) der Meinung, „daß wir Teutsche mit dem E mehr ver-
schwenderisch / als freygebig / umbgehen“ und spottet über Zeitgenossen, die „dem E dermassen
gewogen seyn / daß sie es immerzu hinden anflicken / ob es gleich so wenig als der Wagen des
fünfften Rads nöthig“ (ebd., 65 f.). Für die Zeit um 1800 vgl. Jean Paul (1804, 534 ff.): „Ein Aus-
länder könnte sagen, nichts ist in eurer Sprache so wohlklingend als die Ausnahmen, nämlich die
der Zeitwörter. [...] Adelung und halb die Zeit wollen uns zum Vortheil der Grammatiker, der Aus-
länder und der Gemeinheit diese enharmonischen Ausweichungen untersagen; aber das leide kein
Autor, er schreibe ‚unverdorben‘, niemals ‚unverderbt‘. | Diese Irr-Verba bewahren und bringen
uns alte tiefe, kurze, einsylbige Töne, noch dazu mit der Wegschneidung der grammatischen Erin-
nerung, z. B. statt des langweiligen, harten, doppelten schaffte und schaffte, backte und backte:
schuf und schüfe; buk und büke. Freilich flieht der Gesellschafts-Ton – auch der der Meißner hö-
hern Klassen – den Feier-Ton eines tiefen reichen Vokals; aber in den Fest- und Feier-Tagen der
Dichtkunst ist er desto willkommner. Wie viele e werden unserer Eeeee-Sprache damit erspart und
italienische Laute dafür zugewandt! Darum gebrauchte Klopstock so häufig und zu häufig [...] das
großlautende Wort sank (so wie oft scholl).“
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 551

Haß, den so manche ernsthafte Leute gegen die Sprache haben. Sie merken ihren Muthwillen,
merken aber nicht, daß das verächtliche Schwatzen das die unendlich ernsthafte Seite der
Sprache sey ist. Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache
wie mit den mathematischen Formeln ist sey – Sie machten eine Welt für sich aus – Sie spielen
nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus und eben darum sind sie so
ausdrucksvoll – eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnißspiel der Dinge. Nur
durch ihre Freyheit sind sie Glieder der Natur u[nd] nur in ihren freyen Bewegungen äußert
sich der Naturgenius die Weltseele und macht sie zu einem zarten Maaßstab u[nd] Grundriß
der Dinge. So ist es auch mit der Sprache – wer ein feines Gefühl ihrer Applicatur, ihres Takts,
ihres musicalischen Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihresr G Nat innern Natur ver-
nimmt, und darnach seine Zunge oder seine Hand bewegt, der wird ein Profet sein, dagegen
wer es wohl weis, aber nicht Ohr u[nd] Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben
wird, aber von der Sprache selbst <zum besten> gehalten u[nd] von den Menschen, wie
Cassandra von den Trojanern, verspottet werden wird. Wenn ich damit das Wesen u[nd] Amt
der Poësie auf das deutlichste angegeben zu haben glaube, so weiß ich doch, daß es kein
Mensch verstehn kann, und ich ganz was albernes gesagt habe, weil ich es habe sagen wollen,
und so keine Poësie zu stande kömmt. Wie wenn ich aber reden müßte? und dieser Sprachtrieb
zu sprechen das Kennzeichen der Eingebung der Sprache, der Wircksamkeit der Sprache in
mir wäre? und mein Wille nur auch alles wollte, was ich müßte, so könnte dies ja am Ende oh-
ne mein Wissen u[nd] Glauben Poësie seyn und ein Geheimniß der Sprache verständlich ma-
chen? und so wär ich ein berufener Schriftsteller, denn ein Schriftsteller ist wohl nur ein
Sprachbegeisterter?“ (Novalis 1799b, 346 ff. – Wiedergegeben wird hier die jahrzehntelang
verschollene, in der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe noch nicht berücksichtigte Origi-
nalhandschrift. Durchstreichungen und Unterstreichungen sind original; nachträgliche Einfü-
gungen sind durch Winkelklammern < > gekennzeichnet; Abkürzungen werden in eckigen
Klammern [ ] aufgelöst.)

Der mehrfach (z. B. bei Strohschneider-Kohrs 1977 und Di Cesare 1995) ausgelegte
Text weist eine auffällige Struktur auf. Zunächst werden zwei Aussagen – (1) Es ist ein
„Irrthum“ zu glauben, man spreche „um der Dinge willen“; (2) Die Sprache ist auto-
nom, bekümmert sich „blos um sich selbst“ –, von denen die zweite die erste begründet,
indem sie deren innerer Aussage (man spricht „um der Dinge willen“) widerspricht, in
der Weise fortgeführt, dass zunächst die zweite, dann erst die erste aufgegriffen wird:
(3) [Folge aus (2)] Wer nur um des Sprechens willen spricht, gibt unbeabsichtigt die
„herrlichsten, originellsten Wahrheiten“ von sich; (4) [Folge aus 1] Wer etwas Be-
stimmtes aussagen will, den lässt die „launige Sprache“ seiner Absicht entgegen das
„lächerlichste u[nd] verkehrteste Zeug“ sagen. Diese Abfolge

(1) (2)

(3) (4),

die sich als Chiasmus deuten lässt, findet ihrerseits ihre Fortsetzung in der Weise, dass
nunmehr in paralleler Weise weitere Folgerungen gezogen werden: (5) [Folge aus (3)]
552 Jochen A. Bär

„wer ein feines Gefühl ihrer [Sprache] Applicatur, ihres Takts, ihres musicalischen
Geistes hat, wer in sich das zarte Wirken ihrer innern Natur vernimmt, und darnach
seine Zunge oder seine Hand bewegt“, wer also die ‚Sprache selbst‘ aus sich sprechen
lässt, „der wird ein Profet sein“; (6) [Folge aus (4)] „wer es wohl weis, aber nicht Ohr
u[nd] Sinn genug für sie hat, Wahrheiten wie diese schreiben wird, aber von der Spra-
che selbst <zum besten> gehalten u[nd] von den Menschen, wie Cassandra von den
Trojanern, verspottet werden wird“.

(1) (2)

(3) (4)

(5) (6)

Der indirekte Gegensatz der Aussagen (1) und (2), der dadurch zustande kommt,
dass (2), wie erwähnt, nicht (1) im Ganzen, sondern nur der in (1) selbst bereits vernein-
ten inneren Aussage von (1) widerspricht, wird durch die chiastische Verschränkung in
eine verquere Fortsetzung gebracht, zu der es dann wiederum eine strukturell gegenläu-
fige Fortsetzung gibt (durch einen Parallelismus wird gerade k e i n e Parallelität der
Fügung erzielt). Der Text entwickelt im Wechselspiel von Aussageinhalt und Struktur
mithin eine mehrfach potenzierte, gleichwohl gebrochene Antithetik.
Diese schillernde Verschränkung und Gegenläufigkeit von Antithesen auf verschie-
denen Ebenen (der inhaltlichen Aussage und der formalen Textgestalt) präludiert einer
ebenso kunstvollen wie undichten Fuge, in welcher die Spannung zwischen den Gegen-
sätzen ins Unendliche hin offen ist und nur im Unendlichen selbst, also jenseits des
vorliegenden Textes, zum Ausgleich kommt. – Zunächst kommt in (6) zu der scheinbar
nur inhaltlichen Weiterführung der Eingangsbehauptungen unversehens ein bislang nicht
vorhandener Aspekt: Autoreferentialität („Wahrheiten wie diese“, also den Monolog).
Der Text wendet sich zurück auf sich selbst. Strohschneider-Kohrs (1977, 261 f.), die
hier mit Recht eine „Peripetie“ sieht, macht deutlich, dass sich der Umschlag aufgrund
der ungewöhnlichen Endstellung des finiten Verbs bis in die Syntax hinein verfolgen
läßt: „[...] dagegen wer es wohl weis, [...] Wahrheiten wie diese schreiben [...] u[nd] [...]
verspottet werden wird“.
Die Verwendung von dagegen als Subjunktion, also mit Verbletztstellung, ist zwar
in der Goethezeit nicht einmalig, aber doch alles andere als die Regel. Im ZBK-Korpus
(vgl. S. 544) ist in lediglich etwa 2 % aller Fälle (76 von 3740) dagegen als Subjunktion
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 553

belegt.38 Wie die Handschrift des Monolog-Textes erkennen lässt, erfolgt die Verbletzt-
stellung im vorliegenden Fall offenbar mit Absicht: Das Verb wurde an früherer Stelle
im Satz durchgestrichen und ganz ans Ende gesetzt.39
Durch die Autoreferentialität liegt nicht mehr lediglich die Fortsetzung einer Reihe
kontrastierender Aussagen vor, sondern eine Anwendung der erzeugten Spannung auf
die aktuelle Redesituation und damit ihre Potenzierung: Der Zirkel, in den diese Wen-
dung führt, bleibt nicht verborgen: Die vorliegende Behauptung soll wahr sein, also
muss sie – dem Text zufolge – als eine beabsichtigte unverständlich oder lächerlich
sein. – Um der Paradoxie zu entgehen, macht das monologische Ich einen typisch ro-
mantischen, d. h. wiederum paradoxen Vergleichsvorschlag. Sein aktuelles Sprechen
könnte auf „[T]rieb zu sprechen“, auf „Wircksamkeit der Sprache in mir“ beruhen und
in dieser Qualität dann mit seinem Aussagewillen übereinkommen. Das Gesagte wäre
damit – contradictio in adjecto – gleichermaßen notwendig und willkürlich-frei (vgl.
auch Di Cesare 1995, 156 f.): Die romantische Konzeption des unbewusst und bewusst
zugleich produzierenden Genies kommt deutlich zum Vorschein. Dennoch ist auch am
Ende des Textes noch nichts entschieden. Alles wird in der Schwebe gehalten, da die
letzte Aussage, eben der Vergleichsvorschlag, in der klassischen ironischen Redefigur
der Frage erscheint.
Doch selbst hier ist noch kein Fixpunkt der Interpretation erreicht. Die drei Fragezei-
chen, mit denen der Text angesichts der Symbolik und nicht zuletzt auch der dialekti-
schen Implikation der Dreizahl füglich enden könnte, wird ebenfalls konterkariert durch
ein abschließendes viertes Fragezeichen, mit dem der Text tatsächlich endet. Ob man
darin eine bloße Fragilisierung der Deutungs-Richtgröße „dialektischer Dreischritt“,
einen chiffrierten Hinweis auf den Gedanken der Einheit in der Dreiheit oder etwas
anderes, Sublimeres erkennen will, „bleibt der Weisheit des Lesers, für welche diese
Frage recht eigentlich gehört, anheim gestellt“ (F. Schlegel, 1800b, 343). Im gegenwär-
tigen Zusammenhang genügt der Hinweis, dass der romantische Gedanke der unendli-
chen Progressivität und Potenzierbarkeit nicht nur ein Gegenstand romantischen Spre-
chens ist, sondern auch in der Art und Weise romantischen Sprechens zur Entfaltung
kommt.

38
Novalis zeigt diesen Sprachgebrauch mehrfach; beispielsweise: „Heinrichen ward [...] in Rücksicht
seiner Jugend das jedesmalige Bescheidthun erlassen, dagegen die Kaufleute sich nicht faul finden,
sondern sich den alten Frankenwein tapfer schmecken ließen“ (Novalis 1802, 230); „Den Reich-
thum der Erfindung macht nur eine leichte Zusammenstellung faßlich und anmuthig, dagegen auch
das bloße Ebenmaaß die unangenehme Dürre einer Zahlenfigur hat“ (ebd., 286).
39
Zwar hätte auch in der ursprünglichen Fassung bereits Verbletztstellung vorgelegen, so dass sich
die Korrektur nicht auf die Satzstellung als solche bezieht, sondern lediglich eine Erweiterung des
ursprünglich geplanten Satzrahmens vornimmt. Gleichwohl: Der Autor hat im „zweiten Anlauf“
die Satzstellung nicht verändert, so dass mit größerer Wahrscheinlichkeit auf Absicht zu schließen
ist.
554 Jochen A. Bär

8. Fazit
Dichtung und Deutung – mit diesen drei Wörtern lässt sich die romantische Sprachtheo-
rie auf den Punkt bringen. Freilich sind dann noch einige erläuternde Worte hinzuzufü-
gen, wie es in diesem Beitrag versucht wurde. Das Interesse der Romantik an der Sprache
ist unmittelbar anwendungsbezogen: Es geht nicht um abstrakte, wertneutrale Beschrei-
bung, sondern um Sprachbewertung und, als Konsequenz derselben, um Spracharbeit.
Dabei steht eine als sehr umfassend, geradezu als universell konzipierte po(i)etische
Funktion der Sprache im Zentrum, die alle anderen sprachlichen Funktionen – Kommu-
nikation, Erkenntnis, Darstellung – umfasst.
Die Sprache ist ursprünglich und in erster Linie poetisch, d. h. schöpferisch: Sie
macht den Menschen zum Menschen, indem sie ihn zum Bewusstsein seiner selbst
bringt, und sie konstituiert zugleich seine Welt. Es ist eine sprachphilosophisch gewen-
dete transzendentalidealistische Dialektik von Ich und Nicht-Ich, die sich hier erkennen
lässt. Die Sprache bleibt aber ebensowenig wie das Ich des deutschen Idealismus bei
sich selbst, sondern entäußert sich, d. h., ihre ursprüngliche Poetizität kommt weitestge-
hend abhanden. Wo die Romantiker die Sprache im Sinne der Sprachskepsis als defizi-
tär betrachten, tun sie es hinsichtlich ihrer als zu gering eingestuften poetischen Quali-
tät. Dabei ist ihre gesamte Sprachkritik – anders als die der „Sprachkrise“ an der Wende
zum 20. Jahrhundert, z. B. bei Hugo von Hofmannsthal – von einer optimistischen
Grundstimmung getragen: Die Sprache soll und kann wieder poetisch werden; der
Mensch soll und kann auf diese Weise zu seinem Menschsein im vollen Sinne gelan-
gen. Daran zu arbeiten ist die Aufgabe des Dichters, Schriftstellers und/oder Redners.
Allerdings ist es eine unendliche, nie vollständig zum Abschluss zu bringende Aufgabe,
und es ist auch keine Aufgabe, die einzelne Personen allein übernehmen können. Sie
bedürfen immer eines Gegenübers – das allerdings nicht als Nicht-Ich, sondern als Du
gedacht, damit eigenständig und letztlich unverfügbar ist.
Der Dreischritt von Poesie, Prosa und Repoetisierung (als Potenzierung der ur-
sprünglichen Poesie) findet seine Entsprechung in dem Dreischritt von Sprechen, Nicht-
verstanden-Werden und ergänzender Auslegung durch den Hörer oder Leser. Deutung,
ergänzendes Verstehen ist gewissermaßen eine Nach-Dichtung, also gleichfalls eine
Poesie der Poesie. Repoetisierung und Verstehen – an beidem arbeiten die Romantiker,
und sie tun es durchaus mit einer Art salvatorischem Ethos. Dabei wissen sie genau,
dass sie die angestrebte Erlösung aus den Fesseln der Endlichkeit, der Unvollkommen-
heit und (nicht philosophisch-abstrakt, sondern menschlich-konkret gesprochen) der
Einsamkeit nicht allein in der Hand haben. Die Paarformel „Dichtung und Deutung“
zur Beschreibung der Inhalte romantischer Beschäftigung mit Sprache ist unter diesem
Aspekt nicht hinreichend, wenn sie nicht als Bezeichnung eines deontischen Konzepts
im Sinne von Hermanns (1995b) charakterisiert wird: als Postulat, als Anspruch, als
Programm.
Sprachtheorie und Sprachgebrauch der deutschen Romantik 555

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